Grosse retroperitoneale Raumforderung beim jungen Patienten



Anamnese und Befunde

Ein 24-jähriger Patient stellte sich im Dezember letzten Jahres in der Notfallpraxis unseres Kantonsspitals vor. Er klagte zum Zeitpunkt über eine seit drei Wochen bestehende, palpable Masse im linken oberen Hemiabdomen. Auf Nachfrage verneinte er weitere Beschwerden. Der Patient fühlte sich zum Zeitpunkt der Konsultation unverändert fit und leistungsfähig. Die persönliche Krankengeschichte des Patienten war bis zu diesem Zeitpunkt blande. In der klinischen Untersuchung zeigte sich eine derbe, nicht verschiebliche Masse von rund 10 x 10 cm Ausdehnung. Auf Druck zeigte sich die Masse indolent. Die darüberliegende Haut zeigte keine Auffälligkeiten. Differenzialdiagnostisch gingen wir bei fehlenden Infektzeichen nicht von einer infektiologischen Ursache, insbesondere einem Abszess, aus. Aufgrund der Indolenz und des raschen Wachstums musste an eine maligne Erkrankung gedacht werden. Wir gingen am ehesten von einer Metastase aus. Zur Diskussion standen insbesondere lymphatische Malignome oder Hodenkarzinome. In der durchgeführten Bedside-Sonographie zeigte sich ein 9 x 10 cm grosser, inhomogener Tumor retroperitoneal (Abb. 1).

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Zur weiteren Abklärung erfolgte ergänzend eine Sonographie des restlichen Abdomens ohne weitere Pathologien sowie eine Sonographie des Hodens mit Nachweis eines möglichen Primärtumors im linken Hoden (Abb. 2).
Wir führten eine erweiterte Diagnostik mit Bestimmung der Tumormarker durch. Hierbei zeigte sich ein deutlich erhöhtes Beta-HCG von 124 IU (Normal < 2.0 IU) sowie AFP von 11 150 mcg/l (Normal < 7 mcg/l). Bei erhöhtem AFP gingen wir am ehesten von einem Keimzelltumor mit nicht seminomatösem Anteil aus.

Diagnose

In der ergänzend durchgeführten Computertomographie des Thorax und Abdomens wurde der sonographisch und laboranalytische Verdacht im Sinne eines Hodentumors mit grosser retroperitonealer Lymphknotenmetastase bestätigt und der Patient den Kollegen der Urologie und Onkologie zugewiesen.

Therapie

Im Verlauf erfolgte initial die Kryokonservation der Spermien und die inguinale Orchiektomie. In der histologischen Aufarbeitung ergab sich entgegen der serologischen Marker ein Befund passend zu einem klassischen Seminom. Trotz dieser Diskrepanz muss bei erhöhtem AFP die Diagnose eines Nichtseminoms gestellt werden, da reine Seminome kein AFP produzieren und Nichtseminome die schlechtere Prognose besitzen. Dies hat wiede­rum Einfluss auf die Therapie. Bei initialem Stadium IIIC, IGCCCG pT1cN3M0S3 mit retroperitonealen Lymphknotenmetastasen und Poor-Risk-Group wurde am Tumor-
board die Durchführung einer Chemotherapie mit 4 Zyklen Cisplatin, Etoposid und Bleomycin empfohlen. Der Patient tolerierte die Chemotherapie bis auf leichte Nausea, Inappetenz und Müdigkeit sowie intermittierenden Tinnitus gut. Die Tumormarker sanken stufenweise, jedoch nicht vollständig. Erst nach der Entfernung der verbleibenden retroperitonealen Masse mittels roboterassistierter retroperitonealer Lymphadenektomie zeigte sich eine Komplettremission mit normalisierten Tumormarkern. Histologisch zeigte sich ein Befund, der zu einem Teratom passt und die laboranalytische Konstellation eines Nichtseminoms erklärt. Nun erfolgte die Nachsorge mit klinischer und laboranalytischer Kontrolle alle 3 Monate sowie zusätzlicher Magnetresonanztomographie des Abdomens und Computertomographie des Thorax alle 6 Monate und Ultraschall des kontralateralen Hodens nach 12 Monaten für das erste Jahr gemäss dem Nachsorgeschema der schweizerischen interdisziplinären Arbeitsgruppe für Hodentumore (1).
Diskussion

