Wandertipp

Monti di Caviano – Zu den Strohdächern der Cento Campi

Stroh wurde zu früheren Zeiten vielerorts nördlich und südlich des Alpenkamms zum Decken von Dächern ­verwendet, so auch im Tessin, nicht nur in den Dörfern, sondern auch in den Städten. Der grossen Brandgefahr ­wegen wurde diese Dachform jedoch häufig aufgegeben oder nach Brandkatastrophen gar verboten. Im Gambarogno war ­diese Dachform noch bis nach dem 2. Weltkrieg weit verbreitet. Vor allem Wirtschaftsgebäude waren mit Stroh gedeckt. Mit dem weitgehenden Niedergang der alpinen Landwirtschaft im Tessin verkamen auch diese Dächer. Zudem war es mit der Aufgabe des Roggenanbaus nicht mehr möglich gewesen, diese Dächer instand zu halten. Auf den Monti di Caviano konnten 1997 zwei Dachstühle nach herkömmlicher Bauart wiederhergestellt und einer davon mit Stroh gedeckt werden. Eine besondere Herausforderung stellte dabei die Beschaffung des geeigneten Strohs dar. Die heute angebauten Roggenarten weisen eine viel zu kurze Wuchshöhe auf. Per Zufall stiess man in Cazis im Graubünden auf ein Feld mit nur noch selten angebautem Roggen, der die notwendige Höhe von 180 cm erreicht.

 



Das Strohdach ist die steilste Dachform im Tessin. Es weist eine Neigung von 60° auf, damit Wasser und Schnee leicht abfliessen bzw. abgleiten können. Die Traglast beträgt lediglich 6 kg/m2, im Gegensatz zu 450–600 kg/m2 bei Dächern, die mit Gneisplatten gedeckt sind. Entsprechend filigran ist die Holzkonstruktion des Strohdachs, muss aber wegen der grossen Angriffsfläche für den Wind trotzdem sehr stabil sein. Auf den in Firstrichtung verlegten Wandpfetten kommen einer oder zwei Ankerbalken auf den Giebelseiten zu liegen, die die Pfetten sichern und ein Kollabieren des Dachs verhindern. Wandpfetten und Ankerbalken sind an ihren Enden eingehalst, sodass diese sicher miteinander verkeilt werden können. Trapezförmige Einkerbungen in den Wandpfetten dienen als Auflager für die Sparren. Diese werden am Firstende abgeschrotet (abgebunden, zugehauen), paarweise gegeneinander geneigt, überblattet und mit einem Holznagel verbunden. Je eine zur Gegenseite entgegen gerichtete, schräg nach oben verlaufende Windstrebe stabilisiert die Sparren gegen seitliches Umkippen. Die schmalen Dachlatten werden mit Holznägeln oder biegsamen Ruten von Ginster, Weiden oder Haselsträuchern an den Sparren festgemacht. Auch die Strohgarben werden mit diesen Ruten an den Latten befestigt. Beim Dreschen des Roggens muss vorsichtig vorgegangen werden, um ohne Beschädigung der Halme die Körner zu gewinnen. Das Decken des Firstes bedarf besonderer Sorgfalt. Zwei Strohbündel werden an einem Ende sorgsam miteinander verflochten, danach kreuzweise über den First gelegt und mit bogenförmig eingesteckten Haselruten auf das Dach heruntergebunden. Auch brandschutztechnisch sind diese Dachkonstruktionen durchdacht. Im Gegensatz zum Dachgerüst, das aus schwer brennbarem Kastanienholz gefertigt ist, bieten die Ruten und natürlich das Stroh nur geringen Widerstand gegen Feuer. Auf diese Weise kann im Brandfall ein vorzeitiges Einstürzen der gesamten Dachkonstruktion und somit eine Gefährdung der fahrbaren Habe besser vermieden werden (1).

