15 Jahre Stiftung zur Förderung der Weiterbildung in Hausarztmedizin WHM FMF

Einleitung

Seit 1998 existiert in der Schweiz ein Weiterbildungsprogramm in Hausarztmedizin, welches in den Hausarztpraxen vermittelt wird (1). Zuerst als Pilotprojekt vom Kollegium für Hausarztmedizin (KHM) und den Fachgesellschaften der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM), der Schweizerischen Gesellschaft für Innere Medizin (SGIM), der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) und dem Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO) initiiert, entstand umgehend ein Praxisassistenzprogramm, welches anfänglich beim KHM angesiedelt wurde und 2009 in die Stiftung zur Förderung der Weiterbildung in Hausarztmedizin überführt wurde (2). Anlässlich des 15-jährigen Bestehens der Stiftung WHM FMF wird in dieser Publikation die Funktion der Stiftung WHM in der haus- und kinderärztlichen Weiterbildung vorgestellt. Es folgt eine Übersicht über die Entstehung der Praxisassistenz und die aktuellen kantonalen Weiterbildungsprogramme sowie eine Diskussion ausgewählter Aspekte der haus- und kinderärztlichen Weiterbildung. Ein abschliessender Ausblick nennt potenzielle Anpassungen und deren Auswirkungen für die haus- und kinderärztliche Weiterbildung, die im Zuge der Veränderungen im schweizerischen Gesundheitswesen notwendig werden können.

Methodik

Zur Erhebung der aktuellen Daten über das Angebot an mitfinanzierten Praxisassistenzarztstellen sowie zu den Hausarzt-Curricula wurden von Frühjahr bis Herbst 2024 die kantonalen Programmkoordinatorinnen und -koordinatoren via E-Mail oder Telefon durch die Geschäftsstelle der Stiftung WHM befragt. Die Daten zu den Lehrärztekursen stammen aus der Befragung von insg. 184 Kursteilnehmenden von insg. acht Lehrarztkursen zwischen März und Dezember 2023.

1. Die Stiftung WHM FMF

Die Geschichte der Stiftung WHM FMF beginnt 1998, als die FMH, die SGAM, die SGP, das KHM sowie der VSAO ein Pilotprojekt zur Weiterbildung in Hausarztpraxen entwickelten, um die genuinen Lerninhalte und Kompetenzen der Hausarztmedizin im Setting der Hausarztpraxis zu vermitteln (1). Mit dem Format der Praxisassistenz wurde ein strukturiertes Weiterbildungsprogramm aufgebaut und umgesetzt, welches auf den damals gültigen medizindidaktischen Erkenntnissen basierte. Die steigende Nachfrage nach Praxisassistenzarztstellen und der damit verbundene zunehmende administrative Aufwand machten die Überführung des Programms «Praxisassistenz KHM» in eine eigenständige Stiftung erforderlich. Dies führte 2008 zur Gründung der Stiftung WHM FMF, welche 2009 ihre Tätigkeit aufnahm (2). Zu den Gründungsmitgliedern der Stiftung WHM FMF gehören die FMH, die SGAM – nachfolgend die SGAIM, die SGP (heute Pädiatrie Schweiz), das KHM und der VSAO. Seit Dezember 2024 sind sowohl die FMH als auch das SIWF jeweils mit einem eigenen Sitz im Stiftungsrat vertreten. Bis 2007 war das Kollegium für Hausarztmedizin (KHM) die einzige Institution, welche eine strukturierte Weiterbildung in Haus- und Kinderarztpraxen im Rahmen der Praxisassistenz anbot.

Positionierung der Stiftung WHM FMF

Die Stiftung bietet folgende Dienstleistungen an (3):
– Aus- und Fortbildung für Lehrärztinnen und Lehrärzte AIM und KJM sowie für Ärztinnen und Ärzte anderer Fachrichtungen, die eine strukturierte Weiterbildung in der Praxis anbieten möchten
– Subsidiäre Mitfinanzierung von Assistenzarztstellen in der Praxis
– Angebot von HR-Dienstleistungen für Assistenzarztstellen in der Praxis (Dienstleistung für Kantone und selbst zahlende Praxen)
– Kursangebot spezifisch für Bedürfnisse von Praxisassistenzärztinnen und Praxisassistenzärzten
– Qualitätssicherung (Evaluation) der Praxisweiterbildungsstätten
– Stellenplattform für Weiterbildungsstellen in der Praxis
– Wissenschaftliche Tätigkeit zur Weiterbildung in der Praxis

Die Stiftung WHM und ihr gesundheits­politisches Umfeld

Ohne Kenntnis der Veränderungen im gesundheitspolitischen Umfeld der medizinischen Grundversorgung, welche mit der Hausärztedemonstration 2006 in Bern ihren Anfang nahmen und 2014 mit der Verankerung der medizinischen Grundversorgung in der Bundesverfassung endeten, ist die Entwicklung der Weiterbildung in der Praxisassistenz nicht zu verstehen (4). Der drohende Mangel an Hausärztinnen und Hausärzten, welcher auf die zunehmende Unzufriedenheit der Ärzteschaft, den fehlenden Nachwuchs in der Hausarztmedizin sowie auf die fehlende akademische Verankerung der Hausarztmedizin an den medizinischen Fakultäten der Universitäten zurückgeführt wurde, setzte politische Massnahmen in Gang. Im Jahr 2009 gründeten die Fachgesellschaften der Allgemeinmediziner, Internisten und Pädiater den Berufsverband «Hausärzte Schweiz» und lancierten im selben Jahr die Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin» (5). An den Universitäten kam es zur Einrichtung von Hausarztprofessuren und Hausarztinstituten (6). Der Bund reagierte 2012 auf die Forderungen der Hausärzteschaft mit dem Einsetzen des Masterplans, welcher die kantonalen Weiterbildungsprogramme entscheidend förderte (7). Verschiedene Kantone entwickelten ihre eigenen Praxisassistenzprogramme, wobei die Programmstruktur der Stiftung WHM vielen als Vorlage diente. Am Prozess der Entwicklung und der Koordinierung der kantonalen Programme war die Stiftung zusammen mit der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) wesentlich mitbeteiligt und hat über die Entwicklung der hausärztlichen Weiterbildung in der Schweiz 2014 und 2019 einen Bericht verfasst (8, 9). Seit 2013 dient die Stiftung als Koordinations- und Austauschplattform und nimmt eine Drehscheibenrolle im schweizerischen Netzwerk «Praxisassistenz» ein. Sie unterstützt zudem die Kantone bei der Weiterentwicklung ihrer Praxisassistenzprogramme.

Die Stiftung WHM FMF und die hausärztliche Weiterbildung

Weiterbildungsprogramm AIM
Im Hinblick auf den Zusammenschluss der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM) und der Schweizerischen Gesellschaft für Innere Medizin (SGIM) zur Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin SGAIM (2015) musste ein neues Weiterbildungsprogramm entwickelt werden, welches zum neu geschaffenen Facharzttitel Fachärztin/Facharzt für Allgemeine Innere Medizin führte. Dieses Weiterbildungsprogramm berücksichtigt die Laufbahn zur Hausärztin/zum Hausarzt sowie diejenige zur Spitalinternistin/zum Spitalinternist. Die Praxisassistenz wurde neu als mögliche ambulante Weiterbildung in die Basisweiterbildung und in die curriculare Aufbauweiterbildung implementiert. Dabei wurde die Struktur des Praxisassistenzprogramms der Stiftung WHM in das Weiterbildungsprogramm AIM übernommen (10). Mit dieser Gewichtung der Praxisassistenz innerhalb des Weiterbildungsprogramms AIM gewann die hausärztliche Weiterbildung an Attraktivität, was die Nachfrage nach hausärztlichen Weiterbildungsstellen weiter steigerte.

Aus- und Fortbildung von Lehrärztinnen und Lehrärzten – Lehrarztkurse
Seit 1998 bildet die Stiftung Lehrärztinnen und Lehrärzte in medizindidaktischen Kursen für die Lehre in den Praxen aus. Die Lehrinhalte und Lehrformate werden kontinuierlich den geltenden Standards angepasst und weiterentwickelt. Die medizinische Aus- und Weiterbildung hat sich mit der Einführung der kompetenzbasierten medizinischen Lehre (Competency-based Medical Education, CBME) wesentlich verändert. Die Stiftung WHM FMF integrierte neue, den Prinzipien der CBME entsprechende Lerninhalte in die Lehre, um eine optimale und praxisnahe Vorbereitung auf die Lehrtätigkeit in der Praxis sicherzustellen (11, 12).

Für die Anerkennung einer Arztpraxis als Weiterbildungsstätte wird vom SIWF die Absolvierung des Lehrarztkurses der Stiftung WHM FMF vorausgesetzt. Die Lehrarztkurse werden in Deutsch, Französisch und seit 2024 auch in Italienisch angeboten. Seit 2019 bietet die Stiftung Refresher-Kurse an, welche als «Teach the Teacher»-Kurse an den Kongressen der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) und des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM) durchgeführt werden. In diesen Refresher-Kursen werden die aktuellen didaktischen Erneuerungen den «bestandenen» Lehrärztinnen und Lehrärzten vorgestellt. Sie bieten zudem die Gelegenheit zum gegenseitigen kollegialen Erfahrungsaustausch. Die Aus- und Fortbildung von Lehrärztinnen und Lehrärzten ist eine zentrale Dienstleistung der Stiftung, welche in den letzten Jahren in qualitativer wie auch quantitativer Hinsicht an Bedeutung zugenommen hat.

Kurswesen Lehrärztinnen und Lehrärzte 2016–2024 (Tab. 1)
Von 2016–2021 (in 5 Jahren) wurden 46 Kurse, in den Jahren 2022–2024 (in nur 3 Jahren) 38 Kurse durchgeführt, was doch eine bemerkenswerte Dynamik im Kurswesen erkennen lässt und das grosse Interesse und die Bedeutung des Kursangebots unterstreicht.

Die Praxisassistenz

Das Praxisassistenzprogramm der Stiftung WHM FMF
Das Praxisassistenzprogramm der Stiftung, welches pro Jahr rund 15 Praxisassistenzarztstellen umfasst, finanziert seine Weiterbildungsstellen im Sinne einer Mitfinanzierung subsidiär; insbesondere dann, wenn die Kapazität des jeweiligen kantonalen Programms ausgeschöpft ist oder formale Gründe die Nutzung eines kantonalen Programms ausschliessen. Es steht auch den Ärztinnen und Ärzten der Kinder- und Jugendmedizin zur Verfügung, welche nicht in allen kantonalen Programmen berücksichtigt werden (vgl. unten.) Das Programm der Stiftung wird erfreulicherweise jährlich ausgeschöpft. Zudem bietet die Stiftung ihre HR-Dienstleistungen für die Praxisassistenz Kantonen und Praxen an, welche keine Mitfinanzierung erhalten (3).

2. Praxisassistenz und Curricula­weiterbildung (Rotationsstellen) in der Schweiz

Kantonale Programme – Praxisassistenzprogramme

PA-Stellen für Allgemeine Innere Medizin
Die Praxisassistenz als hausärztliches Weiterbildungsformat in den Praxen ist schweizweit erfolgreich etabliert. Alle Kantone verfügen über ein kantonales Programm (13).

Anfang 2025 stehen in der Schweiz 303 kantonale Praxisassistenzarztstellen zur Verfügung. Mit den Praxisassistenzstellen der Stiftung WHM FMF können insgesamt 318 mitfinanzierte Stellen angeboten werden. Dabei handelt es sich um Stellen zu 100 % Arbeitszeit bei einer Anstellung von 6 Monaten. Teilzeitarbeit mit längerer Praxisassistenzdauer wird in allen Programmen vergeben. Die Finanzierung der Programme ist kantonal unterschiedlich. Grösstenteils werden die Kosten zwischen Kanton und der Lehrpraxis nach kantonal verschiedenen Vorgaben aufgeteilt; selten beteiligen sich auch Spitäler an der Finanzierung (61 % der Kosten entfallen auf die Kantone, 31 % auf die Lehrarztpraxen und 8 % auf die Spitäler) (13). In 24 von 26 Kantonen wird ein Bruttolohn entsprechend der Weiterbildungszeit, also analog der Entlöhnung im Spital, ausbezahlt. 2 Kantone kennen einen fixen Lohn (GE, LU) (13).

Die kantonalen Programme werden von kantonalen Programmkoordinatorinnen und -koordinatoren geleitet. Die Organisation sowie die Verantwortlichkeiten und Aufgaben der Koordinatorinnen und Koordinatoren sind kantonal unterschiedlich geregelt (Tab. 2).

PA-Stellen für Kinder- und Jugendmedizin
Das Angebot an Praxisassistenzarztstellen für KJM ist von Kanton zu Kanton verschieden:

– 12 Kantone bieten keine Praxisassistenzstellen für Assistenzärztinnen und Assistenzärzte mit dem Ziel Kinder- und Jugendmedizin an.
– 8 Kantone stellen aus ihrem Praxisassistenzangebot eine definierte Anzahl Praxisassistenzstellen für die Kinder- und Jugendmedizin (KJM) zur Verfügung.
– 6 Kantone offerieren ihr Praxisassistenzangebot für die Allgemeine Innere Medizin(AIM)- wie für KJM-Assistenzärztinnen und -ärzte gleichermassen.
– 1 Kanton vergibt die Stelle der KJM, wenn keine AIM- Teilnehmenden gefunden werden (Tab. 3).

Kantonale Programme: Curriculaweiterbildung (Rotationsstellen)

Diese Weiterbildungsstellen bieten eine, auf die spätere Tätigkeit in der Hausarztpraxis ausgerichtete Weiterbildung in den Fachgebieten ausserhalb der Allgemeinen Inneren Medizin an (z. B. Chirurgie/Orthopädie, Psychiatrie, Pädiatrie, Dermatologie und andere). Sie fokussieren ihre praktischen Lerninhalte auf das Vermitteln der Kompetenzen im jeweiligen Fachgebiet, welche für eine eigenverantwortliche Arbeit in der Grundversorgung notwendig sind. Die curriculare Weiterbildung ist für den Erhalt der Breitenkompetenz in der Grundversorgung zentral (14, 15).
18 Kantone bieten Rotationsstellen mit unterschiedlichen Konzepten an (AG, AI, AR, BE, GE, GL, GR, LU, NE, SG, SH, SZ, TG, UR, VD, VS, ZG, ZH). 8 Kantone verfügen über kein Angebot.

4 Kantone bieten die Stellen für 6 Monate zu 100 %, 2 Kantone für 6–12 Monate an. 3 Kantone kennen keine definierte Dauer der Anstellung. 9 Kantone stellen maximal 18 Monate zu 100 % zur Verfügung.

16 Kantone geben an, eine strukturierte Weiterbildung anzubieten. 10 Kantone erlauben eine modulare Belegung dieser Angebote.
Die Kantone AR, AI, Glarus, Graubünden, Schaffhausen, St. Gallen und Thurgau bieten unter dem Namen «Curriculum Hausarztmedizin Ostschweiz CHO» ihre Praxisassistenzprogramme sowie die Rotationsstellen gemeinsam an (Tab. 4).

Evaluation der Weiterbildungsstätten

Die Praxisassistenz, vormals des KHM und seit 2009 der Stiftung WHM FMF, wird seit 1998 evaluiert (1, 5). Die wissenschaftliche Auswertung und Begleitung geschehen durch das Institut für Medizinische Lehre (IML) der Universität Bern. Die Evaluation der Weiterbildungsstätten, also der Lehrpraxen, wird in den kantonalen Programmen unterschiedlich gehandhabt. 16 Kantone evaluieren ihre Weiterbildung; davon lassen 9 Kantone ihre Evaluation von der Stiftung WHM FMF durchführen. In 5 Kantonen evaluiert die Koordinationsstelle selbst, und in 2 Kantonen ist das jeweilige Hausarztinstitut dafür verantwortlich. 4 Kantone lassen gelegentlich evaluieren, 4 Kantone kennen keine Evaluation, und von 2 weiteren Kantonen liegen keine Informationen vor.

Diskussion

Lehrärztinnen- und Lehrärztekurse der Stiftung WHM FMF
Die Ausbildung einer ausreichenden Zahl qualifizierter Lehrärztinnen und Lehrärzte für die vom SIWF anerkannte Weiterbildung im Rahmen der Praxisassistenz ist eine zentrale Voraussetzung für die Nachhaltigkeit des Weiterbildungsprogramms. Erfreulicherweise hat die Zahl der Kursteilnehmenden in den letzten Jahren deutlich zugenommen: Während zwischen 2016 und 2021 insgesamt 981 Personen an den Kursen teilnahmen, wurden in den drei Folgejahren (2022–2024) bereits 812 Teilnehmende registriert. Parallel dazu stieg auch das Kursangebot: Von 2016 bis 2021 wurden 46 Kurse durchgeführt, von 2022 bis 2024 waren es bereits 38 Kurse. Diese dynamische Entwicklung ist sehr positiv und verdeutlicht das starke, freiwillige Engagement der Hausärztinnen und Hausärzte für die Lehre. Zwar stellt die finanzielle Förderung der Praxisassistenz einen wichtigen Anreiz dar und erleichtert potenzielle Praxisnachfolgeregelungen, doch besonders hervorzuheben ist, dass zunehmend Ärztinnen und Ärzte an den Kursen teilnehmen, die selbst eine Praxisassistenz absolviert haben. So zeigte eine Befragung von Kursteilnehmenden der Lehrarztkurse im Zeitraum März bis Dezember 2023, dass mehr als die Hälfte der Teilnehmenden selbst eine Praxisassistenz während ihrer Weiterbildung absolviert hatte. Dies deutet darauf hin, dass die eigene positive Erfahrung mit der Praxisassistenz und die Freude an der Lehre selbst zur Lehrtätigkeit motivieren.

Praxisassistenz
Insgesamt stehen zurzeit 318 mitfinanzierte Praxisassistenzstellen zur Verfügung, was wiederum einen Anstieg der verfügbaren Weiterbildungsstellen bedeutet (13).

In der Kinder- und Jugendmedizin, welche auch zur Grundversorgung gehört, sind die verfügbaren Angebote an Praxisassistenzstellen deutlich geringer. Lediglich 14 Kantone beziehen die pädiatrische Weiterbildung in ihre Praxisassistenzprogramme mit ein. Und selbst in diesen Programmen wird die KJM nicht überall paritätisch berücksichtigt. Das ist bei dem aktuellen Mangel an Pädiaterinnen und Pädiatern in der medizinischen Grundversorgung nur schwer verständlich.

Die Beantwortung der Frage nach der Auslastung der Programme lässt sich für eine Jahresperiode meist nicht eindeutig beantworten: Sie unterliegt einer natürlichen Fluktuation, die schwerlich gesteuert werden kann. In kleinen Kantonen ist eine gleichmässige Auslastung ihrer Programme noch schwieriger zu erreichen, da die Anzahl der infrage kommenden Teilnehmenden oft klein ist. Zudem werden Programme immer wieder weiterentwickelt und verändert, sodass ein objektiver Vergleich der Programme schwierig ist. Zurzeit befinden sich 4 Kantone im Stadium der Weiterentwicklung.

Nach Angabe von 5 Kantonen ist das Angebot an Praxisassistenzstellen grösser als die Nachfrage, in 4 Kantonen übersteigt die Nachfrage das Angebot, und in 11 Kantonen sind das Angebot und die Nachfrage ausgeglichen. Von 2 Kantonen fehlen Daten.

Rotationsstellen – curriculare Weiterbildung
Die Notwendigkeit einer qualitativen Weiterbildung in Fachgebieten ausserhalb der Allgemeinen Inneren Medizin ist unbestritten, und eine solide hausärztliche Breitenkompetenz ist vor allem für eine ärztliche Tätigkeit in ländlichen Gebieten unabdingbar. Diese Breitenkompetenz muss daher mit einem adäquaten Weiterbildungsprogramm gesichert werden (14, 15). Die Angebote, die Finanzierungen, die Strukturen und allfällige Zulassungsbedingungen zur curricularen Weiterbildung sowie die Zuständigkeit für diese Programme unterscheiden sich häufig von Kanton zu Kanton.

Gut strukturierte Angebote weisen die Kantone AG, BE, GE, LU mit NW, OW, UR, ZH und die Ostschweizer Kantone AI, AR, GL, GR, SH, SG, TG mit dem Curriculum Hausarztmedizin Ostschweiz CHO auf.

