- Vergessen, dass man krank ist
Bisherige Studien zu den Erfahrungen von Brustkrebspatientinnen mit körperlicher Aktivität haben den Fokus auf spezifische Interventionen und Behandlungsphasen gelegt. Der nachfolgende Artikel soll dazu motivieren, den Blickwinkel auszuweiten: Das Thema «Bewegung» bewegt die Patientinnen von der Diagnose bis über die Nachsorge hinaus – und das vor allem in ihrer Freizeit.
Projektbeschreibung
Die Bedeutung von körperlicher Aktivität bei Brustkrebspatientinnen ist wissenschaftlich hinreichend belegt (1, 2). Nichtsdestotrotz erleben die meisten von ihnen einen signifikanten Rückgang ihrer körperlichen Aktivitäten während und nach der Krebstherapie (3). Zahlreiche Studien zur Förderung der körperlichen Aktivität von Brustkrebspatientinnen zeigen, dass strukturierte und oftmals aufwendige Bewegungsangebote nach Studienende nicht fortgeführt wurden (4). Im Zuge dessen wurde das Potenzial von niederschwelligen körperlichen Freizeitaktivitäten (z.B. Spaziergänge, Vereinssport) erkannt (5).
In der TANGO-Studie begleiteten wir zwölf Frauen von der Diagnose bis zur Nachsorge (vier bis zwölf Monate). Die Studie bestätigt, dass diese lange Begleitung ein umfassendes Verständnis von derer Erfahrungen ermöglicht (6). Dies veranlasste uns dazu, die reichhaltigen Daten des Projekts für eine Sekundäranalyse zu nutzen. Ziel war es, herauszufinden, welche Bedeutung körperliche Freizeitaktivitäten im Behandlungspfad von Brustkrebspatientinnen haben und welche Erfahrungen die Betroffenen in diesem Zusammenhang machen. Dazu haben wir eine qualitative Inhaltsanalyse der insgesamt 44 Interviews und der zahlreichen tagebuchartigen, digitalen Chatnachrichten der TANGO-Studie durchgeführt.
Ergebnisse
Mehrere Teilnehmerinnen bezeichneten sich als «Bewegungsmenschen», denen körperliche Freizeitaktivitäten enorm wichtig waren. Das Ausloten von Möglichkeiten und Grenzen hinsichtlich der eigenen körperlichen Aktivität beschäftigte alle Frauen über den gesamten Behandlungsweg.
Diagnose
Auf eindrückliche Art und Weise beschrieben die Frauen die tiefgreifende Erschütterung, die der Erhalt der Brustkrebsdiagnose bei ihnen auslöste – eine Erschütterung der Selbstverständlichkeit, dass der eigene Körper unversehrt und gesund ist. Ein Telefonat löste aus, dass man als kerngesunder, aktiver Mensch von der einen auf die andere Sekunde schwer krank war. Einige versuchten, sich mit bisher ausgeübten körperlichen Aktivitäten fit zu halten und sich abzulenken.
Neoadjuvante Behandlung
Die Teilnehmerinnen wurden von Fachpersonen darauf aufmerksam gemacht, dass körperliche Aktivität eine Rolle bei der Krebstherapie spielen kann. Gleichzeitig beschrieben sie jedoch eine ausgeprägte Energie- und Antriebslosigkeit im Alltag – vor allem gegen Ende der Behandlungsphase. Aktivität erforderte Überwindung, steigerte im Nachhinein jedoch das Wohlbefinden. Niederschwellige Freizeitaktivitäten rückten in den Vordergrund, so z.B. Spaziergänge im Wald. Dabei stand auch der Aspekt der Ablenkung im Vordergrund.
«Ich bin nicht fit, aber die Bewegung verhindert, dass du zu sehr spürst, was nicht gut geht. Und ich vergesse, dass ich krank bin.» (TN G, 211102)
Operation
Vor allem in der postoperativen Phase waren die Frauen verunsichert, welche körperlichen Aktivitäten überhaupt erlaubt waren. Meist gab es keine gezielten Hinweise der Fachpersonen. Wegen Schmerzen im Operationsgebiet oder Angst vor einer beeinträchtigten Wundheilung verhielten die Patientinnen sich eher vorsichtig und zurückhaltend. Einige recherchierten selbst im Internet, welche körperlichen Aktivitäten erlaubt waren.
