Adipositas und Nierenerkrankungen

Zusammenfassung:

Die Adipositas-Epidemie hat zu einem erhöhten Vorkommen der Obesity-related oder Adipositas-bedingten Glome­rulopathie (ORG) geführt. Diese eigenständige Erkrankung wird durch Proteinurie, Glomerulomegalie, fortschreitende Glomerulosklerose sowie einen Rückgang der Nierenfunktion gekennzeichnet. Bei Personen mit Adipositas besteht gehäuft arterielle Hypertonie und Diabetes mellitus, wodurch die renale Schädigung augmentiert wird. Die Pathogenese umfasst eine Überaktivierung des RAAS (Renin-Angiotensin-Aldosteron-System), eine glomeruläre Hyperfiltration, Entzündungsreaktionen mit oxidativem Stress, Hyperinsulinämie-bedingte hämodynamische Änderungen sowie Lipotoxizität. Zusätzlich ist Adipositas ein relevanter Risikofaktor für Nierensteinbildung und kann dadurch zusätzlich zu einer Nierenschädigung beitragen. Das Management der adipositasinduzierten Nephropathie umfasst insbesondere Gewichtsreduktionsstrategien sowie eine optimierte Kontrolle von Blutdruck und Stoffwechselfaktoren. Früherkennung ist dabei entscheidend, um dem Fortschreiten der Nierenschädigung entgegenzuwirken. Letztlich ist erwähnenswert, dass Adipositas die Durchführung von Nierenersatzverfahren bis hin zur Nierentransplantation erheblich erschwert und die Komplikationsrate erhöht. In Summe gibt es somit viele Gründe, warum auch in der Nephrologie ein besonderes Augenmerk auf das Thema Adipositas gelegt werden sollte.

Schädigungen der Nieren durch Adipositas

Adipositas ist mit verschiedenen Erkrankungen der ­Nieren wie Glomerulopathien und Nephrolithiasis sowie auch einer schlechteren Nierentransplantat-Überlebens­rate ver-
bunden (1). Zudem konstituiert sich das metabolische Syndrom, dessen Haupttreiber die Adipositas darstellt, aus klassischen Risikofaktoren für chronische Nierenerkrankungen (CKD) und damit auch verbundenen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Vermehrt zirkulierende proinflammatorische Zytokine, ein Hauptmerkmal sowohl der CKD als auch der Adipositas, tragen zu Glomerulosklerose und tubulointerstitieller Atrophie bei. Zusätzlich bildet das vermehrte, insbesondere viszerale Fettgewebe entzündungsfördernde humorale Faktoren wie Angiotensin II und Leptin. Der Anstieg der Fettmasse mit der damit meist verbundenen Fettzellhypertrophie verändert die Bildung und Freisetzung dieser humoralen Faktoren, was sich negativ auf Podozyten, mesangiale Zellen und Tubuluszellen auswirkt (2). Hohe Leptinspiegel und niedrige Adiponektinspiegel, wie sie bei der Adipositaskrankheit oft zu finden sind, können eine proinflammatorische Immunantwort begünstigen, welche auch im Kontext der Organabstossung bei nierentransplantierten Patienten relevant ist (1, 3).

Adipositas-assoziierte histopathologische Nierenveränderungen

Bei Adipositas kommen vorwiegend zwei Arten von Glomerulopathien gehäuft vor: erstens die fokal segmentale Glome­rulosklerose (FSGS), welche durch ein segmentales Remodelling des Glomerulus durch extrazelluläre Matrix und/oder Hyalin definiert ist und damit zur Kapillarobliteration führt. Zweitens die Obesity-related Glomerulopathie (ORG) mit segmentaler, oft perihilärer Sklerose der typischerweise hypertrophierten Glomeruli. Der Prozentsatz der betroffenen Glomeruli ist bei ORG niedriger als bei der primären FSGS, was darauf hindeutet, dass die ORG eine mildere, weniger aggressive Form der FSGS darstellt. In tierexperimentellen Modellen der ORG, wie beispielsweise Fischerratten unter Ad-libitum-Diät, steigt das Volumen des Glomerulus exponentiell mit dem Körpergewicht an. Das Zellvolumen der Podozyten nimmt ebenfalls im Verhältnis zur Gewichtszunahme zu, was auf eine adaptive Hypertrophie der Podozyten hindeutet. Dies jedoch in geringerem Masse als die Zunahme des Glomerulusvolumens, was zu einer Volumendiskrepanz zwischen diesen beiden histologischen Organstrukturen führt.

Da Podozyten sich nicht vermehren können und ihre Fähigkeit zur Hypertrophie begrenzt ist, erreicht die mechanische Belastung dieser Zellen durch Dehnungsspannung und Scherstress, wenn das Glomerulusvolumen zunimmt, einen Grenzwert (4). Daraus resultierend entsteht eine Albuminurie, welche sich klinisch einfach nachweisen lässt. Die mechanische Unterstützung der glomerulären Kapillaren ist dadurch reduziert. Bei extremer Vergrösserung der Glomeruli kann auch der Durchmesser der glomerulären Kapillaren zunehmen. Gemäss dem Laplace-Gesetz kann dann die Wandspannung der glomerulären Kapillaren ansteigen, was zu einem Barotrauma und damit schliesslich zur Destruktion und Sklerosierung des Glomerulus führt (2, 5).

Hauptmechanismen der Nieren­schädigung bei Adipositas

Adipositas fordert über eine ganze Reihe von verschiedenen Pathomechamismen eine Nierenschädigung, welche sich wie folgt differenzieren lassen (Abbildung 1):

Aktivierung des Renin-Angiotesin-Aldosteron- Systems (RAAS)

Adipositas triggert eine Überaktivierung des RAAS. Dies führt zu hämodynamischen Veränderungen und Hyperfiltration und spielt dadurch eine wichtige Rolle in der Pathogenese und Aufrechterhaltung von ORG. Die erhöhte RAAS-Aktivität bei Adipositas wird auf verschiedene Faktoren zurückgeführt: (a) mechanische hämodynamische Veränderungen, die aus einer Kompression des Nierenhilus und des Nierenparenchyms durch viszerales Fett resultieren; (b) ein generell erhöhter intraabdominaler Druck; (c) eine erhöhte Synthese und Freisetzung verschiedener Komponenten des RAAS durch viszerales Fett und (d) eine neurohormonale Stimulation des sympathischen Nervensystems, unter anderem bedingt durch eine Adipositas-assoziierte Hyperleptinämie und Hyperinsulinämie. Angiotensin II und Aldosteron als wesentliche Wirkkomponenten des RAAS regulieren den Vasomotorentonus mit einer überwiegend vasokonstriktiven Wirkung, insbesondere auf die abführende Arteriole, was den hydrostatischen glomerulären Druck und die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) erhöht (6).

Glomeruläre Hyperfiltration

Glomeruläre Hyperfiltration ist der zentrale Mechanismus der Nierenschädigung bei der ORG. Adipositas ist mit einer Vasodilatation der zuführenden Arteriole verbunden, was in einem erhöhten renalen Plasmafluss, einer erhöhten glomerulären Filtrationsrate (GFR) sowie Filtrationsfraktion resultiert. Der erhöhte intraglomeruläre Druck verursacht Schäden an der glomerulären Filtrationsbarriere, was zu Glomerulomegalie, Podozytenhypertrophie und Apoptose führt. Gemäss der tubulozentrischen Hypothese könnte die Adipositas-bedingte Hyperfiltration auch tubulären Ursprungs sein (6, 7). So fördert Adipositas die Natrium- und Wasserreabsorption im proximalen Tubulus, was zu verminderter Natriumzufuhr zur Macula densa und damit Deaktivierung des tubuloglomerulären Feedbacks führt (8). Die erhöhte Natriumreabsorption durch eine verstärkte Aktivierung des distalen tubulären epithelialen Natriumkanals (ENac) resultiert auch aus der Überproduktion von Angiotensin II, was das tubuloglomeruläre Feedback-System we­niger ansprechbar macht. Diese Mechanismen können insgesamt zu einer verringerten präglomerulären Gefässresistenz und folglich zu einer Vasodilatation der glomerulären zuführenden Arteriole führen, was wiederum die GFR erhöht (6).

Entzündung und oxidativer Stress

Adipositas ist mit erhöhten zirkulierenden Spiegeln pro­inflam­matorischer Adipokine wie Leptin, Resistin oder Fetuin-A sowie auch reaktiver Sauerstoffspezies (ROS) verbunden (6, 9, 10). Insbesondere das viszerale Fettgewebe ist ein hochaktives endokrines Organ. Es produziert und setzt viele verschiedene Zytokine und Hormone frei, welche systemische Effekte ausüben. Einige dieser Hormone (Adipokine) sowie auch «kidney signaling molecules» spielen eine wesentliche Rolle in der Pathogenese der ORG.

Insulinresistenz und Hyperinsulinämie

Insulinresistenz und kompensatorische Hyperinsulinämie haben einen grossen Einfluss auf die Hämodynamik und fördern zudem chronische Entzündungsprozesse bei der ORG. Erhöhte Insulinspiegel fördern präglomeruläre Vasodilatation und glomeruläre Hypertonie (10). Insulin beeinflusst zudem die Funktion, Morphologie und das Überleben von Podozyten. Insulinresistenz wurde mit dem Einsetzen einer Albuminurie sowie dem Rückgang der Nierenfunktion bei Personen mit Adipositas auch ohne Diabetes mellitus in Verbindung gebracht. Zudem fördert eine Insulinresistenz Podozytenapoptose und Hypertrophie der verbleibenden Podozyten, was in eine Glomerulosklerose mündet (6, 11).

