Familiäres Auftreten von Darmkrebs: Vorsorge, Nachsorge und humangenetische Beratung

Das kolorektale Karzinom (KRK) ist in der Schweiz hinsichtlich jährlicher Neuerkrankungen und Krebstodesfällen die dritthäufigste Karzinomart. Da die meisten Kantone ein organisiertes Vorsorgeprogramm durchführen, werden vermehrt Personen mit einer positiven Familienanamnese für das KRK erfasst. In der Mehrheit liegt die sog. familiäre Form des KRK vor, eine erbliche Form im engeren Sinne ist viel weniger häufig. Verwandte von Patienten mit einem KRK sind bezüglich Risiko, an einem KRK zu erkranken, eine heterogene Gruppe. Eine möglichst gute Einschätzung des Erkrankungsrisikos kann das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer intensivierten Vorsorge optimieren. Diese Empfehlungen («Expert Opinion Statement») sollen im klinischen Alltag als Grundlage dienen für die Planung der Vorsorge, Überwachung und humangenetischen Beratung bei Vorliegen einer für das KRK positiven Familienanamnese.

Schlüsselwörter: familiäres Kolorektalkarzinom, erbliches Kolorektalkarzinom, Lynch-Syndrom, familiäre adenomatöse Polypose, MUTYH-­assoziierte Polypose, Serratiertes Polypose-Syndrom

Einleitung

Das kolorektale Karzinom (KRK) ist in der Schweiz bei beiden Geschlechtern sowohl hinsichtlich jährlicher Neuerkrankungen wie Krebstodesfällen die dritthäufigste Karzinomart (1). Im Laufe des Lebens erkranken rund 3.7 % der Frauen und 5.2 % der Männer an einem KRK. Die Inzidenzraten blieben in der Schweiz in den letzten 30 Jahren weitgehend stabil, während die Mortalitätsraten rückläufig sind: aktuell liegt die 5-Jahres-Überlebensrate bei beiden Geschlechtern zwischen 65 und 70 %.

Ätiologisch kann zwischen dem sporadischen (sKRK), dem familiären (fKRK) und dem erblichen (eKRK) im engeren Sinne unterschieden werden mit je etwa 75 %, 20 % bzw. 5 % aller Neuerkrankungen (2). Der wichtigste Risikofaktor des sKRK ist das Alter, allerdings tritt diese Form in den letzten Dekaden immer häufiger schon vor dem 50. Lebensjahr auf, die Ursachen hierfür sind nur unvollständig verstanden (3). Zahlreiche Beobachtungsstudien dokumentieren ein erhöhtes Erkrankungsrisiko für das KRK bei einer positiven Familienanamnese (4, 5). In der Mehrheit dieser Fälle liegt die familiäre Form des KRK (fKRK) vor, bei der keine pathogene Keimbahnmutation in einem definierten Gen nachweisbar ist. Dem fKRK liegen vermutlich mono-, poly- sowie epigenetische Ursachen und Veränderungen im Mikrobiom zugrunde, deren Risiko, wie bei den anderen Formen, durch Umwelt- und Lebensstilfaktoren wie Ernährung, Rauchen, Alkoholkonsum, körperliche Aktivität und Gewicht etc. moduliert wird (6). Eine erbliche Form des KRK liegt bei einer positiven Familienanamnese nur selten vor, Angehörige betroffener Familien haben ein hohes Erkrankungsrisiko (2). Zu den erblichen (hereditären) Formen zählen insbesondere das eKRK ohne Polypose («nonpolyposis colorectal cancer», HNPCC, heute Lynch-Syndrom [LS] genannt) und verschiedene Polypose-Syndrome (siehe unten).

In der Schweiz ist die Darmkrebsvorsorge für Erwachsene zwischen dem 50. und 69. Lebensjahr mit normalem Erkrankungsrisiko mittels Koloskopie alle 10 Jahre oder durch quantitativen immunologischen Nachweis von okkultem Blut im Stuhl (FIT Test) alle zwei im Krankenversicherungsgesetz anerkannt. Die meisten Kantone führen ein organisiertes Screening-Programm durch. Dadurch werden vermehrt Personen erfasst und untersucht, welche über eine positive Familienanamnese für das KRK berichten. Diverse Fachgesellschaften empfehlen für Angehörige betroffener Familien eine intensivierte Vorsorge (7, 8, 9, 10). Für die Teilnahme an der Vorsorge müssen individuelle Vor- und Nachteile, aber auch gesellschaftliche Faktoren wie Kosten, limitierte personelle Ressourcen etc. berücksichtigt werden. Eine möglichst gute Einschätzung des Erkrankungsrisikos kann das Nutzen-Risiko-Verhältnis der ggf. intensivierten Vorsorge optimieren (11).
Es handelt sich hier um Empfehlungen im Sinne eines sog. Expert Opinion Statement. Diese ersten Schweizer Empfehlungen für das Vorgehen bei einer für das KRK positiven Familienanamnese sollen im klinischen Alltag als pragmatische Grundlage für die Planung der Vorsorge und Überwachung sowie der humangenetischen Beratung dienen. Im Rahmen eines mehrstufigen interdisziplinären Prozesses wurde dieses «Expert Opinion Statement» im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie durch die von den beteiligten Fachgesellschaften benannten Fachleute erarbeitet und repräsentiert eine schweizerische Perspektive. Deren Anwendbarkeit soll im Einzelfall geprüft und der individuellen Situation der Patientinnen und Patienten unter Berücksichtigung der gesamten klinischen Situation angepasst werden. Daten aus randomisierten kontrollierten Studien gibt es kaum, d.h., die verfügbare Evidenz für diese Empfehlungen ist von moderater, teilweise auch nur niedriger Evidenz.

Familiärer Darmkrebs

Allgemein

Rund 20–30 % aller Patienten mit einem KRK haben Verwandte mit dem gleichen Tumorleiden, wobei in rund der Hälfte ein Familienmitglied ersten Grades (Eltern, Geschwister, Kinder) betroffen ist (2). Beim fKRK finden sich oft mehrere, manchmal auch vor dem 50. Lebensjahr erkrankte Angehörige. Exom-Sequenzierungen bei mehr als 3000 Patienten mit einem fKRK konnten in ca. 16 % eine pathogene Keimbahnvariante in einem der bislang bekannten Prädispositionsgene identifizieren (12).

Das fKRK ist eine heterogene Gruppe, deren relative Risikoerhöhung durch den Verwandtschaftsgrad, die Anzahl betroffener Familienmitglieder und deren Erkrankungsalter beeinflusst wird (13, 14). Gemäss Beobachtungsstudien ist das Erkrankungsrisiko für Personen betroffener Familien etwa 2–6-fach erhöht im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (4). Beim Entscheid für das Screening soll auch das absolute Erkrankungsrisiko berücksichtigt werden (14, 15). Anhand der oben erwähnten Zahlen für die Schweiz ergibt sich ein Lebenszeitrisiko etwa zwischen 8 und 20 %. Am höchsten ist das Risiko, wenn Familienmitglieder mit Verwandtschaft im 1. Grad eine KRK-Diagnose hatten und die Erkrankung vor dem 50. Lebensjahr aufgetreten ist (13, 14).

Die möglichst gute Abschätzung der Risikoerhöhung durch eine detaillierte Erhebung der Familienanamnese ist demnach für die weitere Planung einer sinnvollen und ggf. intensivierten Vorsorgestrategie (welche Methode ab welchem Alter, Häufigkeit der Testung) der gesunden Familienmitglieder wichtig. Allerdings ist die Familienanamnese für das KRK und Polypen nur beschränkt zuverlässig, da diese den Angehörigen oft nicht oder nur unvollständig bekannt ist (16). Hinzu kommt, dass Familien heutzutage immer kleiner werden, was die Erkennung eines hereditären Syndroms erschweren kann. Die Familienanamnese verändert sich mit der Zeit, daher soll diese periodisch neu erhoben werden.

Vorsorge

Die bestehenden Richtlinien basieren auf der aktuell verfügbaren Literatur. Evidenz aus prospektiven randomisierten Studien gibt es nicht, die zugrunde liegenden Daten stammen aus Beobachtungsstudien, deren Qualität höchstens moderat ist und Spielraum für unterschiedliche Interpretationen zulässt. Grundlage für die Anwendung einer fKRK-Screening-Strategie ist, dass eine erbliche Form eines KRK weitgehend ausgeschlossen oder sehr unwahrscheinlich ist (siehe Kapitel: Erblicher Darmkrebs). Wie erwähnt, ist das Erkrankungsrisiko beim fKRK sehr variabel. Da Familienangehörige im Verwandtschaftsgrad 2 (Enkel/-in, Grosseltern, Onkel/Tante) kaum und weiter entfernte Verwandte kein erhöhtes Erkrankungsrisiko haben, empfehlen die meisten Fachgesellschaften bei dieser Konstellation keine intensivierte Vorsorge, sondern die Teilnahme an den lokalen Screening-Programmen für Personen mit Durchschnittsrisiko. Da hingegen Personen im Verwandtschaftsgrad 1 ein im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung erhöhtes Darmkrebsrisiko haben, erscheint für diese Personen eine intensivierte Vorsorge gerechtfertigt, auch wenn der protektive Effekt der Screening-Koloskopie in dieser Gruppe nur durch wenige Beobachtungsstudien untermauert ist (17, 18).

Je jünger die betroffene Person bei der Darmkrebsdiagnose war, umso höher ist das Risiko für Angehörige im Verwandtschaftsgrad 1 (14). Die Kriterien für die Klassifikation eines gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhten KRK-Risikos sind bei den verschiedenen Fachgesellschaften sehr unterschiedlich. Historisch von Bedeutung waren die Amsterdam-Kriterien I (1991) bzw. II (1999), die zur Identifikation der dem Lynch-Syndrom (LS) zugrunde liegenden Gene bzw. der Erfassung von LS-Patient/-innen entwickelt wurden, sowie die revidierten Bethesda-Guidelines (2004), die mittels Untersuchung der Mikrosatelliteninstabilität im Tumor die Sensitivität weiter erhöht haben (für eine Kriterienzusammenstellung s. a. Jasperson et al., 2010) (2). Die Guidelines der «U.S. Multi-Society Task Force on Colorectal Cancer» (USMSTF) empfehlen eine intensivierte Vorsorge generell, wenn eine Person mit Verwandtschaftsgrad 1 ein KRK hatte, d.h. unabhängig vom Erkrankungsalter (7). Die «European Society of Gastrointestinal Endoscopy» (ESGE) und die «British Society of Gastroenterology» (BSG) empfehlen eine intensivierte Vorsorge bei nur einer betroffenen Person im Verwandtschaftsgrad 1, wenn deren Erkrankung vor dem 50. Lebensjahr auftrat, das «Cancer Council Australia» (CCA) bei Manifestation des KRK vor dem 60. Lebensjahr (Tab. 1) (8, 9, 10). Sind hingegen zwei Personen im Verwandtschaftsgrad 1 an einem KRK erkrankt, dann schlagen die meisten Fachgesellschaften eine intensivierte Vorsorge unabhängig von deren Erkrankungsalter vor.

Es bestehen zwischen den verschiedenen Fachgesellschaften nicht nur verschiedene Definitionen zur Rechtfertigung der intensivierten Vorsorge, sondern auch unterschiedliche Vorgehensweisen, ab welchem Alter und mit welcher Häufigkeit die Vorsorge erfolgen soll (7, 8, 9, 10). Wie in Tab. 1 dargestellt, variiert der Beginn der Vorsorge bei fKRK je nach Fachgesellschaft zwischen 40 und 55 Jahren. Wenn eine intensivierte Vorsorge empfohlen ist, dann soll diese mittels Koloskopie erfolgen (10). Wenn die Koloskopie abgelehnt wird oder nicht durchführbar ist, dann kann alternativ die Vorsorge mit FIT Test erfolgen, vorzugsweise jährlich (19). Das weitere Vorgehen richtet sich nach der Konstellation der Familienanamnese (Tab. 1), dem Befund der Erstkoloskopie bzw. nach endoskopischer Entfernung von Polypen entsprechend den Richtlinien der verschiedenen Fachgesellschaften zur Nachsorge nach Polypektomie (20). Eine kürzlich publizierte Übersichtsarbeit fasst die Guidelines dieser und weiterer Fachgesellschaften zusammen und stellt die Divergenzen dar (21).

Nur wenige Studien haben untersucht, ob nach endoskopischer Polypektomie das Risiko für metachrone Polypen höher ist bei positiver KRK-Familienanamnese im Vergleich zu unauffälliger Familiengeschichte. Für die Entwicklung von adenomatösen Polypen (AP) konnte dies gezeigt werden, dabei war die Risikoerhöhung etwa gleich hoch für metachrone fortgeschrittene wie nicht fortgeschrittene AP. Die Risikoerhöhung war grösser für jüngere (< 50) im Vergleich mit älteren Personen und wenn mindestens zwei erstgradig Verwandte ein KRK hatten (22, 23). Die ESGE und BSG empfehlen dennoch die gleichen Überwachungsintervalle nach endoskopischer Polypenentfernung für Personen mit positiver KRK-Familienanamnese wie für Personen mit Durchschnittsrisiko.

Empfehlungen

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften empfehlen wir das intensivierte Screening mittels Koloskopie alle 5 Jahre ab Alter 40 für Personen, bei denen ein Familienangehöriger im Verwandtschaftsgrad 1 vor dem 60. Lebensjahr an einem KRK erkrankt ist, für Personen mit zwei oder mehr betroffenen Angehörigen derselben Familienseite im Verwandtschaftsgrad 1, unabhängig von deren Erkrankungsalter, sowie für Personen, bei denen ein Familienangehöriger im Verwandtschaftsgrad 1 und zusätzlich mindestens zwei Angehörige mit Verwandtschaftsgrad 2 betroffen sind. Die Nachsorge nach koloskopischer Polypektomie kann entsprechend den revidierten schweizerischen Konsensusempfehlungen erfolgen bzw. im Einzelfall, möglicherweise bei jüngeren Betroffenen, verkürzt werden (20).

Nebst dem möglichst sicheren Ausschluss einer erblichen Form eines KRK beim Indexpatienten ist die hohe Qualität der Erstkoloskopie Voraussetzung für die Anwendung dieser Empfehlungen. Die Koloskopie soll mit High-definition-Auflösung erfolgen, hingegen gibt es keine Evidenz für den Nutzen der generellen Anwendung der Chromoendoskopie (8). Letztlich sei erwähnt, dass Angehörige von Familien mit irgendeiner Form des familiären Auftretens eines KRK auf die Relevanz der Primärprävention hingewiesen werden sollen (normaler BMI, nicht rauchen, regelmässige körperliche Aktivität, moderater Konsum von rotem und prozessiertem Fleisch sowie Alkohol) (24).

