- Von der Präzision im Grossen und im Kleinen
Offenbar bedient hier der journalistische Impetus die sich nach Erlösung sehnende Seele. Auffallend ist, dass die starken Worte ausschliesslich im Zusammenhang mit Errungenschaften der molekularen Präzisionsmedizin gewählt werden. In der Tat ist der Erkenntniszuwachs in der Tumorbiologie der letzten Jahre enorm, dies ist mitunter den immer tiefer greifenden Omics-Analyseverfahren zuzuschreiben, die von der Gewebeanalyse längst auf die Einzelzell-Ebene übergegriffen haben – immer mit dem Enthusiasmus verbunden, dass durch das tiefe Eintauchen in die molekularen Zusammenhänge auch selbstredend der Schlüssel für den Sieg über die Geissel Krebs gefunden wird. Soweit so gut – wenn da nicht die riesige Lücke wäre zwischen dem explodierenden Wissen und den ableitbaren therapeutischen Konsequenzen. Nicht dass keine Einzel-Erfolge zu verbuchen wären; nur müssen noch viel zu häufig die durch die Medien angestachelten Hoffnungen unserer Patientinnen und Patienten enttäuscht werden, begleitet von etwas dürren Erklärungen im Nebel von Tumorheterogenität, Resistenzentwicklung oder noch fehlendem Schlüssel für die vorliegende individuelle Situation.
Da haben es die Radio-Onkologinnen und Radio-Onkologen einfacher. Die Errungenschaften eines individuelleren Zugangs werden hier weniger im molekularen, als vielmehr im anatomischen Bereich greifbar. Die Einsicht, dass sich Strukturen eines lebendigen Organismus konstant ändern mit Konsequenzen für eine personalisierte Bestrahlung, lässt sich gut vermitteln: Dass sich Magen, Blase und Darm füllen und leeren und ihre Position ändern, wird sofort verstanden. Mehr Überraschung erntet man, wenn von der täglichen lateralen Verschiebung des Ösophagus mit Folgen für die aktinische Lungenbelastung berichtet wird. Hingegen ist das Erfassen der anatomischen Konsequenzen von Atem- und Herzbewegung wiederum ein intellektueller Selbstläufer. Die technologische Bewältigung der sich daraus ergebenden Konsequenzen hat in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht. Wenn es gelingt, Bestrahlungspläne auf die individuelle und täglich sich ändernde Anatomie anzupassen, kann mitunter viel Dosis in gesundem Gewebe eingespart werden. Die dazu entwickelten Techniken nennen sich «bildgeführte Radiotherapie» und «adaptive Radiotherapie» – letztere war als Haupt-Thema des anfangs September in Bern durchgeführten Kongresses der Scientific Association of Swiss Radiation Oncology SASRO gesetzt. 600 Teilnehmende aus allen Berufsgruppen und der Industrie beteiligten sich am regen Wissensaustausch. Das Wort «Präzision» fiel dabei tausendfach – nicht primär im Kontext der grossen Vision einer massgeschneiderten medikamentösen oder zellulären Intervention, dafür hinsichtlich kleiner Schritte zur weiteren Verbesserung der Bestrahlungsergebnisse dank Technologie.
Prof. Dr. Daniel M. Aebersold
Inselspital
Universitätsspital Bern
Universitätsklinik für Radio-Onkologie
Freiburgstrasse
3010 Bern