Lipotoxizität

Eine erhöhte Fettakkumulation in den perirenalen und pararenalen Räumen bei Adipositas kann die Nierenfunktion direkt beeinträchtigen. Freie Fettsäuren (FFAs) und Adipokine, die vom perirenalen Fett freigesetzt werden, erreichen die Nierenrinde und verstärken den intrarenalen Schaden zusätzlich durch parakrine Lipotoxizität. Die ektopische Ansammlung von Fett in perirenalen und pararenalen Räumen komprimiert auch physikalisch die Nierengefässe und das Parenchym, erhöht den renalen interstitiellen hydrostatischen Druck und verringert dadurch den tubulären Blutfluss. Darüber hinaus könnte eine erhöhte De-novo-­Lipogenese in der Niere ein wichtiger Treiber für die renale Lipotoxizität bei ORG sein (6, 12).

Untersuchung der Nierengesundheit bei Adipositas

Die häufigste klinische Manifestation der Adipositas-assoziierten Glomerulopathie ist der Nachweis von Proteinurie bei normalem Harnsediment.
Die korrekte Einschätzung der Nierenfunktion bei Patienten mit Adipositas ist eine Herausforderung. Sie ist nicht nur für die Stadieneinteilung der CKD und die Überwachung des Krankheitsverlaufs essenziell, sondern auch für die Anpassung der Dosierung von verschiedenen Medikamenten. Die CKD-EPI-Gleichung bietet eine gute Vorhersage der abgeschätzten (estimated) glomerulären Filtrationsrate (eGFR) für eine eGFR < 60 ml/min/1.73 m² bei Personen mit einem BMI < 40 kg/m² (12). Die Anpassung der eGFR/gemessenen GFR an die Körperoberfläche führt jedoch zu einem relevanten Fehler und impliziert eine signifikante Unterschätzung der Nierenfunktion bei Personen mit Übergewicht und Adipositas (12).

Zudem sollte beachtet werden, dass auch die Messung der Kreatinin-Clearance zur Schätzung der GFR fehleranfällig sein kann, da die tubuläre Sekretion von Kreatinin bei Personen mit normaler GFR etwa 10 % bis 20 % des Urinkreatinins ausmacht. Dieser Prozentsatz steigt mit abnehmender GFR progressiv an, was zu einer erheblichen Überschätzung der GFR führt, insbesondere bei Patienten mit fortgeschrittener CKD (12).Daher haben einige Autoren die Verwendung einer Goldstandardmethode (z. B. Inulin- oder Iohexol-Plasmaclearance oder die transdermale Messung der glomerulären Filtrationsrate unter Verwendung von Clearance fluoreszierender Tracer) bei Personen mit Adipositas empfohlen, obwohl diese Techniken aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit und der geringen Praktikabilität im täglichen klinischen Routinebetrieb nicht weitverbreitet sind (13, 14).

Obwohl die Bestimmung von Albuminurie/Proteinurie weitverbreitet für die nicht invasive Beurteilung von Nierener­krankungen eingesetzt wird, ist sie nicht immer ein früher Marker für Nierenschäden. Tatsächlich können bereits strukturelle Nierenveränderungen vorhanden sein, bevor eine Nierenfunktionsstörung durch eine Albuminurie/Proteinurie nachweisbar ist. So wurden in einer Studie bei Personen mit ausgeprägter Adipositas, die sich einer bariatrischen Operation unterzogen, für die Adipositas-assoziierte Glomerulopathie typische histologische Veränderungen nachgewiesen, obgleich Nierenfunktion unbeeinträchtigt war und keine Albuminurie vorlag (15).

Neue Marker zur Detektion einer Nierenschädigung

Vor dem oben genannten Hintergrund wird nach verschiedenen neuen Markern gesucht, um die Nierenschädigung im Frühstadium erkennen zu können. Darunter existieren molekulare und bildgebende Methoden.

Biomarker der subklinischen Nierenschädigung

Unter den Biomarkern, welche auch eine Bedeutung bei der ORG haben, sind die vielversprechendsten das im Blut gemessene kidney injury molecule‐1 (KIM‐1) sowie die im Urin gemessenen Marker Cystatin C, N-Acetyl-Beta-D-Glucosaminidase (NAG) und Neutrophile Gelatinase-Assoziierte Lipocalin (NGAL) (16). Einige dieser tubulären Marker können zur frühzeitigen Detektion der diabetischen Nephropathie bei Typ-2-Diabetes-mellitus (T2DM) eingesetzt werden und können die Gefahr eines beschleunigten Rückgangs der GFR anzeigen. Weitere molekulare Marker eines Tubulusschadens sind GluAp (Glutamyl aminopeptidase), AlaAp, Klotho, OPN (Osteopontin), Netrin‐151 sowie für glomeruläre Podozytenschäden PCX (Podocalyxin), Podocin, Nephrin und die Podoctin:Nephrin Ratio (16). Es bleibt abzuwarten, ob einige dieser Biomarker in Zukunft in die Routinedia­gnostik zur frühzeitigen Detektion von Nierenerkrankungen Einzug halten werden.

Perirenales Fettgewebe als unabhängiger Risikofaktor für CKD

Wie bereits dargelegt, hat die ektopische Lipidakkumulation in Form von perirenalem Fett eine besondere, pathogenetisch relevante Bedeutung für Nierenschäden bei Patienten mit Adipositas-assoziierter Glomerulopathie (ORG). Die Darstellung und Quantifizierung dieses Fetts durch bildgebende Verfahren wie Ultraschall, CT oder MRI haben daher das Potenzial, als neue Risikomarker in die klinische Praxis Einzug zu halten. Die Messung der para- und perirenalen Fettdicke (PUFT) stellt zudem ein nützliches Instrument zur Abschätzung der viszeralen Fettdepots dar, welches besser als klassische als anthropometrische Parameter, wie beispielsweise BMI oder Bauchumfangsmessung, das kardiovaskuläre Risiko voraussagt und auch einen unabhängigen Risikofaktor für die Entwicklung einer Nephropathie darstellt (6, 17).

Aufgrund ihres relativ einfachen Zugangs und der niedrigen Kosten bieten die Ultrasonografie und die zunehmend in die Geräte integrierte Ultraschall-Elastografie die Möglichkeit, strukturelle Veränderungen im Verlauf der ORG zu bewerten und eine zunehmende renale Fibrose zu erkennen. Die Farbdoppler-Ultraschalluntersuchung eignet sich zudem zur Beurteilung intrarenaler hämodynamischer Parameter, welche Hinweise auf frühe vaskuläre Veränderungen bieten können (6, 18). So gilt beispielsweise ein pathologischer Resistenzindex (RI) der intrarenalen Gefässe, insbesondere der interlobären Arterien, als zuverlässiger Indikator einer veränderten Nierenperfusion als frühes Zeichen von Nierenschäden. Die kontrastverstärkte Ultraschalluntersuchung kann zudem für eine optimierte Beurteilung von Nierenperfusion sowie kortikaler Mikrozirkulation genutzt werden (19).

Erhöhtes Nierensteinrisiko bei Adipositas – lithogene Nierenschädigung

Adipositas ist mit einer erhöhten Inzidenz von Nierensteinen assoziiert (20). Zur Illustration sei hier eine Metaanalyse, welche Daten von insgesamt 479 405 Personen inkludierte, angeführt (21). Die durchgeführten Analysen zeigten, dass eine Erhöhung des BMI um 5 kg/m2 mit einem um 31 % erhöhten Risiko für das erstmalige Auftreten von Nierensteinen verbunden ist (Hazard Ratio (HR)=1,31). Ebenso war eine Erhöhung des waist-hip-ratio (WHR) um 0,05 mit einem um 34 % erhöhten Risiko (HR=1,34) und eine Erhöhung der waist circumference (WC) um 10 cm mit einem um 29 % erhöhten Risiko (HR=1,29) für das erstmalige Auftreten von Nierensteinen verbunden (21).

Nierensteine bei Patienten mit Übergewicht oder Adipositas sind meist Oxalat- sowie auch Uratsteine. So kann bei entsprechenden Personengruppen oft auch eine erhöhte Ausscheidung von Kalzium, Oxalat und Harnsäure im Urin nachgewiesen werden (22). Darüber hinaus haben Studien gezeigt, dass Adipositas mit einer veränderten Urinchemie einhergeht und durch einen erniedrigten Urin-pH sowie einer Harnsäureübersättigung das Risiko für Nephrolithiasis erhöht (23). Mehrere Mechanismen können erklären, wie Adi­positas auch ohne weitere spezifische metabolische Abnormalitäten zur Nierensteinerkrankung beiträgt (Tabelle 1). Die Adipositas-bedingte, veränderte Expression und Freisetzung von Adipokinen sowie vermehrte Bildung von proinflammatorischen Zytokinen, wie Tumornekrosefaktor-α und Interleukin-6, spielen dabei wohl eine wichtige Rolle. Die verminderte Freisetzung des antiinflammatorisch wirkenden Adipokins Adiponektin aus dem Fettgewebe bedingt zudem einen erhöhten oxidativen Stress und proinflammatorischen Zustand. Zusammengenommen entsteht so ein metabolisch-inflammatorisches Milieu, welches die renale Lithogenese fördert.