Der Keimzelltumor ist bei Männern zwischen 20 und 44 Jahren die häufigste maligne Tumorerkrankung. Der Anteil an allen malignen Erkrankungen in dieser Altersspanne beträgt etwa 25 %. In den letzten Jahren konnte in allen industrialisierten Ländern eine Zunahme der Diagnose von Keimzelltumoren beobachtet werden (2). Die Inzidenz in der Schweiz betrug 2016 etwa 12/100 000, womit die Schweiz zu den Ländern mit der höchsten Inzidenz gehört (3). Zwischenzeitlich zeigte sich 2021 eine Zunahme der Inzidenz in anderen europäischen Ländern. Im Durchschnitt erkrankten zwischen 2013 und 2017 pro Jahr rund 470 Männer an Hodenkrebs (4). Bekannte Risikofaktoren sind etwa der Maldeszensus testis, Unfruchtbarkeit oder eine positive Familienanamnese (5, 6). Gemäss den deutschen Leitlinien wird ein routinemässiges Screening nicht empfohlen, ausser bei entsprechenden Risikofaktoren oder auffälligen Veränderungen bei der Selbstuntersuchung (7). Bei entsprechendem klinischen Verdacht empfehlen die deutschen S3-Leitlinien die bilaterale Hodensonographie mit einer planaren Sonde mit mindestens 7.5 MHZ (S3-Leitlinie Diagnostik, Therapie und Nachsorge der Keimzelltumoren des Hodens, Februar 2020). Ergänzend sollte ein CT Thorax-Abdomen-Becken zum Staging durchgeführt werden. Die S3-Leitlinien empfehlen zusätzlich die Abnahme der Tumormarker Beta-HCG, AFP und LDH sowohl präoperativ wie auch postoperativ zur Therapiekontrolle und Bestimmung des für die Stadieneinteilung wichtigen postoperativen Nadirs (7). Bei rund der Hälfte der Patienten sind Tumormarker erhöht (8). Die Tumormarker dienen dabei nicht nur der Stadieneinteilung, sondern auch der Unterscheidung zwischen Chorionkarzinomen, reinen Seminomen und Nichtseminomen. So spricht etwa das Vorliegen erhöhter AFP-Werte wie in unserem Fall gegen das Vorliegen eines reinen Seminoms (9). LDH hingegen ist unspezifisch, korreliert jedoch mit der Prognose. LDH ist in 80 % aller Patienten mit fortgeschrittenen, metastasierten Keimzelltumoren erhöht (7).
Die Überlebensrate ist im Vergleich zu anderen Krebserkrankungen sehr gut. Die 10-Jahres-Überlebensrate beträgt bis 95 % (2). Bei metastasierten Tumoren in der Poor-Pro­gnosis-Group liegt die 5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit bei 48–64 % (10, 11). Zusammenfassend ist es wichtig, bei entsprechendem klinischen Verdacht eine umfassende Untersuchung und Organisation der Behandlung einzuleiten. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Kollegen der Onkologie und Urologie ist dabei von zentraler Bedeutung. Der Fall repräsentiert deutlich auch den Stellenwert der Sonographie für die Notfall- wie auch Hausarztmedizin.