Im Gegensatz zu den Praxisassistenzstellen, bei welchen die Zuständigkeit und Verantwortung für das Programm die kantonalen Koordinatoren innehaben, sind es bei den Rotationsstellen oft auch Kliniken, welche eigene Rotationsstellen in ihrem Fachbereich anbieten und selbst verwalten. Aus Rückmeldungen von gewissen Kantonen erfährt man, dass ihre Curricula-Angebote aus diversen Gründen (organisatorischer und finanzieller Art) noch nicht verbindlich implementiert sind und diese daher auch noch nicht ihre volle Wirksamkeit entfalten können. Vor allem in kleineren Kantonen sind curriculare Angebote, wenn überhaupt, nur mit beträchtlichem Aufwand möglich und können nur eine begrenzte Wirkung entfalten.

Kantone wie Luzern mit Obwalden und Nidwalden sowie das Curriculum Ostschweiz CHO (19) mit den oben genannten Ostschweizer Kantonen zeigen mit ihrem Vorgehen Wege zu einer sinnvollen Zusammenarbeit auf. Schon wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass die ausgeprägte Heterogenität, welche der föderalen Struktur des Schweizer Gesundheitssystems geschuldet ist, der optimalen Nutzung der kantonalen Programme nicht sehr förderlich ist. Eine regionale Zusammenarbeit mit kleineren Kantonen verbessert das Angebot der hausärztlichen Weiterbildung auch in ländlichen Gebieten und Randregionen und kann so mithelfen, den Einstieg in eine hausärztliche Tätigkeit in diesen Gegenden zu fördern.

Die Evaluation der Praxisassistenz und der Rotationsstellen
Die Evaluation stellt ein elementares Instrument der Qualitätssicherung dar. Das Prozedere der Evaluation von Praxisassistenzstellen wird vom Schweizerischen Institut für Weiter- und Fortbildung (SIWF) festgelegt.

Während die Evaluation der Weiterbildungsstätten in der stationären Weiterbildung eine Selbstverständlichkeit ist, ist sie bei einer Weiterbildung im ambulanten Bereich einer Arztpraxis bis heute nicht verpflichtend. Die freiwillig durchgeführten Evaluationen von Praxisassistenzstellen unterscheiden sich oft erheblich in ihrer Qualität und genügen den Ansprüchen an eine korrekt durchgeführte und wissenschaftlich ausgewertete Evaluation nicht immer. Eine Evaluation der Praxisassistenzstellen soll grundsätzlich analog der stationären Weiterbildung, aber praktikabel und am speziellen Setting der Praxis angepasst, eingesetzt werden. Es sollten aber nicht nur die mitfinanzierten Praxisassistenzstellen der kantonalen Programme evaluiert werden – einige von ihnen lassen die Evaluation bei der Stiftung WHM durchführen oder aber sie evaluieren selbst –, sondern auch alle jene, welche an keinem Programm angeschlossen sind. Die Befragung von 184 Kursteilnehmenden an den Lehrarztkursen von März bis Dezember 2024 hat ergeben, dass 46 % der Lehrärztinnen und Lehrärzte ihre Praxisassistenz ohne Hilfe eines Praxisassistenzprogramms selbst finanzieren. Wenn man das Praxissetting kennt, in dem die befragten Ärztinnen und Ärzte arbeiten, und weiss, dass 84 % in einer Gruppen- oder Gemeinschaftspraxis tätig sind, versteht man, dass in diesen Praxisformen eine direkte Praxisassistenzanstellung häufig ist. Diese Praxisassistenzstellen, deren Anzahl nicht bekannt ist, werden bis jetzt nicht evaluiert.

Die kantonalen Koordinatorinnen und Koordinatoren
Je nach Organisation und Umfang der kantonalen Programme ist deren Einsatz unterschiedlich. So organisieren beispielsweise 10 Kantone freiwillig einen regelmässigen Austausch mit ihren Lehrärztinnen und Lehrärzten und/oder führen Visitationen bei ihren Lehrpraxen durch. Dies zeigt, dass schon jetzt einige Programme um eine gewisse Qualitätssicherung besorgt sind. Die Stiftung WHM lädt jährlich zu einem Treffen der kantonalen Koordinatorinnen und Koordinatoren ein, welches dem Informationsaustausch sowie der Diskussion von relevanten Themen der hausärztlichen Weiterbildung dient.

Ausblick

Bis jetzt wird die haus- und ärztliche Weiterbildung in einem 1:1-Setting Lehrärztin/Lehrarzt – Praxisassistenzärztin/Praxisassistenzarzt vermittelt, dem höchsten didaktischen Lehrformat. Beim SIWF ist die Lehrärztin/der Lehrarzt in der Praxisassistenz ad personam akkreditiert; dies im Unterschied zu den anderen Weiterbildungsstätten, bei denen die Institution akkreditiert wird. Früher waren die Lehrarztpraxen in der Regel Einzelpraxen oder kleinere Gruppenpraxen. Das hat sich grundlegend geändert: Lehrpraxen sind heute überwiegend Gruppen- oder Gemeinschaftspraxen, Einzelpraxen sind die Ausnahme. Lehrärztinnen und Lehrärzte arbeiten mehrheitlich nicht mehr in einem 100 %-Arbeitspensum; die Praxisassistenzärztinnen- und -ärzte ebenfalls nicht. Grössere Praxiseinheiten können für die Praxisassistenz eine vermehrte Flexibilität der Arbeitszeit anbieten, was die Attraktivität solcher Stellen steigert. Angehende Hausärztinnen und Hausärzte bevorzugen für ihre Weiterbildung kleinere Spitäler und Praxen (17). Nicht wenige Landspitäler, welche diese Weiterbildungsmöglichkeit angeboten haben, sind im Zuge von kantonalen Sparprogrammen und Reorganisationen aufgehoben worden oder sind in ihrer Existenz gefährdet. Universitätskliniken und grosse Zentrumsspitäler bieten wohl eine breite Palette von Weiterbildungsstellen an. Diese sind aber aufgrund des selektionierten Patientenguts und der hochgradigen Spezialisierung vielfach für eine längerfristige Weiterbildung mit dem Ziel Hausärztin/Hausarzt weniger geeignet (15). Eine Ausnahme dürften die Kliniken und Abteilungen für Allgemeine Innere Medizin in den Spitälern darstellen, welche ein etwas weniger selektioniertes Patientengut aufweisen und für die stationäre Weiterbildung zur Hausarztmedizin geeignet sind. Eine weitere Verlagerung der hausärztlichen Weiterbildung in den ambulanten Bereich ist zu erwarten. Dies bedeutet, dass das Weiterbildungsprogramm AIM für den Track Hausarztmedizin sowie die Praxisweiterbildungsstätten den veränderten Gegebenheiten strukturell angepasst werden müssen. Zudem ist es für die Weiterbildung in der Hausarztpraxis existenziell, dass deren Finanzierung weiterhin gesichert bleibt. Nicht nur in der Weiterbildung zur Hausärztin/zum Hausarzt ist der Trend von stationär zu ambulant festzustellen; auch in anderen Fachdisziplinen wird diese Verlagerung zu beobachten sein. Somit wird klar, dass in Zukunft vermehrt Lehrärztinnen und Lehrärzte für die Lehre im ambulanten Bereich ausgebildet werden müssen.

Die verfügbaren Daten ermöglichen einen positiven Blick in die Zukunft: Die Praxisassistenz trägt nicht nur zur Sicherung der medizinischen Grundversorgung der Schweiz bei, sie sichert auch das Fortbestehen der haus- und kinderärztlichen Weiterbildung und ist zudem ein wirkungsvolles Instrument für eine nachhaltige Nachwuchsförderung (16). Dieses Erfolgsmodell mit seinem zukunftsweisenden Konzept ist weiterhin auf eine robuste finanzielle Unterstützung angewiesen und benötigt auch künftig ein klares politisches Commitment.

Christian Häuptle, Henrik Zimmermann, Sarina Keller, Réka Veress-Daugaard

Stiftung zur Förderung der Weiterbildung in Hausarztmedizin WHM FMF, Bern

Dr. med. Christian Häuptle

Otmarweg 8, 9200 Gossau

haeuptle@hin.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. Schläppi P. Lerngewinn durch Praxisassistenz. Schweizerische Ärztezeitung 2000,81, N.36 1985-1993
2. Carobbio Guscetti M., von Erlach M. Stiftung zur Förderung der Weiterbildung in Hausarztmedizin Jahresbericht 2009. Primary Care 2011,11, N.1, 9-10
3. https://www.whm-fmf.ch Stiftung zur Förderung der Weiterbildung in Hausarztmedizin
4. https://www.hausärzteschweiz.ch Gesundheitspolitik
5. Stricker B., Die Geschichte der Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin». Primary Care 2013, Edition 3-5
6. Gesundheit B.f. Bestandesaufnahme Institute für Hausarztmedizin. Bundesamt für Gesundheit 2013
7. Gesundheit B.f. Faktenblatt Masterplan und medizinische Grundversorgung 2013
8. Häuptle C., von Erlach M., Bauer W., Brinkley B. Koordination von Curricula (Rotationsstellen) und Praxisassistenzstellen. Praxis (Bern 1994) 2015;104(3):137-50
9. Häuptle C., von Erlach M., Weiterbildung in Hausarztmedizin: Praxisassistenz und Curricula- weiter-bildung (Rotationsstellen) in der Schweiz. Praxis (Bern1994).2019;108(1):63-72
10. https://www.siwf.ch/weiterbildung.cfm Schweizerisches Institut für ärztliche Weiter-und Fortbildung
11. Albermann K., Frick S., Grünig P., Meienberg A. “Bin ich eine gute Ärztin? Bin ich ein guter Arzt?“ Schweizerische Ärztezeitung 2022; 103 (08) 238-41
12. https://www.siwf.ch siwf-projekte cbme.cfm
13. Gerber T., Häuptle C., Denti F., Graf., Merlo C., Pasche O., Rodondi N., Rosemann T., Senn N., Som-mer J., Zeller A. Praxisassistenz in der Schweiz: eine Übersicht in den Kantonen. Prim Hosp Care2022; Allg Inn Medizin.22 (11) 331-334
14. Häuptle C. Weiterbildung zur Hausärztin und zum Hausarzt im Kanton St. Gallen. Prim Hosp Care 2019; Allg Inn Medizin.2022; 22(11) 331-334
15. Plate A., Di Gangi S., Pichierri G., Rosemann T., Senn O. Praxisassistenz und Curriculum: Bedeutung für den Nachwuchs in der Grundversorgung im Kanton Zürich. Praxis 2025; 114 (1) 11-15
16. Zimmerli L., Fluri M., Droste P., Cina C., Leupold F., Streit S., Erfolgreiche Nachwuchsförderung. Schweizerische Ärztezeitung 2020; 101; 948-9.
17. Rozsnayi Z., Tal.K., Bachofner M., et al. Swiss students and young physicians want a flexible goal-orientet PG training curriculum. Scan J Prim Health Care.2018 ; 36(3) 249-61
18. Felber S. Praxisassistenz:»» …die lehrreichste Zeit in meiner Ausbildung». Schweizerische Ärztezei-tung 2005,86, N19 1147-53
19. www.curriculum-ostschweiz.ch

Epileptischer Anfall als neurologisches Leitsymptom

Einleitung

Der epileptische Anfall ist eines der prägnantesten und oft dramatischsten neurologischen Leitsymptome. Als plötzliche, vorübergehende Störung der Gehirnfunktion infolge abnormer elektrischer Aktivität im Kortex kann er sich in einer Vielzahl von Symptomen manifestieren, die von diskreten sensorischen Empfindungen bis hin zu generalisierten tonisch-klonischen Krampfanfällen reichen. Der erste Anfall stellt für den Patienten und die behandelnden Ärzte häufig eine diagnostische Herausforderung dar. Hinzu kommt die Notwendigkeit, zwischen einer einmaligen Episode und einer zugrunde liegenden Epilepsie zu differenzieren, was erhebliche Implikationen für die weitere Behandlung hat.

Die 32-jährige Frau K. ist gerade beim Einkaufen, als ihr an der Käsetheke unwohl wird, sie hat ein aufsteigendes merkwürdiges Gefühl im Magen. Sie versucht, eine Mitarbeiterin im Laden um Hilfe zu bitten, bekommt aber kein Wort heraus, der Rest ist ihr nicht mehr erinnerlich. Sie kommt erst wieder in der Ambulanz auf dem Weg ins Spital zu sich. Die Mitarbeiterin der Käsetheke berichtet, dass Frau K. vor ihr gestanden habe, einen ganz starren Blick bekommen und genestelt habe. Dann habe sie angefangen zu «krampfen», genau wisse sie es auch nicht mehr, es sei alles so schnell gegangen. Sie sei gestürzt, sei blau geworden mit Schaum vor dem Mund, danach apathisch auf dem Boden gelegen.

Definition

Ein epileptischer Anfall ist definiert als das vorübergehende Auftreten von objektiven und/oder subjektiven Zeichen als klinischer Ausdruck einer exzessiven oder synchronisierten neuronalen Hirnaktivität (1).

Epileptische Anfälle lassen sich in provozierte Anfälle, isolierte unprovozierte Anfälle und Anfälle im Rahmen einer Epilepsie unterteilen:
• Provozierte Anfälle treten in zeitlichem Zusammenhang mit einem spezifischen Auslöser auf. Akut symptomatische Anfälle machen bis zu 40 % der erstmaligen Anfälle aus und sind mit einem geringeren Risiko für die Entwicklung einer Epilepsie assoziiert als unprovozierte Anfälle (2, 3, 4). Häufige Ursachen sind Stoffwechselstörungen, Alkohol- oder Drogenentzug sowie akute neurologische Ereignisse wie Schlaganfall, Enzephalitis oder Schädel-Hirn-Trauma. Das Zeitfenster zur Klassifikation als akut symptomatischer Anfall variiert je nach Ursache. Eine Konsensempfehlung schlägt folgende Zeiträume vor (3):
– innerhalb einer Woche nach Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma, anoxischer Enzephalopathie oder intrakranieller Operation
– bei Erstdiagnose eines subduralen Hämatoms
– während der aktiven Phase einer Infektion des Zentralnervensystems
– innerhalb von 24 Stunden nach einer schweren metabolischen Entgleisung
• Unprovozierte Anfälle treten ohne erkennbaren Auslöser auf. Bei isolierten unprovozierten Anfällen liegt das Risiko für das Auftreten eines Anfalls innerhalb der nächsten 10 Jahre bei < 60 %, bei einem höheren Risiko ist ein unprovozierter Anfall als Erstmanifestation einer Epilepsie einzuordnen.
• Eine Epilepsie liegt definitionsgemäss vor, wenn mindestens zwei unprovozierte Anfälle im Abstand von mehr als 24 Stunden aufgetreten sind oder nach einem einzelnen unprovozierten Anfall das Risiko für einen weiteren Anfall innerhalb der nächsten 10 Jahre über 60 % liegt. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn epilepsietypische Potenziale im EEG oder potenziell epileptogene Läsionen in der cMRT nachweisbar sind (5).

Klinische Manifestationen und Klassifikation

Die Symptomatik epileptischer Anfälle ist äusserst variabel und hängt sowohl von der Anfallsart als auch von der betroffenen Hirnregion ab. Zur besseren Einordnung hat die Internationale Liga gegen Epilepsie 2017 ein Klassifikationssystem entwickelt, das Anfälle primär nach ihrem Entstehungsort unterscheidet: in solche mit fokalem, generalisiertem oder mit und unbekanntem Ursprung (6).

Fokale Anfälle:

Fokale Anfälle beginnen in einem begrenzten Areal einer Hirnhälfte und können motorische und nicht motorische umfassen und zusätzlich nach dem Bewusstseinsstatus eingeteilt werden. Die Klassifikation der Anfälle erfolgt anhand ihres frühesten prominenten Symptoms.

Fokale motorische Anfälle
Diese manifestieren sich durch Symptome wie klonische Zuckungen, tonische Verkrampfungen oder Automatismen (z. B. Nesteln, Kaubewegungen).

Fokale nicht motorische Anfälle (früher z. T. Auren)
• Sensorisch: Dazu gehören Symptome wie Parästhesien, visuelle oder akustische Halluzinationen.
• Vegetativ: Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist die epigastrische Aura, die als vages, oft aufsteigendes Unwohlsein im Magen wahrgenommen wird.
• Kognitiv: Hierbei kommt es zu Sprachstörungen oder Beeinträchtigungen anderer kognitiver Funktionen einhergehend. Ebenso können positive Symptome wie Déjà-vu, Jamais-vu oder Wahrnehmungsstörungen auftreten.
• Emotionale Anfälle äussern sich durch plötzlich auftretende Gefühle wie Angst, Furcht oder Freude. Alternativ kann auch ein affektives Verhalten ohne bewusst erlebte Emotionen beobachtet werden.

Bewusstseinsstatus bei fokalen Anfällen
• Bewusst erlebt (früher: «einfach-fokal»): Der Patient ist sich seiner selbst und der Umgebung bewusst, auch wenn er sich nicht bewegen kann. Dies entspricht dem früheren Begriff «einfach-partieller Anfall».
• Nicht bewusst erlebt (früher: «komplex-fokal»): Der Patient hat eine Bewusstseinsstörung, oft begleitet von Amnesie und automatisierten Bewegungsmustern. Dies entsprach früher dem «komplex-partiellen Anfall».
• Der Bewusstseinsstatus kann bei der Anfallsbeschreibung optional sein, insbesondere wenn er nicht bekannt oder nicht anwendbar ist.
• Fokale Anfälle können im Verlauf in generalisierte Anfälle übergehen und werden dann als fokal zu generalisiert tonisch-klonisch klassifiziert (früher: sekundär generalisierte tonisch-klonische Anfälle).

Generalisierte Anfälle:

Diese beginnen simultan in beiden Hirnhälften und sind in der Regel mit Bewusstseinsstörungen verbunden. Auch hier wird primär nach motorischen und nicht motorischen Anfällen (Absencen) unterschieden:

Motorische Anfälle
• Bilateral tonisch-klonische Anfälle (früher: «generalisierte tonisch-klonische Anfälle»): initiale tonische Versteifung gefolgt von rhythmischen klonischen Zuckungen
• Myoklonien: plötzliche, kurze Muskelzuckungen, oft bilateral symmetrisch
• Atonische Anfälle: plötzlicher Verlust des Muskeltonus, der zu Stürzen führen kann

Absencen
• Bei einer typischen Absence kommt es zu einem plötzlichen, kurzzeitigen Bewusstseinsverlust ohne relevante Begleitphänomene.
• Eine atypische Absence unterscheidet sich hiervon durch einen langsamen Beginn oder Ende, eine längere Dauer oder bei signifikanten Muskeltonusveränderungen auf und ist mit einer langsamen, generalisierten Spike-Wave-Aktivität im EEG assoziiert.
• Gelegentlich kommt es bei den Absencen auch zu (Lid-)Myoklonien.

Unklassifizierte Anfälle

Ein Anfall kann aufgrund mangelnder Informationen oder fehlender Einordnungsmöglichkeiten unklassifiziert bleiben. Dies ist häufig bei unbeobachteten Ereignissen der Fall (Tab. 1).

Im Spital berichtet Frau K. auf Nachfrage, dass sie bereits zuvor immer wieder das aufsteigende Gefühl im Magen bemerkt habe, was jeweils weniger als eine Minute angehalten habe, teilweise mit einer Art Déjà-vu; sie habe immer gedacht, das käme vom Magen. Andere anfallsartige Symptome sind auch bei gezielter Nachfrage nicht bekannt. Sonst ist die Patientin gesund, auch in der Familie leidet niemand unter epileptischen Anfällen.

Gemäss der ILAE-Klassifikation liegen bei der Patientin somit folgende Anfallstypen vor:
• fokale bewusst erlebte, nicht motorische vegetative und kognitive Anfälle
• fokal zu generalisiert tonisch-klonischer Anfall

Diagnostik

Die Diagnose eines epileptischen Anfalls stützt sich in erster Linie auf die Anamnese, die durch Elektroenzephalographie (EEG), cerebrale Bildgebung sowie laborchemische Untersuchungen unterstützt wird. Die primären Fragestellungen bei der Abklärung eines ersten Anfalls sind die folgenden:
• Handelte es sich bei dem Ereignis um einen epileptischen Anfall oder um ein nicht epileptisches Ereignis?
• Falls es ein epileptischer Anfall war: Wurde er durch einen behandelbaren systemischen Prozess (provozierter oder akut symptomatischer Anfall) oder durch eine in­trinsische Dysfunktion des zentralen Nervensystems (unprovozierter Anfall) verursacht?
• Falls der Anfall unprovoziert war: Welche Art von zugrunde liegender Hirnpathologie liegt vor?
• Wie hoch ist das Risiko eines Anfallsrezidivs?
• Kann die Diagnose einer Epilepsie gestellt werden?