Nierensteinbildung und Oxalatne­phro­pa­thie nach malabsorptiven ­bariatrischen Operationen

Nicht nur die Adipositas per se, sondern auch spezifische Therapieverfahren dieser chronischen Erkrankung können zu einer erhöhten Inzidenz von Nierensteinen sowie auch zur Oxalatnephropathie führen. Konkret handelt es sich hierbei um stark malabsorptive Verfahren der bariatrischen Chirurgie, wie insbesondere der biliopankreatischen Diversion (BPD). Dabei kommt es durch die verminderte Fettdigestion sowie -malabsorption zu einer vermehrten Verseifung von Calcium im Darmlumen, sodass weniger freies Calcium zur Bindung von Oxalsäure zur Verfügung steht. Dies führt zu einer vermehrten Resorption und konsekutiv zu einer vermehrten renalen Exkretion von Oxalat. Die daraus resultierende Hyperoxalurie in Verbindung mit der bei BPD zudem häufig beobachteten Hypocitraturie erhöht die Lithogenität des Urins.

Das über die Nieren ausgeschiedene Oxalat stammt aus einer Kombination von hepatischem Stoffwechsel und gastrointestinaler Absorption. In der Leber stellt Oxalat ein Endprodukt des Glyoxalatstoffwechsels dar. Zudem wird Oxalat über die Nahrung über den Darm aufgenommen. Das Oxalat, welches in bestimmten Nahrungspflanzen wie Spinat, Mangold, Rhabarber oder Rote Beete besonders konzentriert vorkommt, liegt primär in Form von relativ unlöslichen Calciumoxalatkristallen vor. Daher werden unter normalen Bedingungen nur 5 % bis 10 % des über die Nahrung zugeführten Oxalats absorbiert und der Rest mit dem Stuhl ausgeschieden. Bei Patienten mit Fettmalabsorption, unabhängig von deren Ursache (z. B. BPD oder exokrine Pankreasinsuffizienz), gelangen vermehrt freie Fettsäuren in distale Darmabschnitte, wo sie, wie bereits erwähnt, mit Calcium verseifen. Dadurch steht weniger Calcium zur Oxalatbindung zur Verfügung, und es wird dadurch bis zu ≥ 30 % des intraluminalen Oxalats resorbiert.
In den Nieren wird Oxalat glomerulär filtriert und auch über eine proximal tubuläre Sekretion ausgeschieden. Eine erhöhte Oxalatkonzentration im Blut führt somit zu einer erhöhten Ausscheidung von Oxalat im Urin, was das Risiko für Calciumoxalat-Nierensteine, eine kortikomedulläre Nephrokalzinose sowie auch einer Oxalat-Nephropathie erhöht (24).

Bedeutung von Adipositas bei Nieren­ersatzverfahren

Adipositas ist nicht nur ein wichtiger Risikofaktor für Nierenerkrankungen, sondern hat auch einen erheblichen Einfluss auf die Behandlung von Patienten mit fortgeschrittener Nierenerkrankung. Dies zeigt sich beispielsweise bei verschiedenen Nierenersatzverfahren sowie auch in der nephrologischen Transplantationsmedizin.

Peritonealdialyse

Obgleich ausgeprägte Adipositas als relative Kontraindikation für Peritonealdialyse (PD) angesehen wird, ist diese Dialysemodalität bei übergewichtigen Patienten grundsätzlich möglich. Adipositas ist bei PD mit einem erhöhten Infektrisiko verbunden und erschwert zudem die Beurteilung der Dialysequalität. Bei Patienten mit PD muss auf mechanische (Leakage, Hernien) oder infektiöse Komplikationen (Katheder-assoziierte Infekte und Peritonitis) besonders geachtet werden. Der geringste Verdacht auf eine Infektion erfordert eine frühzeitige, niederschwellige Diagnostik und Therapiebeginn (25).
Es sollte zudem beachtet werden, dass Patienten, die mit einer PD beginnen, dazu neigen, an Gewicht zuzunehmen. Dies wird vermutlich einerseits durch die Auflösung der urämischen Anorexie und dem damit vermehrtem Appetit, andererseits auch durch eine erhöhte Kalorienaufnahme durch die Absorption von Glukose aus den Dialyselösungen verursacht (26). Die zugeführte Energie durch die Aufnahme von Glukose aus dem Dialysat beträgt dabei 400–800 kcal pro Tag. Dies führt zu einer durchschnittlichen Gewichtszunahme von etwa 5–7 kg, wobei der Grossteil hiervon in den ersten 6 Monaten der PD-Behandlung zugenommen wird (27).
Die Kt/V als Indikator der Dialysequalität kann bei Patienten mit Adipositas aufgrund des bezogen auf die Körpermasse proportional geringeren Körperwasservolumens bei höherem Körperfettanteil irreführend falsch tief sein, was zu Interpretationsfehlern führen kann. Eine daraus resultierende
Intensivierung der Therapie mit Erhöhung des Dialysatvolumens kann zur weiteren Gewichtszunahme oder zu einem eigentlich unnötigen Wechsel auf Hämodialyse führen (26).

Hämodialyse

Patienten mit Adipositas unter Hämodialyse (HD)-Behandlung neigen ebenfalls zu vermehrten Komplikationen, welche einerseits den Dialyseprozess negativ beeinflussen, andererseits auch allgemein weitreichende negative gesundheitliche Folgen haben können. Dazu gehören beispielsweise Probleme mit dem Gefässzugang durch Schwierigkeiten bei der Anlage eines Shunts und zentralvenösen Katheters, Katheterokklusion sowie auch zu tief liegenden Shunts und damit verbundenen Punktionsproblemen. Zudem bestehen Herausforderungen in Bezug auf die Dialyseeffizienz sowie ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Schlafapnoe und Infektionen. Einschränkungen der Mobilität sowie auch technische Limitation und Ausrüstungsschwierigkeiten können zudem die Versorgung von Menschen mit Adipositas in der Hämodialysepraxis erheblich erschweren. Die Hämodialysebehandlung von Patienten mit Adipositas erfordert daher oft einen multidisziplinären Ansatz und muss sorgfältig geplant werden (28, 29).
Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle die Beobachtung eines «Obesity-Paradox». So zeigte beispielsweise eine US-amerikanische Kohortenstudie eine u-förmige Beziehungskurve zwischen BMI und Mortalität bei Patienten mit HD (26). Dabei wurde die geringste Mortalität in der BMI-Gruppe von 30–35 kg/m2 beobachtet. Die Körperzusammensetzung sowie das Fettverteilungsmuster, welche sich nicht im BMI widerspiegeln, spielen hierbei wohl eine besondere Rolle. So zeigte eine Studie, in die etwa 70 000 HD-Patienten eingeschlossen wurden, ein vermindertes Sterberisiko bei einem hohen BMI in Verbindung mit einer hohen, jedoch nicht bei Vorliegen einer geringen Muskelmasse (25). In einer weiteren Studie war der Taillenumfang (als Marker der abdominalen Adipositas) direkt und unabhängig vom BMI positiv mit der kardiovaskulären und Gesamtsterblichkeit assoziiert (30). Vor dem Hintergrund dieser Daten lässt sich nicht davon ausgehen, dass Adipositas tatsächlich ein protektiver Faktor bei Menschen an der Hämodialyse darstellt.

Nierentransplantation

Adipositas stellt eine relative Kontraindikation für die Nierentransplantation dar. Nierentransplantierte Patienten mit Übergewicht weisen im Vergleich zu Patienten mit Normalgewicht eine erhöhte Rate an verzögerter Transplantatfunktion, Wundinfektionen und auch Abstossung auf (31, 32). In einer Studie von Hoogeveen et al. wurde beispielsweise festgestellt, dass Nierentransplantatempfänger mit ein­em BMI von mehr als 30 kg/m² ein um 20 %–40 % höheres Risiko für Transplantatversagen und Tod im Vergleich zu Empfängern mit normalem Gewicht aufweisen (31). Solche Beobachtungen haben zu willkürlichen BMI-Grenzwerten an vielen Nierentransplantation-durchführenden Institutionen geführt, die von 32 kg/m2 bis zu 40 kg/m2 reichen. So ergab eine Erhebung in den USA, dass im Zeitraum von 1995–2006 an 15 % der erfassten Transplantationszentren kein einziger Patient mit einem BMI > 35 kg/m2 und in 21 % der Zentren kein Patient mit einem BMI > 40 kg/m2 zur Nierentransplantation aufgelistet wurde (33).

Zusätzlich zeigte sich, dass Patienten mit einem BMI > 35 kg/m2, die in den verbleibenden Zentren gelistet waren, im Vergleich zu Patienten mit einem niedrigeren BMI eine um 28 % geringere Wahrscheinlichkeit hatten, eine Nierentransplantation zu erhalten. Diese Daten deuten auf eine systematische, medizinisch nur bedingt begründete Diskriminierung von Menschen mit Adipositas hin, welche in jüngster Zeit zunehmend infrage gestellt wurde. So zeigen Datenanalysen zwar, dass der Überlebensvorteil einer Nierentransplantation gegenüber fortgeführten Dialyseverfahren bei Personen mit > 40 kg/m2 zwar geringer als bei Personen mit niedrigem BMI ausgeprägt, jedoch immer noch klar nachweisbar ist (34).