Key Messages

• Keimzelltumoren stellen bei Männern zwischen 20 und 44 Jahren die häufigste maligne Erkrankung dar.
• In der Schweiz gehören die Sonographie der Hoden sowie die Bestimmung der Tumormarker Beta-HCG, AFP und LDH zum diagnostischen Standard.
• Eine rasche Einberufung eines interdisziplinären Tumorboards sowie die zügige Einleitung der entsprechenden Behandlung sind essenziell.
• Durch eine Kombination aus Orchiektomie, adjuvanter Chemotherapie mit Cisplatin, Etoposid und Bleomycin sowie gegebenenfalls Metastasenentfernung und retroperitonealer Lymphadenektomie konnte selbst in der Poor-Prognosis-Gruppe eine signifikant verbesserte Überlebenswahrscheinlichkeit erreicht werden.

Abkürzungen
Beta-HCG Beta-Humanes Choriongonadotropin
AFP Alpha-Fetoprotein
IGCCCG International Germ Cell Cancer Collaborative Group
MHZ Megahertz
FDG-PET/CT Fluorodeoxyglucose-Positronenemissionstomographie/Computertomographie
LDH Laktatdehydrogenase

Kilian Meier 1, Daniela Weiler 2
1 Interdisziplinäres Notfallzentrum, Kantonsspital Luzern
2 Klinik für Onkologie, Kantonsspital Luzern

Historie
Manuskript eingegangen: 18.09.24
Angenommen nach Revision: 19.03.25

Pract. med.Kilian Meier

Interdisziplinäres Notfallzentrum
Luzerner Kantonsspital
Spitalstrasse 34
6004 Luzern

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

Key Messages
• Keimzelltumoren stellen bei Männern zwischen 20 und 44 Jahren die häufigste maligne Erkrankung dar.
• In der Schweiz gehören die Sonographie der Hoden sowie die Bestimmung der Tumormarker Beta-HCG, AFP und LDH zum diagnostischen Standard.
• Eine rasche Einberufung eines interdisziplinären Tumorboards sowie die zügige Einleitung der entsprechenden Behandlung sind essenziell.
• Durch eine Kombination aus Orchiektomie, adjuvanter Chemotherapie mit Cisplatin, Etoposid und Bleomycin sowie gegebenenfalls Metastasenentfernung und retroperitonealer Lymphadenektomie konnte selbst in der Poor-Prognosis-Gruppe eine signifikant verbesserte Überlebenswahrscheinlichkeit erreicht werden.

Literatur
1. Cathomas R. (2011). Interdisciplinary Evidence-Based Recommendations for the Follow-Up of Testicular Germ Cell Cancer Patients. Onkologie. 34 (1-2): 59-64
2. Bertz J., A. P. (2017). Epidemiologie bösartiger Hodentumore in Deutschland. Der Onkologe. 230-96
3. Schweizerischer Krebsbericht (2015)
4. Schweizerischer Krebsbericht (2021)
5. Dieckmann K.P., H. J. (2008). Tallness is associated with risk of testicular cancer: evidence for the nutrition hypothesis. BR J Cancer, 99(9): 1517-21
6. Behre H.M., K.S. (1995). Clinical relevance of scrotal and transrectal ultrasonography in andological patients. Int J Androl, 18 Suppl 227-31
7. S3 Leitlinie Diagnostik, Therapie und Nachsorge der Keimzelltumoren des Hodens (02/2020)
8. Germà-Lluch J.R., X.G. (2002) Clinical pattern and therapeutic results achieved in 1490 patients with germ-cell tumours of the testis: the experience of the Spanish Germ-Cell Cancer Group. Eur. Urol. 42(6): 553-62, discussion 562-3
9. Yacoub J.H., A.O. (2016): ACR Appropriateness Criteria Staging of Testicular Maglignancy. J AM Coll Radiol. 13(10):1203-1209
10. Kier M.G., J.L. (2017): Prognostic Factors and Treatment Results After Bleomycin, Etoposide, and Cisplatin in Germ Cell Cancer: A Population-based Study. Eur Urol. 71(2):290-298
11. International Germ Cell Consensus Classification 2017