Diese Beurteilung ist massgeblich für die Entscheidung, ob eine Therapie mit anfallssupprimierenden Medikamenten eingeleitet werden sollte, sowie für die Wahl einer geeigneten Behandlung der zugrunde liegenden Ursache, sofern diese bekannt ist. Zudem spielt sie eine wichtige Rolle für die individuelle Lebenssituation des Patienten, etwa im Hinblick auf Fahrtauglichkeit oder berufliche Einschränkungen.

Anamneseerhebung

Die Anamneseerhebung sollte idealerweise sowohl eine Eigen- als auch Fremdanamnese umfassen. Besondere Aufmerksamkeit gilt spezifischen Details wie Prodromi, Anfallsdauer, lateralisierenden Symptomen, geöffneten oder geschlossenen Augen während des Anfalls, Bewusstseinszustand und postiktaler Phase. Da es Angehörigen in der akuten Situation oft schwerfällt, alle relevanten Symptome zu erfassen, kann es bei Patienten mit wiederholten Anfällen hilfreich sein, Angehörige zur Videoaufzeichnung von Anfällen per Smartphone anzuleiten (7).
Zudem sollten gezielt Symptome aus der Vergangenheit exploriert werden, die Patienten nicht unmittelbar mit epileptischen Anfällen assoziieren. Hierzu zählen insbesondere nicht motorische Anfälle oder indirekte Hinweise auf nächtliche Anfälle wie Erwachen mit Zungenbiss, Einnässen oder Muskelschmerzen. Bei mehr als 40 % der Patienten, die wegen eines ersten Anfalls untersucht werden, sind bei genauerer Nachfrage bereits in der Vergangenheit Anfälle aufgetreten (8).

Zusätzlich sind die frühkindliche Entwicklung und Familienanamnese zu berücksichtigen, da Faktoren wie perinatale Komplikationen, Fieberkrämpfe oder genetische Prädispositionen eine Rolle spielen können. Eine vollständige Medikamentenanamnese sowie gezielte Fragen zu Alkohol- und Drogenkonsum als potenzielle Anfallsauslöser sind essenziell.

Abschliessend sollte eine Sozialanamnese erhoben werden, um psychosoziale Belastungen als mögliche Ursache nicht epileptischer Anfälle zu identifizieren. Zudem sind berufliche Aspekte zu berücksichtigen, da eine Epilepsiediagnose erhebliche Auswirkungen auf die berufliche Tätigkeit und die Fahrtauglichkeit haben kann.

Neurologische Untersuchung

Bei der klinischen Untersuchung liegt der Fokus darauf, Defizite oder Hinweise zu erfassen, die auf strukturelle Hirnschädigungen hinweisen können. Zu berücksichtigen sind dabei insbesondere neuropsychologische Auffälligkeiten. Zu achten ist auch auf das Vorliegen eines Zungenbisses.

EEG

Da epilepsietypische Potenziale (ETP) bei Personen ohne Epilepsie nur in 0.5 % der Fälle auftreten (9), kann ihr Nachweis bereits nach einem ersten epileptischen Anfall zur Diagnose einer Epilepsie beitragen (5). Allerdings schliesst ein unauffälliges EEG eine Epilepsie nicht aus. Die Sensitivität eines ersten Routine-EEG zur Detektion von ETP nach einem ersten Anfall liegt initial zwischen 12 % und 55 %. Sie kann jedoch durch den Einsatz von repetitiven EEGs, Schlafentzugs-EEGs und Langzeit-EEGs erheblich gesteigert werden (10, 11, 12). Eine weitere Verbesserung der Detektionsrate lässt sich durch die Erweiterung der Standardableitung von 19 auf 25 Elektroden mit 6 zusätzlichen temporobasalen Elektroden erzielen (13). Besonders hoch ist die Sensitivität, wenn das EEG innerhalb von 24 Stunden nach dem Anfall durchgeführt wird (51 % vs. 34 %) (14).

Bildgebung

Grundsätzlich sollte bei jedem Patienten mit einem ersten epileptischen Anfall eine cerebrale Bildgebung durchgeführt werden. Die Methode der Wahl ist aufgrund der höheren Sensitivität eine MRT, welche bei klinisch unauffälligen Patienten nicht zwingend gleichentags durchgeführt werden muss. Relevant ist jedoch die Wahl geeigneter Sequenzen, wie z. B. im HARNESS(Harmonized Neuro­imaging of Epilepsy Structural Sequences)-MRT-Protokoll (15).

Bei Patienten mit einem neuen fokalen Defizit nach dem Anfallsereignis, insbesondere mit qualitativer oder quantitativer Bewusstseinsstörung, anhaltenden Kopfschmerzen, akutem Kopftrauma in der Vorgeschichte, maligner Erkrankung oder Antikoagulation, ist jedoch eine sofortige Bildgebung indiziert. In solchen Fällen ist ein CT häufig die am besten geeignete Erstuntersuchung zum Ausschluss kritischer Befunde, da es oft schneller verfügbar ist und bei bewusstseinsgestörten Patienten unkomplizierter einsetzbar ist (16).

Laboruntersuchungen

Die Laboruntersuchungen sind primär zum Ausschluss metabolischer, toxischer oder entzündlicher Ursachen erforderlich. Es sollte daher eine Bestimmung von Glucose, Blutbild, Leber- und Nierenwerten und Elektrolyten erfolgen.

Bei der Differenzialdiagnose von zu psychogenen nicht epileptischen Anfällen (PNEA) kann die Bestimmung der Kreatinkinase, von Lactat und Prolaktin hilfreich sein. Die Kreatinkinase steigt bei 45 % der Patienten nach einem bilateral tonisch-klonischen Anfall an, erreicht nach 24–48 Stunden ein Maximum und bleibt bei PNEA oder Synkopen unauffällig (17). Lactat steigt postiktal innerhalb von 1–2 Stunden an und hat bei einem Cut-off von 4.75 mmol/l eine hohe Sensitivität (79 %) und Spezifität (89 %) in der Abgrenzung gegenüber Synkopen und PNEA (18). Prolaktin kann bei frühzeitiger Abnahme (Maximum 10–20 Min. postiktal, Normalisierung nach 2–6 Stunden) ebenfalls hilfreich in der Abgrenzung zu PNEA sein. Einen Anstieg gibt es bei etwa 60 % der bilateralen tonisch-klonischen und 46 % der fokalen, nicht bewusst erlebten Anfälle bei 60–80 % der Synkopen, nicht aber bei PNEA (19, 20).

Bei individuellem Verdacht sollte ergänzend ein toxikologisches Screening erfolgen. Eine Liquoruntersuchung ist gezielt bei V. a. Meningitis oder Autoimmunenzephalitis indiziert, eine genetische Abklärung ist in der Regel nach einem ersten Anfall nicht indiziert.

Klinisch-neurologisch ist die Patientin 30 Minuten nach dem Ereignis wieder unauffällig, auch im Labor zeigen sich keine richtungsweisenden Befunde. Diagnostisch wird gleichentags ein EEG durchgeführt, in dem sich links temporal ein intermittierender leichtgradiger Herdbefund mit einzelnen Spikes als Zeichen der erhöhten Anfallsbereitschaft zeigt; in der MRT am Folgetag findet sich ein unauffälliger Befund.

Differenzialdiagnosen

Epileptische Anfälle müssen von nicht epileptischen Episoden wie Synkopen, psychogenen Anfällen, transitorischen ischämischen Attacken (TIAs) und Migräne unterschieden werden. Dabei spielen klinische Merkmale eine zentrale Rolle:

Charakteristische Merkmale epileptischer ­Anfälle

Epileptische Anfälle sind in der Regel max. zwei Minuten lang, stereotyp und paroxysmal und äussern sich durch plötzliche, vorübergehende motorische, sensorische, ko­gnitive oder verhaltensbezogene Symptome. Typischerweise sind die Augen geöffnet, bei generalisierten motorischen Entäusserungen sind diese an Armen und Beinen synchron (21). Ein lateraler Zungenbiss ist sehr spezifisch, tritt allerdings auch bei generalisierten Anfällen lediglich in 22 % der Fälle auf (22, 23). Einem Anfall kann sich eine Minuten bis Stunden anhaltende postiktale Phase anschliessen, die am häufigsten durch eine Bewusstseinsstörung gekennzeichnet ist (24). In ca. 6 % der Fälle besteht postiktal auch eine Todd’sche Lähmung, welche von einer Parese bei Schlaganfall abgegrenzt werden muss (25).

Synkopen

Sind häufig durch prodromale Symptome wie Schwindel, Übelkeit und Blässe gekennzeichnet und treten oftmals in einem bestimmten Setting (z. B. bei langem Stehen, Hitze, nach Schmerzreiz) auf. Ein typisches Merkmal ist der meist kurze Bewusstseinsverlust mit sofortiger Erholung. Im Gegensatz zu epileptischen Anfällen treten Zungenbisse oder postiktale Verwirrtheit selten auf. Einnässen ist ebenfalls untypisch (26). Zur Fehldiagnose eines epileptischen Anfalls können motorische Entäusserungen in Form von Myoklonien bei konvulsiven Synkopen führen (27). Typischerweise halten diese mit durchschnittlich 4 Sekunden deutlich kürzer an als bei generalisierten Anfällen (29 Sekunden) (28).

Psychogene Anfälle

Diese zeigen oft ein inkongruentes und diskontinuierliches Bewegungsmuster, das nicht mit neurologischen Mechanismen vereinbar ist, insbesondere asynchrone Bewegungen, schubartige Beckenbewegungen und Seit-zu-Seit-Bewegungen des Kopfes und des Körpers. Die Augen sind häufig während des Ereignisses im Gegensatz zu epileptischen Anfällen geschlossen oder zusammengekniffen (29).

Die Episoden dauern mit oft mehr als zwei Minuten länger als typische epileptische Anfälle (30).

Transitorische ischämische Attacken (TIAs)

Im Gegensatz zu epileptischen Anfällen stehen bei TIAs negative Symptome wie Schwäche oder Sensibilitätsverlust im Vordergrund.

Migräne

Auren bei Migräne sind in der Regel progressiv und dauern länger (5 bis 60 Minuten). Sie gehen häufig mit positiven Symptomen wie Flimmerskotomen oder Parästhesien einher, jedoch selten mit Bewusstseinsverlust (31).

Da Frau K. vermutlich bereits in der Vergangenheit unter fokalen nicht motorischen Anfällen gelitten hatte und es passend zur klinischen Semiologie links im EEG einen spezifischen Befund gab, wird die Diagnose einer Epilepsie gestellt.

Management

Die Behandlung richtet sich nach der Anfallsart, der zugrunde liegenden Ursache und der Anfallshäufigkeit. Sie wird unterschieden in Akutbehandlung, Langzeittherapie und Patientenschulung.

Akutbehandlung

Die Gabe von Benzodiazepinen wird bei jeweils einzelnen Anfällen nicht empfohlen, da bis zum Eintreten der Wirkung (Midazolam bukkal/intranasal nach 10 Min., Lorazepam sublingual nach 20 Min.) der Anfall in der Regel abgeklungen ist und die postiktale Phase durch Medikamentennebenwirkungen protrahiert verläuft (32, 33, 34). Bei seriellen Anfällen haben Benzodiazepine zur Vermeidung des nächsten Anfalls einen Stellenwert. Beim Status epilepticus gilt Lorazepam i. v. als wirksamste Primärbehandlung (35).

Langzeittherapie

Die Empfehlungen zu einer Langzeittherapie müssen jeweils vor dem Hintergrund des Risikos der Entwicklung weiterer Anfälle gesehen werden.

Bei einem akut-symptomatischen Anfall allgemein beträgt das Risiko für die Entwicklung weiterer unprovozierter Anfälle in den nächsten zehn Jahren allgemein 19 % (36), sodass allgemein keine Langzeitbehandlung empfohlen wird. Bei akut-symptomatischen Anfällen innerhalb einer Woche nach einem Schlaganfall ist das Risiko unter Berücksichtigung von Faktoren wie Höhe des NIHSS-Score, Ätiologie, kortikale Beteiligung und betroffenes Areal teilweise bei > 60 %, was formal die Kriterien einer Epilepsie erfüllt und somit eine Behandlung rechtfertigt (37). Das individuelle Risiko kann nach dem SeLECT-Score berechnet werden, wofür es auch eine App gibt.

Bei unprovozierten Anfällen kann die Aufnahme einer anfallssupprimierenden Therapie das Risiko für Anfallsrezidive nach einem Jahr von 38.9 auf 19.1 %, nach fünf Jahren von 46.9 auf 36.6 % reduzieren. Die Langzeitprognose in Bezug auf Remissionsraten nach 3–5 Jahren und die Mortalität wird jedoch nicht davon beeinflusst, ob die Therapie sofort oder später aufgenommen wird. Gleichzeitig ist das Risiko für Nebenwirkungen der anfallssuppressiven Medikamente bei sofortiger Therapieeinleitung erhöht (38). In dieser Situation sollte der Entscheid für oder gegen eine Medikation individuell mit den Patient/-innen gemeinsam gefällt werden.

Bei erstem unprovoziertem Anfall und Nachweis epilepsietypischer Potenziale im EEG oder epileptogener Läsionen in der kranialen Bildgebung ist aufgrund des erhöhten Rezidivrisikos die Diagnose einer Epilepsie gerechtfertigt (5). In dieser Situation wird die Aufnahme einer anfallssupprimierenden Therapie empfohlen.

Bei der individuellen Wahl des anfallssupprimierenden Medikaments aus den mittlerweile > 30 Substanzen müssen verschiedene Faktoren wie Verträglichkeit, Epilepsiesyndrom, Komedikation, Alter und Kinderwunsch berücksichtigt werden. Bei fokalen Epilepsien gilt Lamotrigin als Mittel der ersten Wahl, Alternativen der zweiten Wahl sind Levetiracetam und Lacosamid (39, 40, 41).

Bei genetischen Epilepsien ist Valproinsäure aufgrund seiner besseren Wirksamkeit grundsätzlich Therapie der Wahl, wobei die erhebliche Teratogenität im Einsatz limitierend ist. Alternativen zweiter Wahl sind Levetiracetam und Lamotrigin (42).

Patientenschulung

Nach einem ersten epileptischen Anfall sollten die Betroffenen ausführlich über das Krankheitsbild und die damit verbundenen alltagsrelevanten Aspekte aufgeklärt werden. Wesentliche Punkte sind hierbei:

Provokationsfaktoren

Die Risiken für die Entwicklung eines Anfalls durch Provokationsfaktoren wie Schlafentzug, Alkoholkonsum oder Lichtreize sollten dem Betroffenen unter Berücksichtigung des Epilepsiesyndroms erklärt werden. Schlafentzug von < 4 h/Nacht ist für Patienten mit genetischer Epilepsie von Relevanz (43), bei fokalen Anfällen hingegen nicht (44). Ein moderater Alkoholkonsum geht nicht mit einem eindeutig erhöhten Risiko für das Auftreten von epileptischen Anfällen einher (45, 46), relevant ist jedoch ein episodischer hoher Alkoholkonsum oder Alkoholentzug (47).

In der Zeit einer zunehmenden Digitalisierung wird häufig die Frage nach der Fotosensibilität gestellt. Allgemein ist Fotosensibilität mit einer Prävalenz von 0.03 sehr klein und tritt vor allem bei genetischen Epilepsien oder Occipitallappenepilepsien auf (48). Überwiegend betrifft die Fotosensibilität Frequenzen zwischen 15 und 25 Hz (49), was nicht den Frequenzen moderner Bildschirme entspricht. Gesamthaft ist das Risiko als klein einzuschätzen.

Medikamenteneinnahme

Im Fall der Notwendigkeit einer Medikamenteneinnahme muss die Bedeutung der Therapieadhärenz erläutert werden. Den Patienten sollte ein klarer, gut verständlicher Medikamentenplan erstellt werden und Informationen dazu gegeben werden, wie sie im Falle einer vergessenen Medikamenteneinnahme vorgehen sollten.

Risiko für gefährliche Ereignisse

Das Thema sudden unexpected death in epilepsy sollte Patienten und Angehörigen unter Berücksichtigung der individuellen Risikosituation (insbesondere gehäuftes Auftreten von generalisierten Anfällen im Schlaf) erläutert werden. Ebenso sollte die Gefahr des Ertrinkungstodes erläutert werden. Diese ist bei Patient/-innen mit Epilepsie um den Faktor 18 erhöht, wovon 60–70 % in der Badewanne auftreten (50, 51). Ebenfalls muss mit den Patienten die individuelle berufliche Situation (z. B. Gefährdung durch Arbeiten auf hohen Leitern, Gerüsten, mit schweren Maschinen) evaluiert werden.

Fahrtauglichkeit

Nach einem ersten Anfall ist die Fahrtauglichkeit vorerst nicht gegeben, wobei die Dauer je nach Art des Anfalls (provoziert, unprovoziert, neu diagnostizierte Epilepsie) und nach den Richtlinien des jeweiligen Landes variiert (52, 53, 54). Der Patient muss hierüber aufgeklärt werden, die Aufklärung muss dokumentiert werden.

Bei Frau K. wurde eine Behandlung mit Lamotrigin aufgenommen, was von ihr gut vertragen wurde. Glücklicherweise traten seither keine weiteren Anfälle auf. Es wurde zunächst entsprechend den Richtlinien der Schweizerischen Epilepsie-Liga ein Fahrverbot für eine Dauer von einem Jahr ausgesprochen, was inzwischen wieder aufgehoben werden konnte.

Prognose und Nachsorge

Die Prognose hängt von der Ursache des Anfalls und der Wirksamkeit der Therapie ab. Etwa 60–70 % der Patienten mit Epilepsie erreichen unter adäquater Therapie Anfallsfreiheit. Eine regelmässige Nachsorge ist essenziell, um die Therapie zu optimieren und psychosoziale Belastungen zu adressieren.

Schlussfolgerung

Der epileptische Anfall ist ein komplexes neurologisches Leitsymptom, das provoziert und unprovoziert, isoliert oder als erstes Symptom einer Epilepsie auftreten kann. Mittels sorgfältiger Anamnese und Zusatzuntersuchungen, von denen ein möglichst innerhalb von 24 h abgeleitetes EEG und eine qualitativ hochwertige MRT den grössten Stellenwert haben, können in der Regel eine korrekte Zuordnung und Abgrenzung von relevanten Differenzialdiagnosen wie Synkopen und psychogene nicht epileptische Anfälle vorgenommen werden. Eine frühzeitige und korrekte Diagnosestellung sowie ein individuell angepasstes Management sind entscheidend, um die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.

Dr. med. Silke Biethahn, MHBA

Neurologie FMH
Neurologisch Aarau
Schanzweg 7
5000 Aarau

neurologischaarau@hin.ch

Die Autorin hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Blickpunkt MS – Sehstörungen als Leitsymptom der Multiplen Sklerose

Einleitung

Neurologische Sehstörungen entstehen durch Schädigungen oder Funktionsstörungen des zentralen oder peripheren Nervensystems, die das Sehvermögen beeinflussen. Diese Störungen betreffen nicht das Auge selbst, sondern die neuronalen Verbindungen und Zentren, die für die Verarbeitung visueller Informationen verantwortlich sind.

Die Auswirkungen sind mannigfaltig und reichen von einer monokulären Visusminderung, z. B. bei einer Schädigung des Sehnervs, über Sehfelddefekte durch Schädigungen des Sehnervs oder der Sehbahn bis hin zu zur visuellen Agnosie im Sinne einer Verarbeitungsstörung bei einer Schädigung des Temporallappens oder des okzipitalen Kortexes.

Ursachen solcher Störungen können Schlaganfälle, Hirntumore, Traumata, aber auch entzündliche Erkrankungen des Gehirns, wie z. B. die Multiple Sklerose, sein.