Da allein konservative Gewichtsreduktionstherapien meist nicht ausreichend erfolgreich sind, schaffen es betroffene Patienten meist nicht, in den für eine Transplantation ­geforderten BMI-Bereich zu kommen. In der Konsequenz verbleiben sie oft jahrelang auf Wartelisten für Organspenden. Die Bedeutung dieser Tatsache wird klar, wenn man sich die jährliche Sterblichkeitsrate von 5 %–10 % auf entsprechenden Wartelisten für eine DBD/DCD (Donation after Brain Death/Donation after Cardiac Death)-Organspende vor Augen führt (27, 35). Leider ist zudem anzunehmen, dass die Mortalität von Personen mit Adipositas auf der Warteliste noch deutlich höher ist.

Obgleich die prognostische Bedeutung einer vor einer Nierentransplantation erreichten Gewichtsreduktion nicht eindeutig belegt ist, wird die bariatrische Chirurgie in Betracht gezogen, wenn es darum geht, terminal niereninsuffiziente Patienten auf eine Nierentransplantation vorzubereiten (27, 36). Man darf gespannt sein, welche Rolle die zunehmend effektiven und vermehrt angewendeten Anti-Adipositas-Medikamente in diesem Kontext zukünftig spielen werden.

Einfluss von gewichtsreduzierenden ­Therapien auf Nierenerkrankungen

Bei der ORG hat eine Gewichtsabnahme bereits kurzfristig einen sehr positiven Effekt. So zeigten Studien, dass es unter einer kalorienreduzierten Diät bereits nach wenigen Wochen bis Monaten zu einer deutlichen Reduktion der Proteinurie kommt (6, 37, 38). In einer dieser Studien führte eine diätetisch induzierte, durchschnittliche Gewichtsabnahme von nur 4 % nach 5 Monaten bereits zu einer durchschnittlichen Reduktion der Proteinurie um 30 %. Bei einem Gewichtsverlust von > 6–10 % zeigte sich sogar eine Reduzierung der Proteinurie um > 60–70 % des Ausgangswertes (38). Diätetische Restriktionen zur Gewichtsreduktion sind jedoch meist langfristig nicht erfolgreich, da sie nur selten dauerhaft durchgehalten werden. Zudem sind stark energiereduzierte Ernährungsformen insbesondere bei Dialysepatienten schwer umzusetzen, da darunter kaum der erhöhte Proteinbedarf gedeckt werden kann (27).
Interessant ist, dass Glucagon-like-peptide-1 (GLP-1)-Rezeptoragonisten (RA), welche seit Langem in der Therapie des Typ-2-Diabetes und zunehmend auch in der Adipositastherapie eingesetzt werden, einen antiproteinurischen Effekt bei der diabetischen Nephropathie zeigen (39). Für Menschen mit Adipositas ohne Diabetes liegen bislang noch keine entsprechenden Daten vor, sodass letztlich nicht geklärt ist, ob es sich bei der Reduktion der Proteinurie um einen inhärenten Effekt des Medikaments oder einen indirekten Effekt vermittelt durch den medikamenteninduzierten Gewichtsverlust handelt.
Bereits deutlich robuster ist die Datenlage zu den positiven Effekten der bariatrischen Chirurgie auf die Nierengesundheit. So zeigten Studien nach bariatrischen Operationen eine Verminderung der Adipositas-assoziierten Hyperfiltration (40), einer vorbestehenden Albuminurie (41) sowie des GFR-Abfalls im Zeitverlauf (42, 43).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich eine Gewichtsreduktion bei Nierenpatienten mit ORG, FSGS oder auch diabetischer Nephropathie und gleichzeitig vorliegender Adipositas positiv auf die Nierengesundheit auswirkt und dass die bariatrische Chirurgie diesbezüglich die bei Weitem effektivste und am besten erforschte Therapie darstellt.

Bei nierentransplantierten Patienten hingegen erscheint die Datenlage etwas weniger eindeutig. Zwar verbessert die ba­riatrische Chirurgie auch in dieser Situation die Nierenfunktion, jedoch scheint sie auch das Risiko für Abstossungsreaktionen zu erhöhen (44). Letzteres hängt möglicherweise mit einer verminderten Bioverfügbarkeit von Immunsuppressiva zusammen, sodass regelmässige Spiegelbestimmungen entsprechender Medikamente obligat sind.

Dipl. Ärztin Boglárka Oesch-Régeni

Nierenpraxis und Dialyse St. Gallen AG
Schuppisstrasse 10
9016 St. Gallen

dr.b.regeni@gmail.com

Prof. Dr. med. Bernd Schultes

Stoffwechselzentrum St. Gallen, friendlyDocs AG
Lerchentalstrasse 21
9016 St. Gallen

stoffwechselzentrum@friendlydocs.ch

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

Adipositas kann über eine Vielzahl verschiedener Mecha­nismen die Nierengesundheit gefährden. Daher sind regelmässige Untersuchungen zur Nierengesundheit bei Patienten mit Adipositas sinnvoll. Zudem kann das Vor­handensein einer Adipositas die Durchführung von verschieden Ersatzverfah­ren erschweren und ist zudem mit einer verminderten Chance auf eine Nierentransplantation assoziiert. Eine Gewichtsreduktion führt zu einer ­Ver­besserung der Nierengesundheit und sollte daher bei ­Nierenpatienten mit Adipositas ein wichtiges therapeutisches Ziel darstellen. Die bariatrische Chi­rurgie hat sich vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Evidenz diesbezüglich bereits etabliert. Es ist zu hoffen, dass die zukünftig zunehmend zur Verfügung stehenden Anti-Adipositas-Medikamente ebenfalls einen positiven Effekt auf die Nierengesundheit haben werden.

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Konsequenzen von Chronodisruption auf Körpergewichtsregulation und Stoffwechsel

Zusammenfassung:

Die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas hat weltweit ein dramatisches Ausmass erreicht. Parallel ist Schlafmangel ein Teil des modernen Lebensstils geworden, ebenso Schicht- und Nachtarbeit. Als Folge ist eine Chronodisruption, d. h., eine Veränderung von physiologischen Prozessen, die durch die innere Uhr gesteuert werden, fast alltäglich. Epidemiologische Daten zeigen, dass eine kurze, aber auch zu lange Schlafdauer mit einem erhöhten Risiko für Adipositas in Verbindung gebracht wird, ebenso wie Nachtschichtarbeit. Adipositas tritt häufig im Rahmen eines metabolischen Syndroms (MetS) auf, und auch hier gibt es Evidenz, dass sowohl kurzer als auch langer Schlaf das Risiko eines MetS steigern. Bislang ist nicht abschliessend geklärt, wie eine Chronodisruption dieses Risiko beeinflusst. Klinisch experimentelle Untersuchungen berichten über neuroendokrine und zirkadiane Mechanismen, und es hat sich u. a. gezeigt, dass Schlafmangel das Hunger fördernde Hormon Ghrelin sowie das subjektive Hungergefühl erhöht und den Leptinspiegel verringert. Schlafmangel steigert zudem den hedonischen Drang nach Nahrung und nahrungsbezogenen Belohnungssignalen. Durch präventive Massnahmen, sog. Schlafhygiene, kann einer Chronodisruption und so dem Risiko einer Adipositas entgegengewirkt werden. Inwieweit Smartwatches und Fitnesstracker, mit denen der Schlaf laut Herstellerangaben gemessen und analysiert werden kann, ein objektives Bild des Schlafs liefern, ist nicht ausreichend untersucht. Smartwatches und Fitnesstracker können jedoch die Aufmerksamkeit für das Thema Schlaf in der Gesellschaft erhöhen.

Einleitung

Der Nobelpreis für Medizin im Jahr 2017 wurde an Forscher verliehen, die die Funktionsweise der inneren Uhr enträtselt haben. Unsere innere Uhr ist dafür zuständig, Tag und Nacht den Biorhythmus von Lebewesen zu steuern. In unserer modernen Gesellschaft ist eine Chronodisruption, d. h., eine Veränderung von physiologischen Prozessen, die durch die innere Uhr gesteuert werden, fast alltäglich geworden. Das Themengebiet der Chronobiologie erlangte auch ausserhalb von Wissenschaft und Forschung einen grösseren Bekanntheitsgrad. Die Möglichkeit, seinen eigenen Schlaf über sogenannte Smart Watches oder Fitness­tracker zu erfassen, hat das Interesse der Gesellschaft am Schlaf-Wach-Rhythmus verstärkt.
Schlaf und Wachheit sind das Ergebnis einer zentralnervösen Integration von aktivierenden und schlafinduzierenden Signalen, welche von zirkadianen Signalen moduliert werden. Bereiche des Hypothalamus spielen in der Verarbeitung dieser zirkadianen Signale eine zentrale Rolle. Hervorzuheben hierbei ist, dass alle beteiligten Kerngebiete auch Schlüsselpositionen in der Regulation des menschlichen Energiestoffwechsels einnehmen und eine Dysregulation zu einer Gewichtszunahme führen kann. Im folgenden ­Artikel werden daher Zusammenhänge von Adipositas und Chronobiologie dargestellt sowie mögliche Ansätze für eine Prävention und Behandlung der Adipositas skizziert.