Verwandte von Patienten mit ­kolorektalen Polypen

Nur wenige Fachgesellschaften haben Guidelines zur Gestaltung der Vorsorge bei Familienangehörigen von Personen mit gutartigen kolorektalen Polypen publiziert. Die verfügbare Datenlage hierzu ist kontrovers (25, 26). Die Risikoerhöhung für das Auftreten eines KRK scheint abhängig vom Alter des betroffenen Familienmitgliedes zu sein und ob bei diesem nicht fortgeschrittene oder fortgeschrittene Polypen vorgelegen haben. Eine intensivierte Vorsorge wird nur empfohlen, wenn bei einem Verwandten im Verwandtschaftsgrad 1 fortgeschrittene AP abgetragen wurden (fortgeschrittene AP: ≥ 10 mm oder Nachweis von hochgradiger Dysplasie oder ≥ 5 AP unabhängig von Grösse und Dysplasiegrad; fortgeschrittene serratierte Polypen (SP): ≥ 10 mm oder Nachweis irgendeiner Dysplasie oder ≥ 5 SP unabhängig von Grösse und Dysplasie, traditionell serratierte Adenome unabhängig von Grösse und Dysplasie). Ist die Histologie der entfernten Polypen nicht bekannt, dann wird von einem nicht fortgeschrittenen Polypen ausgegangen und keine intensivierte Vorsorge empfohlen. Weitgehend unklar ist die Datenlage nach Abtragung von fortgeschrittenen SP: hier empfiehlt die USMSTF das gleiche Vorgehen wie bei fortgeschrittenen AP, während mehrere andere Fachgesellschaften hierzu keine spezifischen Empfehlungen abgeben (7, 8, 9, 10). Demgegenüber ergab eine grosse schwedische Studie ein erhöhtes KRK-Risiko für erstgradige Verwandte von Familienmitgliedern mit kolorektalen Polypen, und zwar unabhängig von deren Histologie (27). Dabei zeigte sich vor allem ein zunehmendes Risiko für das Auftreten eines KRK vor dem 50. Lebensjahr, wenn mehrere Familienmitglieder Polypen hatten und je jünger deren Manifestationsalter war. Sollten sich diese Daten bestätigen, dann wird möglicherweise in Zukunft eine intensivierte Vorsorge bei einer positiven Familienanamnese für Polypen empfohlen, sofern mindestens zwei Familienangehörige im Verwandtschaftsgrad 1 Polypen vor dem 50. Lebensjahr hatten, unabhängig von deren Histologie, welche oft nicht verfügbar ist.

Empfehlungen

Anhand der derzeit verfügbaren Datenlage und den Guidelines anderer Fachgesellschaften empfehlen wir das Screening mittels Koloskopie alle 5–10 Jahre ab Alter 40 für Personen mit einem Familienangehörigen im Verwandtschaftsgrad 1, bei dem vor dem 50. Lebensjahr ein dokumentierter fortgeschrittener Polyp (AP oder SP) abgetragen wurde. Anhand der derzeitigen Datenlage können keine Empfehlungen gemacht werden bei einer anderweitig positiven Familienanamnese für kolorektale Polypen.

Serratiertes Polypose-Syndrom

Das serratierte Polypose-Syndrom (SPS) ist das häufigste kolorektale Polypose-Syndrom mit einer Prävalenz von etwa 1:240 (28). Eine 2022 publizierte Metaanalyse berichtete über ein KRK-Risiko für SPS-Patienten von 20 % (29). Die Mehrheit der Karzinome wurde zum Zeitpunkt der SPS-Diagnose gestellt, das Karzinomrisiko während der Überwachung lag bei knapp 3 %. Die dem SPS zugrunde liegenden molekularen Mechanismen sind weitgehend unbekannt, das SPS ist daher klinisch definiert: (i) ≥ 5 serratierte Polypen (SP) proximal des Rektums, alle ≥ 5 mm, zwei dieser Polypen müssen ≥ 10 mm sein; (ii) > 20 serratierte Polypen unabhängig von deren Grösse, ≥ 5 dieser Polypen müssen proximal des Rektums sein. Die Anzahl Polypen wird kumulativ über mehrere Koloskopien berechnet und umfasst alle SP-Subtypen (29). Auch wenn kein erbliches Syndrom im engeren Sinne vorliegt, haben erstgradige Verwandte von Patienten mit SPS ein etwa 5-fach erhöhtes KRK-Risiko (30).

Die Überwachung von SPS-Patienten mittels Koloskopie kann alle 1–2 Jahre erfolgen (9). Einige Fachgesellschaften empfehlen zunächst eine Clearing-Phase mit Entfernung aller Polypen (ausser HP < 5 mm), gefolgt von jährlicher Überwachung bei mindestens einem fortgeschrittenen Polypen (Adenom oder serratierter Polyp) oder ≥ 5 nicht fortgeschrittenen Polypen bzw. 2-jährlicher Überwachung ohne Nachweis einer solchen Konstellation (31, 32). Für Verwandte im ersten Verwandtschaftsgrad von SPS-Patienten kann eine koloskopische Überwachung alle 5 Jahre ab Alter 40–45 (oder SPS-Manifestationsalter des erstgradig Verwandten oder 10 Jahre früher als dessen Erkrankungsalter) erfolgen (9, 33).

Empfehlung

Anhand der derzeit verfügbaren Datenlage schlagen wir das genannte Phänotyp-abhängige Vorgehen mit einer Clearing-Phase gefolgt von 2-jährlichen Koloskopien vor, sofern keine fortgeschrittenen und weniger als 5 Polypen vorliegen (grössenunabhängig, alle Subtypen). Falls dies jedoch der Fall ist, dann soll die koloskopische Kontrolle jährlich erfolgen.

Familiäres Kolorektales Karzinom Typ X

Diese Entität umfasst die rund 40 % Patienten mit klinischem Verdacht auf das Vorliegen eines LS (3 Verwandte im Verwandtschaftsgrad 1 mit KRK, 2 Generationen betroffen), ohne dass eine MMR-Defizienz oder Mutation in einem der MMR-Gene nachweisbar ist. Das Karzinomrisiko in dieser Gruppe beschränkt sich auf das Kolorektum und ist kleiner als beim LS und Lynch-like Syndrom (LLS) (34), sodass meist eine Koloskopie alle 3–5 Jahre ab Alter 40 (oder 10 Jahre früher als das jüngste Manifestationsalter innerhalb der Familie) vorgeschlagen wird (9, 35).

Empfehlung

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften schlagen wir folgendes Screening vor: Koloskopie alle 3–5 Jahre ab Alter 40 oder 10 Jahre früher als das Erkrankungsalter des jüngsten betroffenen Familienmitgliedes.

Erblicher Darmkrebs

Beim erblichen KRK kann zwischen Darmkrebs ohne vorbestehende Kolon-Polypose («nonpolyposis colorectal cancer») und den Polypose-Erkrankungen unterschieden werden (Tab. 2), bei letzteren zudem nach der vorherrschenden Polypenart. Wie aus Tab. 2 ersichtlich, beschränkt sich die erhöhte Tumoranfälligkeit meist nicht nur auf ein einzelnes Organsystem wie das Kolorektum. Oft zeigen sich sowohl inter- wie intrafamiliär phänotypische Unterschiede, denen wohl komplexe Interaktionen zwischen genspezifischen Unterschieden sowie Umwelt- und Lifestyle-Faktoren zugrunde liegen (36).

Lynch-Syndrom

Mit einer Prävalenz von ca. 1 auf 279 Personen stellt das autosomal-dominant erbliche LS die weltweit häufigste Tumorveranlagung dar (37). Rund 3 % aller KRK entstehen auf dem Boden einer LS-Veranlagung, bei der pathogene Keimbahnvarianten in den MMR-Genen MLH1, MSH2/EPCAM, MSH6 und PMS2 zugrunde liegen. Die daraus resultierende MMR-Defizienz lässt sich im Tumorgewebe indirekt in Form einer Mikrosatelliteninstabilität (MSI) bzw. dem Verlust der MMR-Proteinexpression nachweisen.

Prospektive Studien konnten ausgeprägte genspezifische Unterschiede für Tumorerkrankungen bei Personen mit nachgewiesener LS-Veranlagung aufzeigen: So beträgt das Lebenszeitrisiko für das KRK bei MLH1- und MSH2-Träger/-innen ca. 42–53 % und wird im Mittel um das 44. Lebensjahr diagnostiziert; MSH6- und PMS2-Träger/-innen entwickeln «lediglich» in ca. 3–20 % ein KRK erst mit 42–69 (MSH6) bzw. 61–66 Jahren (PMS2) (38, 39). Ähnlich verhält es sich mit anderen LS-assoziierten, extrakolonischen Tumorerkrankungen wie Endometrium- (MSH2, MSH6, MLH1: ca. 35–46 %; PMS2: ca. 13 %), Ovarial- (MSH2, MLH1, MSH6: ca. 11–17 %; PMS2: ca. 3 %) und Magen-/Dünndarmkarzinom (MSH2, MLH1: ca. 8–16 %; MSH6, PMS2: ca. 2–4 %) (40). Aufgrund dieser Unterschiede haben mehrere Fachgesellschaften ihre Empfehlungen für gynäkologische und gastroenterologische Vorsorgeuntersuchungen genspezifisch angepasst (Tab. 3) (41).

Bei Darmkrebspatienten und zur Vorsorgekoloskopie erscheinenden Personen mit positiver Familienanamnese für das KRK soll bei folgenden klinischen Konstellationen an ein LS gedacht werden: Darmkrebsdiagnose vor dem 50. Lebensjahr, syn- oder metachrone LS-assoziierte Tumoren unabhängig vom Erkrankungsalter, ein Angehöriger 1. oder 2. Grades mit vor dem 50. Lebensjahr diagnostiziertem, LS-assoziiertem Tumor bzw. 2 oder mehr Angehörige mit LS-assoziierten Tumoren unabhängig vom Erkrankungsalter. Weiter sollte eine genetische Abklärung bei Vorliegen einer auffälligen Familienanamnese, wie oben erwähnt, oder am Tumorgewebe nachgewiesener MMR-Defizienz oder somatischen MMR-Genalterationen in Betracht gezogen werden (37). Auch bei Vorliegen einer Lynch-Syndrom verdächtigen Klinik und im Tumor erhaltener MMR-Funktion sollte eine Abklärung der MMR-Gene in der Keimbahn diskutiert werden, da die diagnostische Sensitivität der erwähnten indirekten Methoden nur bei ca. 90 % liegt (42).
Immuncheckpoint-Inhibitoren werden heutzutage oft in der Behandlung von MMR-defizienten soliden Tumoren eingesetzt und daher alle neu diagnostizierten KRK (und zunehmend auch weitere Krebsarten) auf ihre MMR-Funktion überprüft. Dies ist nicht nur von grosser Bedeutung für die bessere Erfassung von LS-Patient/-innen, sondern eröffnet zudem neue Therapieoptionen bei ca. 10–15 % der Patient/-innen mit sporadischem MMR-defizientem KRK (43).

Die KRK-Vorsorge wird von verschiedenen Fachgesellschaften für Träger/-innen einer MLH1- oder MSH2-Mutation ab Alter 25 und bei MSH6- oder PMS2-Mutation ab Alter 35 empfohlen (Tab. 3). Die Vorsorge wird generell mittels Koloskopie und bei MLH1- oder MSH2-Trägerschaft alle 1–3 Jahre empfohlen, bei Mutation im MSH6-Gen alle 2–3 Jahre und bei einer Mutation im PMS2-Gen alle 5 Jahre. Prospektive erhobene Daten einer europäischen Studie zeigten hinsichtlich Inzidenz und Tumorstadium keinen Benefit bei jährlicher Koloskopie gegenüber einem weniger strikten Überwachungsprotokoll (44). Trotz Überwachung erreichte in dieser Studie die kumulative KRK-10-Jahresinzidenz bis zu 18 %. Dies bedeutet, dass durch die koloskopische Surveillance mit Polypektomie das KRK nicht immer verhindert, aber oft früher erkannt werden kann, mit entsprechend besserer Prognose. Die Gründe hierfür sind noch nicht vollständig geklärt (45). Gute Evidenz für den Nutzen einer regelmässigen Überwachung zur Senkung der Inzidenz und Mortalität von Karzinomen des Magens, Dünndarmes und Pankreas gibt es nicht.

Dementsprechend wird die Überwachung des oberen Gastrointestinaltraktes von den meisten Fachgesellschaften nicht routinemässig, sondern nur bei Vorliegen weiterer Risikofaktoren (familiäres Auftreten von Magenkarzinomen, Regionen mit hoher Inzidenz für Magenkrebs) empfohlen, meist ab Alter 30. Vorsorgeuntersuchungen für den Dünndarm und das Pankreas werden ebenso nicht generell, sondern nur auf individueller Basis empfohlen, bspw. bei (mehrfachem) familiärem Auftreten von Karzinomen in den entsprechenden Organen.

Empfehlungen

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften schlagen wir folgendes Screening vor (Tab. 3): Koloskopische Überwachung geschlechtsunabhängig alle 2 Jahre bei MLH1- oder MSH2-Mutation ab Alter 25, bei MSH6 ab Alter 35 alle 2–3 Jahre und bei PMS2-­Mutation ab Alter 35 alle 5 Jahre. Beginn der Überwachung in allen Fällen wenigstens 5 Jahre früher als das Erkrankungsalter des jüngsten betroffenen Familienmitgliedes. Anpassung der Überwachung an den kolorektalen Phänotyp (Nachweis fortgeschrittener Polypen), zudem vorzeitige Untersuchung bei Auftreten von Symptomen. Obere Panendoskopie in Abhängigkeit des familiären Phänotyps (positive Familienanamnese für das Magenkarzinom). Wir empfehlen eine Helicobacter-Pylori-Diagnostik mit ggf. Era­dikation. Den Patient/-innen soll ein gesunder Lebensstil empfohlen werden (wie die Vermeidung von Übergewicht, regelmässige Bewegung und eine ausgewogene Ernährung) (46).

Fortschritte in der Labordiagnostik und die Fortsetzung der prospektiven Datenerhebung in internationalen Konsortien wie der Prospective Lynch Syndrome Database (PLSD) (47) werden zu weiteren, klinisch relevanten Genotyp-Phänotyp-Korrelationen führen, welche Anpassungen des Screenings gastrointestinaler und anderer Organe erfordern. Daher sind in Tab. 2 diverse Webadressen aufgelistet, um sich nach den aktuellsten Vorsorgeuntersuchungen zu informieren. Der Vollständigkeit halber sei noch das autosomal-rezessiv erbliche, konstitutionelle Mismatch-Reparatur-Defizienz-Syndrom (CMMRD) erwähnt, eine seltene Krebsveranlagung des Kindesalters, die v. a. mit malignen hämatologischen, gastrointestinalen und ZNS-Tumoren einhergeht (40).

Lynch-like Syndrom

Das LLS beschreibt Personen mit MMR-defizientem KRK oder anderen LS-assoziierten Tumoren, ohne dass eine Keimbahnmutation in einem MMR-Gen nachweisbar ist (48). Da die Mehrheit aller KRK mit MSI nicht im Rahmen eines LS, sondern sporadisch als Folge einer Hypermethylierung im MLH1-Promoter auftreten, soll diese molekulare Aberration ausgeschlossen werden. Ist dies der Fall, dann ist in 50–70 % der Fälle die MMR-Defizienz durch (sporadisch aufgetretene) biallelische somatische MMR-Genmutationen erklärt. Um Betroffene und deren Verwandte nicht durch unnötige Überwachungen zu belasten, soll daher auch diese Konstellation im Labor ausgeschlossen werden (49, 50). Das KRK-Risiko in betroffenen Familien scheint kleiner als bei nachgewiesenem LS, aber höher als beim fKRK zu sein (34, 51). Die Datenlage zum wenig verstandenen LLS ist dürftig, vorgeschlagen wird beispielsweise die Überwachung mittels Koloskopie alle 2–3 Jahre für Betroffene und deren Verwandte im Verwandtschaftsgrad 1 ab Alter 25 bzw. in Abhängigkeit von der Familienanamnese (9, 52).

Empfehlung

Anhand der limitierten Evidenz können keine Empfehlungen gegeben werden. Die Überwachung soll individuell unter Berücksichtigung der Familienanamnese und des Phänotyps des/der betroffenen Patient/-in festgelegt werden.

