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Neuronale Antizipation und Immunität: Das Gehirn bereitet sich auf virtuelle Infektionen vor

Im Journal of Nature Neuroscience haben Sara Trabanelli (Universität Lausanne, Universität Genf) und Andrea Serino (Universität Lausanne) erstaunliche Ergebnisse zusammengefasst. Ihre im Juli 2025 veröffentlichte Studie zeigt, dass das menschliche Gehirn die Gefahr einer Infektion antizipieren kann, selbst wenn diese nur in der virtuellen Realität dargestellt wird, und eine messbare Immunantwort auslöst.

Vorwegnahme durch das Gehirn im peripersonalen Raum

Das Immunsystem reagiert in der Regel, nachdem ein Krankheitserreger in den Körper eingedrungen ist. Die Studie untersucht jedoch eine andere Hypothese: Das Gehirn sei in der Lage, eine Infektionsgefahr vor jedem physischen Kontakt zu signalisieren.

Zu diesem Zweck verwendeten die Forscher Avatare in der virtuellen Realität, die sichtbare Anzeichen einer Krankheit aufwiesen. Als diese Avatare in den peripersonalen Raum (den unmittelbaren Bereich um den Körper herum) eindrangen, zeigten die Teilnehmer eine frühzeitige Aktivierung der multisensorischen frontoparietalen Regionen und des Salienz-Netzwerks. Diese Bereiche des Gehirns, die auf die Erkennung bedrohlicher Reize spezialisiert sind, reagierten bereits, als der infektiöse Avatar noch weit entfernt war.

Die Immunreaktionen waren vergleichbar mit denen, die nach einer Impfung beobachtet wurden

Über die neurophysiologischen Messungen hinaus analysierte das Team das Blut der Teilnehmer. Nach der Exposition gegenüber infektiösen Avataren zeigten die angeborenen Lymphozyten (ILC) und NK-Zellen Veränderungen, die mit denen nach einer Grippeimpfung vergleichbar waren. Die ILC2 und die Vorläufer der ILC nahmen zu, während die ILC1 abnahmen, was auf eine schnelle Mobilisierung des Immunsystems hindeutet. Diese Modulation war spezifisch für infektiöse Reize und trat bei neutralen oder beängstigenden Reizen nicht auf.

Ein neuroimmuner Dialog

Anschliessend griffen die Forscher auf funktionelle MRT und Konnektivitätsmodellierung zurück. So konnten sie nachweisen, dass die Antizipation einer virtuellen Infektion den Austausch zwischen dem Kortex und dem Hypothalamus, dem Schlüsselzentrum der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA), verstärkte.

Dieser neuroimmunologische Kreislauf ging mit einer Freisetzung von hormonellen Mediatoren und entzündungsfördernden Lipiden einher. Ein künstliches neuronales Netzwerk, das auf diesen Daten trainiert wurde, ermöglichte es, die Immunaktivierung anhand der im Blut gemessenen Hormonspiegel und Lipidmediatoren vorherzusagen.

Reichweite und Grenzen der Studie

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Organismus nicht nur nach einer Infektion reagiert, sondern über eine
vorausschauende Strategie verfügt: Das Gehirn bereitet die Immunität vor, sobald es eine Bedrohung in der Umgebung wahrnimmt.
Diese Entdeckung eröffnet neue Wege, insbesondere bei der Nutzung der virtuellen Realität zur Modulation der Immunität. Die Autoren weisen jedoch auf mehrere Grenzen hin:
• Es handelt sich um eine explorative Studie an jungen, gesunden Erwachsenen.
• Der Vergleich beschränkt sich auf eine einzige Impfung.
• Es ist unklar, ob die Ergebnisse auf andere Kontexte oder Populationen übertragbar sind.

Schlussfolgerung

Die Studie zeigt eine bisher unbekannte neuroimmunologische Integration: Die Antizipation einer Infektion, selbst wenn sie in der virtuellen Realität simuliert wird, reicht aus, um eine Aktivierung der Immunabwehr auszulösen.

Diese Daten bestätigen, dass die Barriere zwischen dem Verhaltenssystem und dem biologischen Immunsystem durchlässiger ist als bisher angenommen. Das Gehirn spielt nicht nur eine zentrale Rolle bei der Vermeidung von Gefahren, sondern auch bei der aktiven Vorbereitung der Immunantwort.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

Quellen
Trabanelli, S., Akselrod, M., Fellrath, J. et al. Neural anticipation of virtual infection triggers an immune response. Nat Neurosci (2025).
https://doi.org/10.1038/s41593-025-02008-y

der informierte @rzt

  • Vol. 15
  • Ausgabe 9
  • September 2025