Adipositas

Die Adipositas stellt als chronische Erkrankung ein weltweites und zunehmendes gesundheitliches Problem dar. Die Prävalenz der Adipositas hat sich in insgesamt 73 Ländern verdoppelt und steigt in anderen Ländern seit 1980 stetig an (1). Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen wurde eine Zunahme von Übergewicht und Adipositas festgestellt. Die gesundheitlichen Folgekomplikationen, die aus der Adipositas resultieren, betreffen mittlerweile mehr als zwei Milliarden Menschen weltweit. Ein hoher BMI war zudem weltweit für 4,0 Millionen Todesfälle verantwortlich. Dabei waren mehr als zwei Drittel der Todesfälle im Zusammenhang mit einem hohen BMI auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückzuführen. Weitere chronische Erkrankungen wie Diabetes mellitus, chronische Nierenerkrankungen, viele Krebserkrankungen und eine Reihe von Muskel-Skelett-Erkrankungen treten bei Vorliegen einer Adipositas gehäuft auf (2).
Die Ursachen der Adipositas sind multifaktoriell. Neben einer gesteigerten Aufnahme hochkalorischer Nahrung und Mangel an körperlicher Aktivität spielt die Schlafdauer und -qualität eine entscheidende Rolle (3). Eine gute Schlafqualität sowie eine ausreichende tägliche Schlafdauer stellen jedoch eine grosse Herausforderung in unserer heutigen modernen Gesellschaft dar. Parallel zum Anstieg der Adipositasprävalenz ist in den letzten Jahren auch die Zahl der Menschen zurückgegangen, die ausreichend, das heisst 7–9 Stunden, Schlaf pro Tag erreichen. Dabei geben viele Personen an, weniger als 6 Stunden Schlaf pro Nacht zu haben (4). Insbesondere für Schichtarbeiter/-innen ist es schwierig, einen regelmässigen und ausreichende Stunden Schlaf pro Tag zu erreichen. Schichtarbeit ist mittlerweile in der heutigen Gesellschaft fest integriert und beschränkt sich nicht mehr nur auf lebenswichtige Dienstleistungen wie Gesundheit, öffentliche Sicherheit und Schwerindustrie, sondern findet auch in anderen Bereichen der Güter- und Dienstleistungsproduktion statt. Dabei haben Arbeiter/-innen im Schichtdienst ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Übergewicht und Adipositas (5).
Insgesamt verdeutlichen aber vor allem der rasche Anstieg der Prävalenz sowie die Komplikationen der Adipositas die Notwendigkeit von präventiven Massnahmen einer Gewichtszunahme (2).

Chronobiologie

Ein zirkadianer Rhythmus synchronisiert rund um die Uhr physiologische Vorgänge im Körper. Hormonelle und metabolische Parameter zeigen dabei eine mehr oder weniger ausgeprägte zirkadiane Rhythmik, die auch auf Verhaltensebene wie bei Aufmerksamkeit oder körperlicher Leistungsfähigkeit zu erkennen ist.
Schlaf und Wachheit sind das Ergebnis zentralnervöser Integration von aktivierenden und schlafinduzierenden Signalen, welche von zirkadianen Signalen moduliert werden. Dabei spielen hypothalame Kerngebiete in der Verarbeitung zirkadianer und schlafregulierender Signale eine zentrale Rolle. Auffallend ist dabei insbesondere, dass alle hierbei beteiligten Kerngebiete auch Schlüsselpositionen in der Regulation des menschlichen Energiestoffwechsels einnehmen, wie beispielsweise in der Regulation von Hunger und Sättigung.
Für die Generierung eines stabilen zirkadianen Rhythmus ist ein zentraler Schrittmacher, der Nucleus suprachiasmaticus (SCN), verantwortlich, der an der Basis des Hypothalamus lokalisiert ist. Afferenzen aus dem Tractus retinohypothalamicus, dessen Fasern aus dem Chiasma opticum zum SCN führen, ermöglichen eine stetige Synchronisierung dieser zentralen «inneren Uhr» mit regelmässig wiederkehrenden Umgebungsfaktoren, den sogenannten Zeitgebern, beispielsweise Licht. Weitere Beispiele für Zeitgeber sind die Nahrungsaufnahme oder körperliche Aktivität. Der SCN wiede­rum synchronisiert über endokrine Signale und das autonome Nervensystem die peripheren Uhren, die in nahezu allen Geweben nachweisbar sind.
Uhrengene regulieren in miteinander gekoppelten Rückkopplungsschleifen ihre eigene Transkription in einem 24-Stunden-Rhythmus. Heterodimere aus den Transkriptionsfaktoren CLOCK und BMAL1, die positiven Elemente dieser Rückkopplungsschleife, induzieren über regulatorische E-Box-Elemente die Transkription von Genen der negativen Faktoren wie Period 1 & 2 sowie Cryptochrome 1 & 2. Im Sinne eines negativen Feedbacks hemmen diese wiederum die Transkription von CLOCK und BMAL1, sodass es zu einer periodischen transkriptionellen Aktivierung und Deaktivierung im 24-Stunden-Takt kommt (6, 7).
Beim Chronotyp eines Menschen werden drei verschiedene Typen unterschieden, d. h. der Morgen-, der Abend- und der Mischtyp. Der Chronotyp bestimmt mit die Präferenz für Morgen- und Abendzeit und somit den individuellen Verlauf beispielsweise von Hormonspiegeln, Körpertemperatur, Schlaf- und Wachphasen sowie Leistungsvermögen (8, 9).

Zusammenhänge zwischen der inneren Uhr, Schlaf und einem modernen Lebensstil

Schlafmangel ist in allen Altersgruppen Teil des modernen Lebensstils geworden (10, 11). Die durchschnittliche Schlafdauer sank von 8–9 Stunden/Nacht im Jahr 1960 auf 7 Stunden/Nacht im Jahr 1995, und die Prävalenz von kurzer Schlafdauer wurde 2014 in den Vereinigten Staaten mit 45% angegeben, wobei ein Drittel der Erwachsenen in den USA weniger als 6 Stunden/Nacht schlief (12). In Deutschland gehören Schlafstörungen zu den häufigsten gesundheitlichen Beschwerden, und nach Datenerhebungen des Robert Koch- Instituts leiden 22% der 11–17-Jährigen an Schlafschwierigkeiten, während dies bei den 18–31-Jährigen fast 20% waren (9). Bei den Erwachsenen berichten ca. 25% über Schlafstörungen, und mehr als 10% erleben ihren Schlaf häufig oder dauerhaft als nicht erholsam (13).

Einfluss der inneren Uhr auf den Stoffwechsel: Kommt es zu einer Verschiebung von Phase und/oder Amplitude des zirkadianen Rhythmus wird von einer Chronodisruption gesprochen. Die Ursache kann dabei entweder in einer Störung synchronisierender Zeitgeber – z. B. Licht während der Schlafenszeit oder ein Zeitgebershift bei einer Transkontinentalreise – oder aber in einer Oszillationsstörung bzw. Störung in der Kommunikation der einzelnen Uhren liegen. Chronodisruption kann schliesslich zu pathologischen Veränderungen auf metabolischer, kardiovaskulärer, proliferativer und kognitiver Ebene führen.