Adenomatöse Polyposen

Die im Vergleich zum Lynch-Syndrom deutlich selteneren adenomatösen Polyposen-Syndrome sind für ca. 1 % der KRK insgesamt bzw. ca. 2 % aller vor dem 50. Lebensjahr diagnostizierten KRK verantwortlich. Diagnostisch unproblematisch ist die «klassische» Ausprägung mit Hunderten bis hin zu Tausenden von gastrointestinalen Adenomen (53). In bis zu einem Drittel liegt beim klassischen Phänotyp keine positive Familienanamnese vor, sodass von einer Neumutation ausgegangen wird. Liegen weniger als 100 Adenome vor, handelt es sich um eine attenuierte Polypose-Form, die genetisch heterogen ist und sowohl dem autosomal-dominanten (APC, POLD1, POLE) als auch dem autosomal-rezessiven Erbgang (MUTYH, NTHL1, MSH3, MBD4 u. a.) folgen kann.

Eine genetische Abklärung ist zu diskutieren, wenn bei einer Person kumulativ mindestens 10–20 Adenome nachgewiesen wurden. Wie Terlouw et al. gezeigt haben, liegt die Detektionswahrscheinlichkeit für pathogene APC- oder MUTYH-Varianten über 10 %, wenn bei einer Person vor dem 60. Lebensjahr kumulativ mehr als 10 bzw. vor dem 70. Lebensjahr mehr als 20 adenomatöse Polypen gefunden wurden (54). Weiter können das Vorliegen extrakolonischer Tumormanifestationen, wie z.B. Desmoid-Tumoren, multiple Osteome u. a., und eine auffällige Familiengeschichte (Angehöriger 1. Grades mit > 10 Adenomen) zusätzliche Hinweise auf eine hereditäre Polypose liefern. Das Risiko für die Entwicklung eines KRK nimmt bei der klassischen APC-bedingten familiären adenomatösen Polypose (FAP) bereits anfangs der zweiten Lebensdekade zu und erreicht ein Lebenszeitrisiko von beinahe 100 %. Bei Vorliegen der attenuierten Form (AFAP) treten Neoplasien etwas später und vor allem im rechten Hemikolon auf, das KRK-Risiko beträgt ca. 70 % (55, 56). Bei beiden Formen treten auch gehäuft Karzinome im oberen Gastrointestinaltrakt auf, im Bereich von Duodenum/Papilla Vateri in ca. 4–12 % und im Magen in ca. 1 %.

Die meisten Fachgesellschaften empfehlen bei nachgewiesener Trägerschaft einer autosomal-dominant erblichen APC-bedingten Kolonpolypose die 1–2-jährliche koloskopische Überwachung bei der klassischen Form ab dem Beginn und bei der attenuierten FAP (AFAP) ab dem Ende der zweiten Lebensdekade.

Bei den meisten Patienten mit APC-bedingter Polypose, besonders der klassischen Form (bis 90 %), finden sich im Magen zahlreiche Drüsenkörperzysten, Adenome sind weniger häufig, scheinen aber klinisch relevanter zu sein wegen des Risikos einer malignen Transformation. Die Strategien zur Überwachung im oberen Gastrointestinaltrakt bei FAP bzw. AFAP sind heterogen. Bei der klassischen Form wird eine obere Endoskopie mit Darstellung der Papilla Vateri ab dem 20.–25. Lebensjahr vorgeschlagen mit befundabhängiger (Spigelman-Klassifikation, Phänotyp im Magen) Wiederholung alle 6 Monate bis 5 Jahre. Da Träger/-innen einer pathogenen APC-Variante, die hinter APC-Kodon 1395 liegt, ein erhöhtes Lebenszeitrisiko (ca. 10–24 %) für Desmoid-Tumoren aufweisen, sollten bei diesen Personen mehrstufige Operationen vermieden und klinisch ein besonderes Augenmerk auf entsprechende abdominale Symptome gelegt werden, mit ggf. bildgebender Abklärung mittels MRI oder CT.

Bei der autosomal-rezessiven MUTYH-bedingten attenuierten Form der adenomatösen Polypose (MAP) liegt das Lebenszeitrisiko für ein KRK bei ca. 80 %, für ein Karzinom im Duodenum bei ca. 4 % und im Magen bei ca. 1 %. Wie bei der APC-assoziierten Form der attenuierten Polypose steigt das KRK-Risiko erst gegen Ende der zweiten Lebensdekade an, und auch die MAP manifestiert sich vor allem im rechten Hemikolon, dabei können nebst AP auch SP vorliegen. Dementsprechend empfehlen die meisten internationalen Fachgesellschaften für die Überwachung des Kolorektums bei MAP (nachgewiesene biallelische MUTYH-Träger/-innen), sofern die persönliche bzw. die Familienanamnese nicht auf einen besonderen Phänotyp hinweist, 1–2-jährliche Koloskopien ab dem 18.–20. Lebensjahr. Eine obere Endoskopie mit Darstellung der Papilla Vateri wird ab der 3. Dekade vorgeschlagen, wiederum befundabhängig alle 6 Monate bis 5 Jahre. Kontrovers wird derzeit diskutiert, ob monoallelische (heterozygote) MUTYH-Träger/-innen ein (etwa 2-fach) erhöhtes KRK-Risiko tragen. Teilweise wird empfohlen, ab dem 40. Lebensjahr etwa alle 5 Jahre eine Koloskopie durchzuführen, insbesondere wenn in der Familie ein erstgradig Verwandter an einem KRK erkrankte.

Empfehlungen

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften schlagen wir folgendes Screening vor (Tab. 3): Koloskopie alle 1–2 Jahre ab Alter 12–14 bei klassischer FAP, bei AFAP und MAP ab Alter 18–20. Gastroskopie mit Darstellung der Papilla Vateri alle 1–5 Jahre ab Alter 25. Anpassung der endoskopischen Überwachung des oberen und unteren Gastrointestinaltraktes an den Phänotyp und bei Auftreten von Symptomen. Bei Status nach Operation soll das Restrektum oder der Pouch ca. alle 6–12 Monate endoskopisch kontrolliert werden. In den letzten 20 Jahren wurden weitere, sehr seltene Non- bzw. Polypose-Formen entdeckt, die mit einem erhöhtem Risiko für das KRK und oft auch für extrakolonische Tumore einhergehen (Tab. 2). Aufgrund der Seltenheit wird in dieser Arbeit nicht näher auf diese eingegangen.

Genetische Beratung und Abklärung

Bei ca. 13 % (9 %–26 %) der KRK-Patient/-innen, deren Erkrankung vor dem 50. Lebensjahr diagnostiziert wurde, lässt sich eine pathogene Keimbahnvariante in einem der 17 bislang bekannten Gene identifizieren (57), was von klinischer Relevanz sein kann. Das frühzeitige Erkennen einer erblichen Darmkrebserkrankung hat dabei nicht nur Konsequenzen für das chirurgisch-onkologische Vorgehen und die Gestaltung der Nach- bzw. Vorsorge beim Betroffenen, sondern ist auch von essenzieller Bedeutung für dessen gesunde Familienangehörige. So ermöglicht dies in der Folge auch den Angehörigen (u. a. Eltern, Geschwister, Kinder meist erst ab 18. Lebensjahr), sich nach entsprechender genetischer Beratung und angemessener Bedenkzeit prädiktiv auf Trägerschaft testen zu lassen (Trägerwahrscheinlichkeit bei Verwandten 1. Grades: 25 % bzw. 50 %) und so für sich die Notwendigkeit regelmässiger Krebsvorsorgeuntersuchungen zu klären.

Die Kosten einer molekulargenetischen Abklärung von 1–10 Genen belaufen sich auf ca. CHF 3 000 – 4 000.– und sind als Pflichtleistungen in der Analysenliste (Anhang 3 der Krankenpflege-Leistungsverordnung) entweder spezifisch (Lynch-Syndrom, APC-bedingte Polypose) oder in genereller Form als «Seltene erbliche Tumorkrankheiten» aufgeführt. Für Letztere sollte zur Sicherung der Kostenbeteiligung vorgängig ein sog. Orphan Disease-Antrag beim vertrauensärztlichen Dienst des Krankenversicherers eingereicht werden (Antragsformular: https://sgmg.ch/de/fachthemen#fachthemen-dokumente).

Vor Veranlassung einer diagnostischen genetischen Abklärung bedarf es, wie im Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG) festgehalten, einer hinreichenden Aufklärung, die der/die auftraggebende Arzt/Ärztin entweder selbst durchführt oder eine genetische Beratung veranlasst, sowie der Zustimmung des Patienten bzw. der Patientin.
Vor und nach einer präsymptomatischen (prädiktiven) genetischen Testung ist eine fachkundige genetische Beratung gesetzlich vorgeschrieben, in der nicht nur auf Aussagekraft, Grenzen und medizinische Konsequenzen einer Tragertestung bzw. dem Verzicht darauf eingegangen wird, sondern auch psychosoziale und (versicherungs)rechtliche Aspekte diskutiert werden. Die Trägertestung beläuft sich auf ca. CHF 400.– und stellt, mit Ausnahme von Lynch-Syndrom und APC-bedingter Polypose, keine Pflichtleistung der Krankenversicherer dar.

Chemoprävention

In diversen Labor- und klinischen Studien konnte ein protektiver Effekt diverser Substanzen (NSAR, Statine, Vitamine etc.) auf die Entstehung und Progression kolorektaler Neoplasien nachgewiesen werden (58). So zeigte sich für die am besten untersuchte Medikamentengruppe, NSAR inkl. Aspirin, dass bei FAP-Patienten die Anzahl und Grösse von Polypen und bei Patienten mit Lynch-Syndrom das KRK-Risiko gesenkt werden kann. In der CAPP-2-Studie wurde das KRK-Risiko nach rund 10 Jahren durch die Einnahme von 600 mg Aspirin täglich im Vergleich zu Placebo um rund 35 % gesenkt (59). Verschiedene Aspekte wie die optimale Dosierung und Dauer der Chemoprävention mit Aspirin sind aber noch ungenügend geklärt. Dementsprechend unterstützen einige Fachgesellschaften die prophylaktische Aspirin-Einnahme bei LS, während andere keine Stellungnahme abgeben. Risiko und Benefit müssen daher individuell abgeschätzt und auch im Rahmen allfälliger Komorbiditäten und des Alters beurteilt werden.



Abkürzungen
AFAP  Attenuierte familiäre adenomatöse Polypose
AP  Adenomatöser Polyp
BSG  British Society of Gastroenterology
CCA  Cancer Council Australia
eKRK  Erbliches kolorektales Karzinom
FAP  Familiäre adenomatöse Polypose
FDR  First-degree Relatives
FIT  Test Immunologischer Test auf okkultes Blut im Stuhl
fKRK  Familiäres kolorektales Karzinom
ESGE  European Society of Gastrointestinal Endoscopy
HNPCC  Hereditary Nonpolyposis Colorectal Cancer
HP  Hyperplastischer Polyp
KRK  Kolorektales Karzinom
LLS  Lynch-like Syndrom
LS  Lynch-Syndrom
MAP  MUTYH-assoziierte Polypose
MMR  Mismatch Repair
SP  Serratierter Polyp
SPS  Serratiertes Polypose-Syndrom
USMSTF  U. S. Multi-Society Task Force


Disclaimer
Diese Empfehlungen müssen in der Zukunft überarbeitet und angepasst werden, abhängig von neuen Studiendaten und techno­logischen Möglichkeiten sowie basierend auf Erfahrungen im klinischen Alltag. Diese Empfehlungen sollen als Orientierung in der klinischen Praxis dienen und nicht als universell gültige Regeln angewendet werden. Die klinische Situation kann eine Abweichung von den vorgeschlagenen Empfehlungen erfordern.

PD Dr. med. Kaspar Truninger

Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100, 8091 Zürich

k.truninger@hin.ch

Prof. Dr. med. Dr. phil. II Karl Heinimann

Institut für Medizinische Genetik und Pathologie Universitätsspital Basel
Schönbeinstrasse 40
4031 Basel

karl.heinimann@usb.ch

Die Autorschaft keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Laien erkennen maligne Melanome selten selbst

Frage

Wie viele maligne Melanome können durch Patienten selbst entdeckt werden?

Hintergrund

Die Inzidenz und Prävalenz maligner Hautveränderungen steigt weltweit kontinuierlich an. Das maligne Melanom ist in der Schweiz die vierthäufigste Krebsart überhaupt. Von 100 000 Personen erkranken in der Schweiz etwa 33 Personen pro Jahr neu an einem Melanom. Insgesamt zählt man in der Schweiz ungefähr 2700 neue Fälle pro Jahr. Australien hat weltweit die höchsten Inzidenzen, zwei von drei Australiern erkranken in ihrem Leben an irgendeiner Form eines malignen Hauttumors. In diesem Kontext wird immer wieder das Selbstscreening auf malignen Veränderungen der Haut propagiert.

Studienort

Die Studie wurde an zwei Hautkrebskliniken in Northeast Queensland (NEQ) und in Southeast Queensland /Northern NSW, Australien durchgeführt.

Ein- und Ausschlusskriterien

Männer und Frauen über 18 Jahren, die entweder von einem Hausarzt zu einer Hautkrebsklinik überwiesen wurden oder diese aus eigenen Stücken aufsuchten. Die Studie wurde in den Medien (Radio, Fernsehen, Zeitung) beworben.

Methodik

Sämtliche Teilnehmer füllten einen etablierten Fragebogen aus, der insbesondere ihren Lebensstil und ihre Sonnenexposition erfasste. Es erfolgte die Untersuchung der gesamten Haut durch zwei akkreditierte Hausärzte (nicht Hautärzte) mit einem speziellen Interesse an Hautkrebs, die in der Hautkrebsklinik angestellt waren. Sie benutzten ein hochauflösendes Dermatoskop, das künstliche Intelligenz zur Hautkrebserkennung beinhaltete. Die Teilnehmer wurden gefragt, ob sie eine Hautveränderung bemerkt hätten, die sie beunruhige oder die ihnen suspekt erscheint.

Ergebnisse

Insgesamt nahmen 260 Personen teil, 143 Männer und 117 Frauen, nur 7.7 % wurden vom Hausarzt überwiesen, die Mehrheit kam auf eigene Initiative direkt in die Hautkrebsklinik. Von 260 Hautläsionen wurden 83 (31.9 %) histopathologisch als maligne Melanome (invasiv oder in situ) eingestuft. Von diesen 83 Teilnehmenden, bei denen das maligen Melanom bestätigt worden war, hatten nur 18 (21.7 %) im Fragebogen angegeben, wegen der entsprechenden Läsion besorgt zu sein. Der Grossteil der Teilnehmer (65, 78.3 %) war sich nicht bewusst, dass eine der Hautläsionen ein malignes Melanom darstellt. Dabei wurden eher fortgeschrittene, grössere maligne Melanome von den Patienten als besorgniserregende Hautveränderungen klassifiziert.