Fall

Eine bis anhin gesunde 28-jährige Frau stellt sich aufgrund einer monokulären Visusminderung vor, welche seit etwa 2 Tagen bestehe und progredient sei. Sie beschreibt ein Verschwommensehen und äussert Schmerzen bei Augenbewegungen. Es sei das erste Ereignis dieser Art, früher aufgetretene neurologische Symptome werden verneint. Dieses Szenario weckt speziell bei einer jungen Frau den Verdacht auf eine Optikusneuritis.

Nervus opticus

Der Nervus opticus ist der 2. Hirnnerv und leitet visuelle Informationen von der Netzhaut zum Gehirn. Der Nervus opticus besteht aus etwa 1.2 Millionen Nervenfasern, die sich aus den Axonen der Ganglienzellen der Netzhaut bilden. Er verlässt das Auge an der Papilla nervi optici (blinder Fleck) und verläuft vom hinteren Teil des Auges durch die knöcherne Augenhöhle (Orbita) und tritt in den Schädel ein.

Die Nervenfasern kreuzen zu 50 % im Chiasma opticum, das heisst die Fasern, die ihren Ursprung in der temporalen Retinahälfte haben verlaufen angekreuzt, während die Phasen der nasalen Hälfte zur Gegenseite kreuzen. Dadurch werden die Informationen aus dem linken Gesichtsfeld beider Augen in die rechte Hirnhälfte und aus dem rechten Gesichtsfeld in die linke Hirnhälfte geleitet. Der Nervus opticus ist entscheidend für das Sehvermögen, er transportiert das visuelle Informationen von der Netzhaut zur Sehrinde im Okzipitallappen des Gehirns transportiert, wo die visuelle Wahrnehmung stattfindet. Diese Informationen umfassen Helligkeit, Farb- und Kontrastsehen wie auch Bewegungen im Gesichtsfeld.

Neuritis nervi optici

Per definitionum stellt die Neuritis nervi optici (NNO; Synonyme: Optikusneuritis, Retrobulbarneuritis, engl. optic neuritis) eine Entzündung des Nervus opticus aufgrund einer zunächst nicht näher bezeichneten Genese dar. Sie ist die häufigste Optikusneuropathie im jungen Erwachsenenalter (1). Mit einer Inzidenz von 1–5/100 000 (2, 3) ist die Optikusneuritis keine allzu seltene Erkrankung. Die Optikusneuritis wird häufig mit Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht, zu nennen ist hier hauptsächlich die Multiple Sklerose (MS). Hier macht die Optikusneuritis in fast 1/4 der Fälle das Erstsymptom der Erkrankung aus.

Doch nicht nur im Rahmen der MS ist ein Auftreten der Sehnerven-Entzündung möglich, auch bei den selteneren Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (neuromyelitis optica spectrum disorders, NMOSD) oder den Erkrankungen, die mit Antikörpern gegen Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein assoziiert sind (anti-MOG-antibody-associated diseases, MOGAD) können diese auftreten. Ein Nachweis dieser Erkrankungen kann dank neuerer, erst in den letzten Jahren entdeckter Biomarker und Antikörper ermöglicht werden. Die Unterscheidung zwischen der MS, NMOSD oder MOGAD, ist klinisch bedeutsam, da sich aufgrund unterschiedlicher Pathomechanismen zum einen die Prognose für die Erholung im Schub, zum anderen auch die Langzeittherapie zwischen den einzelnen Erkrankungen unterscheidet. Es ist dennoch verwunderlich, dass, obwohl die Erkrankung wie bereits erwähnt nicht selten ist, erst im Jahre 2022 Kriterien für die Diagnosestellung der Optikusneuritis im Lancet (5) publiziert wurden, welche auf klinischen und paraklinischen Befunden basieren. Präzise Diagnosekriterien sind von grosser Wichtigkeit für die Einordnung einer Sehstörung, insbesondere zumal die Autoren in der Pu­blikation aufführen, dass über 60 Erkrankungen als Ursache für eine Optikusneuritis infrage kommen. So können multiple virale und bakterielle Erreger, z. B. die durch Bar­tonella henselae verursachte Katzenkratzkrankheit oder die Lues, ursächlich sein. Sehnervenentzündungen können aber auch im Rahmen von Kollagenosen (z. B. Sjögren-Syndrom, systemischer Lupus erythematodes) oder einer Sarkoidose auftreten. Auch medikamentöse/toxische Ursachen sind differenzialdiagnostisch in Erwägung zu ziehen. Man unterscheidet im Rahmen der NNO, abhängig von der Symptomatik, Ursache und Prognose, die typische von der atypischen NNO.

Typische Optikusneuritis – MS-assoziiert oder idiopathisch

Bei einer typischen, autoimmunassoziierten Optikusneuritis wird durch die Inflammation die Myelinschicht angegriffen, es kommt zu einer Demyelinisierung des Nervus opticus, einer axonalen Degeneration und letztlich einem Untergang der Neurone des Nervus opticus (1, 6). Die typische Optikusneuritis tritt zwischen dem 20. und 45. Lebensjahr auf und betrifft Frauen zwei- bis dreimal häufiger als Männer.
Die Symptome einer Optikusneuritis treten typischerweise subakut und einseitig auf und umfassen:

1. Schmerzen bei Augenbewegungen im Sinne eines Bulbusbewegungsschmerzes, üblicherweise tritt dieser vor dem Visusabfall auf,
2. einseitige leichte bis moderate Visusminderung, wobei die Betroffenen ein verschwommenes oder trübes Sehen «wie durch ein Milchglas» schildern. Die Verschlechterung tritt innert Stunden bis Tage für ein bis zwei Wochen auf mit anschliessender Besserung,
3. Farbsinnstörung (Dyschromatopsie): Farben erscheinen blass und weniger grell, hauptsächlich trifft dies auf die Farbe Rot zu, man spricht auch von einer Rotentsättigung.

Gelegentlich berichten Betroffene über Flackern oder Lichtblitze, insbesondere bei Bewegung des Auges im Sinne von Phosphenen.
Typischerweise kommt es auch ohne weitere Behandlung innerhalb von zwei bis vier Wochen zu einer spontanen Besserung des Visus. Bei über 90 % der Betroffenen wird ein zufriedenstellender Visus nach Abheilung der Optikusneuritis erreicht. Nicht selten klagen jedoch Patiententrotz wiedererlangter normaler Sehstärke über residuelle Beschwerden, wie einen gestörten Farbsinn oder auch Schwierigkeiten im Kontrastsehen (Niedrigkontrastsehschärfe), welche durchaus auch Alltagsrelevanz haben können.

Eine Optikusneuritis ist darüber hinaus mit zwei weiteren Phänomenen assoziiert: dem Pulfrich-Phänomen und dem Uhthoff-Phänomen. Beim Pulfrich-Phänomen wird das Hin- und Herpendeln eines Gegenstands parallel zur Gesichtsebene als elliptische oder schraubenförmige Bewegung erlebt. Das Auge mit der verzögerten Reaktion nimmt das Objekt anders wahr als das gesunde Auge, was zu einer falschen räumlichen Wahrnehmung führt – im Alltag können Betroffene Schwierigkeiten bei der Einschätzung von Geschwindigkeiten von Objekten haben, wie z. B. im Strassenverkehr, beim Tennisspielen oder Fangen eines Balles, aber auch beim Einschenken von Flüssigkeiten.
Beim Uhthoff-Phänomen verschlechtert sich das Sehvermögen des betroffenen Auges, wenn sich die Körpertemperatur erhöht, etwa durch sportliche Aktivitäten, Saunagänge, aber auch bei Fieber. Das Uhthoff-Phänomen wurde ursprünglich bei der Neuritis nervi optici beschrieben (7), betrifft jedoch auch andere, bereits bekannte MS-Symptome nach früheren Schüben. Rund 80 % der Menschen mit Multipler Sklerose leiden an diesem Phänomen.

Atypische Optikusneuritis

Für eine atypische Optikusneuritis sprechen (8)
• Alter < 18 oder > 50 Jahre
• beidseitiges Auftreten entweder simultan oder auch ­sequenziell
• schwere Visusminderung mit einem Visus < 0.1
• keine Augenbewegungsschmerzen
• Auffälligkeiten in der Funduskopie wie eine ausgeprägte Papillenschwellung, eine Uveitis, retinale Exsudate, Netzhautblutungen usw.
• keine Besserungstendenz innerhalb von vier Wochen
• frühes Rezidiv nach Beendigung der Glukokortikoid­therapie

Während die typische Optikusneuritis entweder idiopathischer Genese ist oder mit einer MS assoziiert sein kann, sind insbesondere die schwere Visusminderung und das bilaterale Auftreten verdächtig auf das Vorliegen einer NMOSD oder MOGAD. Bei Letzteren zeigt sich zusätzlich häufig eine ausgeprägte Papillenschwellung. Als weiteres Merkmal einer MOG-ON ist die häufig beobachtete Steroidsensitivität zu nennen, die sich durch Besserung der Beschwerden nach Therapieeinleitung und Rückfall nach Therapieabsetzen bemerkbar macht (9).

Diagnostik – ophthalmologische ­Untersuchung

Die Diagnose einer Optikusneuritis erfolgt nebst der Anam­neseerhebung durch eine Augenuntersuchung inklusive Sehnervenprüfung, Prüfung auf einen relativ afferenten Pupillendefekt (RAPD), eine Spaltlampenuntersuchung der vorderen und mittleren Augenabschnitte sowie Funduskopie und schliesslich eine Perimetrie. Aufgabe des Augenarztes ist es, die Diagnose zu objektivieren und anderweitige ophthalmologische Ursachen auszuschliessen. Die Funduskopie zeigt bei einer typischen NNO in 2/3 der Fälle einen altersentsprechenden Normalbefund («Patient sieht nichts, Arzt sieht nichts») oder allenfalls eine leichte Papillenschwellung (Abb. 1).

Bildgebende Diagnostik

Die MRT-Untersuchung ist eine wichtige Zusatzdiagnostik in Bezug auf die Dokumentation der Lokalisation und Ausdehnung der Neuritis. Sie dient aber auch zum Ausschluss anderer Ursachen und Differenzialdiagnosen (Abb. 2–5).

Ebenso geht es darum, im Rahmen der Diagnostik weitere demyelinisierende Läsionen im zentralen Nervensystem aufzudecken, welche dann hinweisend wären, z. B. das Vorliegen einer Multiplen Sklerose (Abb. 6).

In Abhängigkeit von Anamnese und Bildgebung wäre eine weiterführende Diagnostik mittels Labor- und Liquoranalytik zu evaluieren. Die Erregungsleitung des Sehnervs lässt sich mithilfe visuell evozierter Potentiale (VEP) überprüfen.

Therapie

Die Behandlung der Optikusneuritis basiert auf den Ergebnissen des Optic Neuritis Treatment Trial (ONTT), welcher 1992 publiziert wurde (10). Viele Erkenntnisse, auch zu Langzeitverläufen bei der Optikusneuritis, stammen aus den Folgepublikationen dieser Kohorte über die Jahre hinweg. Der allgemein akzeptierte Standard zur Behandlung der akuten Neuritis nervi optici (aber auch eines MS-Schubes) ist die intravenöse Gabe von 1000 mg Methylprednisolon an 3–5 aufeinanderfolgenden Tagen, ohne anschliessendes Ausschleichen (11). Methylprednisolon hat den Vorteil einer geringeren mineralokortikoiden Wirkung bei höherer Rezeptoraffinität und besserer Liquorgängigkeit als Prednisolon (12).
In einer 2015 veröffentlichten Studie (13) konnte gezeigt werden, dass die dreitägige orale Einnahme von 1000 mg Methylprednisolon der intravenösen Verabreichung nicht unterlegen ist. Sowohl die funktionelle Verbesserung als auch die Verträglichkeit waren vergleichbar. Mittlerweile liegen weitere ähnliche Studien vor, sodass eine orale hoch dosierte Steroidtherapie daher eine Alternative zur intravenösen Applikation darstellt. Ein kleiner Nachteil ist die Tatsache, dass Methylprednisolon als Tablette derzeit in der Schweiz nur in der Dosis von 100 mg erhältlich ist. Bei einem Ausbleiben der Symptombesserung wird entweder die erneute, ultrahoch dosierte Kortison-Stosstherapie mit höherer Dosierung von bis zu 2000 mg Methylprednisolon pro Tag über weitere 3–5 Tage wiederholt. Hält die Symptomatik trotz optimaler Therapie an, so handelt es sich um einen steroidrefraktären Schub, und in diesem Falle ist eine Therapie mittels Plasmapherese oder Immunadsorption indiziert. Zunehmend wird jedoch eine Plasmapherese oder Immunadsorption als Behandlung bereits zu einem früheren Zeitpunkt erwogen, insbesondere bei den antikörpervermittelten Erkrankungen (14).

Multiple Sklerose

Bei der Multiplen Sklerose (MS) handelt es sich um eine autoimmunvermittelte, chronische, entzündlich-degenerative Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS). Sie zeichnet sich durch einen sehr individuellen Verlauf aus, entsprechend nennt man sie auch «die Erkrankung mit den tausend Gesichtern». Die Ursache der Multiplen Sklerose ist noch nicht endgültig geklärt. Das Risiko an einer MS zu erkranken, unterliegt zum einen einer genetischen Prädisposition, zum anderen werden bestimmte Umweltfaktoren wie virale Infektionen als Triggermechanismus, geringe Sonnenexposition mit niedrigem Vitamin-D-Spiegel, Rauchen oder Übergewicht als zusätzliche prädisponierende Faktoren diskutiert.

In der Regel beginnt die Erkrankung zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr; die Altersspanne reicht jedoch von der Kindheit bis in das höhere Erwachsenenalter. Frauen sind zwei- bis dreimal so häufig von der Multiplen Sklerose betroffen als Männer. Die MS stellt die häufigste neurologische Erkrankung dar, die im jungen Erwachsenenalter zu bleibender Behinderung und vorzeitiger Berentung führt. Schätzungen aus dem Jahre 2016 nach sind rund 15 000 Menschen in der Schweiz an einer MS erkrankt (15). Das Schweizer MS-Register liefert hierzu stets neue Erkenntnisse, demnach liegen die Schätzungen für das Jahr 2021 bei nunmehr 18 000 MS-Betroffenen in der Schweiz (16). Es wird weltweit eine steigende Anzahl MS-Betroffener beobachtet. Dies kann nicht nur dem Bevölkerungswachstum zugeschrieben werden. Konsistent zeigt sich nämlich auch eine stärkere Zunahme der Anzahl von MS betroffener Frauen. Als mögliche Erklärungen hierfür werden Veränderungen im Lebensstil der weiblichen Bevölkerung genannt. Insbesondere werden hier hormonelle Veränderungen diskutiert, die durch das höhere Alter bei der ersten Schwangerschaft und die sinkende Geburtenrate nebst dem steigenden Übergewicht bedingt sind (17, 18).

Bis anhin teilte man die MS in verschiedene Verlaufsformen ein:
• das klinisch-isolierte Syndrom (clinically isolated syndrome, CIS),
• die schubförmige remittierende (relapsing-remitting, RRMS),
• die sekundär progrediente (SPMS) und
• die primär progrediente (PPMS).

Diese Einteilung hat in den letzten Jahren einen Wandel erfahren. Jahrzehntelang ging man von einem 2-Phasen-Modell aus, gekennzeichnet durch eine zunächst schubförmig verlaufende Erkrankung und im Vordergrund stehende entzündliche Aktivität (Schübe, MR-Aktivität) mit Übergang zur sekundär progredienten MS, gekennzeichnet durch einen degenerativen Prozess (Neurodegeneration, Atrophie). Heute wird die Erkrankung hingegen als Kontinuum betrachtet. Es gibt keine klare Trennung zwischen entzündlichen und degenerativen Phasen. Heute wissen wir, dass die Neurodegeneration bereits im frühen Stadium der Erkrankung beginnt. Auch haben wir in den letzten Jahren gelernt, dass neben der bisher angenommenen schubassoziierten auch eine schubunabhängige Behinderungsprogression (progression independant of relapses, PIRA) vorliegen kann (19, 20).

Der MS-Schub

Die Multiple Sklerose manifestiert sich durch Schübe. Ein Schub bei MS kann sich durch verschiedene Symptome bemerkbar machen, die je nach betroffener Hirn- oder Rückenmarksregion unterschiedlich sein können. Die häufigsten Schubsymptome sind Sehstörungen z. B. im Rahmen einer Optikusneuritis oder Doppelbilder, Fühlstörungen, Paresen sowie Gangstörungen.

Ein MS-Schub ist definiert durch das Auftreten neurologischer Funktionsstörungen, die subjektiv berichtet oder durch die Untersuchung objektiviert werden können und die a) mindestens 24 Stunden anhalten, b) mit einem Intervall von > 30 Tagen zum Beginn vorausgegangener Schübe auftreten, c) nicht durch Änderungen der Körpertemperatur (Uhthoff-Phänomen) oder im Rahmen von z. B. Infektionen und d) nicht durch eine anderweitige physische oder organische Ursache hervorgerufen sind (11).

Die Therapie besteht aus der möglichst frühen Gabe von hoch dosierten Steroiden, sollte die Symptomatik von klinischer Relevanz sein. Details zur Dosierung und Dauer der Behandlung wurden oben bereits bei der Behandlung der Neuritis nervi optici aufgeführt.

Diagnose der MS

Die Diagnose einer MS wird anhand Anamnese, klinischer und paraklinischer Befunde gestellt, wobei die Magnetresonanztomographie in der Diagnostik eine wichtige Rolle spielt. Zentral war bisher der radiologische Nachweis einer Dissemination der Läsionen im Raum (dissemination in space, DIS) und in der Zeit (dissemination in time, DIT).

Die im MRT gesehenen Läsionen sollen ovoid und gut umschrieben sowie > 3 mm gross sein mit periventrikulärer, juxtakortikaler, infratentorieller oder spinaler Lokalisation. Die räumliche Dissemination im MRT ist erfüllt, wenn MS-typische Läsionen an mindestens zwei der genannten Lokalisationen sichtbar sind. Die Dissemination in der Zeit ist erfüllt bei Nachweis einer kontrastmittelaufnehmenden Läsion im initialen MRT oder einer neuen demyelinisierenden Läsion in einer Verlaufs-MRT.

Die Liquoruntersuchung hat weiterhin ihren Platz in der Diagnostik der MS. Den grössten Stellenwert besitzen die sogenannten oligoklonalen Banden (OKB) im Liquor. Bei den OKB handelt es sich um den biochemischen Nachweis von Immunglobulinen, die ausschliesslich im ZNS produziert werden als Ausdruck eines pathologischen immunologischen Prozesses. Der Nachweis von oligoklonalen Banden ausschliesslich im Liquor kann ebenfalls herangezogen werden, um das Kriterium der zeitlichen Dissemination zu erfüllen.

Es steht aber kein spezifischer Laborparameter zur Verfügung, der die Diagnose der MS beweist oder gänzlich ausschliesst. Die MS bleibt somit weiterhin eine Ausschlussdiagnose, was bedeutet, dass keine bessere Erklärung für die Symptome oder die paraklinischen Befunde vorliegen darf.

Im Jahre 2017 wurden die letzten und aktuell noch gültigen Diagnosekriterien für die MS durch das «International Panel on Diagnosis of MS» erarbeitet und publiziert (21). 2024 wurden erstmals die vom International Advisory Committee on Clinical Trials in MS erarbeiteten, noch unpublizierten Anpassungen der McDonald-Kriterien im Rahmen des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS)-Kongresses präsentiert, die in einigen wesentlichen Punkten zu Veränderungen bei der Diagnosestellung der MS führen werden. Das Kriterium der räumlichen Dissemination wird insofern angepasst, als der Sehnerv als 5. anatomische Lokalisation für die Erfüllung der räumlichen Dissemination aufgenommen wird. Eine Affektion des N. opticus kann dabei nicht nur mittels MRT, sondern auch mittels VEP (visuell evozierte Potentiale) oder OCT (optische Kohärenztomographie) gezeigt werden. Diese Neuerung ermöglicht in gewissen Situationen eine Vereinfachung oder Beschleunigung der Diagnosestellung, zumal die Optikusneuritis, wie bereits erwähnt, zu den Erstsymptomen einer MS gehören kann.