Metabolische Konsequenzen von Chronodisruption

Basierend auf metaanalytischen Daten wird eine kurze Schlafdauer durchgängig mit einem erhöhten Risiko für Adipositas in Verbindung gebracht (14–16). Je kürzer die Schlafdauer, desto höher ist das Risiko für Adipositas. Laut der Metaanalyse von Itanie et al. (2007) ist das Risiko für Adipositas um 9% erhöht pro einstündiger Reduktion der Schlafdauer im Vergleich zu 7–8 Stunden Schlaf. Aber auch langer Schlaf ist mit einem erhöhten Risiko für Adipositas assoziiert, das laut einer Metaanalyse mit 13 Studien und über 300.000 Probanden bei 15% lag. Kurzer Schlaf erhöhte nach dieser Analyse das Risiko um 14% (17). Der Zusammenhang zwischen Schlafdauer und Adipositas scheint
u-förmig zu sein, was sowohl eine kurze als auch lange Schlafdauer betrifft.
Auch ein Kurzschlaf am Tag, als Powernap bezeichnet, ist Bestandteil der heutigen Gesellschaft geworden. Während ein Powernap mit verschiedenen gesundheitlichen Vorteilen in Verbindung gebracht wird, darunter einer Verbesserung der kognitiven Funktion, ist der Zusammenhang mit Übergewicht und Adipositas nicht eindeutig beschrieben. Die Ergebnisse einer Metaanalyse zeigen erste Evidenz, dass Powernapping das Risiko für Adipositas erhöht (18).
Das Vorliegen einer Adipositas tritt häufig im Rahmen eines metabolischen Syndroms (MetS) auf. Hierunter ist das Risiko für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes (T2D) sehr hoch. Auch hier gibt es Evidenz für einen Zusammenhang mit der Schlafdauer, der ebenfalls als u-förmig beschrieben werden kann, wobei kurzer und langer Schlaf das Risiko eines MetS um etwa 15% bzw. 19% erhöhten (17). Eine Metaanalyse mit insgesamt mehr als 480.000 Probanden zeigt, dass eine Schlafdauer von 7 bis 8 Stunden pro Tag mit der geringsten Prävalenz für T2D verbunden ist. Verglichen mit einer Schlafdauer von 7 Stunden pro Tag erhöhte jede einstündige Verkürzung der Schlafdauer das Risiko für T2D um 9% bei Personen, die weniger als 7 Stunden pro Tag schliefen und 14% für jeden einstündigen Anstieg der Schlafdauer bei Personen mit längerer Schlafdauer (19).
Eine zirkadiane Disruption wirkt sich negativ auf die Insulinsensitivität aus (20, 21). Insbesondere eine Unterbrechung oder Verkürzung des sogenannten Slow-wave Sleep, ein Schlafstadium, das hauptsächlich in der frühen Nachthälfte auftritt und mit Erholung verbunden ist, zeigte eine Assoziation zu einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer Insulinresistenz (22).
Eine zu kurze oder zu lange Schlafzeit ist ausserdem nicht nur mit negativen Auswirkungen auf den Metabolismus assoziiert. Eine lange Schlafdauer von mindestens neun Stunden oder mehr ist u. a. mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten von Depression, chronischem Schmerz oder obstruktiver Schlafapnoe verbunden (23).
Schichtarbeit ist ein klassisches Beispiel für Chronodisruption. Einer Metaanalyse zufolge, die 28 Studien berücksichtigt, erhöht Nachtschichtarbeit das Risiko von Übergewicht und Adipositas um 23%. In Bezug auf die Regelmässigkeit der Nachtarbeit legen die Ergebnisse nahe, dass permanente Nachtarbeiter ein um 29% höheres Risiko als rotierende Schichtarbeiter besitzen (24). Die Energieaufnahme über 24 Stunden von Schichtarbeitern und Nichtschichtarbeitern scheint jedoch nicht unterschiedlich zu sein (25). Andere Faktoren müssen demzufolge für das bei Nachtarbeitern erhöhte Risiko für Adipositas mitverantwortlich sein.
Aufgrund zahlreicher Studien liegt eine hohe Evidenz vor, dass die Chronodisruption einen Risikofaktor für Gewichtszunahme, Adipositas und auch metabolische Begleiterkrankungen ist. Bisher ist aber nicht abschliessend geklärt, wie eine Chronodisruption dieses Risiko beeinflusst (12). Zugrunde liegende Mechanismen können in klinisch experimentellen Untersuchungen unter standardisierten Bedingungen untersucht werden, und Studien berichten über verschiedene neuroendokrine und zirkadiane Mechanismen, die den Metabolismus beeinflussen. Es hat sich u. a. gezeigt, dass bereits eine einzige Nacht ohne Schlaf das Hunger fördernde Hormon Ghrelin sowie insgesamt das subjektive Hungergefühl erhöhen kann (26). Nach einer längeren Phase mit Schlafmangel (6 Nächte mit jeweils nur 4 Stunden Schlaf) zeigten sich zudem verringerte Leptinspiegel (27). Leptin ist ein Hormon, das von weissen Adipozyten produziert wird und den Appetit zügelt. Sinken die Leptinspiegel im Blut, kann es daher zu einem gesteigerten Appetit kommen (28). Die Verringerung des Leptinanstiegs ist auch quantitativ mit einem Anstieg der abendlichen Cortisolspiegel einhergegangen, was die Existenz von Wechselwirkungen zwischen der physiologischen Regulierung von Leptin und Cortisol unterstützt. Dieser negative Zusammenhang zwischen Veränderungen von Leptin und Cortisol während der Schlafbeschränkung könnte ausserdem die gut dokumentierte unterdrückende Wirkung von Leptin auf die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Aktivität widerspiegeln (27, 29). Neben den Veränderungen von Hormonkonzentrationen zeigen sich auch unterschiedlich stark ausgeprägte Aktivitäten bestimmter Gehirnregionen nach Schlafmangel. Bei gesunden Probanden mit eingeschränktem Schlaf konnte eine erhöhte Aktivität von bestimmten Gehirnarealen gesehen werden, wenn ihnen Bilder von schmackhaften und hochkalorischen Lebensmitteln im MRT gezeigt wurden. Diese bestimmten Gehirnareale wie das Putamen, der Nucleus accumbens, der Thalamus und der präfrontale Kortex sind entscheidend für die Regulierung von Hunger, Appetit und Belohnung zuständig (28, 30).
Weiterhin steigert Schlafmangel den hedonischen Drang nach Nahrung und erhöht die nahrungsbezogenen Belohnungssignale. Hinzu kommt, dass die durch Schlafeinschränkungen verursachte längere Wachheit mit einem Anstieg des Grundenergieverbrauchs und einer anschliessenden Überkompensation der Energieaufnahme einhergeht, was zu einer positiven Energiebilanz und Gewichtszunahme führt (31, 32). Passend dazu zeigte sich in einer klinisch-experimentellen Studie, dass es nach vier Nächten mit zunehmender Schlafverringerung zu einer Gewichtszunahme von 0,4 kg kommt (33). In einer weiteren Studie, bei der die teilnehmenden Probanden fünf Nächte mit verkürztem Schlaf hatten, lag die Gewichtszunahme sogar bei durchschnittlich 0,8 kg (34).
In einer klinisch-experimentellen Studie hat sich ausserdem gezeigt, dass auch der Zeitpunkt des verkürzten Schlafs eine Rolle in der Auswirkung auf den Metabolismus spielt. So waren Ghrelin, Hunger- und Appetitgefühle sowie das Verlangen nach Nahrung bei Schlafverlust in der späten Nacht (von 2.15 bis 6.45 Uhr) erhöht, nicht jedoch bei Schlafverlust in der frühen Nacht (von 22.30 bis 3 Uhr), während Leptin vom Zeitpunkt des Schlafverlusts unbeeinflusst blieb (35).
Nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität des Schlafs scheint den Glukosestoffwechsel zu beeinflussen. So führte eine selektive Unterdrückung des Tiefschlafs durch akustische Signale bereits nach drei Nächten zu einer verringerten Glukosetoleranz und Insulinsensitivität bei gesunden Probanden, dieses ohne Veränderung der absoluten Schlafdauer (36).
Ein weiteres Problem für den Stoffwechsel stellt die nächtliche Einwirkung von künstlichem Licht aus verschiedenen Lichtquellen dar. Dies kommt in unserer modernen Gesellschaft häufig vor und gilt zudem als globales Problem. Mäuse zeigten beispielsweise eine Gewichtszunahme und unregulierte Fressgewohnheiten, wenn sie vier Wochen lang hellem (150 Lux) oder schwachem Licht (5 Lux) über 24 Stunden hinweg ausgesetzt waren. Ausserdem verschlechterte sich die Glukosetoleranz im Vergleich zu denen, die im Dunkeln gehalten wurden. Die Effekte waren ausgeprägter bei den Mäusen, die hellem Licht statt schwachem Licht ausgesetzt waren (37). Auch eine Studie an gesunden Männern konnte zeigen, dass bereits leichtes und gedämpftes Licht während zwei Nächten hintereinander die Schlafarchitektur veränderte, ohne dabei Auswirkungen auf den Glukosestoffwechsel zu induzieren (38).
Nicht nur das erhöhte Risiko für die Entwicklung einer Adipositas steht mit einer veränderten Chronobiologie in Zusammenhang. Auch eine Assoziation mit einem erhöhten Risiko für einen Typ-2-Diabetes-mellitus (T2D) konnte in einigen Studien gezeigt werden. Eine verkürzte Schlafdauer von 4 Stunden/Nacht über 6 Tage führte bei gesunden Personen bereits zu einer prädiabetischen Stoffwechsellage in einem intravenösen Glukosetoleranztest (39). Eine weitere Studie konnte eine eingeschränkte Glukosetoleranz sowie eine reduzierte Insulinsensitivität nach zwei Tagen mit nur vier Stunden Schlaf messen (40). Auch der Zeitpunkt der Schlafbeschränkung spielt für den Glukosemetabolismus eine entscheidende Rolle. Es hat sich gezeigt, dass, obwohl Schlafentzug die Insulinsensitivität unabhängig vom nächtlichen Zeitpunkt verringert, der Schlafverlust am frühen Morgen die Aktivität der α-Zellen und der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse stärker als der Schlafverlust in der ersten Nachthälfte beeinträchtigt (41).
Die folgende Abbildung fasst die relevanten Faktoren der Chronodisruption, die einen Einfluss auf das Körpergewicht haben und ein Risiko für die Entwicklung einer Adipositas darstellen, zusammen (Abb. 1).

Präventive Massnahmen zur Vermeidung von Chronodisruption

Bewegung und körperliches Training: Körperliche Aktivität nimmt in der Adipositastherapie und -prävention eine wichtige Rolle ein, obwohl der energetische Beitrag nur eine geringere Bedeutung hat. Körperliche Aktivität senkt jedoch das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko. Insbesondere in Hinsicht auf eine oftmals geringe Therapieadhärenz bei Bewegung und Training ist es umso wichtiger, ein optimiertes Trainingsprogramm individuell für den Patienten zu erstellen. In Bezug auf den zirkadianen Rhythmus gibt es erste Evidenz, dass das Timing von Training, u. a. vormittags versus nachmittags, die Response beispielsweise in Bezug auf den Glukosemetabolismus beeinflusst (42). Momentan ist jedoch eine A-priori-Identifikation von Personen hinsichtlich des optimalen Trainingszeitpunktes nicht möglich. Hier bedarf es intensiver weiterer Forschungsbestrebungen, um einerseits die metabolischen Effekte von Timing von Training zu quantifizieren und um andererseits Kriterien zu entwickeln, die optimale Trainingszeit vor Therapiebeginn festlegen zu können.