Adjuvante Behandlung
Nach der postoperativen Zurückhaltung überwog in der Bestrahlungsphase häufig der Drang nach körperlicher Aktivität. Dieser wurde jedoch mit Verboten durch Fachpersonen unterbunden, welche die Frauen überraschten und einschränkten (z.B. nicht Schwimmen zu gehen). Bei einigen machten sich Ungeduld und Enttäuschung breit, und Verbote wurden nicht immer eingehalten.
Nachsorge
«Die Zeit danach» (TN Q) war für die Patientinnen damit verbunden, zurückzufinden bzw. sich neu zu finden im Alltag. Körperliche Aktivitäten stellten sich als bedeutsame Komponente der alten und neuen Normalität heraus. Der gesellschaftliche Aspekt von körperlicher Freizeitaktivität kam dabei vermehrt zum Ausdruck. Es wurde eine gezielte Unterstützung für den Wiederaufbau der Gesundheit und der körperlichen Leistungsfähigkeit gewünscht.
«Ich habe immer noch diese Atemnot, die es mir nicht erlaubt, mich körperlich zu sehr anzustrengen. Es gibt also keine Möglichkeit, Sport zu treiben, wie ich es gerne tun würde. Moralisch ist das nicht immer einfach.» (TN E, 221108)
Fazit
Im Rahmen der Sekundäranalyse konnten wir die physische, psychische und soziale Bedeutung von körperlichen Freizeitaktivitäten bei Frauen mit Brustkrebs aufzeigen. Fachpersonen können helfen, diese zu fördern, und bei Einschränkungen Möglichkeiten aufzeigen. Es zeigte sich, dass viele Frauen während und nach der Erkrankung für gewohnte und neue körperliche Freizeitaktivitäten bereit waren.
Daniela Bernhardsgrütter, daniela.bernhardsgruetter@ost.ch
MScN, wissenschaftliche Mitarbeiterin
Prof. Dr. Phil. Antje Koller, antje.koller@ost.chCo-Leiterin Kompetenzzentrum OnkOs
Institut für Angewandte Pflegewissenschaft
OST – Ostschweizer Fachhochschule
1. Browall M, Mijwel S, Rundqvist H, Wengström Y. Physical Activity During and After Adjuvant Treatment for Breast Cancer: An Integrative Review of Women’s Experiences. Integr Cancer Ther. 2018;17:16–30. doi:10.1177/1534735416683807.
2. Lahart IM, Metsios GS, Nevill AM, Carmichael AR. Physical activity for women with breast cancer after adjuvant therapy. Cochrane Database Syst Rev. 2018;1:CD011292. doi:10.1002/14651858.CD011292.pub2.
3. Stalsberg R, Eikemo TA, Lundgren S, Reidunsdatter RJ. Physical activity in long-term breast cancer survivors – A mixed-methods approach. The Breast. 2019;46:126–35. doi:10.1016/j.breast.2019.05.014.
4. Kwasnicka D, Dombrowski SU, White M, Sniehotta F. Theoretical explanations for maintenance of behaviour change: a systematic review of behaviour theories. Health Psychol Rev. 2016;10:277–96. doi:10.1080/17437199.2016.1151372.
5. Shallwani SM, Ranger M-C, Thomas R, Brosseau L, Poitras S, Sikora L, King J. A scoping review of studies exploring leisure-time physical activity in adults diagnosed with advanced cancer. Palliat Support Care. 2021;19:615–30. doi:10.1017/S1478951520001327.
6. OST – Ostschweizer Fachhochschule. TANGO Studie: Vertrauen, interprofessionelle Zusammenarbeit und die Rolle der spezialisierten Pflegefachperson in der gynäkologischen Onkologie. www.ost.ch/tango. Accessed 30 May 2023.