Kommentar

• Die Studie zeigt, dass Laien nur schwerlich maligne ­Melanome – zumindest in einem frühen Stadium – als suspekte Hautläsionen beurteilen.
• Frühere, allerdings meist deutlich kleinere und in anderen Settings durchgeführte Studien, zeigten teilweise deutlich höhere Selbstdeklarationsraten durch Laien.
• Der Aufruf zur Selbstinspektion der Haut ist wohl mit ­einigen Limitationen verbunden
• Dermatoskope, zumal in Verbindung mit künstlicher Intelligenz, erlauben auch Hausärzten eine hohe Detektionsrate maligner Melanome, wie die Autoren festhalten

Prof. Dr. Dr. med.Thomas Rosemann

Institut für Hausarztmedizin
Universitätsspital Zürich
Pestalozzistrasse 24
8091 Zürich

thomas.rosemann@usz.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

Climstein M, Hudson J, Stapelberg M, Miller IJ, Rosic N, Coxon P, Furness J, Walsh J. 2024. Patients poorly recognize lesions of concern that are malignant melanomas: is self-screening the correct advice? PeerJ 12:e17674 https://doi.org/10.7717/peerj.17674

Der assistierte Suizid in der Schweiz (Teil 1)

Wir diskutieren anhand der Fälle, bei denen in der Schweiz ein assistierter Suizid im Kontext einer psychischen Erkrankung oder einer Demenz erfolgt ist, ob das von Gegnern der organisierten Sterbehilfe häufig in die Diskussion gebrachte Dammbruchargument gerechtfertigt ist. Langzeitdaten des Bundesamtes für Statistik zeigen, dass die Anzahl der Fälle mit diesen «Indikationen» zwar zunehmen (1999–2017: im Durchschnitt 21 Fälle/Jahr vs. 2018–2022: n = 73 Fälle/Jahr), der prozentuale Anteil dieser Erkrankungen an der Gesamtanzahl aller assistierten Suizide mit etwa 5 % aber unverändert blieb. Kritiker der Sterbehilfe sehen das Dammbruchargument schon dadurch ­erfüllt, dass diese Fälle überhaupt vorkommen. Die Tatsache, dass diese Indikationen aber konstant nur einen kleinen Anteil der Assistierten Suizide ausmachen, dürfte von progressiven Befürwortern der Freitodbegleitung als Indiz gegen das Dammbruchargument interpretiert werden.

Schlüsselwörter: Sterbehilfe, assistierter Suizid, Dammbruchargument, psychiatrische Erkrankungen, Demenz

Einleitung

Die Schweiz ist weltweit das Land mit der längsten Tradition organisierter Sterbehilfe. Nach dem 1942 in Kraft getretenen Artikel 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs ist eine Beihilfe zum Suizid nur dann rechtswidrig, wenn diese «aus selbstsüchtigen Beweggründen» erfolgt. Die sogenannte direkte aktive Sterbehilfe wird dagegen nach Artikel 114 («Tötung auf Verlangen») als Straftat verfolgt (1–5). Im Jahr 1985 erfolgte durch den damals noch jungen Verein EXIT der erste in der Schweiz offiziell dokumentierte Fall eines assistierten Suizids. Assistierter Suizid bedeutet, dass ein Arzt einem Patienten eine tödliche Substanz verschreibt oder anderweitig mit dem Ziel zur Verfügung stellt, diesem die Selbsttötung zu ermöglichen. Seit der Jahrtausendwende hat sich etwa alle 5 Jahre eine Verdoppelung der Fallzahlen entwickelt (5–6). Nach Angaben des Schweizerischen Bundesamtes für Statistik (BFS) erfolgten im Jahr 2022 in der Schweiz 1595 assistierte Suizide, der Anteil der Suizidhilfen an der Gesamtzahl aller Todesfälle betrug 2.1 %. Die Suizidhilfe in der Schweiz ist mehrheitlich ein Altersphänomen; das mediane Alter derjenigen, die sich für den assistierten Suizid entschieden haben, lag im Jahr 2022 bei 81 Jahren.

In diesem sowie dem Folgeartikel («Der assistierte Suizid in der Schweiz – Teil 2: der «unsichtbare» Alterssuizid») beleuchten wir die Langzeitentwicklung der Fälle von assistierten Suiziden in der Schweiz, in denen der Sterbewunsch nicht wegen Erkrankungen im Endstadium, die auch in absehbarer Zeit zum natürlichen Tod geführt hätten, aufgekommen war. Bei diesen anderen Fällen lagen Krankheitssymptome und/oder Funktionseinschränkungen vor, die von den Betroffenen subjektiv als so schwerwiegend beurteilt wurden («unerträgliches Leiden»), dass sie damit nicht weiterleben wollten. In unseren Ausführungen stützen wir uns auf die aktuellen sowie Langzeitdaten der Todesursachenstatistiken des BFS. Diese beziehen sich auf die in der Schweiz wohnhaft gewesenen Personen, d.h. auf die ständige Wohnbevölkerung unabhängig von Nationalität und Ort des Todes. Fälle von im Ausland wohnhaften Nichtschweizern, die in der Schweiz durch assistierten Suizid gestorben sind («Sterbetourismus»), werden in diesen Statistiken nicht miterfasst.

Auf den ersten Blick erscheint der Hinweis darauf, dass diese assistierten Suizide, die weniger als 1 % der Todesfälle in der Schweiz ausmachen, statistisch nicht eindeutig erfasst werden, lediglich eine akademische Diskussion zu sein. Dem ist aber keineswegs so, denn diese Fälle sind Gegenstand eine der wichtigsten medizinethischen Kon­troversen der letzten Jahre: Welche «Indikationen» werden von den Sterbehilfeorganisationen und der Ärzteschaft als zulässig angesehen, um Menschen den Zugang zur Sterbehilfe zu gewähren? Wie geht eine Gesellschaft, in der die Suizidhilfe seit vielen Jahren akzeptiert ist, von vielen gar als Teil der nationalen Identität angesehen wird, mit Menschen um, die um Sterbehilfe bitten, obwohl sie nicht lebensbedrohlich erkrankt sind? Oder aus Sicht der Ärzteschaft: Wie geht die Berufsgruppe, die den assistierten Suizid durch die Verschreibung eines potenziell tödlichen Medikamentes erst ermöglicht, in Ermangelung klarer rechtlicher Vorgaben mit Patienten um, die nicht sterben müssen, aber sterben wollen?

Medizinethische Auffassungen zur ­Sterbehilfe. Das Dammbruchargument.

Pro und Contra

In nahezu allen westlichen Ländern werden die unterschiedlichen Formen von und die zulässigen Indikationen zu Assisted Dying (der Begriff fasst Suizidhilfe und Tötung auf Verlangen zusammen) intensiv und kontrovers diskutiert (7–10). Dabei stehen sich dazu am jeweiligen Ende des Spektrums der medizinethischen Auffassungen praktisch unversöhnliche Einstellungen gegenüber:
Unterstützer der Sterbehilfe sehen darin eine Errungenschaft einer liberalen und säkulären Gesellschaft, welche dem Einzelnen das Recht einräumt, auch über sein Lebensende autonom zu entscheiden.

Die Gegner sehen dagegen darin ein ethisch inakzepta­bles Vorgehen. Sie verweisen unter anderem darauf, dass sich insbesondere die Ärzteschaft nicht daran beteiligen dürfe, da diese Form der Sterbehilfe gegen unverhandelbare Grundprinzipien der Medizin verstösst. Im Umgang mit Schwerkranken an ihrem Lebensende sollten deren Leiden palliativmedizinisch gelindert werden, niemals darf aber der Tod des Patienten wissentlich und mit Absicht angestrebt sein. Ein weiteres Argument: Wenn sich Ärzte an Sterbehilfe beteiligen, könnte das dazu führen, dass das Vertrauen in die moralische Integrität des ärztlichen Berufsstandes irreversibel beschädigt würde.
Die Sichtweisen stehen sich so diametral gegenüber, dass zwischen überzeugten Verfechtern der jeweiligen «Glaubensrichtung» kaum moderiert werden kann. Beide Parteien bringen fundamentale Überzeugungen und Werte für sich in Anschlag. Auf der einen Seite werden der höchstrangige Wert menschlichen Lebens, eine extensive Form des Tötungsverbots sowie eine auf diesen Werten basierende ärztliche Ethik betont. Die andere Seite geht stärker von Werten wie Respekt, Autonomie und Mitleid aus und sieht die ärztliche Ethik stärker im historischen Wandel und im gesellschaftlichen Kontext verortet. Befürworter der Sterbehilfe fragen, was daran ethisch und menschlich sei, einem Menschen, der an einer schweren Krankheit leidet und um Sterbehilfe bittet, diese vorzuenthalten (7–10).

Das Dammbruchargument

Viele suchen zwischen radikalen Gegnern und Befürwortern dieser Thesen zu vermitteln. Beim Thema Assisted Dying sind das die Vertreter einer «Praxis in streng ausgewählten Situationen». Diese unterstützen Sterbehilfe in Fällen schwerer Erkrankungen, die in absehbarer Zeit unausweichlich auch zum natürlichen Tod führen würden und deren Beschwerden häufig einen erheblichen Leidensdruck mit sich bringen. In der internationalen Literatur hat sich für dieses strenge Kriterium zur Gewährung von Sterbehilfe der Begriff terminal illness requirement etabliert (10–13). Typische Beispiele für solch schwere Erkrankungen sind Krebsleiden im Endstadium oder das Spätstadium einer Amyotrophen Lateralsklerose. Hier hat sich in den letzten Jahren in vielen westlichen Ländern eine Auffassung durchgesetzt, dass ein Patient mit solch schwerer Krankheit über den Zeitpunkt seines Todes autonom entscheiden darf und dass am Ende eines Entscheidungsprozesses auch Sterbehilfe in Anspruch genommen werden darf (14–17).

Gesellschaftlich wird mehr und mehr auch eine aktive Rolle der Ärzteschaft akzeptiert; das heisst, Ärzte können in diesem Prozess auf ausdrücklichen Wunsch eines urteilsfähigen Patienten dessen Wunsch zur Sterbehilfe aktiv unterstützen. Unterstützer einer streng indizierten Sterbehilfe weisen aber darauf hin, dass die Indikationen dazu klar definiert und eher eng gefasst werden sollten. Sie befürchten, dass sich mit der Legalisierung der Sterbehilfe auch rasch eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz dieser Praxis entwickelt, in deren Folge diese auch bei weniger schwerwiegenden Erkrankungen von Betroffenen eingefordert werden könnte. Es stünde dann zu befürchten, dass Kriterien, die mit dem Ziel eines verantwortungsbewussten Umgangs mit der Sterbehilfe definiert würden, bewusst umgangen und ausser Kraft gesetzt würden und sich diese dann weitgehend unkontrolliert als gängige Praxis in Situationen etabliere, die man vor einiger Zeit bzw. zu Beginn der Legalisierung noch als völlig inadäquat und ausgeschlossen angesehen hätte (11, 18). Diese als Dammbruchargument (in Englisch slippery slope argument) bekannte Befürchtung beschreibt das Dilemma des Zauberlehrlings aus Goethes gleichnamiger Ballade. Dieser setzt eine Entwicklung in Gang, dessen Dynamik er so nicht vorausgesehen beziehungsweise unterschätzt hat, die er letztlich auch nicht will, jetzt aber nicht mehr kontrollieren kann («Die ich rief, die Geister/Werd’ ich nun nicht los.»).

Die Frage, in welchen Fällen Sterbehilfe gewährt werden darf bzw. in welchen Fällen sie verweigert werden sollte, ist seit ca. 25 Jahren Gegenstand der medizin- und standesethischen Diskussion, auch in der Schweiz. Tab. 1 zeichnet die Geschichte dieses Diskurses nach. In der Schweiz ist der assistierte Suizid die einzig legale Form der Sterbehilfe, eine Tötung auf Verlangen (im angloamerikanischen Sprachgebrauch voluntary active euthanasia) ist verboten.

Bemerkenswert an der Entwicklung der Suizidhilfepraxis in der Schweiz ist, dass zwischen den Jahren 2004 und 2018, in denen zur Gewährung der Suizidhilfe standesrechtlich das Kriterium des «nahen Lebensendes» erfüllt sein musste, dieses terminal illness requirement in bis zu 50 % der assistierten Suizide nicht erfüllt war (11–13). So lagen bei der überwiegenden Anzahl der Fälle der vom BFS ausgewiesenen zweitgrössten und viertgrössten Indikationsgruppen, den neurodegenerativen Erkrankungen und den muskuloskelettalen Erkrankungen, zum Zeitpunkt der Suizidhilfe zweifelsohne schwer beeinträchtigende und zum Teil invalidisierende und schmerzhafte Erkrankungen ohne jede Hoffnung auf eine Besserung der Situation vor. In der Regel handelt es sich hier aber um langsam verlaufende chronische Prozesse, in deren Verlauf die Patienten häufig nicht direkt an dieser Erkrankung, sondern an anderen internistischen Begleiterkrankungen sterben würden. Im Regelfall lagen hier also keine Erkrankungen vor, die in absehbarer Zeit zum Tod geführt hätten.

Die Hälfte der Menschen, die Suizidhilfe in Anspruch genommen hat, konnte ihren Wunsch nach einem selbstbestimmten Lebensende während dieser Jahre streng genommen ausserhalb der damals geltenden standesrechtlichen Regeln verwirklichen. Dabei spielte der Einfluss der Sterbehilfeorganisationen als Sprachrohr für eine Öffnung des assistierten Suizids zu einer auch symptomorientierten Indikationsstellung eine grosse Rolle. So betont EXIT, der grösste Schweizer Verein für humanes Sterben, immer wieder, dass die SAMW-Richtlinien zwar eine gewisse Orientierung zur Indikationsstellung des assistierten Suizids bieten mögen, diese aber nicht rechtlich bindend sind (23).

Das Dammbruchargument auf dem Prüfstand: der assistierte Suizid wegen psychiatrischer Erkrankungen oder Demenz

Das Dammbruchargument beinhaltet in der Regel 1) die Annahme, dass die Anzahl der Fälle mit «zweifelhafter Berechtigung» zunehmen, und 2) dass diese mit der Zeit auch proportional deutlich zunehmen, d. h. der Prozentsatz dieser Fälle an der Gesamtzahl aller Sterbehilfefälle zunimmt.

Psychiatrische Erkrankungen und Demenz nehmen bei der Sterbehilfe einen besonderen Platz in der Diskussion ein (Tab. 2) (24–29), da sie die «typischen» Fälle darstellen, auf die sich die Gegner einer allzu liberalen Regelung der Sterbehilfe beziehen, wenn sie von einer unkritischen Ausweitung der Indikationen sprechen. Das in der Schweiz von Kritikern der Sterbehilfe angeführte Dammbruchargument wirft daher die Frage auf, ob und wie sich die Fallzahlen der assistierten Suizide aufgrund psychiatrischer Erkrankungen oder einer Demenz im Verlauf der Jahre entwickelt haben.

Langzeitdaten des Schweizer BFS zur Sterbehilfe bei Demenz und psychiatrischen Erkrankungen zeigen, dass die Anzahl der pro Jahr registrierten Fälle zwar ansteigt (1999–2017: im Durchschnitt 21 Fälle/Jahr vs. 2018–2022: n = 73 Fälle/Jahr), der prozentuale Anteil dieser Erkrankungen an der Gesamtanzahl aller assistierten Suizide über die Zeit aber in etwa unverändert niedrig blieb (1999–2017: 5.4 % vs. 2018–2022: 5.5 %) (Tab. 3). Leichtgradige Verschiebungen zeigten sich in der Verteilung von Demenz und psychiatrischen Erkrankungen im Vergleich zur Gesamtzahl aller assistierten Suizide. Während im 19-Jahres-Zeitraum von 1999–2017 der Anteil der «Gruppe mit Demenz» noch 0.4 % betrug, stieg dieser Wert im 5-Jahres-Zeitraum 2018–2022 auf 1.9 % an. Parallel dazu kam es in der Kategorie «Psychiatrische Erkrankungen» zu einem leichten Abfall der prozentualen Verteilung (5.0 % vs. 3.6 %).