Das übergeordnete Ziel ist die möglichst frühe, aber auch eine zuverlässige Diagnosestellung, um den zeitnahen Beginn einer verlaufsmodifizierenden Therapie zu ermöglichen. «Time is brain» gilt auch für die MS. Je früher die Krankheit diagnostiziert und mit der Immuntherapie begonnen wird, umso besser ist die Langzeitprognose.

Behandlung

Mit der Zulassung von Interferon beta-1b in den 90er-Jahren begann eine neue Ära in der Behandlung der Multiplen Sklerose. Zum ersten Mal stand ein Medikament zur Verfügung, welches nachweislich einen Effekt auf den Verlauf der MS zeigen konnte. 30 Jahre später stehen uns Neurologen mittlerweile zahlreiche Therapeutika mit unterschiedlichen Wirkmechanismen und Applikationsformen zur Verfügung. Ziel dieser Therapeutika ist es, das Risiko weiterer Schübe und somit den Krankheitsprozess und die daraus resultierende fortschreitende Behinderung zu verhindern. Die grosse Auswahl erlaubt, die Therapie an das jeweilige individuelle «MS-Risikoprofil» anzupassen, unter Berücksichtigung von klinischen, radiologischen und biologischen Parametern, aber auch auf die Bedürfnisse und Wünsche des Betroffenen/der Betroffenen einzugehen, was noch vor einigen Jahren so nicht möglich war. Erfreulicherweise befinden sich weitere MS-Therapeutika in der Entwicklung, sodass auch in Zukunft mit neuen Zulassungen gerechnet werden kann.

Über die Jahre hinweg haben sich unsere Therapieziele in der Behandlung der MS verändert. Die ersten zur Verfügung stehenden Medikamente hatten lediglich eine moderate Reduktion der Schubrate zur Folge, mittlerweile ist das Fehlen jeglicher Krankheitsaktivität ein durchaus realistisches Ziel, das im klinischen Alltag angestrebt wird. Fairerweise muss man aber an dieser Stelle erwähnen, dass die meisten Medikamente auf die entzündliche Krankheitsaktivität der MS abzielen und noch Handlungsbedarf besteht, den degenerativen Anteil des Krankheitsprozesses wirkungsvoll zu beeinflussen und zu kontrollieren. Keine der zugelassenen immunmodulatorischen Therapien führt bei progressiven Verläufen zu einer wesentlichen Verminderung der langfristigen Behinderung. Primäre neuroprotektive Therapieansätze existieren nicht.

Handlungsbedarf besteht zudem auch in der Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung der sogenannten unsichtbaren Symptome der MS, wie Einschränkungen in der kognitiven Leistungsfähigkeit oder die Fatigue.

Die grosse Auswahl von Medikamenten stellt uns jedoch auch vor zunehmende Herausforderungen. Die Präparate haben unterschiedliche Nebenwirkungsprofile. Therapieanpassungen werden aufgrund von Wirksamkeits- oder Sicherheitsfaktoren komplexer, zumal Wirkmechanismen, Pharmakokinetik und Wechselwirkungen jeweils mitberücksichtigt werden müssen. Auch individuelle Faktoren wie Alter, Infektionsrisiko oder Kinderwunsch müssen in Betracht gezogen werden.

Es besteht mittlerweile ein breiter Konsens, dass eine MS-Therapie möglichst früh begonnen werden soll. Viele MS-Patienten stellen jedoch früher oder später die Frage, wie lange eine MS-Therapie durchgeführt werden soll und ob diese im weiteren Verlauf ohne negative Folgen auch wieder beendet werden kann. Die MS-Krankheitsaktivität nimmt in der Regel mit steigendem Alter ab. Mit zunehmendem Alter steigt die Anzahl der Komorbiditäten, wodurch sich das Nutzen-Risiko-Profil von Immuntherapien verschiebt, auch im Hinblick der Immunoseneszenz. Dieser Frage ging zuletzt die «DOT-MS»- Studie nach, die Ende letzten Jahres veröffentlicht wurde. Die im Schnitt 54-jährigen Teilnehmer hatten seit mindestens 5 Jahren unter einer MS-Therapie (mit Interferon, Glatirameracetat, Dimethylfumarat oder Teriflunomid) keinerlei Zeichen einer klinischen oder radiologischen entzündlichen Krankheitsaktivität und wurden randomisiert, wobei die Hälfte der Probanden die Therapie abgesetzt hat. Bei fast 20 % der Teilnehmenden, welche die Therapie abgesetzt hatten, zeigte sich signifikante Krankheitsaktivität, die Studie musste daher vorzeitig beendet werden. Andersherum kann jedoch auch gesagt werden, dass 80 % der Teilnehmenden, welche die Therapie abgesetzt hatten, weiterhin frei von Krankheitsaktivität blieben, und entsprechend kann ein Absetzversuch im klinischen Alltag im Einzelfall unter Berücksichtigung des Nutzen-Risiko-Profils für den Einzelnen diskutiert werden (22).

Bis anhin werden MS-Krankheitsaktivität und die Beurteilung des Therapieansprechens klinisch (neurologische Untersuchung, Schubanamnese) und radiologisch (MRT) erfasst. Neue Biomarker im Blut ermöglichen eine genauere Vorhersage und Erfassung des Fortschreitens der Erkrankung, bevor der MS-Betroffene einen Schub erleidet oder sich neue Krankheitsaktivität im MRT nachweisen lässt. Serum Neurofilament Light Chain (sNfL) ist ein Marker für neuronalen Schaden, und die Blutspiegel erlauben eine zuverlässige Aussage über die aktuelle Krankheitsaktivität bei MS (23). Ob sNfL zu einer personalisierten MS-Behandlung beitragen kann, indem Therapieanpassungen anhand der Serumwerte vorgenommen werden, wird gerade mit der MultiSCRIPT-Studie, an der acht MS-Zentren in der Schweiz teilnehmen, erstmals prospektiv untersucht (24).

Prognose

Eine verlässliche individuelle Prognoseeinschätzung ist nicht möglich. Als ungünstige prognostische Faktoren gelten jedoch unter anderem ein progredienter Krankheitsverlauf zu Beginn der Erkrankung, viele Krankheitsschübe, eine schlechte Remission des ersten Schubes, eine multifokale Symptomatik, männliches Geschlecht, ein höheres Lebensalter zu Beginn der Erkrankung und eine hohe Läsionslast im MRT mit insbesondere Vorliegen von infratentoriellen und spinalen Läsionen.

Das Bild der Multiplen Sklerose ist bei vielen Betroffenen oft geprägt von der Vorstellung, dass sie bald im Rollstuhl landen. Die MS ist zwar weiterhin nicht heilbar, durch die Zulassung verschiedener verlaufsmodifizierender Therapien und unser verbessertes Verständnis der Krankheitsmechanismen sind wir heute aber in der Lage, den langfristigen Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen.

Dipl. Ärztin Stefanie Müller

Oberärztin mbF
Klinik für Neurologie
HOCH, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9000 St. Gallen

stefanie.mueller@kssg.ch

Die Autorin hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Polyneuropathien – ein praxisorientierter Überblick

Einführung

Polyneuropathien (PNP) sind häufig (Prävalenzdaten für die Schweiz gemäss Bundesamt für Statistik: allgemeine Prävalenz: 2500 pro 100 000 entspricht 2.5 % der Gesamtbevölkerung; Prävalenz bei über 55-Jährigen: 8000 pro 100 000 entspricht 8 %), können mit unterschiedlichen Symptomen einhergehen und sowohl von akutem, schubförmigem oder chronischem Charakter sein. Sensibilitätsstörungen, neuropathische Schmerzen, aber auch Muskelschwäche, Koordinations- und Gangstörungen sind typische Symptome, welche in unterschiedlicher Verteilung bzw. Kombination auftreten können. Zahlreiche Ursachen können einer PNP zugrunde liegen, aber ein erheblicher Anteil bleibt trotz eingehender Abklärung unklarer Ätiologie. Darüber hinaus können auch andere neurologische Erkrankungen ähnliche Symptome hervorrufen und eine PNP imitieren, wie zum Beispiel eine Radikulopathie, eine amyotrophe Lateralsklerose (ALS) oder eine Multi­ple Sklerose. Für gewisse PNP stehen gezielte und effiziente Behandlungsansätze zur Verfügung (z. B. intravenöse Immunglobuline [IVIG] bei Immunneuropathien). In dieser Situation sind eine strukturierte Einteilung und gezielte Abklärung von PNP besonders hilfreich, um behandelbare Ursachen nicht zu verpassen. Nicht alle Patienten können/müssen dem Spezialisten überwiesen werden, und Red Flags sollen bei dieser Entscheidung helfen.

Grundlagen und Symptome bei ­Polyneuropathien

PNP sind generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems, welches sowohl motorische, sensible und autonome Nervenfasern umfasst, oft als sogenannte gemischte Nerven. Es kommen grundsätzlich alle allgemein gängigen Ursachen wie metabolisch, toxisch, entzündlich, infektiös, vaskulär, (para)-neoplastisch infrage. Per definitionem werden traumatische Nervenläsionen nicht zu den PNP gezählt. Eine PNP erhöht aber grundsätzlich die Anfälligkeit für aufgepropfte kompressive Neuropathien, welche entsprechend aktiv gesucht und bei Bedarf einer gezielten Behandlung zugeführt werden sollen (z. B. Nervendekompression bei Karpaltunnelsyndrom).

Die Art der beteiligten Nervenfasern – sensibel, motorisch oder autonom – bestimmt, welche Symptome im Vordergrund stehen. Dabei lassen sich die Symptome weiter unterteilen in negative und positive Erscheinungen. Zu den negativen Symptomen gehören ein Funktionsverlust, wie beispielsweise eine Parese oder sensible Beeinträchtigungen mit verminderter oder fehlender Empfindung. Positive Symp­tome hingegen weisen auf eine übermässige oder abnorme Aktivität hin, wie etwa Faszikulationen, Muskelkrämpfe oder Schmerzen, die durch Reizung oder Schädigung der Nerven hervorgerufen werden können (Tab. 1).

Die klinischen Symptome erlauben per se keine Unterscheidung zwischen einer axonalen, demyelinisierenden oder gemischt axonal-demyelinisierenden Schädigung. Diese Unterscheidung gelingt nur mittels einer weiterführenden elektroneuromyographischen Untersuchung (ENMG), welche von Neurologen durchgeführt wird. Die Bestimmung des Schädigungscharakters ist aber durchaus relevant, sowohl hinsichtlich Prognose (schlechtere Erholung bei axonaler Schädigung) als auch hinsichtlich spezifischer Ursache (z. B. typische Demyelinisierungszeichen bei entzündlichen Neuropathien). Small-Fiber-Neuropathien (SFN) betreffen kleine, wenig oder nicht myelinisierte Nervenfasern (Aδ- und C-Fasern), welche an der Schmerz- und Temperaturwahrnehmung beteiligt sind. Diese Fasertypen können durch Standard-ENMG-Untersuchungen nicht direkt untersucht werden (1). Bei Verdacht auf eine Small-Fiber-Neuropathie dient eine Quantitative Sensorische Testung (QST) der Beurteilung funktioneller Störungen und eine Hautbiopsie der Quantifizierung der intraepidermalen Nervenfaserdichte (2).

Ursachen und Einteilung von Polyneuropathien

Das Verteilungsmuster als auch die Verlaufsform können wertvolle Hinweise auf mögliche bzw. im Vordergrund stehende Ursachen ergeben (Tab. 2 und Tab. 3):

Die häufigste Form der PNP ist distalbetont (längenabhängig, beginnt in den Beinen) und symmetrisch, sensibel oder sensibel-betont, von axonalem oder gemischt axonal-demyelinisierendem Charakter und oft langsam fortschreitend. Bei dieser Form sind nicht selten auch die autonomen Fasern mitbetroffen, was in einer sogenannten Small-Fiber-Neuropathie (SFN) resultiert. Letztere kann auch isoliert auftreten und ist oft schmerzhaft.

Die häufigsten Ursachen v. a. mit Mitbeteiligung der SFN sind metabolisch (Diabetes mellitus, Hypertriglyzeridämie, Hypothyreose), toxisch (Alkohol, medikamentös, wie z. B. Chemotherapien), autoimmun (Zöliakie, Morbus Crohn, Sjögren-Syndrom) und infektiös (HIV, Hepatitis C) (2, 3).

Seltener sind Polyradikuloneuropathien, bei denen in erster Linie sowohl zervikale als auch lumbosakrale Nervenwurzeln betroffen sind, manchmal auch Rumpf- und Hirnnerven. Polyradikuloneuropathien sind häufiger von demyelinisierendem Charakter, können auch proximalbetont bzw. asymmetrisch ausfallen. Diese Formen treten häufig bei immunvermittelten Polyneuropathien (z. B. chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie) oder im Zusammenhang mit einer Infektion (z. B. Borreliose, Syphilis, HIV) auf (4).

Bei der sogenannten Mononeuropathia multiplex sind mehrere Nerven gleichzeitig oder nacheinander betroffen, was zu einem asymmetrischen und nicht längenabhängigem Befallsmuster führt. Die Mononeuritis multiplex ist vergleichsweise selten, meist schmerzhaft und von axonalem Charakter. Die Ätiologie sind gehäuft systemische Vaskulitiden oder Autoimmunerkrankungen (z. B. Lupus erythematodes, rheumatoide Arthritis) (5).

Seltener sind Formen mit überwiegend motorischen Symp­tomen, ein zusätzlicher proximaler Befall oder ein Beginn der Erkrankung in den Armen, welche am häufigsten entzündlich oder paraneoplastisch bedingt sind (5).

Auch die Verlaufsform einer PNP kann auf spezifische Ursachen hinweisen, z. B. akute Verläufe wie beim Guillain-Barré-Syndrom (GBS) sind durch eine rasche Progression charakterisiert (innerhalb von Tagen bis maximal vier Wochen), während chronische Verläufe über Jahre hinweg schleichend verlaufen (Symptome bestehen länger als acht Wochen) (4, 5). Chronische PNP mit langsamer Progression haben häufig eine toxische oder metabolische Ätiologie, einschliesslich Diabetes, Vitamin-B12-Mangel, alkoholinduzierter Polyneuropathie und Chemotherapie-induzierter Neuropathie (vgl. Tab. 3). Akute oder subakute Verläufe mit rascher Progression (über Tage bis maximal acht Wochen) treten oft bei immunvermittelter Ursache wie Guillain-Barré-Syndrom, chronisch inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathien, Vaskulitiden oder tumorassoziiert auf (5, 6).

Diagnostik bei Polyneuropathien

Wenn anamnestische und klinische Befunde auf eine PNP hinweisen, so empfiehlt sich in jedem Fall ein sogenanntes Basislabor (vgl. Tab. 4). Diese Untersuchungen decken die häufigsten und potenziell kausal behandelbaren Ursachen einer PNP auf.

Patienten mit nachgewiesenem Diabetes mellitus, die eine langsam progrediente, längenabhängige sensible Polyneuropathie aufweisen, benötigen in einer ersten Phase nicht zwingend eine neurologische und elektrophysiologische Untersuchung (ENMG).

Es gibt jedoch bestimmte Warnsignale (Red Flags), die auf eine potenziell schwerwiegende, spezifisch behandelbare Ursache einer PNP hinweisen und eine weiterführende neurologische und neurophysiologische Diagnostik erforderlich machen.

Zu den Red Flags gehören:

1. Akuter bis subakuter Beginn mit rascher Progression
Ein plötzliches oder schnell fortschreitendes Auftreten der Symptome (innerhalb von Tagen bis wenigen Wochen) kann auf entzündliche, autoimmune oder paraneoplastische Ursachen hindeuten.

2. Überwiegende motorische Beteiligung
Wenn vorrangig Muskelschwäche im Vordergrund steht und sensorische Störungen weniger ausgeprägt sind, sollte an Erkrankungen wie das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) oder die chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) gedacht werden.

3. Frühe Beteiligung der Propriozeption
(frühe sensible Ataxie)
Ein Verlust des Lage- und Vibrationsempfindens in frühen Krankheitsstadien kann auf eine sensorische Neuronopathie (z. B. paraneoplastisch oder autoimmun) oder eine Vitamin-B12-Mangel-assoziierte Myeloneuropathie hinweisen.

4. Bulbäre Beteiligung
Symptome wie Dysarthrie (Sprechstörungen), Dysphagie (Schluckstörungen) oder Fazialislähmungen sollten differenzialdiagnostisch an eine immunvermittelte Neuropathie, eine Erkrankung der motorischen Endplatte (z. B. Myasthenia gravis) oder eine Erkrankung des Motoneurons (z. B. ALS) denken lassen.

5. Multifokale oder nicht längendominante Verteilung der Symptome
Eine asymmetrische oder nicht distalbetonte Neuropathie kann auf multifokale demyelinisierende Polyneuropathien wie die multifokale motorische Neuropathie (MMN) oder vaskulitische Neuropathien hindeuten.

Gemäss den deutschen neurologischen Leitlinien ist bei Red-Flag-Symptomen, aber auch bei ungewöhnlichen Verläufen oder therapierefraktären Fällen eine weiterführende Diagnostik (inklusive ENMG, ggf. Nervenultraschall bzw. MR-Neurographie, spezifische Labor- und Liquoranalyse, Nervenbiopsie) angezeigt (7). In diesen Fällen soll eine zeitnahe Überweisung an einen Neurologen erfolgen.

Wichtigste Polyneuropathien und mögliche Fallgruben

Diabetische Polyneuropathie

Fallbeispiel: Der 56-jährige Patient mit seit 5 Jahren bekanntem Diabetes mellitus stellt sich zunächst beim Hausarzt mit sensiblen Defiziten an den Füssen vor, woraufhin eine diabetische Polyneuropathie vermutet wird. Aufgrund der im Verlauf aber fortschreitenden Symptome mit proximaler Beinparese erfolgt die Zuweisung zum Neurologen. Die elektrophysiologische Untersuchung zeigt ausgeprägte, fokale demyelinisierende Schädigungen, was den Verdacht auf eine chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) bestätigt. Zudem wird unter Metformin ein erniedrigtes Holotranscobalamin festgestellt, was als Aggravationsfaktor der Polyneuropathie gilt. Eine IVIG-Therapie mit regelmässiger neurologischer Verlaufskontrolle wird eingeleitet, begleitet von einer Optimierung der Blutzuckereinstellung und Vitamin-B12-Substitution.

Die diabetische Polyneuropathie (DPN) stellt die häufigste Form der Polyneuropathie sowohl in Europa als auch weltweit dar. Die Prävalenz der DPN variiert je nach Diabetes-Typ erheblich: Die deutschen Leitlinien geben an, dass sie bei Patienten mit Typ-1-Diabetes zwischen 8 % und 54 % und mit Typ-2-Diabetes zwischen 13 % und 46 % liegt (8). Neben Diabetes mellitus können auch andere, potenziell behandelbare Ursachen wie Vitaminmangelzustände oder toxische Einflüsse eine Neuropathie begünstigen (9).
Die Pathophysiologie der DPN ist komplex und umfasst mehrere Mechanismen, darunter:
• mikrovaskuläre Dysfunktion, die zu einer gestörten Durchblutung der Nerven führt,
• Beeinträchtigungen des mitochondrialen und Lipidstoffwechsels, die die Energieversorgung der Nervenfasern negativ beeinflussen,
• Aktivierung alternativer Stoffwechselwege, die toxische Zwischenprodukte generieren,
• Bildung neurotoxischer, glykativer Endprodukte, die die Struktur und Funktion von Nervenproteinen schädigen (8).
Die häufigste klinische Manifestation der DPN ist die distale symmetrische Polyneuropathie. Diese beginnt meist mit sensiblen Symptomen wie Parästhesien oder Hypästhesien, nicht selten begleitet von einer SFN, die durch neuropathische Schmerzen, trockene Haut und eine gestörte Temperaturempfindung gekennzeichnet ist. Motorische Defizite treten in der Regel erst spät auf und sind bei speziellen Formen, wie der diabetischen Amyotrophie, vorherrschend. In seltenen Fällen kann es zu akuten schmerzhaften SFN kommen, insbesondere bei einer zu schnellen Normalisierung der Blutzuckerwerte (9).
Zusätzlich können Nebenwirkungen bestimmter Antidiabetika, wie beispielsweise ein Vitamin-B12-Mangel bei längerer Anwendung von Metformin, indirekt zur Entwicklung einer Polyneuropathie beitragen. Das Risiko für gewisse autoimmune Neuropathien wie CIDP ist bei Diabetikern leicht erhöht, was insbesondere bei atypischen Verläufen bzw. Red Flags berücksichtigt werden soll.
Die Therapie der DPN umfasst mehrere Komponenten:
• Optimierung der Blutzuckereinstellung, angepasst an das individuelle Komorbiditätsprofil,
• Behandlung zusätzlicher Risikofaktoren (z. B. Hypertonie oder Hyperlipidämie),
• Lebensstiländerungen, einschliesslich regelmässiger körperlicher Aktivität,
• symptomorientierte Therapie wie Schmerzmanagement, Behandlung vegetativer Dysfunktionen oder Massnahmen bei Diabetischem Fusssyndrom.