Fitnesstracker zur Beurteilung von Schlaf

Gadgets wie Smartwatches und Fitnesstracker haben Funktionen, mit denen der eigene Schlaf unter den Alltagsbedingungen gemessen und analysiert werden kann. Die Daten werden dann meist in einer App oder teilweise direkt am Display des Gerätes abgelesen. Umfragen zufolge nutzen immer mehr Menschen diese Funktion. Inwieweit dies zu einem «gesünderen» Schlaf führt, ist jedoch nicht bekannt. Smartwatches können das Bewusstsein dafür schärfen, dass der Schlaf eine sehr wichtige biologische Funktion erfüllt. Eine Vielzahl der Gadgets sind allerdings noch ungenau, und weder Qualität des Schlafs noch Schlafmenge können richtig gemessen werden. Ihre Technik beruht auf Beschleunigungsmesser, Elektrokardiografie oder Temperatur, einzeln oder in Kombination. Allerdings gibt es Bestrebungen, die der Analyse zugrunde liegenden Algorithmen zu optimieren und so beispielsweise die verschiedenen Schlafstadien erfassen zu können. Aber auch aufgrund der Zeitspanne, die zwischen Experimenten im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie und der Publikation der Daten liegt, können diese Ergebnisse kaum keinen aktuellen Stand zu der Genauigkeit der Smartwatches widerspiegeln (43–46).

Polymorphismen von Uhrengenen, Adipositas und Gewichtsreduktion

Genetische Varianten (d. h. Einzelnukleotidpolymorphismen, SNPs) von Uhrengenen scheinen im Zusammenhang mit dem Risiko für Adipositas (47) und der Schlafdauer zu stehen (48, 49). Es wurden bereits über 300 SNPs von Uhrengenen in genomweiten Assoziationsstudien mit dem Chronotyp in Verbindung gebracht (50). Einen Zusammenhang zum Risiko für Adipositas scheinen beispielsweise SNPs rs3749474, rs1801260 des CLOCK-Gens zu zeigen (49). In Bezug auf eine Gewichtsabnahme im Rahmen eines Interventionsprogramms, welches auf der Mittelmeerdiät basierte, wurde diese durch den SNP des CLOCK-Gens rs1801260 zusätzlich beeinflusst. Zudem wird berichtet, dass die Personen, die als «Spätesser» charakterisiert wurden, weniger Körpergewicht abnahmen als die «Frühesser» (51). Ein Zusammenhang zwischen SNPs des CLOCK-Gens, Adipositas und der langfristigen Gewichtsreduktion sechs Jahre nach einer bariatrischen Operation wurde bei 375 Patienten mit morbider Adipositas und 230 Kontrollpersonen untersucht. Das G-Allel der rs1801260-Variante des CLOCK-Gens zeigte einen protektiven Effekt gegenüber Adipositas. Postoperativ war der Gewichtsverlust höher sowie die Gewichtszunahme geringer bei Trägern des A-Allels. Bei Personen, die homozygot für das T-Allel vom CLOCK-Gen rs3749474 waren, lag Assoziation zur Adipositas vor, und sechs Jahre nach einer bariatrischen Operation wurde ein geringer Gewichtsverlust und eine deutlich grössere Gewichtszunahme festgestellt (52).

Ausblick

Eine Optimierung oder ein Erhalt des zirkadianen Rhythmus kann zur Prävention bzw. Therapie von Adipositas beitragen. Einfache Massnahmen können zu einem «guten Schlaf» beitragen, wie adäquate Schlafdauer und adäquater Schlaf-Wach-Rhythmus, optimierte Umgebungsbedingungen wie Vermeidung von Licht und Lärm sowie die Vermeidung von ausgeprägtem Powernapping. Inwieweit ein Schlaftracking mit handelsüblichen Smartwatches eine Möglichkeit bietet, den Schlaf zu optimieren, ist derzeit noch nicht geklärt.
Therapiestrategien in der Ernährung sollten nicht nur die Kalorienaufnahme und Makronährstoffverteilung – wie klassisch üblich – berücksichtigen, sondern auch den Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme. Dies gilt auch für das körperliche Training, wobei hier noch umfangreicher Forschungsbedarf besteht.

PD Dr. med. Svenja Meyhöfer

Medizinische Klinik, Universität zu Lübeck
23562 Lübeck
Deutschland

PD Dr. Britta Wilms

Center of Brain, Behavior and Metabolism
Universität zu Lübeck
Marie Curie Strasse, Haus 66
D-23562 Lübeck

britta.wilms@uni-luebeck.de

Die Autorinnen haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Neue Entwicklungen und Innovationen in der ­Psychotherapie bei Adipositas

Zusammenfassung:

Dieser Beitrag zeigt neue Entwicklungen und Innovationen in der psychologischen Psychotherapie für Patient/-innen mit Adipositas auf. Es wird die Bedeutung einer interdisziplinären Behandlung, die neben traditionellen Ansätzen auch moderne Psychotherapieverfahren wie die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) umfasst, betont. Der aktuelle Forschungsstand legt nahe, dass die Bewertung der Wirksamkeit der Psychotherapie nicht ausschliesslich anhand von Gewichtsveränderungen erfolgen sollte, sondern auch andere Ergebnisse wie die subjektive Lebensqualität und psychische Gesundheit berücksichtigt werden sollten. Darüber hinaus wird die Rolle der Telemedizin und Blended-Psychotherapie als vielversprechende Ansätze zur Verbesserung der Zugänglichkeit und Effektivität der Behandlung hervorgehoben. Anhand eines Fallbeispiels einer 55-jährigen Frau mit Adipositas und psychischen Komorbiditäten wird die Wirksamkeit eines multimodalen psychotherapeutischen Ansatzes demonstriert.

Die Wechselwirkung zwischen ­psychischer Gesundheit und Adipositas

Adipositas wird laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgrund der Prävalenzzahlen weltweit als das grösste chronische Gesundheitsproblem betrachtet (1). In der Schweiz sind gemäss Bundesamt für Statistik 39.1 % der Männer und 22.8 % der Frauen übergewichtig, während die Zahlen für Adipositas bei 13.2 % (Männer) bzw. 11.0 % (Frauen) liegen. Vom Jahr 1992 bis 2022 hat sich in der Schweiz der Anteil an Personen mit Adipositas verdoppelt (2). Die hohen bzw. steigenden Prävalenzen stehen im Widerspruch zum Umstand, dass Adipositas als eines der am meisten vernachlässigten Gesundheitsprobleme gilt (1). Die Gründe dafür sind komplex und vielfältig, wobei häufig bislang eine gewichtsbezogene Stigmatisierung bei Patient/-innen nachgewiesen werden konnte (3). Vernachlässigt werden zudem auch die langjährigen psychosozialen Belastungen; oftmals geht Adipositas einher mit erheblichen Problemen im Selbstwertgefühl, dem Körperbild, eingeschränktem körperlichen Wohlbefinden, Schwierigkeiten in Beziehungen und im sozialen Kontakt, depressiven Verstimmungen, Ängsten, sozialer Isolation, beruflichen Herausforderungen und einer insgesamt deutlich verminderten Lebensqualität (4, 5).
Die aktuellen empirischen Befunde deuten darauf hin, dass die Beziehung zwischen Adipositas und Psychopathologie von bidirektionaler Natur ist, da Adipositas wiederholt mit einer Vielzahl neuropsychischer Dysfunktionen assoziiert wurde und gleichzeitig verschiedene Untergruppen psychiatrischer Patient/-innen nachweislich ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Adipositas aufweisen (6). Die Autoren letzterer Studie erklären beispielsweise den Pfad «Adipositas zu Psychopathologie» durch die chronisch erhöhten Entzündungswerte, endokrine Störungen und metabolische Dyshomöostase. Dadurch werden langfristig strukturelle neurodegenerative Prozesse im Gehirn beeinflusst. Die damit einhergehenden Läsionen und vor allem der deutliche Verlust neuronaler Zellen werden schliesslich mit psychischen Störungen in Zusammenhang gebracht.
Hinsichtlich des Pfades «Psychopathologie zu Adipositas» konnte in zahlreichen Studien gezeigt werden, dass psychische Komorbiditäten bei Adipositas häufig sind. Beispielsweise unterscheiden sich die Prävalenzen bei Personen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) deutlich, nämlich 27.4 % bei BMI ≥ 30 im Gegensatz zu einer Prävalenz von etwa 3 %–4 % in der allgemeinen Bevölkerung (7). Im Gegenzug haben Erwachsene und Kinder mit ADHS jeweils ein um 70 % bzw. 40 % erhöhtes Risiko, an Adipositas zu erkranken (8). In Bezug auf traumatische Ereignisse weist eine Metaanalyse darauf hin, dass bei Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung das Risiko im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um den Faktor 1.55 erhöht ist. Personen mit aversiven oder traumatischen Erfahrungen während der frühen Entwicklung (Adverse Childhood Events; ACE) weisen gemäss zweier Metaanalysen ein signifikant erhöhtes Risiko für Übergewicht und Adipositas im Erwachsenenalter auf (9, 10). Ferner konnte ein erhöhtes Risiko bei Personen mit Adipositas im Vergleich zu Personen ohne Adipositas bei den Diagnosen Nikotinabhängigkeit, schizoaffektive Störungen, bipolare Störungen, depressive Episoden, rezidivierende Depressionen, Dysthymie, Angststörungen, Somatisierungsstörungen, Essstörungen sowie Persönlichkeitsstörungen gefunden werden (4). Die Mechanismen, die von der psychischen Störung zu Adipositas führen, sind hierbei komplex und werden durch das mit der psychischen Störung assoziierten Verhalten (z.B. Impulsivität, Abhängigkeitsverhalten, Aktivitätsminderung bei Depressionen), der emotionalen Dysregulation und einer exekutiven Dysfunktion in Verbindung gebracht (11).