Der Vergleich mit aktuellen Daten anderer europäischer Länder zeigt, dass dort eine ähnliche Verteilung dieser Krankheiten bei Sterbehilfepatienten beobachtet wurde. In den Niederlanden machten 2022 psychiatrische Erkrankungen 1.3 % der Fälle aus, in Belgien 0.9 %; Suizidhilfe bei Demenz erfolgte in den Niederlanden in 3.2 % der Fälle, in Belgien in 1.4 % der Fälle (31, 32).
Der assistierte Suizid wegen psychiatrischer Erkrankungen und Demenz ist in der Schweiz zudem kein Weg, der vermehrt von jüngeren Patientinnen und Patienten gewählt wurde. Im Zeitraum 2018–2022 betrug das mediane Alter bei beiden Indikationsgruppen 81 Jahre; dieses war damit gleich hoch wie das mediane Alter aller assistierten Suizide in diesem Zeitraum.

Ob hinsichtlich der Indikationen «Demenz» und «Psychiatrische Erkrankungen» in der Schweiz das Dammbruchargument erfüllt ist, hängt sicher vom Blickwinkel des Betrachters ab. Strenge Kritiker der Sterbehilfe sehen das Argument schon dadurch erfüllt, dass diese Fälle überhaupt vorkommen. Befürworter einer Suizidhilfe unter Beachtung des terminal illness requirement dürften den Anstieg der jährlichen Fallzahlen auch eher kritisch sehen. Anhänger einer progressiven «Indikationsstellung» zur Freitodbegleitung würden die Entwicklung eher im Sinne der gesellschaftlichen Entwicklung zu einer sinnvollen Sterbehilfe bei einem immer grösseren Anteil an der Gesamtzahl aller Todesfälle interpretieren. Die Tatsache, dass die Erkrankungsgruppen «Psychiatrische Erkrankungen» und «Demenz» aber konstant nur einen relativ kleinen Anteil der assistierten Suizide ausmachen, dürfte für sie als Indiz gegen das Dammbruchargument interpretiert werden.

Suizidhilfe bei Patienten mit psychiatrischer Erkrankung und Demenz stellen in der Schweiz allerdings nur die Spitze des Eisbergs von Fällen dar, bei denen zum Zeitpunkt der Suizidhilfe das «Lebensende nicht nahe» war. Die nach Krebserkrankungen zweitgrösste Indikationsgruppe der Sterbehilfefälle bilden nämlich seit vielen Jahren die Fälle des assistierten Alterssuizids. Die Entwicklung dieser Aspekte der Suizidhilfe werden wir im zweiten Teil unseres Diskurses näher betrachten.

Abkürzungen
BFS  Schweizerisches Bundesamt für Statistik
SAMW  Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften
FMH  Foederatio Medicorum Helveticorum; Dachverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte

Prof. Dr. med. Uwe Güth

Universität Basel
Medizinische Fakultät
Klingelbergstrasse 61
4056 Basel

uwe.gueth@unibas.ch

Prof. Dr. med. FACP Edouard Battegay

Facharzt Allgemeine Innere Medizin, ESH Specialist in Hypertension, Fellow SSPH+
Leiter International Center for Multimorbidity and Complexity in Medicine (ICMC)
Universität Zürich, Universitätsspital Basel (Klinik für Psychosomatik), Merian Iselin Klinik Basel

edouard.battegay@uzh.ch

Prof. Dr. med. Dr. phil. Ralf Jox

– Unité d’éthique clinique,
Institut des Humanités en Médecine, CHUV-UNIL

– Chaire de soins palliatifs gériatriques,
Service de soins palliatifs et de support CHUV-UNIL,

Dr. Karim Abawi

Schweizerisches Bundesamt für Statistik
Sektion Gesundheit der Bevölkerung
Neuchâtel
Schweiz

PD Dr. Rolf Weitkunat

Schweizerisches Bundesamt für Statistik
Sektion Gesundheit der Bevölkerung
Neuchâtel, Schweiz

PD Dr. med. Andres R. Schneeberger

Department for Psychiatry
University of California
San Diego, USA

Die Autoren bestätigen, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Keiner der Autoren ist Mitglied in einer der Schweizer Sterbe­hilfeorganisationen.

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21. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Umgang mit Sterben und Tod (Anpassungen unter 6.2. und 6.2.1. genehmigt mit Senatsbeschluss vom 25. November 2021). www.samw.ch/de/Publikationen/Richtlinien.html; letzter Zugriff: 17.06.2024.
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www.fmh.ch/files/pdf20/Stellungnahme_der_FMH_Richtlinien_Umgang_mit_Sterben_und_Tod.pdf ; letzter Zugriff: 17.06.2024.
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Muskelschwäche nach intravenöser Eisensubstitution

Nachdem eine junge Patientin eine intravenöse Eisensubstitution bei schwerer symptomatischer Eisenmangelanämie erhalten hatte, wurde eine schwere Hypophosphatämie mit begleitend leichtgradiger Muskelschwäche diagnostiziert. Bei renalem Phosphatverlust und erhöhtem Fibroblast Growth Factor 23 (FGF23) im Serum wurde die Diagnose einer Hypophosphatämie nach Verabreichung von Eisencarboxymaltose (Ferinject®) gestellt. Durch Hochregulation von FGF23 wird die renale Phosphatrückresorption gehemmt und die Aktivierung von Vitamin-D reduziert, wodurch die intestinale Phosphataufnahme weiter vermindert wird. Die Symptome einer Hypophosphatämie können nach erfolgter Eisensubstitution maskiert sein.

Schlüsselwörter: Eiseninfusion, Hypophosphatämie, Muskelschwäche, Fibroblast Growth Factor 23

Anamnese und Befunde

Eine 29-jährige, bislang gesunde Frau ohne vorbestehende Dauermedikation stellte sich mit ausgeprägter Schwäche, Müdigkeit und Belastungsdyspnoe seit einigen Wochen auf der Notfallstation vor. Die Diagnose einer schweren Eisenmangelanämie mit einem Hämoglobin (Hb) von 68 g/l (Normwert 120–160 g/L) wurde gestellt (Tab. 1), es erfolgte eine intravenöse (i. v.) Substitution mit 1000 mg Eisencarboxymaltose (Ferinject®).


In der ersten Verlaufskontrolle nach drei Wochen berichtete die Patientin über ein gesteigertes Wohlbefinden sowie verringerte Müdigkeit. Das Hb stieg auf 108 g/l. Auffallend war jedoch ein Serumphosphat unterhalb der Nachweisgrenze (< 0.32 mmol/l, Normwert 0.8–1.5 mmol/l). Eine leichtgradige beinbetonte Muskelschwäche wurde auf Nachfrage beklagt. Wir vermuteten eine Maskierung der Symptome einer schweren Hypophosphatämie bei kurzfristig gebesserten Anämiebeschwerden.
Die renale Phosphatexkretion war mit 44 % (Normwert 5–20 %, bei Hypophosphatämie < 5 %) deutlich erhöht. Zudem lag ein Vitamin-D-Mangel vor, und das Parathormon (PTH) und der Fibroblast Growth Factor 23 (FGF23) waren erhöht.

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Eine Hypophosphatämie kann verschiedene Ursachen haben. Entstehen kann sie beispielsweise durch eine verminderte intestinale Aufnahme, eine erhöhte renale Ausscheidung oder durch einen Phosphat-Shift von extra- nach intrazellulär – letzteres bei stimulierter Glykolyse im Rahmen eines Refeeding-Syndroms oder einer respiratorischen Alkalose (1). Ebenso ist eine Hypophosphatämie bei Nierenersatzverfahren möglich (2).

Eine verminderte intestinale Phosphataufnahme war bei unserer Patientin denkbar, da sie phasenweise nur eine Mahlzeit pro Tag einnahm. Zudem kann ein Vitamin-D-Mangel, welcher auch bei unserer Patientin bestand, zusätzlich eine verminderte intestinale Phosphataufnahme bewirken (1).

Fastenperioden führen jedoch selten zu einer solch schweren isolierten Hypophosphatämie (1). Auch die übrigen unauffälligen Elektrolyte und die normwertigen Spiegel von Vitamin B12, Albumin und Folsäure bei unserer Patientin sprachen gegen das Vorliegen einer relevanten Mangelernährung.

Bei erhöhter Phosphatexkretion im Urin dachten wir differenzialdiagnostisch an einen renalen Phosphatverlust. Ein Hyperparathyreoidismus, welcher bei unserer Patientin vorlag, sorgt für eine verminderte renale Phosphatrückresorption und führt somit zu einer erhöhten renalen Phosphatausscheidung. Bei stets normwertigem Serumcalcium war ein primärer Hyperparathyreoidismus jedoch wenig wahrscheinlich. Wir werteten deshalb das erhöhte PTH am ehesten im Rahmen eines sekundären Hyperparathyreoidismus als Folge des Vitamin-D-Mangels. Eine weitere Differenzialdiagnose für einen erhöhten renalen Phosphatverlust bei erhöhtem FGF23 ist eine unerwünschte Arzneimittelwirkung nach I.-v.-Eisensubstitution (3–5).

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Aufgrund der milden Symptomatik entschieden wir uns, trotz der schweren Hypophosphatämie, für eine orale Substitution mit Reducto®-spezial (Kaliumdihydrogenphosphat und Natriummonohydrogenphosphat-Dihydrat, insgesamt 3.6 g Phosphat täglich). Infolge einer allergischen Hautreaktion mussten wir auf Kaliumphosphat 1 molar B. Braun®-Ampullen zur oralen Einnahme wechseln. Darunter konnte über mehrere Wochen eine schrittweise Erhöhung des Serumphosphates erreicht und die Phosphatsubstitution stufenweise reduziert werden. Begleitend erfolgte eine orale Vitamin-D-Substitution.

Nach insgesamt sechs Wochen zeigte sich das Serumphosphat unter gestoppter oraler Phosphateinnahme anhaltend im Normbereich. Anamnestisch war bereits wenige Tage nach Therapiebeginn keine Muskelschwäche mehr auszumachen.
Sechs Monate später präsentierte sich die Patientin erneut mit einer Eisenmangelanämie bei einem Hb von 79 g/l trotz hochdosierter oraler Eisensubstitution. Eine gynäkologische Blutungsquelle bei Uterus myomatosus wurde vermutet. Wir entschieden uns für eine erneute Eiseninfusion. Bei Status nach Hypophosphatämie nach Eisencarboxymaltose verabreichten wir nun 1000 mg Eisenisomaltose (Monofer®).

Der Hb-Wert stieg im Verlauf auf 100 g/l an. Laborchemisch war in den Tagen danach erneut eine moderate Hypophosphatämie (Phosphat minimal 0.43 mmol/l) zu sehen, klinisch mit leichter Muskelschwäche einhergehend. Es erfolgte eine passagere orale Phosphatsubstitution (Tab. 2).

Diagnose

Wir stellten die Diagnose einer schweren Hypophosphat­ämie als unerwünschte Arzneimittelwirkung nach intravenöser Eisensubstitution. Passend dazu liess sich nach der Verabreichung von Eisencarboxymaltose (Ferinject®) eine neue Hypophosphatämie detektieren. Zudem fand sich eine deutliche FGF23-Erhöhung im Serum sowie eine erhöhte renale Phosphatexkretion. Die erhöhte FGF23-Konzentration im Blut hemmte die tubuläre Phosphatrückresorption und führte somit zu einer erhöhten renalen Phosphatausscheidung (3, 6). Der zugrunde liegende Mechanismus für den Anstieg von FGF23 konnte bislang nicht vollständig geklärt werden. Wolf et al. vermuten, dass Eisenpräparate den FGF23-Abbau durch Osteozyten hemmen und somit mehr aktives FGF23 anfällt (6).

Eine erhöhte FGF23-Konzentration führt auch zu einer verminderten Umwandlung von 25-OH-Vitamin-D in 1.25-OH-Vitamin-D (Calcitriol). Ein Vitamin-D-Mangel seinerseits vermindert die intestinale Calciumresorption, wodurch es zu einer erhöhten Freisetzung von PTH kommt (3). PTH reduziert die renale und ein Calcitriol-Mangel die intestinale Phosphatresorption. So wird die Hypophosphat­ämie weiter verstärkt (1).

Kommentar

Die Häufigkeit einer Hypophosphatämie nach Eisensubstitution variiert je nach Präparat.
Wolf et al. beobachteten, dass es bei Eisencarboxymaltose etwa 9-mal häufiger zu einer schweren Hypophosphatämie (Serum-Phosphat ≤ 1 mg/dl [entspricht 0.32 mmol/l, Anmerkung Autorin]) kommt verglichen zu Eisenisomaltose (7).

Schaefer et al. beschrieben ein bis zu 20-fach erhöhtes Risiko für eine Hypophosphatämie durch Eisencarboxymaltose verglichen zu Eisenisomaltose. In derselben Studie wurden schwere Hypophosphatämien nur in der Gruppe mit Eisencarboxymaltose verzeichnet (8).

Unsere Patientin erhielt initial 1000 mg Eisencarboxymaltose (Ferinject®). Das Serumphosphat lag am Tag der Verabreichung im Normbereich. Drei Wochen später zeigte sich ein schwerer Phosphatmangel.
Auch nach Verabreichung von 1000 mg Eisenisomaltose (Monofer®) trat eine substitutionsbedürftige Hypophosphatämie auf. Dies verdeutlicht, dass es auch beim Einsatz von Eisenisomaltose zu einer Hypophosphatämie kommen kann, trotz geringeren Risikos.
Eine Hypophosphatämie kann bereits nach einmaliger Eiseninfusion auftreten (8). Die Patientinnen und Patienten sollten vorgängig über die Symptome eines Phosphatmangels aufgeklärt werden. Diese umfassen Muskelschwäche, Schluckstörungen, gastrointestinale Beschwerden (Ileus) sowie Atemnot als Ausdruck einer Herz- oder Ateminsuffizienz. Neurologisch sind Parästhesien, eine verstärkte Reizbarkeit und Verwirrtheit beschrieben. Bei länger andauernden Hypophosphatämien kann auch der Mineral- und Knochenhaushalt gestört sein (1, 8).

Dieses Fallbeispiel zeigt, dass auch bei leichtgradiger Symp­tomatik eine schwere Hypophosphatämie vorliegen kann. Hierbei ist eine zusätzliche Beschwerdemaskierung durch die Korrektur eines Eisenmangels möglich. Therapeutisch sollte bei leichten Symptomen primär eine orale Phosphatsubstitution erfolgen, ein begleitender Vitamin-D-Mangel muss berücksichtigt und ebenfalls ausgeglichen werden.