Besonders bei der diabetischen Amyotrophie wird die Rolle von Immuntherapien diskutiert, jedoch sind weitere Studien erforderlich, um diese Ergebnisse zu validieren (9).

Alkoholinduzierte Polyneuropathie

Die alkoholinduzierte Polyneuropathie tritt bei 22–66 % der chronischen Alkoholabhängigen auf. Wesentliche Risikofaktoren sind die Dauer und Menge des Alkoholkonsums, wobei ein Konsum von mehr als 100 g Alkohol pro Tag über Jahre als pathologisch angesehen wird (10). Frauen sind dabei häufiger betroffen als Männer.

Die Pathophysiologie der alkoholinduzierten Polyneuropathie ist multifaktoriell und umfasst:
• Mangelernährung, insbesondere einen Mangel an B-Vitaminen wie Thiamin,
• direkte neurotoxische Effekte von Alkohol und seinen Metaboliten, insbesondere Acetaldehyd,
• oxidativen Stress, der die neuronale Funktion beeinträchtigt.

Alkohol beeinflusst sowohl das zentrale als auch das periphere Nervensystem auf unterschiedliche Weise. Die alkoholbedingte Polyneuropathie ist eine langsam progrediente, schmerzhafte, überwiegend sensible Neuropathie, die vor allem durch eine SFN gekennzeichnet ist (10, 11). Vor der Zuordnung einer Polyneuropathie zur Alkoholabhängigkeit sollten andere mögliche Ursachen, insbesondere eine nutritive Thiaminmangel-Neuropathie (z. B. auch nach bariatrischer Chirurgie), ausgeschlossen werden. Letztere ist oft durch einen schnelleren Krankheitsverlauf charakterisiert. Die Therapie basiert primär auf der vollständigen Abstinenz von Alkohol sowie der Substitution von Vitaminen und Spurenelementen bei nachgewiesenen Mangelzuständen. Bei konsequenter Abstinenz kann eine klinische Verbesserung innerhalb von Monaten bis Jahren beobachtet werden (12).

Chemotherapie-induzierte und andere toxische Polyneuropathien

Chemotherapie-induzierte Neuropathien (CIN) sind die häufigsten neurologischen Nebenwirkungen der Tumortherapie. Besonders betroffen sind Patienten, die mit Platin-Derivaten, Vinca-Alkaloiden oder Taxanen behandelt werden. Die Inzidenz von CIN variiert je nach Medikament und Dosierung zwischen 10 % und 90 % (13).

CIN zeigt sich häufig durch Sensibilitätsstörung und neuropathische Schmerzen, die während der ersten zwei Monate der Therapie auftreten. Nach Absetzen der Therapie können sich die Symptome stabilisieren oder bessern. Eine Ausnahme bilden jedoch bestimmte Chemotherapeutika wie Platin und Vincristin, bei denen das sogenannte Coasting-Phänomen auftreten kann. Dieses Phänomen beschreibt eine Verzögerung des Auftretens oder eine Verschlechterung der peripheren Neuropathie nach Beendigung der Behandlung. Bei Proteasom-Inhibitoren wie Bortezomib tritt oft eine Small-Fiber-Neuropathie auf (14).

Seit 2011 werden Immuncheckpoint-Inhibitoren zunehmend zur Behandlung von malignen Erkrankungen eingesetzt. Diese Wirkstoffe verbessern die Überlebensraten bei vielen fortgeschrittenen Erkrankungen, sind jedoch mit immunvermittelten Nebenwirkungen assoziiert, die sowohl das zentrale als auch das periphere Nervensystem betreffen können. Schätzungsweise 75 % dieser Nebenwirkungen betreffen das periphere Nervensystem (15). Neben einer toxischen Neuropathie (etwa 29 % der berichteten neurologischen Nebenwirkungen) können immunvermittelte Nebenwirkungen wie subakute Polyradikuloneuropathie, Miller-Fisher-Syndrom, Myasthenia gravis, Myositis auftreten, was die Diagnose und das klinische Management erschwert (16).

Die Prävention umfasst eine enge klinische Überwachung der Neuropathiesymptome, um Dosis und Therapieintervall anzupassen. Die Therapie richtet sich nach der Schwere der Symptome und umfasst schmerzstillende Massnahmen (9).

Polyneuropathien bei Vitaminmangel und Vitaminüberdosierung

Bestimmte Vitaminmangelzustände bzw. Vitaminüberdosierungen können zur Entwicklung einer Polyneuropathie beitragen. Ein Defizit an Vitamin B12 (Cobalamin) und Vitamin B9 (Folat) kann typischerweise neurologische Schäden verursachen, insbesondere durch Beeinträchtigung der Myelinsynthese und der Funktion des zentralen und peripheren Nervensystems. Insbesondere bei zunehmendem Vegetarismus/Veganismus wird eine Bestimmung von Holotranscobalamin empfohlen, da der Vitamin-B12-Spiegel häufig an der unteren Normgrenze liegt und ein funktioneller, intrazellulärer Mangel übersehen werden kann. Ein Mangel an Vitamin B1 (Thiamin) ist bekannt für seine Rolle bei der Entstehung der Beriberi-assoziierten Neuropathie. Ebenso wird ein Defizit an Vitamin B3 (Niacin) mit Pellagra in Verbindung gebracht, das neurologische Symptome wie neuropathische Schmerzen hervorrufen kann. Ein Mangel an Vitamin B6 (Pyridoxin) ist ein Risikofaktor für Polyneuropathien, während eine Überdosierung dieses Vitamins selbst zu einer sensiblen Neuropathie führen kann (17). Vitamin-E-Mangel kann oxidative Schäden fördern und so zu einer Neuropathie beitragen (18). Zusätzlich kann eine Vitamin-D-Hypervitaminose toxische Effekte auf das Nervensystem haben, während ein schwerer Vitamin-D-Mangel in der Regel eher mit einer Myopathie assoziiert ist (18). Eine Korrektur des Vitaminspiegels ist essenziell, um dauerhafte neurologische Schäden zu vermeiden.

Immunvermittelte Polyneuropathien

Guillain-Barré-Syndrom (GBS)
Das GBS ist eine akute, entzündliche Polyradikuloneuropathie, die oft postinfektiös auftritt und wahrscheinlich durch «molecular mimicry» bedingt ist. Sie zeichnet sich durch rasch progrediente Paresen und autonome Dysfunktionen aus und erfordert eine rasche Hospitalisierung zur Überwachung und Behandlung mit IVIG oder Plasmapherese.

Chronisch-entzündliche demyelinisierende ­Polyradikuloneuropathie (CIDP)
Im Gegensatz zum Guillain-Barré-Syndrom (GBS), das typischerweise innerhalb von vier Wochen seinen Höhepunkt erreicht, zeigt die CIDP meist einen chronisch-progredienten und per Definition einen über mindestens 8 Wochen progredienten Verlauf. Es sind aber auch schubförmige Verläufe möglich. Die Prävalenz beträgt 2–3 Fälle pro 100 000 Menschen (19). In seltenen Fällen treten asymmetrische bzw. fokale Symptome oder rein motorische bzw. rein sensible Formen auf. Die neurologische Diagnostik umfasst neben der klinischen Untersuchung obligat auch eine ENMG-Untersuchung mit Nachweis einer Demyelinisierung. Laborchemisch findet sich ebenso wie beim GBS typischerweise ein erhöhtes Eiweiss im Liquor bei normaler oder nur gering erhöhter Zellzahl (sogenannte zyto-albuminäre Dissoziation). Eine immunologische Phänotypisierung, beispielsweise durch den Nachweis von Anti-Gangliosid-Antikörpern, kann die Diagnostik zusätzlich unterstützen. Bildgebungsverfahren wie der Nervenultraschall oder die Magnetresonanztomographie (MRT) gewinnen zunehmend an Bedeutung für die Dia­gnostik und Therapieüberwachung (3, 19). Die Therapie erfolgt mittels IVIG, Plasmapherese oder Kortikoiden.

Wichtige Differenzialdiagnosen der CIDP

• Paraproteinämische Polyneuropathien
Die monoklonale Gammopathie wird mittels Protein-Elektrophorese, Immunfixation sowie Immunfixation im 24-Stunden-Sammelurin (Bence-Jones-Protein) diagnostiziert.

Die häufigste Form ist die monoklonale Gammopathie unbestimmter Signifikanz (MGUS). Eine monoklonale Gammopathie kann jedoch auch im Rahmen systemischer Erkrankungen auftreten, darunter Amyloidose, Multiples Myelom, Lymphome, Morbus Waldenström, Kryoglobulinämie und POEMS-Syndrom (Polyneuropathie, Organomegalie, Endokrinopathie, monoklonale Proteinämie, Hautveränderungen).
Das Vorliegen einer MGUS und einer Polyneuropathie ist oftmals ohne direkten kausalen Zusammenhang. Epidemiologische Daten zeigen, dass 10 % der Patienten mit einer idiopathischen PNP eine MGUS aufweisen. Zudem wurde bei bis zu 30 % der Patienten mit einer CIDP eine MGUS festgestellt (6, 19).

Bei gewissen Patienten mit MGUS, insbesondere mit IgM-MGUS, können jedoch Anti-MAG-Antikörper (Myelin-assoziiertes Glykoprotein) nachgewiesen werden. Diese Antikörper sind mit einer distal-symmetrischen, überwiegend sensiblen Neuropathie assoziiert, die sich häufig durch Gangunsicherheit, Gangataxie und Tremor manifestiert. Elektrophysiologisch zeigen sich dabei ausgeprägte distale Latenzverlängerungen sowie sekundäre axonale Schäden. Diese Form der Neuropathie spricht häufig schlechter auf eine Behandlung mit Steroiden oder intravenösen Immunglobulinen (IVIG) an, was therapeutische Herausforderungen mit sich bringt.
• Hereditäre demyelinisierende Neuropathien

Zu den hereditären Polyneuropathien zählen unter anderem die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankungen (CMT) und die hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen (HNPP). Klinisch finden sich bei der CMT oft Fussdeformitäten und Muskelatrophien. Die CMT-Erkrankungen können klinisch und elektrophysiologisch einer CIDP ähnlich sein, wobei zur Differenzierung eine genetische Diagnostik erforderlich sein kann (6). Insbesondere die HNPP kann sich durch rezidivierende, typische Kompressionsneuropathien manifestieren, sodass in solchen Fällen eine weiterführende genetische Abklärung erfolgen sollte.

Restless-Legs-Syndrom (RLS) und Polyneuropathien

Das RLS ist eine neurologische Bewegungsstörung, deren Diagnose auf den Ekbom-Kriterien basiert. Diese umfassen folgende Merkmale: einen Bewegungsdrang der Beine, meist begleitet von unangenehmen Empfindungen, eine Verschlechterung der Symptome in Ruhe (z. B. Sitzen oder Liegen), eine vorübergehende Besserung durch Bewegung sowie eine zirkadiane Rhythmik mit einer Verstärkung der Beschwerden in den Abend- und Nachtstunden. Die Pathophysiologie umfasst Dysregulationen im Dopamin- und Eisenstoffwechsel, zudem liegt gehäuft eine PNP oder aber eine isolierte SFN vor. Laut einer systematischen Übersicht und Metaanalyse tritt RLS bei 5.2–53.7 % der Patienten mit PNP auf. Besonders häufig findet sich RLS bei diabetischer, urämischer oder amyloider PNP sowie bei der Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung.
Die Therapie orientiert sich an der Schwere der Symptomatik. Bei mildem RLS mit einem Ferritinwert ≤ 75 µg/l sollte eine orale Eisensubstitution mit 80–100 mg Fe2+ und Vitamin C erfolgen. Als weitere symptomatische Therapien kommen Dopaminagonisten wie Rotigotin, Pramipexol oder Ropinirol in minimal wirksamer Dosierung und, wenn immer möglich, in retardierter Form zum Einsatz. Gabapentinoide wie Gabapentin oder Pregabalin können ebenfalls verwendet werden. In therapieresistenten Fällen können Opioide wie retardiertes Oxycodon/Naloxon erwogen werden. Nicht medikamentöse Massnahmen wie Schlafhygiene, regelmässige körperliche Aktivität (z. B. Yoga), Infrarottherapie oder transkranielle Gleichstromstimulation (tsDCS) können unterstützend wirken. Cannabinoide, Magnesium und Benzodiazepine werden nicht empfohlen. Die individualisierte Therapie unter Berücksichtigung der Lebensqualität und potenzieller Nebenwirkungen bleibt essenziell (20, 21).

Marisa Blanquet 1, Andrea M. Humm 1, 2
1 Neuromuskuläres Zentrum, Universitätsklinik fur Neurologie, Inselspital Bern, Bern
2 Service de Neurologie, HFR Fribourg – Hôpital Cantonal / Kantonsspital, Fribourg

Dr. med. Marisa Blanquet

Neuromuskuläres Zentrum
Universitätsklinik für Neurologie
Inselspital
Freiburgstrasse 18
3010 Bern
marisa.blanquet@insel.ch

marisa.blanquet@insel.ch

Die Autorinnen haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. Malek N, Hutchinson J, Naz A, others. Evaluation of small fibre neuropathies. Pr Neurol. 2024;
2. Lauria G, Merkies IS, Faber CG, others. Small fibre neuropathy: new concepts and research trends. Nat Rev Neurol. 2020;16(6):332–43.
3. Sommer C, Weishaupt A, Stoll G, others. Chronic inflammatory demyelinating polyneuropathy: pathogenesis, diagnostic criteria, and treatment strategies. Dtsch Arztebl Int. 2018;115:83–90.
4. Preston DC, Shapiro BE. Electromyography and Neuromuscular Disorders: Clinical-Electrodiagnostic-Ultrasound Correlations. 4. Aufl. Elsevier; 2020.
5. Heuß D. Diagnostik der Polyneuropathien. Internist Berl. 2020;61(3):235–42.
6. Rajabally YA, Shah RS, Winer JB. Chronic inflammatory demyelinating polyneuropathy: a practical guide to diagnosis and management. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2021;92(3):257–64.
7. Heuß D, Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Diagnostik bei Polyneuropathien [Internet]. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Deutsche Gesellschaft für Neurologie; 2024. Verfügbar unter: https://dgn.org/leitlinie/diagnostik-bei-polyneuropathien
8. Boulton AJ, Vinik AI, Arezzo JC, others. Diabetic neuropathies: a statement by the American Diabetes Association. Diabetes Care. 2020;43(10):2335–443.
9. Tesfaye S, Boulton AJ, Dyck PJ, others. Diabetic neuropathies: update on definitions, diagnostic criteria, estimation of severity, and treatments. Lancet Neurol. 2019;18(7):586–96.
10. Mellion M, Gilchrist JM, de la Monte S. Alcohol-related peripheral neuropathy: nutritional, toxic, or both? Muscle Nerve. 2011;43(3):309–16.
11. Koike H, Iijima M, Sugiura M, others. Alcoholic neuropathy is clinicopathologically distinct from thiamine-deficiency neuropathy. Ann Neurol. 2003;54(1):19–29.
12. Finnerup NB, Attal N, Haroutounian S, others. Pharmacotherapy for neuropathic pain in adults: a systematic review and meta-analysis. Pain. 2021;162(10):2541–8.
13. Smyth D, Kramarz C, Carr AS, Rossor AM, Lunn MP. Toxic neuropathies: a practical approach. Pract Neurol. 2023;23(2):120-30.
14. Lauria G, Merkies IS, Faber CG, others. Small fibre neuropathy: new concepts and research trends. Nat Rev Neurol. 2020;16(6):332–43.
15. Marini A, Bernardini A, Gigli GL, others. Neurologic adverse events of immune checkpoint inhibitors: a systematic review. Neurology. 2021;96(16):754–66.
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17. Sechi G, Sechi E, Fois C, Kumar N. Advances in clinical determinants and neurological manifestations of B vitamin deficiency in adults. Nutr Rev. 2016;74(5):281–300.
18. Peripheral Nerve and Motor Neuron Disorders. Continuum. 2023;29(5):1469–91.
19. L. Querol, J. Devaux, R. Rojas-Garcia and I. Illa. Autoantibodies in chronic inflammatory neuropathies: diagnostic and therapeutic implications. Nat Rev Neurol 2017 Vol 13 Issue 9 Pages 533-547.
20. Heidbreder A, Trenkwalder C, others. Restless Legs Syndrom, S2k-Leitlinie. 2022.
21. Jiménez-Jiménez FJ, Alonso-Navarro H, García-Martín E, Agúndez JAG. Association between restless legs syndrome and peripheral neuropathy: A systematic review and meta-analysis. Eur J Neurol. 2021;28(7):2423–42.

Akuter und episodischer Schwindel – Diagnostik und Therapie

Einleitung

Schwank- oder Drehschwindel ist eines der häufigsten Leitsymptome auf dem Notfall wie auch in der Praxis überhaupt und nimmt ca. 2–4 % aller Notfallkonsultationen ein (1–4). Die Differenzialdiagnose von akutem oder episodischem Schwindel ist äusserst breit und erstreckt sich über zahlreiche Fachgebiete, einschliesslich neurologischer, psychiatrischer, internistischer und orthopädischer Krankheitsbilder. Als Folge davon sind Kliniker unterschiedlichster Fachrichtungen mit diesem Symptom konfrontiert. Erkrankungen des Gleichgewichtsorganes («peripher-vestibulärer Schwindel») stellen dabei nur ca. einen Drittel aller Ursachen von Schwindel dar. Eine klare Zuordnung der Schwindelbeschwerden ist dadurch erschwert, dass keine einzelne Ursache mehr als 5–10 % aller Schwindeldiagnosen ausmacht (1). Bei circa 10 bis 15 % der Patienten mit dem Leitsymptom Schwindel besteht eine ernsthafte zugrunde liegende Erkrankung – dies schliesst auch jüngere Patienten mit ein, nimmt aber mit zunehmendem Alter zu (1). Die Erstbeurteilung von Patienten mit dem Leitsymptom Schwindel muss dementsprechend prioritär darauf ausgerichtet sein, diejenigen Patienten zu identifizieren, welche dringlich weitere diagnostische und therapeutische Massnahmen (z. B. Schlaganfallabklärung auf einer Stroke Unit oder kardiologische Abklärung bei Herzrhythmusstörungen) benötigen.

Schwindel – Begrifflichkeit und Präsentation

Während Drehschwindel («vertigo») eine illusionäre Eigenbewegung des Körpers beschreibt, ist unter Schwankschwindel («dizziness») ein ungerichteter Schwindel zu verstehen (5). Eine Unterscheidung zwischen «gefährlichem» und «gutartigem» Schwindel basierend auf der Art des Schwindels – Drehschwindel vs. Schwankschwindel vs. Präsynkope vs. Benommenheit – ist jedoch nicht zuverlässig möglich. Dies einerseits, weil die Patienten ihre Schwindelbeschwerden häufig nicht präzise beschreiben (6), und andererseits, weil alle Formen von Schwindel (Schwankschwindel, Drehschwindel, Benommenheitsgefühl, Präsynkope) gefährliche Ursachen haben können. Aufgrund dieser Beobachtung rücken andere Elemente in der klinischen Präsentation in den Vordergrund wie das Vorliegen von Triggern und die Dauer sowie Häufigkeit der Symptome (sog. Timing-and-Triggers-Herangehensweise [7]). Darauf basierend lässt sich Schwindel in sechs verschiedene Kategorien einteilen (Tab. 1) und die Differenzialdiagnose eingrenzen.

