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SGAIM Herbstkongress 2025

Chronische Diarrhoe in der Hausarztpraxis – Differenzialdiagnosen, Abklärung und sinnvolle Tests

Im Rahmen des diesjährigen Herbstkongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM), der in den OLMA-Hallen in St. Gallen stattfand, präsentierte Dr. med. Irina Bergamin (Health Ostschweiz) im Rahmen der Klinischen Fortbildungstage (KlinFor) einen praxisnahen Überblick zur Abklärung der chronischen Diarrhoe in der Hausarztpraxis. Der von der SGAIM in Zusammenarbeit mit Health Ostschweiz organisierten Veranstaltung lag der Fokus auf klinisch relevanten Themen für die Grundversorgung mit kurzen, fokussierten Sessions, Fallbeispielen und konkreten diagnostischen Handlungsempfehlungen. Der folgende Bericht fasst die wichtigsten Inhalte ihres Vortrags zusammen.



Chronische Diarrhoe gehört zu den häufigsten gastroenterologischen Symptomen in der Hausarztpraxis. Laut Dr. med. Irina Bergamin bleibt die Abklärung oft eine Herausforderung: Die Ursachen sind vielfältig, die verfügbaren Tests zahlreich, die Therapie oft frustrierend und belastbare Evidenz rar.

Breite Differenzialdiagnose erfordert systematisches Vorgehen

Chronische Diarrhoe liegt definitionsgemäss vor, wenn der Patient während mehr als drei Wochen täglich mehr als drei Stuhlgänge vom Typ 5 bis 7 auf der Bristol Stool Form Scale oder über 250 Gramm Stuhlgewicht hat. Die Prävalenz schwankt je nach Studie zwischen 7 und 14 Prozent.
Dr. Bergamin erinnerte daran, dass Diarrhoe kein Krankheitsbild, sondern ein Symptom ist. Eine sinnvolle Klassifikation erfolgt nach Pathophysiologie:
– sekretorisch, z. B. bei endokrinen Tumoren oder mikro­skopischer Kolitis,
– osmotisch, etwa bei Laktoseintoleranz oder Zöliakie,
– entzündlich, z. B. bei Morbus Crohn, Colitis ulcerosa oder infektiösen Ursachen,
– motilitätsbedingt, etwa bei Hyperthyreose, diabetischer Neuropathie oder nach Darmoperationen.

Fallbeispiel 1: 61-jährige Patientin mit chronischer Diarrhoe

Eine 61-jährige Frau stellte sich mit seit sechs Monaten bestehenden wässrigen Stühlen vor, etwa sieben Entleerungen pro Tag. Sie hatte keinen Gewichtsverlust, keine Schmerzen, kein Blut oder Schleim im Stuhl.
Laborchemisch zeigten sich unauffällige Hämatologie und Blutchemie, der klinische Status war bland, und sie nahm keine regelmässige Medikation. Die Anamnese war unergiebig.
Dr. Bergamin diskutierte im Anschluss:
– Welche Form der Diarrhoe liegt am wahrscheinlichsten vor?
– Welche weiteren Abklärungen sind indiziert?
– Welche Befunde sind zu erwarten?
– Ist eine gastroenterologische Überweisung erforderlich, und wenn ja, mit welchen Untersuchungen?
– Welche Therapieoptionen bestehen?
Dieses Beispiel verdeutlichte das strukturierte Vorgehen von der Anamnese über Basisdiagnostik (Stuhlanalyse, Calprotectin, Pankreas-Elastase) bis zur gezielten weiterführenden Abklärung.

Anamnese bleibt der Schlüssel

Die Anamnese liefert laut Bergamin «die halbe Diagnose». Entscheidend sind Dauer, Frequenz, Stuhlkonsistenz und Begleitsymptome. Medikamente (Antibiotika, PPI, Antidiabetika), künstlich gesüsste Produkte und Alkohol gehören zur Basisabklärung. Red Flags wie Gewichtsverlust, Blut im Stuhl, nächtliche Beschwerden oder veränderte Symptomatik erfordern sofortige weiterführende Diagnostik. Bei älteren Patientinnen und Patienten sind Pseudodiarrhoe, Medikamentennebenwirkungen und Clostridien-Infektionen zu bedenken, bei jüngeren eher Intoleranzen oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen.

Schrittweise Diagnostik in der Praxis

In der Praxis stehen Hausärztinnen und Hausärzten mehrere Untersuchungen zur Verfügung, bevor eine Überweisung notwendig wird. Wichtige erste Schritte sind:
– Stuhlanalyse auf Bakterien und Parasiten
– Calprotectin zur Entzündungsabklärung
– Pankreas-Elastase zur Beurteilung der exokrinen Funktion
– Fasting-Test zur Unterscheidung zwischen sekretorischer (Symptome persistieren) und osmotischer Diarrhoe (Symptome sistieren während 48 Stunden Fasten).
Calprotectin ist stabil über mehrere Tage und eignet sich als nichtinvasiver Entzündungsmarker. Werte über 250 µg/g sprechen für eine intestinale Entzündung, jedoch kann bei Dünndarmerkrankungen eine Verdünnung zu falsch niedrigen Werten führen. Die Pankreas-Elastase liefert bei Werten unter 100 µg/g Hinweise auf eine schwere exokrine Insuffizienz, sollte aber nicht aus wässrigen Stuhlproben gemessen werden, da Verdünnung die Ergebnisse verfälscht.

«Test and Treat» – gezieltes Vorgehen statt teurer Diagnostik

Ein pragmatisches Vorgehen empfiehlt sich insbesondere bei unauffälligem Basislabor und fehlenden Red Flags. Probatorische Therapien – etwa Laktosekarenz, Anpassung der Ernährung, Absetzen potenziell auslösender Medikamente oder der Einsatz von Bile Acid Bindern – können wertvolle Hinweise liefern.
Bleibt die Symptomatik bestehen oder treten Alarmsymptome auf, folgen die bildgebenden und endoskopischen Untersuchungen:
– Gastroskopie mit Duodenalbiopsien zur Erfassung von Zöliakie oder Whipple-Krankheit,
– Koloskopie mit Biopsien bei Verdacht auf IBD, mikroskopische Kolitis oder Neoplasie,
– H₂-Atemtests bei Verdacht auf bakterielle Fehlbesiedelung, Laktose- oder Fruktoseintoleranz.

Take-Home-Botschaften

Dr. Bergamin schloss ihren Vortrag mit einem praxisnahen Algorithmus, der sich an den Symptomtypen (wässrig, fettig, blutig) orientiert.

Für die Hausarztpraxis gilt:
– Anamnese ist entscheidend.
– Red Flags verlangen rasches Handeln.
– Gezielte Tests vermeiden unnötige Kosten.
– Probatorische Therapie kann weiterhelfen.
– Bei fehlender Besserung oder Warnzeichen erfolgt die Überweisung zur Gastroenterologin.

Fazit

Die Abklärung chronischer Diarrhoe bleibt ein Balanceakt zwischen diagnostischem Aufwand und klinischem Nutzen. Ein strukturiertes, schrittweises Vorgehen mit Fokus auf Anamnese, Basistests und klar definierten Indikationen zur Überweisung erhöht die diagnostische Sicherheit und schont zugleich die Ressourcen von Patientinnen, Ärzten und Gesundheitssystem.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

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  • Vol. 15
  • Ausgabe 10
  • Oktober 2025