Abkürzungen
FGF23  Fibroblast Growth Factor 23
Hb  Hämoglobin
i. v.  Intravenös
PTH  Parathormon

Dr. med. Laura Giezendanner

Klinik für Allgemeine Innere Medizin/Hausarztmedizin und Notfallmedizin
Kantonsspital St. Gallen

Laura.Giezendanner@kssg.ch

Dr. med. univ. Franziska Vogler

Klinik für Allgemeine Innere Medizin/Hausarztmedizin
und Notfallmedizin, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacherstrasse 95,
9007 St. Gallen

Dr. med. Andrea Hausammann

Oberärztin mbF
Klinik für Allgemeine Innere Medizin/Hausarztmedizin und Notfallmedizin
Kantonsspital St. Gallen

Die Autorinnen haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Thrombotische Mikroangiopathie als seltene ­Komplikation nach Lungentransplantation

Die thrombotische Mikroangiopathie (TMA) wird durch die typische Trias einer schweren Thrombozytopenie, Coombs-negativen hämolytischen Anämie sowie Endorgandysfunktion definiert. Pathophysiologisch handelt es sich um Ischämie-bedingende Mikrothromben in Arteriolen und Kapillaren, welche zu schwerwiegender Organdysfunktion sowie akut lebensbedrohlichen Endorganschädigungen führen können. Hinsichtlich Ätiologie, Verlauf, Therapie und Prognose werden die folgenden Manifestationsformen unterschieden: die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP), das Shigatoxin-induzierte hämolytisch-urämische Syndrom (STEC-HUS), die sekundäre TMA und das atypische hämolytisch-urämische Syndrom (aHUS).
Wir präsentieren den Fall eines 49-jährigen lungentransplantierten Patienten mit aHUS. Die Komplexität der zugrunde liegenden Pathomechanismen der TMA, die schwierige Differenzierung der TMA-Manifestationen und das anspruchsvolle Management eines aHUS nach Lungentransplantation verdeutlichen die Einzigartigkeit dieses Patientenfalles.

Schlüsselwörter: thrombotische Mikroangiopathie, atypisches hämolytisch-urämisches Syndrom, Eculizumab, Lungentransplantation

Thrombotische Mikroangiopathie: Manifestationsformen

Die TTP resultiert aus einer genetisch bedingten oder erworbenen Reduktion der Aktivität der von-Willebrand-Faktor (vWF) spaltenden Metalloproteinase ADAMTS13. Bei der selteneren kongenitalen TTP kommt es mutationsbedingt zu einer verringerten hepatischen Produktion von ADAMTS13. Die deutlich häufigere erworbene Form, auch «acquired TTP» (aTTP) genannt, betrifft vor allem junge Erwachsene ohne Vorerkrankungen und ist in einer IgG-Autoantikörper vermittelten Funktionseinschränkung des Enzyms begründet (1). Die aTTP, welche ätiologisch die Mehrheit aller TTP-Fälle ausmacht, gehört zur Gruppe seltener Erkrankungen mit einer jährlichen Inzidenz von 1.5 bis 6 Fällen pro 1 Million Einwohner in Europa (2, 3). Der Defekt der Protease resultiert in einer Multimerbildung des vWF-Glykoproteins.

Diese bedingen eine aggravierte Thrombozytenaggregation mit folgender mikrovaskulärer Thrombosierung und Hämolyse (4). Diagnostisch wegweisend ist die klinische Präsentation einer renalen Dysfunktion mit begleitenden neurologischen Symptomen in Kombination mit Thrombozytopenie und hämolytischer Anämie (4, 5). Im Falle der sekundären TMA ist die Ätiologie vielseitig; beschriebene Auslöser reichen von bakteriellen, viralen und fungale Infektionen, Krebserkrankungen, Autoimmunerkrankungen (z. B. systemischer Lupus Ery­thematodes, systemische Sklerose, Antiphospholipid- Antikörper-Syndrom), Organ- oder Knochenmarktransplantationen und Schwangerschaft bis zu Drogenkonsum sowie medikamentösen Triggern (4). Fall-Kontroll-Studien aus dem angloamerikanischem Raum beschreiben maligne Erkrankungen als die häufigsten Risikofaktoren einer sekundären TMA (2). Im Falle einer nicht ADAMTS13-Aktivität bedingten TMA führt eine systemische Endothelschädigung durch immunzelluläre und Komplement-abhängige Pathomechanismen zur mikrovaskulären Thrombosierung.

Das STEC-HUS, auch typisches HUS genannt, ist eine Komplikation im Rahmen einer gastrointestinalen Infektion mit Shigatoxin-bildenden Erregern – meist enterohämorrhagischen Escherichia coli. Das STEC-HUS tritt typischerweise bei Kindern im Alter zwischen zwei und fünf Jahren auf, kann allerdings im Rahmen von epidemischen Ausbrüchen auch andere Altersgruppen betreffen (6). Die Zerstörung renaler und intestinaler Endothelzellen ergibt das klinische Bild von meist blutigen Durchfällen und akuter Nierenfunktionseinschränkung (AKI).

Im Falle des atypischen HUS (aHUS) besteht eine endogene Prädisposition für ein hyperreagibles Komplementsystem. Zeitpunkt und Schwere der klinischen Manifestation sind höchst individuell und meist mit dem Auftreten endo- beziehungsweise exogener Stressoren assoziiert, sogenannter Komplement-aggravierender Faktoren. Ursächlich ist ein genetisch bedingter Funktionsverlust von Komplementregulatoren, das Vorliegen von Gain-of-function-Mutationen in Komplement-codierenden Genabschnitten oder eine Autoantikörper bedingte Hemmung von Komplementinhibitoren (4). Obwohl das aHUS als primäre Erkrankung des Komplementsystems definiert ist, handelt es sich im klinischen Alltag oft um eine differenzialdiagnostische Ausschlussdiagnose. Das heisst, es gibt keinen laborchemischen Test, welcher die Erkrankung im akuten Setting eindeutig diagnostizieren kann. Sie wird als «ultra-rare-disease» eingestuft, mit einer geschätzten jährlichen Inzidenz weltweit von 0.23–1.9/Million (7, 8, 9). Die Prognose ist mit einer Mortalität von 25 % und einem Patientenanteil von bis zu 50 %, der in der Akutphase ein Nierenversagen entwickelt, deutlich schlechter als beim typischen HUS, welches mit einer Letalität von 1–5 % die beste Prognose aller TMA-Manifestationen besitzt (10–12).

Fallbericht

Zum ersten Mal vorstellig wurde unser Patient im Oktober 2021 mit pulmonal rasch progredienter Symptomatik im Sinne einer connective tissue disease-associated interstitial lung disease (CTD-ILD) bei neu diagnostiziertem Sjögren- Syndrom. Der Patient präsentierte eine rasche lungenfunktionelle Verschlechterung im Sinne einer progredienten restriktiven Ventilations- und Diffusionsstörung, die innerhalb weniger Monate zu einer respiratorischen Insuffizienz führten. Dank frühzeitiger Zuweisung konnte der Patient nach einer zweiwöchigen Lungentransplantationsabklärung im Universitätsspital Zürich im Oktober 2022 bilateral lungentransplantiert werden.

Ende April 2023 stellte sich der Patient mit Thoraxschmerzen, Kopfschmerzen und Verschlechterung des Allgemeinzustands vor. Es präsentierte sich eine Panzytopenie mit aggravierter Thrombozytopenie (Nadir 12 g/l), deutlich erhöhter LDH, erhöhtem Bilirubin, einer transfusionspflichtigen hämolytischen Anämie (Hb 51 g/l) und rapider Verschlechterung der Nierenfunktion im Rahmen einer akuten Nierenfunktionseinschränkung Stufe 3 nach KDIGO. Die mikroskopische Zelldifferenzierung zeigt 20–25 Fragmentozyten pro Gesichtsfeld im mikroskopisch hypochrom-anisozytären Blutbild. Der direkte Antiglobulintest (Coombs-Test) zeigte sich negativ (DAT-). Die Parameter Folsäure, Vitamin B12 und Ferritin befanden sich im Normbereich. Eine Neutropenie war bekannt und wurde im Rahmen der knochenmarksuppressiven Medikation des lungentransplantierten Patienten (Ganciclovir, Itraconazol, Mycophenolat mofetil [MMF]) interpretiert. Zum Zeitpunkt der Vorstellung war der Patient aufgrund erhöhter Donor-spezifischen Antikörpern im Serum mit Tacrolimus, MMF, dem mTOR-Inhibitor Everolimus und Prednison vierfach immunsupprimiert.

In der Zusammenschau konnte bei obig bereits beschriebener Thrombozytopenie, transfusionspflichtiger hämolytischer Anämie und rapider Verschlechterung der Nierenfunktion noch am Vorstellungstag die klinische Verdachtsdiagnose einer TMA gestellt werden. Bei annähernd normwertiger ADAMTS13-Aktivität (45 %) sowie negativer EHEC-/Shigatoxin-Testung im Stuhl konnten eine TTP sowie ein STEC-HUS schnell ausgeschlossen werden (Abb. 1).

Es ergaben sich die Differenzialdiagnosen einer sekundären medikamentösen TMA, am ehesten unter kombinierter Calcineurin- und mTOR-Inhibitor-Therapie oder eines atypischen HUS. Um eine mögliche medikamentöse Ursache zu adressieren, wurde ein Calcineurin-Inhibitor-Wechsel innerhalb der Substanzklasse (Tacrolimus zu Ci­closporin A) vorgenommen sowie Everolimus pausiert. Zur weiteren Evaluation einer Komplement-assoziierten TMA im Rahmen eines aHUS wurde die Konzentrationsbestimmung der Komplementfaktoren vorgenommen. Eine Erhöhung von Komplement CD5b-9 MAC konnte bestätigt werden. C3, C4, Faktor H und I waren hingegen unauffällig.

Die vaskulitische Assoziation der hier als Grundmorbidität vorliegende Kollagenose eines Sjögren-Syndroms spielt als autoimmunologischer, prädisponierender Faktor ebenfalls eine Rolle im diagnostischen Abklärungsprozess bei Verdacht einer sekundären TMA (Tab. 1), insbesondere im Falle des hier am ehesten vorliegenden aHUS.


Es erfolgte eine molekulargenetische Diagnostik zur Identifizierung pathogener Mutationen in Komplement-assoziierten Genen (Next Generation Sequencing panel aHUS). Es lag eine Duplikation der im Tandem auf Chromosom 1q lokalisierten mit aHUS assoziierten Gene CD46, CFH und CFHR1–5 vor. Eine Knochenmarkpunktion zeigte lediglich hyporegeneratorische Zellreihen ohne Malignitätshinweise und verblieb somit ohne Hinweis auf ein myeloproliferatives Syndrom.

Ergänzend erfolgte eine Nierenbiopsie, deren Befund mit einem aHUS vereinbar war. Nach interdisziplinärer Rücksprache wurde umgehend mit einer empirischen anti-komplementären Therapie mit Eculizumab begonnen. Unter bestehender Immunsuppression mittels Ciclosporin, MMF und Prednison nach Transplantation wurde unser Patient vor Beginn der Eculizumab-Therapie gegen Meningokokken und Pneumokokken geimpft. Da bei Triple-Immunsuppression nur eine geringe Impfantwort zu erwarten ist, wurde eine antiinfektive Meningokokkenprophylaxe mit Ciprofloxacin 500mg/d begonnen, die bis mindestens sechs Monate nach letzter Eculizumab-Gabe fortgeführt wurde.

Trotz initial raschen Ansprechens – demonstriert durch steigende Thrombozytenwerte, sich stabilisierendem Hämoglobin sowie einer verbesserten Nierenfunktion – musste das Arzneimittel aufgrund ungeklärter finanzieller Kostenübernahme nach lediglich vier Wochen erfolgter Therapie pausiert werden. Nach zwei Wochen Therapiepause kam es zum TMA-Rezidiv mit erneut fallenden Thrombozyten und Erythrozytenzahlen sowie Verschlechterung der Nierenfunktion.

Das klinische Ansprechen auf Eculizumab konnte nach Wiederbeginn der Therapie gänzlich objektiviert werden (Diagnosis ex juvantibus). Es kam erneut zu einer Stabilisierung der Nierenwerte und der Hämatologie. Die rezidivierende Messung der Komplementaktivität und von C5b-9 zeigte eine gute Suppression des Komplementverbrauchs auf dem alternativen Komplementweg unter der Antikörpertherapie.

Diagnostik

Die Verdachtsdiagnose einer TMA wird bei einer absoluten oder relativen Thrombozytopenie (Thrombozyten < 150 G/l, > 25 % Reduktion von der Baseline) in Kombination mit einer Coombs-negativen hämolytischen Anämie mit Fragmentozyten im Blutausstrich, erhöhter LDH, erhöhtem Bilirubin, reduziertem Haptoglobin und Retikulozytose (kann bei Nierenversagen fehlen) sowie End­organdysfunktion gestellt (Tab. 1). Entscheidend ist nach Diagnose einer TMA, im Anschluss die Ätiologie korrekt zuordnen zu können, um eine zielgerichtete Therapie zu ermöglichen, da sich die Therapie je nach Ätiologie erheblich unterscheidet. Für das optimale Management der mitunter lebensbedrohlichen Organmanifestationen der TMA ist eine kontinuierliche, interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Nephrologen, Hämatologen, Neurologen und Genetikern essenziell.

Eine frühzeitige Bestimmung der ADAMTS13-Aktivität hat das Ziel, eine TTP als Ursache rasch auszuschliessen. Es folgt die Beurteilung etwaiger infektiöser Ätiologien mit der Durchführung von Real-Time PCR/ELISA zur Testung auf Shigatoxin im Stuhl oder einem Analabstrich sowie einer Röntgen-Thorax-Aufnahme, der Abnahme von Blut-, Sputum, Stuhl- und Urinkulturen, einem Rachenabstrich auf Influenza, Testung auf Pneumokokken-Ag im Urin sowie dem Ausschluss von HIV, Hepatitis B und C. Weiterhin sollten relevante Komorbiditäten und Medikamente als mögliche Auslöser in einer detaillierten Anamnese erfasst werden. Die in Tab.  2 aufgeführten Analysen gelten lediglich als Startpunkt der erweiterten Abklärung und müssen je nach klinischem Verdacht gezielt erweitert werden.

Eine Nierenbiopsie wird nicht nur zur Bestätigung einer TMA als Ursache der Nierenschädigung herangezogen, sondern erlaubt auch die Einschätzung, inwiefern bereits ein chronischer Schaden besteht, und ermöglicht somit eine Aussage über die Prognose. Manchmal kann sie auch Hinweise auf die Ursache der TMA liefern. In der klinischen Praxis wird eine Nierenbiopsie aufgrund der Thrombozytopenie und dem damit einhergehenden Blutungsrisiko initial oft verzögert durchgeführt.

Zeigen die genannten Untersuchungen unauffällige Befunde an, sollte eine Komplementfaktoraktivitätsprüfung kombiniert mit einer genetischen Analyse erfolgen. Bei aHUS-Patienten kann bei ungefähr 40–60 % aller Patienten eine genetische Veränderung im Bereich der Komplementkaskade nachgewiesen werden (13). Tab. 3 führt die wichtigsten Komplementfaktoren, Komplementantikörper und Komplement-codierenden Gene zur Testung auf. Die Bestimmung von Komplementfaktoren und die Sequenzierung von Risikogenen hilft jedoch nicht bei der initialen Diagnosestellung eines aHUS, respektive bei der Therapieentscheidung, ob eine Komplementblockade mit Eculizumab begonnen werden soll, da die Analysen längere Zeit in Anspruch nehmen.

Zum jetzigen Zeitpunkt sind Mutationen in mehr als zehn unterschiedlichen Komplement-codierenden Genen bekannt. Die häufigste und somit klinisch relevanteste Mutation betrifft den hepatisch synthetisierten Komplementfaktor H auf dem CFH-Gen. Weiterhin wichtig und als Hochrisikomutationen bekannt sind Gain-of-function-Mutationen in codierenden Abschnitten von den Komplement-Faktoren B (CFB) und C3 (13).