Die klinische Beurteilung des Patienten mit Schwindel

Anamneseerhebung

Anhand einer strukturierten Anamnese sollte gezielt nach Merkmalen des Schwindels gefragt werden, welche eine nähere Zuordnung der zugrunde liegenden Erkrankung erlauben. Im Mittelpunkt stehen dabei Fragen nach der Dauer/Häufigkeit der Attacken, ihres Beginns (langsam vs. abrupt), Begleitsymptomen, Provokationsfaktoren und Traumata sowie der aktuellen Medikation. Die Dauer der Schwindelbeschwerden ist bei der ätiologischen Einordnung essenziell, da viele zugrunde liegende Ursachen eine charakteristische Beschwerdedauer aufweisen (Abb. 1).
Immer erfragt werden sollte, ob die Schwindelattacken spontan auftreten oder durch bestimmte Positionen/Positionsänderungen/Massnahmen oder Situationen ausgelöst werden können. Ein attackenhaftes Auftreten nach Positionsänderungen des Kopfes (z. B. Drehen im Bett, Aufstehen/Hinlegen, Blickwendung nach oben/unten) spricht für einen benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel (BPLS), während isoliertes Auftreten nach raschem Aufstehen auf einen orthostatisch bedingten Schwindel hinweist. Eine Provokation des Schwindels durch ein Valsalva-Manöver (d. h. eine intraabdominelle Drucksteigerung, z. B. beim Spielen eines Blasinstrumentes oder bei der Defäkation) deutet auf eine Perilymphfistel hin, während ein situatives Auftreten an belebten Orten (z. B. Warenhaus, öffentliche Plätze) für einen somatoformen Schwindel (früher «phobischer Schwindel» genannt) typisch ist. Ist das Auftreten des Schwindels auf das Gehen/Stehen beschränkt, so ist an eine zugrunde liegende Polyneuropathie oder eine bilaterale Vestibulopathie zu denken. Bei vielen Ursachen ist aber gerade das Fehlen von Provokationsfaktoren charakteristisch, wie z. B. beim Schlaganfall, beim M. Menière oder bei vestibulärer Migräne. Gezielt erfragt werden sollten zurückliegende Kopf- oder Nackenverletzungen sowie Manipulationen (z. B. im Rahmen einer chiropraktischen Behandlung), da diese sowohl zu einer Gefässdissektion als auch zu einem meist chronischen Subduralhämatom führen können. Bei jedem Patienten mit Schwindel sollte die bestehende Medikation erfragt und gezielt nach Medikamenten, welche Schwindel begünstigen können, gesucht werden. Auch Dosisänderungen bestehender Medikamente können Schwindel provozieren.

Klinische Untersuchung

Der Fokus der klinischen Untersuchung richtet sich massgeblich nach den vorliegenden Beschwerden, sollte aber in jedem Fall eine gezielte neurologische sowie neurootologische und internistische Untersuchung beinhalten. Die wichtigsten Befunde und ihre Einordnung sind in Tab. 2 aufgeführt.

Liegen fokal-neurologische Defizite vor, so ist die Zuordnung einfach. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass Schwindel auch bei Vorliegen einer zentralen Ursache (meist eines Schlaganfalles) in bis zu 2/3 der Fälle isoliert, d. h. ohne offensichtliche fokal-neurologische Defizite, auftreten kann (8). Hierbei hat sich die gezielte Suche nach subtilen okulomotorischen Zeichen als sehr hilfreich erwiesen. Diese Testung beinhaltet 4 Komponenten, dauert ca. 5 Minuten und kann am Patientenbett/auf der Notfallstation zuverlässig durchgeführt werden. Es erfolgt die Prüfung des vestibulo-okulären Reflexes mittels Kopfimpulstest («Head Impulse»), der horizontalen exzentrischen Blickhaltefunktion («Nystagmus») und der vertikalen Blickstabilität («Test of Skew»), was abgekürzt das Akronym HINTS ergibt (9) und durch die Prüfung des Gehörs (10) (ggf. mittels einer entsprechenden Smartphone-App) erweitert werden kann (HINTS-plus). Diese Testbatterie kann beim Patienten mit akutem prolongiertem Schwindel im Vergleich zum frühen (d. h. innerhalb von 24–48h erhobenen) MRI inkl. diffusionsgewichteten Sequenzen einen Schlaganfall mit höherer Sensitivität (95 % vs. 80 %) nachweisen (8) und ist in Tab. 3 detailliert beschrieben.

Jede neurootologische Untersuchung sollte zumindest die Prüfung der HINTS-plus, eines Spontan- und Kopfschüttelnystagmus sowie die Gang- und Lagerungsproben (Hallpike-Dix-Provokationsmanöver) als auch eine Ohrin­spektion mittels Otoskop umfassen, da damit die häufigsten peripher- und zentral-vestibulären Ursachen (Schlaganfall, vestibuläre Neuritis, BPLS) erfasst werden. Liegt beim Patienten mit akutem prolongiertem Schwindel kein Spontan- oder Blickrichtungsnystagmus vor, so ist die Aussagekraft der HINTS(-plus) geringer, und es sollte unbedingt auch eine graduierte Prüfung der Stand- und Gangfunktion erfolgen (11). Dabei lassen sich verschiedene Schweregrade einer Stand- und Gangstörung unterscheiden (Grad 0–3). Kann ein Patient mit akutem Schwindel/Gangunsicherheit nicht mehr selbständig stehen oder sitzen, so entspricht dies einer schweren (Grad 3-)Stand- und Gangataxie und ist suggestiv für eine zentrale Ursache (Spezifität 99 %, [12]). Eine weiterführende bildgebende Abklärung ist dringlich empfohlen. Kann der Patient nicht mehr selbständig gehen, so entspricht dies einer Grad-2-Stand- und Gangataxie, was sowohl peripher als auch zen­tral bedingt sein kann. Das Vorliegen eines Spontannystagmus kann ebenfalls diagnostisch hilfreich sein. Während ein horizontaler oder horizontal-torsioneller Spontannystagmus bei peripher- wie auch zentral-vestibulären Ursachen auftreten kann, so spricht das Vorliegen eines rein vertikalen, rein torsionellen oder vertikal-torsionellen Spontannystagmus für eine zentrale Ursache (13).

Ist die neurologische und neurootologische Untersuchung unergiebig, so sind gezielt nicht neurologische Ursachen der Schwindelsymptomatik zu suchen. Zu den häufigsten internistischen Ursachen von akutem Schwindel auf dem Notfall überhaupt zählen Störungen des Elektrolyt- oder Wasserhaushaltes (5.6 %), vasovagale Synkopen (6.6 %), kardiale Arrhythmien (3.2 %), Anämien (1.6 %) und Hypoglykämien (1.4 %) (1).

Apparative Diagnostik bei Schwindel

Die Indikation zu allfälligen Zusatzuntersuchungen sollte immer unter Berücksichtigung der erhobenen klinischen Befunde und der postulierten Differenzialdiagnose erfolgen. Dadurch sollen Untersuchungen von geringem/fehlendem diagnostischem Nutzen vermieden werden, wie z. B. die Anordnung einer CT-Untersuchung beim Patienten mit benignem paroxysmalem Lagerungsschwindel.

Zerebrale Bildgebung

Das Schädel-MRI mit Diffusionswichtung (DWI) ist die Bildgebung der Wahl bei Verdacht auf eine vertebrobasiläre (transiente) Ischämie, währenddessen die CT-Schädel (inkl. CT-Angiographie) in dieser Konstellation aufgrund seiner deutlich geringeren Sensitivität (ca. 30 % vs. 80 %) unterlegen ist. Zwecks Darstellung einer intrazerebralen Blutung oder eines Gefässverschlusses ist es jedoch weiterhin eine zuverlässige Methode. Beim MRI gilt es zudem zu berücksichtigen, dass bei bis zu 20 % der frühen (d. h. in den ersten 24–48 h erhobenen) MRI-Untersuchungen (inkl. DWI) ein falsch-negativer Befund vorliegen kann (8). Dementsprechend sollte bei klinisch hohem Verdacht auf eine vertebrobasiläre Ischämie der Patient einer Schlaganfallabklärung zugeführt und die Bildgebung nach 3–10 Tagen wiederholt werden.

Peripher-vestibuläre Diagnostik

In den letzten 20 Jahren wurden bedeutende Fortschritte in der Quantifizierung peripher-vestibulärer Defizite erzielt. So ist es heute möglich, sowohl die Funktion der Bogengänge als auch der Otolithenorgane detailliert zu messen. Hierbei erfreut sich v. a. der Video-Kopfimpulstest zunehmender Beliebtheit bei Neurootolog/-innen in der spezialärztlichen Abklärung von Schwindel (14), da er eine separate quantitative Beurteilung aller Bogengänge innerhalb von ca. 10 Min. erlaubt. Zunehmend hält der Video-Kopfimpulstest auch im Notfallsetting Einzug zwecks Unterscheidung zwischen akuten peripher-vestibulären und zentral-vestibulären Störungen (15). Im Gegensatz zum bisherigen Goldstandard der peripher-vestibulären Testung, der kalorischen Warm- und Kaltwasserreizung ist der Video-Kopfimpulstest für Patient/-innen deutlich weniger belastend, weniger zeitaufwendig und erlaubt die Identifikation isolierter Ausfälle einzelner Bogengänge.

Die vestibulär-evozierten myogenen Potentiale (VEMPs) erlauben eine gesonderte Prüfung der Otolithenorgane. Hierbei wird mittels kurzer akustischer Stimuli oder Vibrationen gereizt und dann eine reflektorische Muskelkontraktion des M. Sternocleidomastoideus (sog. cervikale VEMPs zwecks Testung der Sakkulusfunktion) respektive des M. obliquus inferior (sog. okuläre VEMPs zwecks Testung der Utriculusfunktion) abgeleitet. Die VEMPs erlauben einen relativen Vergleich der beidseitigen Funktion der Otolithenorgane und sind in ihrer Durchführung deutlich aufwendiger. Die subjektive visuelle Vertikale (SVV) ermöglicht ebenfalls eine Beurteilung der Otolithenfunktion. Dabei ist der Patient/die Patientin aufgefordert, eine Linie entlang der wahrgenommenen Erdsenkrechten einzustellen, was mit wenig Aufwand auch am Patientenbett erfolgen kann (sog. Eimertest [16]). Zur neurootologischen Testung gehört auch immer ein Reintonaudiogramm zur Beurteilung der cochleären Funktion.

Differenzialdiagnostik und Therapie

Erstmaliger akuter Schwindel

Tritt akuter Schwindel erstmals auf, so kann dies sowohl ein einmaliges Ereignis (z. B. ein Schlaganfall) darstellen als auch die erste Episode eines wiederkehrenden Schwindels (z. B. einer vestibulären Migräne) sein. Bei akutem Schwindel gilt es primär, gefährliche, potenziell lebensbedrohliche Erkrankungen von benignen, selbstlimitierenden Ursachen zu unterscheiden. Liegt die Konstellation eines AVS vor, d. h. besteht nebst Dreh- oder Schwankschwindel für > 24 Stunden auch ein Spontannystagmus, Übelkeit/Erbrechen, eine Gangunsicherheit sowie eine Bewegungsüberempfindlichkeit (17), so sind v. a. neurootologische Ursachen intensiviert zu suchen. Hierbei spielen nebst den klinisch-neurologischen Untersuchungen v. a. die Suche nach subtilen okulomotorischen Zeichen (HINTS-plus, siehe oben) sowie die Bildgebung mittels MRI-DWI eine wichtige Rolle. Weitaus häufigste zentrale Ursache eines zentralen AVS stellt eine vertebrobasiläre Ischämie (ca. 80 %) dar. Während Ischämien im Versorgungsgebiet der inferioren posterioren zerebellären Arterie (PICA) der vestibulo-okuläre Reflex intakt bleibt (Kopfimpulstest negativ, entsprechend einem gefährlichen HINTS), so sind bei (viel selteneren) Ischämien im Versorgungsgebiet der anterioren inferioren zerebellären Arterie (AICA) meist auch die Vestibulariskerne mitbetroffen und somit der Kopfimpulstest abnorm, was isoliert für sich für eine benigne, periphere Ursache sprechen würde. Werden aber zusätzlich (wie bei den HINTS-plus vorgesehen) auch nach einem Blickrichtungsnystagmus sowie einer Skew Deviation und einer Hörminderung gesucht, wird die zugrunde liegende zentrale Genese kaum verpasst.

Im Gegensatz zur häufigsten peripheren Ursache eines AVS – der akuten unilateralen Vestibulopathie – ist der Beginn beim zentralen AVS häufig abrupt und kann von wiederholten prodromalen Schwindelepisoden begleitet sein. Kopf- oder Nackenschmerzen sind per se unspezifisch und können sowohl bei einer vestibulären Migräne als auch einer zerebellären Blutung mit raumforderndem Effekt auftreten. Sind sie jedoch mit einem Kopf- oder Nackentrauma verbunden, so ist an eine vertebrobasiläre Dissektion mit entsprechender Ischämie als Ursache eines AVS zu denken. Während das Vorliegen von vaskulären Risikofaktoren eher für eine zerebrovaskulär-ischämische Ursache spricht, schliesst deren Fehlen eine solche nicht aus. Dies gilt insbesondere für Patient/-innen unter 50 Jahren, bei welchen die Rate an verpassten zentralen AVS deutlich höher ist, mitunter aufgrund von Dissektionen und zerebellären Ischämien, welche im Schnitt in jüngerem Alter auftreten.

Die Akutbehandlung des zentralen AVS aufgrund einer vertebrobasilären Ischämie richtet sich primär nach den Richtlinien der Schlaganfalltherapie. Die Indikationsstellung einer akuten Revaskularisationstherapie bei AVS soll sich an der klinischen Relevanz der Symptomatik (z. B. invalidisierender Schwindel, Gehunfähigkeit, ausgeprägte Oszillopsien) sowie am Fehlen von Kontra­indikationen orientieren (18).

Bei der akuten unilateralen Vestibulopathie kann eine Steroidgabe unter Berücksichtigung von Begleiterkrankungen erwogen werden gemäss S2k-Leitlinie «Vestibuläre Funktionsstörungen» (DGHNO/DGN) (19). Tendenziell für eine Steroidgabe (entweder initial Methylprednisolon 250 mg pro Tag als Kurzinfusion über 3 Tage und dann Oralisierung [Prednisolon 1 mg pro KG Körpergewicht und Tag] für 4 weitere Tage oder von Beginn weg Prednisolon 1 mg pro KG Körpergewicht und Tag für 7 Tage) sprechen eine kurze Symptomdauer, ausgeprägte Beschwerden und fehlende Komorbiditäten wie ein Diabetes mellitus oder eine bekannte psychiatrische Erkrankung (Gefahr einer Steroidpsychose). Bei ausgeprägter Nausea/Vomitus können Antiemetika (Domperidon, Metoclopramid, Ondansetron) und bei intensivem Schwindel Antivertiginosa (Cinnarizin ± Dimenhydrinat) für max. 2–3 Tage verwendet werden. Ebenso sollte auch konsequent ambulante vestibuläre Physiotherapie verordnet werden. Eine stationäre Behandlung ist in schweren Fällen und bei intravenöser Steroidgabe erforderlich, selten bedarf es anschliessend einer stationären Rehabilitation.

Transienter erstmaliger Schwindel sollte v. a. an eine transient-ischämische Attacke (TIA) denken lassen und bei Verdachtsmomenten eine entsprechende Abklärung nach sich ziehen (Suche nach einer Emboliequelle, Monitoring). Diese gefährliche Ursache ist insbesondere vom viel häufigeren, benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel (BPLS) abzugrenzen, um unnötige Diagnostik zu vermeiden. Wichtigste Elemente hierzu bilden die Anamnese (Trigger?) und die klinische Untersuchung (Provokationsmanöver), falls erforderlich auch auf einem spezialisierten Drehstuhl.

Episodischer Schwindel

Die häufigsten Ursachen wiederkehrender Schwindelattacken stellen der BPLS, die vestibuläre Migräne und der M. Menière dar. Daneben sind Panikattacken und orthostatischer Schwindel relativ häufige Krankheitsbilder, welche sich mit episodischem Schwindel präsentieren können. Der BPLS ist zweifelsohne der wichtigste Vertreter des getriggerten episodischen vestibulären Syndroms (t-EVS), während Attacken eines M. Menière oder einer vestibulären Migräne spontan auftreten (spontanes EVS, s-EVS). Weitaus seltener, aber aufgrund der potenziell lebensbedrohlichen Folgen sind auch an rezidivierende TIAs, kardiale Arrhythmien und Hypoglykämien zu denken. Während Erstere in der Regel abrupt beginnen und transiente fokal-neurologische Defizite aufweisen, welche sich einzelnen Gefässterritorien zuordnen lassen, sind kardiale Arrhythmien meist mit einer kardialen Vorgeschichte und/oder kardialen Symptomen (Palpitationen, Präsynkopen) verbunden, welche gezielt erfragt und ggf. spezialärztlich weiter abgeklärt werden müssen.

Die akute Behandlung des BPLS erfordert die korrekte Identifikation des betroffenen Bogenganges mittels der verschiedenen Provokationsmanöver (Hallpike-Dix-Manöver für die posterioren [und anterioren] Bogengänge; Supine- Roll-Manöver für die lateralen Bogengänge), wie dies in entsprechenden Guideline-Publikationen detailliert beschrieben wurde (20). Zur Behandlung des BPLS des posterioren Bogenganges stehen verschiedene Repositionsmanöver zur Verfügung (Epley-Manöver, Semont-plus-Manöver), ebenso haben sich mehrere Manöver zur Behandlung des BPLS des lateralen Bogenganges etabliert (Gufoni-Manöver, 360°-Barbecue-Manöver) (20).
Sowohl die Behandlung des M. Menière als auch der vestibulären Migräne sollte in Rücksprache mit Fachspezialist/-innen erfolgen. Während bei M. Menière die Evidenz für die Verwendung von Betahistin oder Salzrestriktion gering ist, kann eine intratympanale Injektion von Cortison oder (bei vorbestehender Hörminderung) auch von Gentamicin erwogen werden. Bei der vestibulären Migräne sollte bei gehäuftem Auftreten von Schwindelattacken (mehr als 1–2 Episoden pro Monat) eine medikamentöse Basistherapie evaluiert werden. Die Datenlage zur medikamentösen Behandlung der vestibulären Migräne ist limitiert, eine pragmatische Übersicht mit konkreten Therapieempfehlungen wurde kürzlich von Smyth und Kollegen publiziert (21). Der Entscheid zwischen Betablockern, Calciumantagonisten, Antidepressiva (SNRIs, trizyklische Antidepressiva) und Antiepileptika sollte auch unter Berücksichtigung von Komorbiditäten und Kontraindikationen erfolgen. Ein Einsatz von Topiramat oder Valproat sollte bei Frauen im gebärfähigen Alter nur in absoluten Ausnahmefällen und unter strikter Einhaltung einer zuverlässigen Antikonzeption sowie regelmässiger schriftlicher Aufklärung erfolgen. Eine Wirksamkeit von CGRP-Antagonisten bei der vestibulären Migräne wurde in ersten Pilotstudien ebenfalls beschrieben, hier sind aber weitere Studien erforderlich, um den Nutzen besser abschätzen zu können. Sehr hilfreich für die Wahl der Akutmedikation wie auch der Prophylaxe sind die publizierten Guidelines der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft (www.headache.ch).

Schlussfolgerungen

Aufgrund der äusserst breiten Differenzialdiagnose ist beim Patienten mit Leitsymptom Schwindel eine systematische Vorgehensweise mit einer strukturierten Anamnese (Fokus auf Timing und Trigger) und einer gezielten klinisch-neurologischen Untersuchung entscheidend, um gefährliche Diagnosen nicht zu verpassen (22). Zusatzabklärungen (MRI, CT, apparativ-vestibuläre Testung, kardiolog. Abklärung etc.) sollten nur dann durchgeführt werden, wenn sich die Diagnose mittels klinischer Massnahmen nicht mit ausreichender Sicherheit stellen lässt. Unnötige oder nicht zweckmässige Diagnostik (wie z. B. ein CT bei Verdacht auf vertebrobasiläre Ischämie) sollte vermieden werden, ausser es ist ein akuter Therapieentscheid im Sinne einer intravenösen Thrombolyse oder einer endovaskulären Thrombektomie erforderlich. Die Akuttherapie und die Prophylaxe sollten wenn immer möglich leitlinienkonform erfolgen.