Den Aufstieg zu den Monti di Caviano beginnen wir in Dirinella an der Schweizer Grenze. Der alte, bis zum Maiensäss gepflasterte Maultierpfad führt unter der Bahntrasse hindurch steil hinauf nach Scaiano. In diesem Dorf kommen wir am Oratorio San Bernardo Abate und einem turmartigen Wohnhaus mit Fresko der Madonna del Carmelo vorbei. Der breite Weg bleibt auch oberhalb der Häuser stotzig und folgt vorerst der Schluchtkante der Valle di Dirinella. Später wendet sich dieser mehr gegen Nordosten und mündet schliesslich in den vom Dorf Caviano heraufkommenden Weg. Nun ist es nicht mehr weit bis zur gleichnamigen Maiensiedlung. Wie bereits auf Höhe der Dörfer ist auch hier oben das gesamte Gelände terrassiert. Heute weiden Kühe auf den Cento Campi, den hundert Feldern, auf denen früher u. a. Roggen angebaut wurde, der auch das Stroh für die Dächer lieferte. Herrlich ist der Ausblick über den Lago Maggiore zum Gridone hinüber und ins Pedemonte sowie in die Val Maggia hinein (Abb. 1).

Nicht nur das mit Stroh bedeckte Wirtschaftsgebäude, auch die übrigen, dicht zusammenstehenden Häuser der Maiensiedlung bergen viele interessante bauliche Details, auch wenn diese zum grossen Teil bereits stark den Bedürfnissen der heutigen Zeit angepasst worden sind (Abb. 2).

Für den Abstieg wählen wir den ebenfalls gepflasterten Weg nach Caviano hinunter. Wir vermeiden die talseitige Abzweigung zum Fahrsträsschen und halten weiter gegen Nordnordosten. Eine Tafel warnt vor dem Passieren einer steilen Bachrunse bei schlechtem Wetter, zu Recht. Bei viel Regen entwässern diese steilen Hänge sehr schnell, sodass die hochgehenden Bäche zu einer gefährlichen Falle werden können. Nicht umsonst stehen weiter unten zwei Wegkapellen, die in den Tessiner Bergtälern meist an oder vor exponierten Wegpassagen stehen. Die untere Kapelle birgt ein gut erhaltenes Fresko der Madonna di Re (Abb. 3).

In den verwinkelten Gassen von Caviano wenden wir uns der Kirche zu und folgen danach ein kurzes Stück der Strasse Richtung Scaiano, bis talseitig ein Weg abgeht, der uns zum Beginn unserer Aufstiegsroute nach Dirinella zurückbringt (Abb. 4). Diese letzte Wegstrecke erhält nur wenig Sonnenlicht, die Pflästerung ist deshalb bemoost, feucht und rutschig, kein guter Belag für Bergschuhe. Diese steilen Bergpfade wurden ursprünglich eben für Barfussgänger angelegt und nicht für Menschen mit modernem Schuhwerk.

Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo, Schwyz
Leserinnen und Leser, die gerne einmal eine Bergtour mit dem ­Autor der Wandertipps unternehmen möchten, können ihr ­Interesse per E-Mail an christian.besimo@bluewin.ch anmelden und werden darauf über geplante Wanderungen informiert.

In dieser Rubrik werden Berg- und Schneeschuhwanderungen vorgestellt, die in der Regel wenig bekannt sind, zu aussergewöhnlichen Orten führen und die Genugtuung einer besonderen persönlichen Leistung bieten, sei es, dass man sich am Abend nach der Arbeit noch zu einer kleinen körperlichen Anstrengung überwindet, bzw. sich in ein oder zwei Tagen abseits breit getretener Wege unvergessliche Naturerlebnisse erschliesst. Zur besseren Beurteilbarkeit des Schwierigkeitsgrades der Tourenvorschläge wird jeweils eine Einschätzung anhand der SAC-Skala für Berg- (T1–6) und für Schneeschuhwanderungen (WT 1–6) gegeben. Die schwierigste Wegstelle, unabhängig von ihrer Länge, bestimmt jeweils die Gesamtbewertung der Route. Letztendlich bleibt aber jeder selbst für die Beurteilung seiner Fähigkeiten und Eignung für die vorgestellte Wanderung verantwortlich. Die Gehzeiten sind Richtwerte und gelten für normal trainierte Wanderer. Sie müssen nicht zwingend mit den Angaben auf Wegweisern übereinstimmen.

Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo

Riedstrasse 9
6430 Schwyz

christian.besimo@bluewin.ch

1 Gschwend M: Die Bauernhäuser des Kantons Tessin. Band I: Der Hausbau. Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde (Hrsg). Krebs, Basel 1976.

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  • Vol. 15
  • Ausgabe 12
  • Dezember 2025