Wie bei vielen anderen hereditären Erkrankungen geht man auch bei der Pathogenese des aHUS von einer Two-Hit-Hypothese aus. Dies bedeutet, dass eine Genmutation allein nicht zwingend die Krankheit zur klinisch-apparenten Manifestation bringt. Studien haben gezeigt, dass selbst bei einer schweren CFH-Mutation die Penetranz bei unter 50 % liegt (13). Komplement-aggravierende Faktoren führen zur Überschreitung der interindividuellen Belastungsschwelle und folglich der Aktivierung des Komplementsystems bei bereits minimalen ersten Endothelschäden (Abb. 2) (13). Bei zugrunde liegender genetischer Prädisposition entwickelt sich daraus eine unkontrollierte, überschiessende systemische Komplementreaktion, welche die fulminante Manifestation der Erkrankung mit folgenden Endorganschäden bedingt (13) (14). Die daraus resultierende Hämolyse aggraviert das überaktive Komplementsystem weiter, sodass ein sich selbst unterhaltender Kreislauf entsteht, welcher den für die Erkrankung so typischen schwerwiegenden klinischen Verlauf bedingt. ­Weitere Charakteristika eines aHUS, die eine gewisse Abgrenzung zu anderen TMA-Manifestationen erlauben, sind ein familiär gehäuftes Auftreten und ein beobachtetes Rezidiv der Erkrankung nach Transplantation (4).

Therapieansätze

Ursprünglich bestand für Patienten mit TMA als einzige Therapieoption, nebst supportiven Massnahmen, der wiederholte Austausch des Blutplasmas (Plasmapherese). Für Patienten mit aHUS konnte dieser Ansatz selten einen ausreichenden therapeutischen Erfolg erzielen, da die zugrunde liegende Pathogenese nicht behoben wurde. Vor Einführung von komplementinhibierenden Substanzen wurden bis zu 40 % der Patienten trotz Plasmaaustausch oder sonstiger supportiver Therapie bereits mit der ersten klinischen Manifestation dialysebedürftig oder verstarben (10) (15). Im Fünf-Jahres-Verlauf betraf dies bis zu 64 % der adulten Patienten (1) (16).
Während der fulminanten Erstmanifestationsphase bis zum Erhalt der ADAMTS13-Bestimmung ist die Plasmapherese, heutzutage meist unterstützend mit Gabe von Fresh Frozen Plasma (FFP) (17) (Tab. 4), bei adulten Patienten mit TMA unklarer Ätiologie die Therapie der Wahl, da die Verzögerung der Therapie der TTP das klinische Outcome deutlich verschlechtert (4).

Im Falle einer bestätigten TTP besteht eine neue Therapieoption mittels Anti-vWF-Nanobody Caplacizumab. Es reduziert die Adhäsion zwischen grossen vWF-Multimeren und Blutplättchen und führt zu einer rascheren Normalisierung der Thrombozytenzahl, Reduktion der Therapiedauer sowie Wahrscheinlichkeit eines TTP-Rückfalls (17).

Sobald eine TTP ausgeschlossen werden kann und sekundäre Ursachen als unwahrscheinlich erachtet werden, ist mittlerweile die intravenöse Komplementinhibition mittels monoklonalen IgG-Antikörpern, Eculizumab oder Ravulizumab die kausale Therapie der Wahl einer Komplement-vermittelten TMA, da sie zur signifikanten Reduktion der renalen Endorganschädigung führt (18) (19) (20). Eculizumab und Ravulizumab binden mit hoher Affinität an C5 und verhindern so die Entstehung des terminalen Komplementkomplexes (Abb. 3).

Multiple Fallberichte sowie Phase-II-Studien haben bereits über die Wirksamkeit der terminalen Komplementblockade mittels Eculizumab berichtet, welches neben Ravulizumab der einzige aktuell in der Schweiz zugelassene Komplementinhibitor zur Therapie des aHUS ist (8). Ravulizumab besitzt eine längere Wirkdauer und wird bei Erwachsenen nach zwei Gaben im Abstand von zwei Wochen alle acht Wochen verabreicht, was für die Patienten häufig eine deutliche Vereinfachung der Therapie im Vergleich zu den zweiwöchentlichen Gaben von Eculizumab ist. Es ermöglicht somit eine Reduktion der durchschnittlichen jährlichen Infusionszeit und Behandlungsdauer auf höchstens sechs Stunden und somit deutlich mehr Flexibilität und ein Gewinn an Lebensqualität für die betroffenen Patienten (21). Therapieansprechen und -erfolg mit Senkung der Akutkomplikationen sowie das Verhindern einer chronischen Niereninsuffizienz sind jedoch massgeblich vom Zeitpunkt der korrekten Einordnung des Krankheitsbildes abhängig. Es besteht ein begrenztes therapeutisches Fenster, bevor irreversible renale Schäden eintreten (18).

Prognose

Eine Metaanalyse aus klinischen Fallberichten der letzten zehn Jahre zu Therapieansprechen bei aHUS konnte eine statistisch signifikante Reduktion der Mortalität durch die Gabe von Eculizumab zeigen (2.3 vs. 8.8 %, p = 0.045) (22). Nachweislich kann eine vollständige Hemmung der terminalen Komplementaktivität erzielt werden sowie der Erhalt beziehungsweise die Verbesserung der betroffenen Organfunktionen. Aktuell existiert keine klinische Leitlinie über die empfohlene Dauer der medikamentösen Komplementhemmung. Rezidive der Erkrankung sind insbesondere in den ersten Monaten nach Pausierung der Therapie häufig, können aber lebenslang auftreten. Beobachtungsstudien sowie das französische Nationalregister für aHUS-Erkrankungsfälle zeigten bei durchschnittlicher Therapiesistierung nach 18 Monaten Rückfälle bei bis zu 30 % der beobachteten Patienten (19) (23). Bei näherer Differenzierung der Patientengruppe konnte jedoch gezeigt werden, dass Eculizumab bei über 50 % der untersuchten Patienten erfolgreich sistiert wurde. Dies betraf insbesondere Patienten ohne identifizierbare Mutationen (13). Ein erhöhter CD5b-9-Plasmawert wiederum galt als Hinweis für ein erhöhtes Rezidivrisiko nach Absetzen der Medikation (24).

Diskussion

Der beschriebene Patientenfall präsentiert die Fallstricke und Herausforderungen im Rahmen von Diagnostik und Management einer thrombotischem Mikroangiopathie nach Organtransplantation. Das aHUS gilt als Ausschlussdiagnose, welche das interdisziplinäre Zusammenspiel verschiedener internistischer Disziplinen erforderlich macht. Vor allem die differenzialdiagnostische Unterscheidung einer sekundären TMA und eines aHUS stellt eine besondere Herausforderung dar. Der Kostenträger besteht auf einer klaren Unterscheidung der Entitäten, um die Kosten für die teure Komplement-inhibitorische Therapie im Falle eines aHUS zu übernehmen. Dies stellt sich als besonders schwierig heraus, da Auslöser einer sekundären TMA zugleich als aggravierende Faktoren der Komplementdysregulation im Rahmen eines aHUS fungieren können. So stellt eine Organtransplantation ein hohes Risiko für die Entstehung einer sekundären TMA als auch für die überschiessende Aktivierung eines dysregulierten Komplementsystems dar. In unserem Fall sind vor allem die immunsuppressiven Medikamente wie der mTOR-Inhibitor Everolimus und der Calcineurin-Inhibitor Tacrolimus zu nennen. Insbesondere die Kombination beider immunsuppressiven Arzneimittel nach Lungentransplantation bergen erwiesenermassen ein erhöhtes Risiko für die Entstehung einer TMA (25). Als ursächlich wird hier die Induktion der Thrombozytenaggregation durch die einzelnen Wirkstoffe sowie eine generelle endotheliale Zytotoxizität diskutiert, die in der Folge eine mikrovaskuläre Schädigung bedingen (25). Diese Medikamente sind nach Lungentransplantation für den Erhalt der Allograftfunktion lebenswichtig. Umso dramatischer stellt sich die Entscheidung dar, diese Medikamente zu reduzieren, zu pausieren oder zu wechseln. Bei dieser Unterscheidung helfen kann die genetische Testung auf eine zugrunde liegende Komplementmutation, welche der Auslöser einer aHUS-Manifestation sein kann.

Es ist an dieser Stelle wichtig zu bemerken, dass ein fehlender Mutationsnachweis der oben genannten Gene ein aHUS nicht ausschliesst, da bei einem grossen Teil der aHUS-Patienten keine spezifische Mutation nachgewiesen werden kann. Auch die Messung der Komplementaktivitätsmarker im Serum können ein aHUS nicht sicher von anderen TMA-Manifestationen unterscheiden. Zudem helfen die Resultate nicht bei der Entscheidung zur Therapieinitiierung, da hier schnell gehandelt werden muss, um eine irreversible Schädigung zu verhindern, und die Tests oft Tage bis Wochen (Komplementfaktoren) oder gar Monate benötigen (Komplementgenetik).

Sridharan et al. testeten zur Diagnose des aHUS neun verschiedene Komplementmarker (CH50, AH50, C3, C4, Faktor B, Faktor H, C4d, Bb sowie sC5b-9) (26). Obwohl die Sensitivität der Kombination dieser Marker annähernd 100 % darstellt, sollten dieselben aufgrund niedriger Spezifität nur in enger Zusammenschau der weiteren klinischen Befunde interpretiert werden. Die Kenntnis einer Komplement-aktivierenden Mutation ist essenziell hinsichtlich der Entscheidungen zur Therapiedauer (13). Aktuell besteht kein gemeinsamer Konsens über die zu empfehlende Dauer der Komplementinhibition bei aHUS. Während sich die Therapie als äusserst effektiv hinsichtlich Milderung der Krankheitsaktivität erwiesen hat, sind gleichzeitig, mitunter schwerwiegende Nebenwirkungen wie das Risiko einer Meningokokkenmeningitis und die hohen Kosten von bis zu 600 000 Euro pro Jahr und Patient zu bedenken (27) (28).
Eculizumab gilt als eines der teuersten Medikamente überhaupt auf dem pharmazeutischen Markt. Die Beobachtung, dass Rezidive nach Therapiestopp häufiger bei Patienten mit besonders hohen Spiegeln des terminalen Komplementkomplexes auftreten sowie dass ein positives Ergebnis der untersuchten prädisponierenden Gene im Sinne eines Mutationsnachweises ebenfalls ein erhöhtes Risiko für ein Rezidiv darstellt, verdeutlicht die Wichtigkeit der Genanalyse und zeigt gleichzeitig die Notwendigkeit, das therapeutische Sistieren der Komplementinhibition als individuelle Einzelfallentscheidung zu behandeln (29) (30). Der lange diagnostische Weg zur final persistierenden Ausschlussdiagnose eines aHUS sowie dessen aussergewöhnlich teure Therapie sind für die beobachtete Zurückhaltung der Krankenkassen verantwortlich. Schlussendlich zeigt die Tatsache, dass die behandelnde Ärzteschaft den nationalen TMA-Expertenbeirat hinzuziehen musste, um das ablehnende Votum des Vertrauensarztes der Krankenversicherung zu überstimmen und die erfolgreiche Therapie mit Eculizumab fortzuführen, wie wichtig ein interdisziplinäres Zusammenspiel bei der Diagnostik und Therapie dieses seltenen Syndroms ist.

Abkürzungen
ADAMTS13  A-Disintegrin and metalloprotease with thrombospondin- 1-like domains
aHUS  atypisches hämolytisches urämisches Syndrom
AKI acute kidney injury
ANA/ANCA  Antinukleäre Antikörper/Antineutrophile cytoplasmatische Antikörper
aTTP  erworbene thrombotisch-thrombozytopenische Purpura
C3, 4, 5  Komplementfaktor 3, 4, 5
CD20  Cluster of Differentiation 20 bei B-Lymphozytenantigen
CD46  Cluster of Differentiation 46 (Cofaktor für Komplementfaktor I)
CFB  Komplementfaktor B
CFH-H3  CFH-spezifischer Haplotyp
CFH  Komplementfaktor H
CFHR  Komplementfaktor-H-related-protein
CFI  Komplementfaktor-I
CNI  Calcineurin-Inhibitor
CTD-ILD  connective tissue disease-associated interstitial lung disease
DAT  Direkter Antiglobulintest (auch direkter Coombs-Test)
DGKE  Diacylglycerol Kinase Epsilon
FeNa  Fraktionelle Natriumexkretion
LDH  Lactatdehydrogenase
MAC  Membranangriffskomplex
MBL  Mannose-bindendes Lektin
MCP  Membrancofaktorprotein
MMF  Mycophenolat mofetil
mTOR  mammalian target of Rapamycin
sMAC  löslicher Membranangriffskomplex
STEC-HUS  Shigatoxin bildende E.-coli-Stämme hämolytisch urämisches Syndrom
SZT  Stammzelltransplantation
THBD  Thrombomodulin
TMA  Thrombotische Mikroangiopathie
TTP  Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura
vWF  von-Willebrand-Faktor

Dipl. ArztMehmet Can Sayar

Klinik für Pneumologie
Universitätsspital Zürich, Zürich

Dr. med. Laura Pott

Medizinische Fakultät
RWTH Aachen

Dr. med. Stephanie Damm

Oberärztin
Klinik für Nephrologie
Universitätsspital Zürich

stephanie.damm@usz.ch

Prof. Dr. med. Silvia Ulrich

Klinik für Pneumologie
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

silvia.ulrich@usz.ch

Dr. med.Carolin Steinack

Oberärztin meV
Klinik für Pneumologie
Universitätsspital Zürich

carolin.steinack@usz.ch

Ph.D. PD Dr. med. Thomas Gaisl

Oberarzt
Klinik für Pneumologie
Universitätsspital Zürich

thomas.gaisl@usz.ch

PD Dr. med. Harald Seeger

Chefarzt Nephrologie
Kantonsspital Baden (KSB)
Klinik für Nephrologie
Universitätsspital Zürich

PD Dr. med. Macé M. Schuurmans

Klinik für Pneumologie
Leitung Rauchstoppsprechstunde
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

mace.schuurmans@usz.ch

PD Dr. med. Maurice Roeder

Oberarzt
Klinik für Pneumologie
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
CH-8091 Zürich

maurice.roeder@usz.ch

Die Autorinnen und Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Seltene Nebenwirkung der thyreostatischen Therapie

Wir berichten über eine Patientin mit Morbus Basedow, welche wegen typischen Nebenwirkungen auf Carbimazol auf eine Behandlung mit Propylthiouracil umgestellt wurde. Nach 14 Monaten Behandlung mit Propylthiouracil entwickelte sie eine kutane limitierte ANCA-assoziierte Vaskulitis, was eine seltene Nebenwirkung darstellt. Das sofortige Absetzen von Propylthiouracil und eine topische antientzündliche Behandlung führten zur vollständigen Rückbildung der Hautläsionen.

Schlüsselwörter: Hyperthyreose, Morbus Basedow, Carbimazol, Propylthiouracil, ANCA-assoziierte Vaskulitis

Hintergrund

Carbimazol (CMZ) ist die Erstlinientherapie der meisten Patienten mit Morbus Basedow. Propylthiouracil (PTU) wird häufig im ersten Trimenon der Schwangerschaft und bei Nebenwirkungen auf CMZ eingesetzt. Zu den schweren, aber selteneren Nebenwirkungen gehört unter anderem das Auftreten von einer Antineutrophilen zytoplasmatischen Antikörper (ANCA)-assoziierten Vaskulitis. Sie ist klinisch einer primären ANCA-Vaskulitis sehr ähnlich, hat aber meist einen weniger schwerwiegenden Verlauf. Das frühe Absetzen von PTU ist nebst dem Screening auf systemische Manifestationen therapeutisch und prognostisch essenziell. Sowohl für Endokrinolog/-innen, aber auch für die in die Weiterbetreuung involvierten Hausärzt/-innen und Internist/-innen ist das Wissen über seltene Nebenwirkungen von Thyreostatika entscheidend.