Abkürzungen
AVS akutes vestibuläres Syndrom
BPLS benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
CVS chronisches vestibuläres Syndrom
EVS episodisches vestibuläres Syndrom
s spontan
t getriggert

Prof. Dr. med. Alexander A. Tarnutzer

Ärztlicher Leiter
Klinik für Neurologie
Kantonsspital Baden
Im Ergel 1
5404 Baden

alexander.tarnutzer@ksb.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

• Beim Leitsymptom Schwindel ist eine strukturierte Vorgehensweise inkl. gezieltem Erfragen der Dauer und Häufigkeit der Episoden sowie Provokationsfaktoren als auch eine fokussierte neurootologische Untersuchung einschliesslich der Suche nach subtilen okulomotorischen Zeichen essenziell.
• Die Identifikation gefährlicher, potenziell lebensbedrohlicher Ursachen ist prioritär, beim akuten vestibulären Syndrom sind dies v. a. vertebrobasiläre Ischämien und beim episodischen vestibulären Syndrom kardiale Arrhythmien.
• Zusatzabklärungen (MRI, CT, apparativ-vestibuläre Testung, kardiolog. Abklärung etc.) sollten nur dann durchgeführt werden, wenn sich die Diagnose mittels klinischer Massnahmen nicht mit ausreichender ­Sicherheit stellen lässt.

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23 Büki, Straumann und Tarnutzer, Gleichgewichtsstörungen in der klinischen Praxis, Verlagshaus der Ärzte, 2015.

Neurologische Leitsymptome beim Schlaganfall

Einleitung

Optimierte Präventionsmassnahmen haben in den Industriestaaten in den letzten 30 Jahren zu einer altersadjustierten Abnahme der Schlaganfallprävalenz und -inzidenz sowie der infolge eines Schlaganfalls verbrachten Lebensjahre mit Behinderung (DALY) geführt. Die absolute Zahl der Schlaganfälle bleibt dabei in westlichen Industriestaaten wie der Schweiz und Deutschland aufgrund der demografischen Entwicklung und schlecht eingestellten Lifestylefaktoren unverändert (1). Dabei ist die Schlaganfallprävalenz in hoch entwickelten Industriestaaten auch stark vom sozialen Status abhängig (2). Global ist hingegen bis zum Jahr 2050 ein deutlicher Anstieg der Schlaganfallinzidenz um bis zu 50 % zu erwarten (3). Dabei sind Schlaganfälle gemäss der letzten «Global Burden of Disease»-Studie aus dem Jahr 2021 die dritthäufigste Todesursache (4). In der Schweiz erleiden aktuell jährlich ca. 20 000 Menschen einen ischämischen Schlaganfall, wobei auch junge Patientinnen und Patienten betroffen sind (5). Damit werden akute Schlaganfälle auch in der hausärztlichen Praxis weiterhin eine gewichtige Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund sind sowohl die Schlaganfallprävention als auch die frühzeitige Erkennung von Symptomen mit unmittelbar anschliessender Diagnostik und Therapie entscheidend (6).

Time is Brain

Bis zu 80 % aller Schlaganfälle beruhen dabei auf Durchblutungsstörungen der betroffenen Hirnregion. Die daraus resultierenden ischämischen Hirninfarkte werden dabei nach ihrer Ursache gemäss der international gültigen TOAST-Klassifikation eingeteilt (7). In etwa 20 % der Fälle sind intrazerebrale Blutungen für den Schlaganfall ursächlich, wobei in seltenen Fällen eine venöse Abflussstörung durch Thrombosen der Hirnvenen die Ursache des Insults sein kann (Inzidenz etwa 1 pro 100 000 Einwohner jährlich) (8). Im Folgenden wird hauptsächlich der ischämische Schlaganfall behandelt. Die ersten Stunden nach einem Schlaganfall sind dabei für das Ausmass der hypoxischen Zellschäden im Gehirn entscheidend. Reperfusionstherapien wie die intravenöse Thrombolyse und die endovaskuläre Therapie sind umso wirksamer, je früher sie angewandt werden (9). Für den Erfolg dieser Therapien ist eine schnelle Erkennung des Schlaganfalls und seiner Symp­tome also essenziell – «Time is Brain» (6).

Die Bedeutung der Hausärztinnen und Hausärzte in der Schlaganfallversorgung

Obwohl in der ärztlichen Beratung häufig eine gute Einstellung und Kontrolle von vaskulären Risikofaktoren stattfindet, kommt die Aufklärung über Schlaganfallsymp­tome jedoch häufig zu kurz (8). So konnten lediglich 40 % der Risikopersonen Schlaganfallsymptome aufzählen, und weniger als 20 % wurden aktiv vom Hausarzt geschult (12). Fehlendes Wissen über Symptome führt zu vermeidbaren Verzögerungen in der Akutsituation. Dabei ist die frühzeitige Einleitung der Therapie auch vor dem Hintergrund wichtig, dass auch zunehmend kleinere alltagsrelevante Symptome mittels einer Akuttherapie behandelt werden. Entscheidend ist nach Symptomerkennung dabei die umgehende Alarmierung des Rettungsdienstes in der Akutsituation. In den Fällen, in denen Patientinnen und Patienten mit akuten Schlaganfällen hingegen zunächst eine hausärztliche Konsultation erhalten, ist die Zeit vom Symptombeginn bis zum Spitaleintritt deutlich länger und führt häufig zu einem schlechteren Outcome (10, 11).

Oftmals sind Hausärztinnen und Hausärzte auch mit atypischen Krankheitsbildern konfrontiert, welche die Dia­gnose eines Schlaganfalls erschweren. Hier gilt es zu unterscheiden zwischen sogenannten Stroke Mimics, die einem Schlaganfall ähneln, jedoch keine zerebrale Ischämie als Ursache haben, und den sogenannten Stroke Chamäleons, die durch atypische Symptome die Diagnose eines Schlaganfalls verschleiern, obwohl eine zerebrale Ischämie zugrunde liegt. Eine korrekte Diagnose ist hierbei entscheidend, da Fehldiagnosen bei Stroke Chamäleons oftmals optimale Akuttherapien und Sekundärprävention erschweren. Zusammenfassend kommt also einerseits einer optimierten Vermittlung von Leitsymptomen an Risikopatienten und andererseits auch der korrekten Identifikation von Warnsymptomen in der hausärztlichen Tätigkeit eine wichtige Rolle zu. Im Folgenden werden diese Symptome entsprechend aufbereitet.

Schlaganfallsymptome

Die wichtigsten Schlaganfallsymptome wurden zur Aufklärung häufig in Akronymen zusammengefasst. Dabei wird weltweit weiterhin primär das FAST-Modell eingesetzt (13) (Tab. 1). Dieses einfache Schema ermöglicht es auch Laien, Schlaganfallsymptome zu erkennen, den Notruf (144) zu alarmieren und eine zeitnahe Therapie sicherzustellen.

Neben dem etablierten FAST-Modell werden auch sprachspezifische Varianten wie das Rapido- und das AHORA-Modell im spanischsprachigen Raum erfolgreich eingesetzt (14, 15). Im deutschsprachigen Raum fehlt bisher eine einheitliche, sprachspezifische Alternative. In der Schweiz könnte das 4-S-Modell (Sehstörung, Sprachstörung, Schwäche, schnell handeln) diese Lücke schliessen. Es wird bereits am Inselspital Bern eingesetzt und validiert. Es könnte künftig einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung der Bevölkerung in der Schweiz leisten (Abb. 1). Diese Modelle sind eine notwendige Vereinfachung, um komplexe medizinische Inhalte leicht verständlich zu machen. Eine klare Kommunikation und die Etablierung solcher sprachangepassten Modelle sind essenziell, um die Dringlichkeit eines Schlaganfalls schnell zu erfassen und effektive Therapien rechtzeitig einzuleiten – «Time is Brain» (6).

Dennoch stellt der Schlaganfall keine einheitliche Erkrankung dar, sondern beschreibt ein heterogenes Krankheitsbild, welches aus einer Vielzahl unterschiedlicher Symptome besteht und auf unterschiedlichen ätiologischen und pathophysiologischen Mechanismen beruht. Die spezifischen Leitsymptome hängen dabei massgeblich von der Lokalisation der betroffenen Hirnregion ab.

Leitsymptome gemäss Versorgungsgebiet und betroffenem Hirnareal

Der am häufigsten betroffene Bereich bei ischämischen Schlaganfällen (ca. 50 %) ist die Arteria cerebri media (MCA), die den grössten Teil des Grosshirns versorgt. Typischerweise äussert sich ein Infarkt in diesem ­Versorgungsgebiet durch eine kontralaterale sensomotorische Hemiparese (vor allem an Arm und Gesicht) sowie auftretende Sprachstörungen wie Aphasie oder Dysarthrie. Weitere neurokognitive Defizite sind Apraxie und Neglect, wobei letzterer insbesondere bei Schäden in der nicht dominanten Hemisphäre vorkommt und die Vernachlässigung einer Körperseite beschreibt (Abb. 2). Ein weiteres Merkmal ist die Blickwendung hin zur betroffenen Seite («der Patient schaut zur Läsion hin»).
Mit etwa 5 % der Fälle deutlich seltener betroffen ist die Arteria cerebri anterior (ACA). Hier führt die Schädigung vor allem zu einer isolierten kontralateralen sensomotorischen Hemiparese, die überwiegend das Bein betrifft (16).

Im vertebrobasilären Versorgungsgebiet – das in rund 10–25 % der ischämischen Schlaganfälle beteiligt ist – ist zumeist das Versorgungsgebiet der Arteria cerebri posterior (PCA) betroffen. Ein typisches Symptom eines PCA-Infarkts ist die homonyme Hemianopsie infolge einer Schädigung der Sehrinde; bei beidseitigen Infarkten droht sogar eine kortikale Blindheit. Ist die Arteria thalami perforans betroffen, können auch ausgedehnte Bewusstseinsstörungen auftreten, da der Thalamus als «Wachheitszen­trum» des Gehirns gilt. Dabei können in seltenen Fällen (ca. 4 % der Bevölkerung) die Thalami beider Hirnhemisphären von einem gemeinsamen Gefäss, der Percheron-Arterie, versorgt werden, welche dann aus einer der Posteriorarterien (PCA) entspringt. Kommt es in diesem Fall zu einem Verschluss der Percheron-Arterie, so kann es zu massiven Beeinträchtigungen der Wachheit mit komatöser Präsentation kommen (17) (Abb. 3).

Schlaganfälle im Versorgungsgebiet der A. basilaris sind besonders komplex, da sie zentrale Funktionen wie Wachheit, Atmung und Kreislaufsteuerung beeinträchtigen können. Typische Symptome umfassen Bewusstseinsstörungen, Augenbewegungsstörungen, motorische oder sensorische Paresen, Koordinationsprobleme und Schwindel. Ein akuter Basilarisverschluss ist lebensbedrohlich mit einer Letalität von bis zu 80 %. Distale Infarkte wie das Basilarisspitzensyndrom äussern sich dabei oftmals primär mit Gedächtnis- und Bewusstseinsstörungen sowie Okulomotorikproblemen, während weiter proximale Infarkte zu einer Tetraplegie oder sogar zu einem Locked-in-Syndrom führen können (18).

Die Kleinhirnarterien, besonders PICA (A. cerebelli inferior posterior) und AICA (A. cerebelli inferior anterior), sind bei Schlaganfällen häufig für Schwindel, Augenbewegungsstörungen und Ataxie verantwortlich. Symptome im PICA-Stromgebiet sind häufig starker Schwindel, Übelkeit und Rumpfataxie, während bei AICA-Beteiligung zusätzlich Hörstörungen und ipsilaterale Fazialisparesen häufig auftreten (19). Diese Symptomkonstellationen helfen oftmals bereits bei der Differenzierung zwischen zentralem und peripherem Schwindel, da zerebelläre Schlaganfälle oft mit vestibulären Störungen verwechselt werden. Weiterhin hilft der HINTS-Test (Head-Impulse, Nystagmus, Test of Skew) bei der Differenzierung von peripherem und zentralem Schwindel, wobei die Unterscheidung dennoch anspruchsvoll bleibt (20).

Hirnblutungen
Obwohl Kopfschmerzen eher selten bei Schlaganfällen sind, können plötzlich auftretende, extrem starke Schmerzen auf eine Subarachnoidalblutung hinweisen. Allmählich zunehmende Kopfschmerzen ungewöhnlicher Dauer, Art oder Intensität können hingegen auf eine Hirnvenenthrombose hindeuten (21).

Schlaganfall-Mimics

Schlaganfall-Mimics sind klinische Syndrome, die einen akuten Hirnschlag vortäuschen, jedoch nicht durch eine zerebrale Ischämie verursacht werden («falsch-positive Diagnose»). Sie machen etwa 19–25 % der vermeintlichen Schlaganfälle aus – insbesondere in Zentren, die in der Akutsituation primär CT einsetzen, wobei in diesen Fällen auch Patienten ohne echten Schlaganfall fälschlicherweise mit einer intravenösen Lyse behandelt werden können. Dank moderner Akutdiagnostik, insbesondere dem Einsatz von MRT, lässt sich die Rate der falsch-positiven Diagnosen deutlich reduzieren. Die Komplikationsrate von Thrombolysen in diesen Patienten ist glücklicherweise gering (Hirnblutungen 0.5 %) (22–24). Im Folgenden werden die häufigsten Stroke Mimics thematisiert und in Tab. 2 zusammengefasst.

Migräne mit Aura gehört zu den häufigsten Stroke Mimics, da ihre Symptome – vor allem motorische oder dysphasische Auren – Schlaganfallbilder imitieren können. Die Unterscheidung wird zusätzlich erschwert, da Migräne häufig mit Schlaganfallrisikofaktoren wie einem persistierenden Foramen ovale oder arteriellen Dissektionen assoziiert ist, und Kopfschmerzen auch bei akuten Schlaganfällen, beispielsweise in posterioren Stromgebieten oder bei Hirnblutungen, auftreten können. Typischerweise entwickeln sich Migräneauren schrittweise innerhalb weniger Minuten und werden oft von Kopfschmerzen begleitet. Während visuelle Auren meist beide Augen betreffen und sich als positive Reizphänomene wie Lichtblitze äussern, kommen ischämische Sehstörungen häufig nur einseitig vor und werden als eine plötzliche «Alles schwarz»-Wahrnehmung beschrieben. Mit zunehmendem Alter können Migräneauren auch ohne Kopfschmerzen auftreten, was die Abgrenzung zum Schlaganfall weiter erschwert. Bei erstmaligem Auftreten einer Aura ist eine Bildgebung, vorzugsweise mittels MRT, indiziert. Bei Patienten mit bekannter Mi­gräne und typischen Aurasymptomen, die innerhalb einer Stunde rückläufig sind, ist in der Regel keine erneute Bildgebung erforderlich (25, 26).

Epileptische Anfälle können mit Schlaganfällen verwechselt werden, insbesondere wenn nach dem Anfall eine Todd’sche Parese – eine vorübergehende lokale Schwäche infolge vorangegangener Überaktivität – auftritt. Dies gilt besonders bei kurzen fokalen Anfällen, die zunächst nicht diagnostiziert werden, sowie beim erstmaligen Auftreten oder nach einem bereits erlittenen Schlaganfall. Abhängig von der Anfallsregion können unterschiedliche neurologische Ausfälle auftreten. Typische Hinweise auf einen epileptischen Anfall sind jedoch die rasche Symptomrückbildung, eine Anfallsdauer von weniger als zwei Minuten, postiktale Verwirrtheit, ein lateraler Zungenbiss, Einnässen sowie «positive» Symptome wie Zuckungen, Parästhesien oder visuelles Flimmern. Beide Krankheitsbilder erfordern eine sofortige notfallmässige Abklärung (27, 28).

Elektrolytstörungen wie Hypoglykämie können sich über vegetative Symptome (z. B. Schwitzen, Herzklopfen) äussern und sollten bei akuten neurologischen Defiziten immer ausgeschlossen werden – insbesondere bei Patienten, die Insulin oder Sulfonylharnstoffe einnehmen. Auch eine Hyponatriämie kann ein Schlaganfallbild imitieren und ist bei älteren Patienten abzuklären (29).
Funktionelle Störungen äussern sich häufig in plötzlicher Schwäche oder Sensibilitätsstörungen, die keinem klaren neurologischen Verteilungsgebiet entsprechen. Auslösende Faktoren sind oft Panikattacken, und in der Untersuchung zeigt sich häufig ein Missverhältnis, zum Beispiel ein Absinken im Armhalteversuch ohne typische Pronation (29).

Chamäleons

Schlaganfälle, die als «Chamäleons» bezeichnet werden, präsentieren sich häufig mit untypischen Symptomen und können leicht mit anderen Erkrankungen verwechselt werden. Insbesondere junge Patienten, Personen mit milden Symptomen oder im Koma haben ein erhöhtes Risiko für eine Fehldiagnose, da solche Schlaganfälle fälschlicherweise als periphere Nervenschädigung, Delirium oder Synkope interpretiert werden können. Schlaganfälle im hinteren Kreislauf bleiben dabei oft unentdeckt, da sie sich meist mit unspezifischen Symptomen wie Verwirrtheit zeigen und keine klaren lateralisierenden Zeichen aufweisen. Beispiele hierfür sind das Basilarisspitzensyndrom sowie bilaterale Thalamusinfarkte, bei denen zusätzlich Bewusstseinsstörungen und vertikale Blickparesen auftreten können (26).

Diagnosestellung

Die klinische Diagnose ist oft schwierig, und nicht immer lässt sich die Läsionslokalisation eindeutig bestimmen. Bildgebende Verfahren sind für die Diagnose entscheidend, und diffusionsgewichtete MR-Sequenzen (DWI) sind hierbei der Goldstandard. Es lässt sich auch bildgebend nicht immer eine eindeutige Bestätigung eines ischämischen Hirninfarkts finden. So wurde in einer Metaanalyse zur hinteren Zirkulation festgestellt, dass bis zu 6.8 % der Hirninfarktpatienten keine initialen DWI-Läsionen aufwiesen (30). Entsprechend kommt weiterhin der detaillierten Beurteilung durch spezialisierte neurologische Fachärzte eine herausragende Bedeutung zu. So zeigte eine kürzlich abgeschlossene Studie, deren Publikation bevorsteht, dass die Genauigkeit der Zuordnung einer ischämischen Ursache von akuten neurologischen Symptomen und deren zerebraler Lokalisation stark von der Spezialisierung und Erfahrung der Teilnehmer abhing (31).

Zusammenfassung

Obwohl die Akutversorgung in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht hat, wird in der Primärversorgung oft die Bedeutung rascher Diagnostik, klarer Kommunikation und zeitnaher Therapie unterschätzt. Neben einer konsequenten Risikofaktorkontrolle (z. B. Blutdruck, Diabetes) ist vor allem die schnelle Erkennung von Schlaganfallsymptomen entscheidend. Moderne Therapieverfahren wie Lysetherapie oder endovaskuläre Interventionen können die Prognose erheblich verbessern, sofern keine wertvolle Zeit verloren geht. Sprachbasierte Ansätze wie das 4-S-Modell (Sehstörung, Sprachstörung, Schwäche, schnell handeln) erleichtern die symptomorientierte Aufklärung der Bevölkerung und verkürzen somit den Zeitraum bis zum Beginn einer Akuttherapie. Bei Verdacht auf Schlaganfall gilt: Sofort den Rettungsdienst (144) verständigen und umgehend ein spezialisiertes Zentrum aufsuchen, da jede Minute zählt («Time is Brain»). Da Schlaganfälle oft ein breites, teils «chamäleonartiges» Spektrum an Symptomen zeigen, ist im Zweifelsfall eine sofortige Bildgebung unerlässlich, um Fehldiagnosen zu vermeiden. Im Zuge der fortschreitenden endovaskulären Therapie haben sich die Heilungschancen für Schlaganfallpatienten massgeblich verbessert. Detaillierte Empfehlungen und jährlich aktualisierte Behandlungspfade finden sich in den Stroke-Guidelines des Inselspitals (9).

Sebastian Kaufmann 1, Hakan Sarikaya 1, Moritz Kielkopf 1
1 Abteilung für Neurologie, Inselspital, Universitätsspital Bern und Universität Bern

Dr. med. Moritz Kielkopf

Neurologische Klinik, Inselspital
Rosenbühlgasse 25
3010 Bern

moritz.kielkopf@insel.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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