Fallvorstellung

Eine 51-jährige Frau präsentierte sich mit Hitzewallungen, Haarausfall, Nervosität, Zittern und Konzentrationsschwäche. Nach der initialen Verdachtsdiagnose eines klimakterischen Syndroms zeigte die hausärztliche Labordiagnostik eine manifeste Hyperthyreose mit einem supprimierten TSH von < 0.001 mlU/l (Referenzbereich 0.35–4,94 mlU/l) und erhöhtem fT4 von 21.4 pmol/l (Referenzbereich 9.01– 19.05 pmol/l) und fT3 von 10.5 pmol/l (Referenzbereich 2.43–6.0 pmol/l). Die ergänzend bestimmten Autoantikörper (TRAK 21.55 U/l, Referenzbereich: < 1.75 U/l) waren diagnostisch für das Vorliegen eines Morbus Basedow (Tab. 1). Klinisch begann der Hausarzt mit 35 mg Carbimazol (CMZ, Neo-Mercazole®) täglich, entschied sich gegen eine zusätzliche symptomatische Behandlung mit einem nicht selektiven Betablocker und wies die Patientin für eine ergänzende Schilddrüsensonographie den endokrinologischen Kollegen zu.

Unter der Medikation entwickelte die Patientin rasch unerwünschte Nebenwirkungen mit einer Stomatitis, Kopfschmerzen sowie Arthralgien, was zu einem Therapiewechsel auf Propylthiouracil (PTU, Propycil® 300 mg/Tag) führte. PTU wurde deutlich besser vertragen und anhand der regelmässigen Laborkontrollen (bei supprimiertem TSH initial anhand des fT4) gelang es, eine baldige Euthyreose und Dosisreduktion zu erreichen. 14 Monate später bemerkte die Patientin an der unteren Extremität neue schmerzhafte, subkutane, hyperpigmentierte Noduli, zunächst am linken Schienbein und später auch an der rechten Wade.

Im Verlauf entwickelten sich die Noduli zu seropurulent gefüllten Bullae, die schliesslich spontan ulzerierten und schmerzhafte Wunden hinterliessen (Abb. 1, 2). Es erfolgte eine dermatologische Zuweisung zur Mitbeurteilung. Aufgrund des klinischen Befundes wurde differenzialdiagnostisch primär an eine infektiöse Pannikulitis mit sporotrichoider Verteilung gedacht. Als Differenzialdiagnosen kamen eine tiefe Mykose, Leishmaniose, Hauttuberkulose oder auch ein Lymphom infrage. Die mikrobiologische Diagnostik einer frisch eröffneten, purulent gefüllten Bulla wies kein Bakterien- oder Pilzwachstum nach und sowohl die Kultur als auch die PCR für Mykobakterien blieb negativ. Histologisch liess sich in der Hautbiopsie eine granulomatöse Dermatitis mit septaler und lobulärer Pannikulitis objektivieren.

Aufgrund dessen und wegen der ausführlich erhobenen Medikamentenanam­nese, welche nebst PTU lediglich ein NSAR beinhaltete, das die Patientin wegen den schmerzhaften Hautläsionen einnahm, wurde eine medikamentöse Nebenwirkung näher in Betracht gezogen und eine serologische Testung der Antineutrophilen zytoplasmatischen Antikörper (ANCA) angeordnet. Die Resultate ergaben sowohl einen erhöhten Titer für PR3-ANCA als auch für MPO-ANCA, was in der Zusammenschau der Befunde zur Verdachtsdiagnose einer PTU-induzierten, ANCA-assoziierten Vaskulitis führte. Entsprechend musste nebst einem umgehenden Sistieren der Therapie ein differenziertes Screening hinsichtlich systemischer Manifestationen der Vaskulitis gesucht werden: Untersuchung inkl. Neurostatus, erweiterte Labordiagnostik mit u.a. Blutbild, Entzündungs-, Nieren- und Leberparameter, Urinsediment sowie eine radiologische Diagnostik hinsichtlich einer Lungenbeteiligung. Bei fehlenden Hinweisen auf eine systemische Manifestation konnte schlussendlich von einer kutan limitierten Vaskulitis ausgegangen werden, sodass die Behandlung topisch und nicht systemisch eingeleitet wurde: Clobetasolpropionat (Dermovate®) wurde während zwei Wochen täglich auf die entzündlichen Läsionen aufgetragen, bei gutem Ansprechen dann schrittweise reduziert und auf ein topisches Tacrolimus (Protopic® 0.1 %) gewechselt. Zudem wurde zum Schutz vor einer bakteriellen Superinfektion antiseptische Externa angewendet (Triclosan Softcreme).

Nach einer Behandlungsdauer von 7 Monaten konnte eine deutliche Rückbildung der entzündlichen Hautläsionen, jedoch mit Narbenbildung, beobachtet werden (Abb. 3).

Hinsichtlich des Morbus Basedow wurde der Patientin wegen der Nebenwirkung auf beide gängigen thyreostatischen Medikamente zu einer definitiven Therapie (Radiojod-Behandlung oder Thyroidektomie) geraten, was sie jedoch ablehnte und sich für einen erneuten Versuch mit dem initialen verwendeten CMZ entschied. Dies wurde in der Folge problemlos vertragen. Nach weiteren 10 Monaten Therapie gelang es schlussendlich, die thyreostatische Behandlung nach insgesamt 14 Monaten dokumentierter Euthyreose unter Therapie erfolgreich abzusetzen, und die Patientin blieb euthyreot.

Diskussion

Carbimazol (CMZ, Neo-Mercazole®) und Propylthiouracil (PTU, Propycil®) sind die zwei in der Schweiz verfügbaren Thyreostatika und gehören beide chemisch zu der Gruppe der Thionamide. CMZ ist das Prodrug von Methimazol (MMZ), was beispielsweise in den USA anstatt CMZ verwendet wird. CMZ und MMZ haben im Vergleich zu PTU u.a. wichtige Vorteile hinsichtlich der Halbwertszeit, sodass es einmal täglich eingenommen werden kann, wohingegen PTU auf drei Einnahmen pro Tag verteilt werden muss. Zudem sind unter PTU schwerwiegendere Verläufe von Hepatotoxizität, in äusserst seltenen Fällen gar bis hin zum Leberversagen beschrieben.

Infolgedessen wird es praktisch nur noch bei Unverträglichkeit gegenüber CMZ oder während einer Therapie im 1. Trimenon angewendet. Dort liegt der Vorteil gegenüber CMZ in den weniger schwerwiegenden, embryonalen Fehlbildungen, wobei beide Präparate potenziell teratogen sind. Zu den häufigeren und eher milden Nebenwirkungen beider Präparate zählen Hautreaktionen mit Urtikaria und makulöses Exanthem (4–6 %), Arthralgien (1–5 %), gastrointestinale Beschwerden mit Dyspepsie und Nausea (1–5 %) (1). Schwere Nebenwirkungen unter thyreostatischer Therapie sind zum Glück selten, beinhalten aber das Auftreten von Pankreatitiden (CMZ), Hepatotoxizität, eine ANCA-assoziierte Vaskulitis (PTU) oder die den meisten Klinikern bekannte Agranulozytose (CMZ oder PTU) (Tab. 2) (1). Die Prävalenz letzterer liegt gemäss Literatur bei rund 0.1–0.5 %, und es sind Kreuzreaktionen beschrieben. Thyreostatika-induzierte Agranulozytosen treten in den allermeisten Fällen innerhalb der ersten rund drei Monate der Therapie auf, ­sodass auch von einer Dosisabhängigkeit ausgegangen wird (zumindest für CMZ).

Interessanterweise konnten genetische Analysen das Risiko einer Agranulozytose mit gewissen HLA-Typen in Verbindung bringen, was aber aufgrund der Seltenheit der Nebenwirkung nicht im klinischen Alltag vor einem Therapiebeginn untersucht wird (3). Umso mehr müssen Betroffene vor Beginn der Therapie durch die Behandlungsperson eingehend über diese Nebenwirkung aufgeklärt werden und wissen, dass sie im Falle einer akuten febrilen Erkrankung, häufig mit Pharyngitis begleitet, das Präparat absetzen und sich zeitnah für eine Blutbild-kontrolle melden müssen.

Von einer generellen laborchemischen Überwachung der Patientinnen und Patienten unter Therapie raten wichtige internationale Guidelines ab (2, 4). Erhöhte Transaminasen und insbesondere eine erhöhte Gamma-GT ist ein relativ häufiger Befund einer Hyperthyreose bei Morbus Basedow und daher von einer medikamentösen Nebenwirkung durch Thyreostatika abzugrenzen. Sie normalisieren sich unter der Behandlung und dem Erreichen einer Euthyreose. In diesen Fällen sollten die Leberparameter zusammen mit der Schilddrüsenfunktion initial regelmässig kontrolliert werden, um eine Abgrenzung hinsichtlich einer Hepatotoxizität durch die Therapie zu ermöglichen (6).

Die in diesem Fall beschriebene ANCA-assoziierte Vaskulitis stellt eine überaus seltene Nebenwirkung einer thyreostatischen Therapie mit Thionamiden dar und ist fast ausschliesslich für PTU beschrieben. In der Regel kam es – wie in unserem Fall – deutlich verzögert (mehrere Monate bis sogar Jahre nach Behandlungsbeginn) zum Auftreten, sodass der Zusammenhang bei der initialen Beurteilung primär unterschätzt werden kann.
Die Diagnosestellung erfolgt bei passender Klinik und gegebenenfalls unterstützendem Befund in der Histologie einer biopsierten Läsion mittels Nachweis von erhöhten ANCA-Titern.

Anders als bei anderen ANCA-assoziierten Vaskulitiden scheint es durch PTU zu einer unspezifischen Aktivierung mehrerer ANCA zu kommen, sodass sowohl der Nachweis von Antikörpern gegen Myoloperoxidase und Proteinase-3 beschrieben ist. Ein generelles laborchemisches Screening während einer Therapie mit PTU wird nicht empfohlen, da erhöhte ANCA-Titer bei bis zu 60 % asymptomatischer Patienten im Verlauf gefunden wurden und damit der positive prädiktive Wert sehr limitiert ist (5). Entscheidend bei der Diagnosestellung ist die Diagnostik hinsichtlich systemischer Manifestationen der Vaskulitis. Bei Hinweisen auf beispielsweise einer pulmonalen oder renalen Beteiligung wurde in den in der Literatur beschriebenen Fällen nebst dem Absetzen des auslösenden Agens stets mit einer hoch dosierten, systemischen Glukokortikoidtherapie und im Verlauf allenfalls anderen Immunsuppressiva wie Cyclophosphamid, Azathioprin, Mycophenolat mofetil behandelt. Bei einer kutan limitierten Erkrankung kann wie im geschilderten Fall eine topische antientzündliche Behandlung ausreichen.
Hinsichtlich der thyreostatischen Therapie bestätigt dieser Fall die verfügbare Datenlage, dass ein Wechsel auf CMZ möglich ist und keine Kreuzreaktionen im Sinne eines persistierenden Triggers für die Vaskulitis resultiert.

Schlussfolgerung

Zusammenfassend illustriert dieser Fall eine schwerwiegende, wenngleich seltene Nebenwirkung von PTU in Form einer ANCA-assoziierten Vaskulitis der Haut. Im Vergleich zu primären ANCA-assoziierten Vaskulitiden tritt die PTU-induzierte Vaskulitis häufiger bei jungen Frauen auf und hat bei früher Diagnosestellung in der Regel eine bessere Prognose. Da das Auftreten meist mehrere Monate nach Beginn der Behandlung auftritt, muss das Auftreten kutaner Veränderungen jederzeit an diese Nebenwirkung denken lassen und bei Verdacht entsprechend zeitnahe Abklärungen in die Wege geleitet werden. Ein laborchemisches Screening ist einerseits wegen der Seltenheit der Nebenwirkung und andererseits wegen der geringen Sensitivität der ANCA-Antikörper für die Entwicklung einer klinischen Vaskulitis unangebracht. Bei Diagnosestellung bedarf es eines Screenings hinsichtlich anderer Organbeteiligungen, wobei insbesondere auf eine Affektion der Lunge, Niere und des Nervensystems geachtet werden muss. Je nach Resultaten kann die Initialbehandlung topisch antientzündlich erfolgen oder muss mit systemischen Immunsuppressiva angegangen werden. Das frühzeitige Sistieren der PTU-Behandlung ist in jedem Falle zentral. Hinsichtlich der Hyperthyreose kann ein Therapiewechsel auf CMZ ohne Gefahr von Kreuzreaktionen erfolgen, wobei aber auch über eine definitive Behandlung mittels Thyroidektomie oder Radiojod-Behandlung individuell beraten werden muss.

Abkürzungen
TSH  Thyreoidea-stimulierendes Hormon
T4  Thyroxin
T3  Triiodthyronin
TRAK  Thyreotropin-Rezeptor-Antikörper
MMZ  Methimazol
CMZ  Carbimazol
PTU  Propylthiouracil
ANCA  Antineutrophile zytoplasmatische Antikörper
PR3-ANCA  Proteinase-3-Antineutrophile zytoplasmatische Antikörper

Dipl. med.Armgard Büchel-Boekstegers

Assistenzärztin Allgemeine Innere Medizin
Kantonsspital Münsterlingen
Medizinische Klinik, Onkologie
Spitalcampus 1
8596 Münsterlingen

armgard.buechel@stgag.ch

Dr. med. Markus Koster

Fachassistenzarzt
Klinik für Endokrinologie, Diabetologie,
Osteologie und Stoffwechselerkrankungen
Kantonsspital St. Gallen

markus.koster@kssg.ch

Dr. med. Sven Lieberherr

Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie,
Kantonsspital St. Gallen,
St. Gallen

Prof. Dr. med. Dr. sc. nat. Antonio Cozzio

Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
Haus 20
9007 St. Gallen

antonio.cozzio@kssg.ch

PD Dr. med. Stefan Bilz

Klinik für Endokrinologie, Diabetologie,
Osteologie und Stoffwechselerkrankungen
HOCH Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St. Gallen

stefan.bilz@h-och.ch

Die Autorin und die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. Cooper DS. Antithyroid drugs. N Engl J Med. 2005;352(9):905-17.
2. Kahaly GJ, Bartalena L, Hegedus L, Leenhardt L, Poppe K, Pearce SH. 2018 European Thyroid Association Guideline for the Management of Graves’ Hyperthyroidism. Eur Thyroid J. 2018;7(4):167-86.
3. Chen PL, Shih SR, Wang PW, Lin YC, Chu CC, Lin JH, et al. Genetic determinants of antithyroid drug-induced agranulocytosis by human leukocyte antigen genotyping and genome-wide association study. Nat Commun. 2015;6:7633.wwww
4. Ross DS, Burch HB, Cooper DS, Greenlee MC, Laurberg P, Maia AL, et al. 2016 American Thyroid Association Guidelines for Diagnosis and Management of Hyperthyroidism and Other Causes of Thyrotoxicosis. Thyroid. 2016;26(10):1343-421.
5. Balavoine AS, Glinoer D, Dubucquoi S, Wemeau JL. Antineutrophil Cytoplasmic Antibody-Positive Small-Vessel Vasculitis Associated with Antithyroid Drug Therapy: How Significant Is the Clinical Problem? Thyroid. 2015;25(12):1273-81.
6. Hsieh A, Adelstein S, McLennan SV, Williams PF, Chua EL, Twigg SM. Liver enzyme profile and rogression in association with thyroid autoimmunity in Graves’ disease. Endocrinol. Diab Metab 2019;2:e00086