Die Relevanz von psychischen Faktoren hinsichtlich des Gewichtsverlaufs

Im Rahmen der psychotherapeutischen Adipositasbehandlung hat sich eine Untersuchung der Psychopathologie etabliert (12). Hierdurch können psychische Störungen identifiziert werden, die einen Einfluss auf den Behandlungsverlauf der Adipositas haben (z.B. Depression, Binge Eating Disorder, Night Eating Syndrome, Insomnie, Abhängigkeitserkrankungen). Eine Übersichtsarbeit (13) aus der bariatrischen Chirurgie zeigt, dass ein postoperativ gestörtes Essverhalten (z.B. Essanfälle oder unkontrolliertes Essen, Grazing¹, Snacking, emotionales Essen und nächtliches Essen) schlechtere Ergebnisse beim Gewichtsverlust voraussagen. Von diesen Verhaltensweisen weisen die Binge-Eating-Störung und unkontrolliertes Essen (unterhalb der Schwelle einer Binge-Eating-Störung) die meisten empirischen Belege hinsichtlich eines geringeren postoperativen Gewichtsverlustes auf.
Durch ein entsprechendes Screening können Verhaltensweisen identifiziert werden, welche die Adipositas weiter aufrechterhalten. Zudem können Personen adressiert werden, die eine erhöhte psychopathologische Vulnerabilität aufweisen und deren Leidensdruck im Verlauf der Adipositasbehandlung signifikant hoch werden kann. Aus der ba­riatrischen Chirurgie ist beispielsweise bekannt, dass selbstverletzendes Verhalten den Höhepunkt 2–3 Jahre nach der Operation erreicht, also zu dem Zeitpunkt, an dem die meisten Patienten typischerweise kein Gewicht mehr verlieren (14). Auch Suizidgedanken nehmen mit der Zeit zu (15; mittlerer Follow-up-Zeitrahmen der Studie: 7.1 Jahre).

Psychotherapeutischer Behandlungspfad bei Adipositas

Die komplexe Ätiologie von Übergewicht und Adipositas erfordert ein multidisziplinäres therapeutisches Vorgehen, das Ernährungsberatung, Anleitung zu körperlicher Aktivität, medizinische Therapien (pharmakologisch, chirurgisch) und psychologisch-psychotherapeutische Behandlung umfasst (16). Die Wichtigkeit einer interdisziplinären Vorgehensweise zeigt sich ferner anhand des Beispiels der zunehmend häufiger eingesetzten Medikamente zur Behandlung von Adipositas (GLP-1-Analoga, z.B. Liraglutid), die sich als vielversprechende Option zur Gewichtsabnahme anbieten (17). Wie die weiterhin erfolgreichste Methode hinsichtlich der Gewichtsabnahme, der bariatrischen Chirurgie (17), kann die medikamentöse Adipositastherapie durch die Gewichtsabnahme zu einer erheblichen Verbesserung der Lebensqualität und Reduktion der depressiven Symptomatik führen (18). Die Rolle der Psychotherapie liegt hierbei wie bei der bariatrischen Chirurgie in der diagnostischen Abklärung zu Beginn der Behandlung, um Menschen mit vorbestehenden psychischen Störungen zu identifizieren und gegebenenfalls Kontraindikationen festhalten zu können. Ferner unterstützt die Psychotherapie die Massnahmen der Verhaltensänderung. Wie bei der bariatrischen Chirurgie hält die Psychotherapie ferner eine zentrale Rolle bei denjenigen inne, wo Medikamente zur Behandlung von Adipositas nicht die erwünschte Wirkung erzielen, die Rückfälle erleben oder wo die Behandlung aufgrund von Nebenwirkungen oder der Versorgungssituation (z.B. Lieferengpässe) nicht weitergeführt werden kann (19). Nachfolgend werden zunächst psychotherapeutische Inhalte und deren Anwendung im Rahmen der Adipositas erläutert, worauf nachfolgend auf Technologie und das Setting eingegangen wird.

Psychotherapeutische Verfahren bei Adipositas

Die grösste Evidenz bezüglich psychotherapeutischer Interventionen bei Übergewicht und Adipositas erbringen kognitiv-verhaltenstherapeutische (KVT) Programme. Üblicherweise umfassen diese Therapiebestandteile wie Psychoedukation, Selbstbeobachtung und Verhaltensanalysen, Stimuluskontrolle, Kontrolle von Nahrungsreizen, kognitive Umstrukturierung, erlernen funktionaler Verhaltensweisen und Rückfallprophylaxe (20, 21). Ergänzend lassen sich neuere Psychotherapieverfahren einsetzen, wie die Compassion-Focused Therapy, die Mindfulness-based Cognitive Behaviour Therapy oder die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), wobei ACT die breiteste empirische Evidenz aufweist (22, 23). Bei ACT handelt es sich um einen Ansatz, der Strategien zur Klärung von Werten einsetzt, um zu identifizieren, was für die einzelne Person tiefgreifend und persönlich bedeutsam ist. Diese Werte werden dann mit Verhaltenszielen verknüpft. Das primäre Ziel ist hierbei nicht, das Gewicht zu reduzieren, sondern herauszufinden, was der einzelnen Person wichtig ist, und sie trotz bestehenden Übergewichts darin zu unterstützen, dies schrittweise und anhand von realistischen Zielen umzusetzen. Die Gewichtsabnahme kann hieraus sekundär erfolgen, wird jedoch nicht direkt angestrebt. Anders als die klassischen KVT-Programme nutzt ACT Strategien, um die Akzeptanz unerwünschter Gedanken, Gefühle und körperlicher Empfindungen (z.B. Selbstkritik, Müdigkeit, leichte Schmerzen, Stress) zu erhöhen. Dies mit dem Ziel, die Fähigkeit zur Ausübung von Verhalten (z.B. körperliche Aktivität) zu steigern, selbst wenn diese Hindernisse vorhanden sind.

Blended Care-Ansätze

Hinsichtlich des Settings der Adipositasbehandlung ist der Umstand entscheidend, dass Adipositas eine chronische Erkrankung darstellt, wobei sie von der Weltgesundheitsorganisation offiziell seit 2008 als chronische Erkrankung definiert wird (24). Vor diesem Hintergrund ist zu beachten, dass der Erfolg von Gewichtsmanagement-Programmen mit häufigeren Besuchen steigt, während Gewichtszunahme häufig insbesondere bei Personen auftritt, die keine Behandlung mehr erhalten. Daher wird ein langfristiger Behandlungskontakt mit kontinuierlichem Patientenengagement als entscheidend angesehen, um bei Patient/-innen mit Adipositas Gewichtsverlust zu erreichen und aufrechtzuerhalten (25). Durch die Verbesserung des Zugangs zur Versorgung über geografische und logistische Barrieren hinweg bietet die Telemedizin mit Blended-Care-Ansätzen eine entscheidende Möglichkeit zur Förderung der Selbstüberwachung und letztendlich zur Verbesserung des langfristigen Adipositasmanagements sowie der gesundheitsbezogenen Ergebnisse im Zusammenhang mit dem Gewicht. Blended-Psychotherapie bezieht sich hierbei auf die integrative Anwendung von persönlichen psychotherapeutischen Sitzungen und technologiebasierten Interventionen wie Onlinetherapie oder mobile Gesundheitsanwendungen, um eine flexi­blere und individualisierte psychologische Betreuung zu ermöglichen. Zudem können die zu behandelnden Personen durch Hausaufgaben, Lerninhalte und Selbstmonitoring zwischen den Sitzungen ressourceneffizient engagiert gehalten werden. Eine entsprechende Metaanalyse (26) weist auf die Überlegenheit bzw. die zusätzlichen Vorteile von mobiler Technologie hin, basierend auf einer Untergruppe von Studien, die ein «Behandlung» versus «Behandlung und technologische Unterstützung» Design verwendet haben.

Befunde zur Wirksamkeit der Psycho­therapie bezüglich der kurzfristigen vs. langfristigen Gewichtsreduktion

Die vorhandenen Forschungsarbeiten zur psychotherapeutischen Behandlung in Bezug auf Gewichtsreduktion weisen eine erhebliche Heterogenität auf, sowohl hinsichtlich der Stichprobengrösse, des Ausgangsgewichts, des Zuweisungsmodus, der Dauer, der Frequenz und des Katamnesezeitraums der Behandlung (27). Ebenso spielen die Zusammensetzung und Anzahl der Interventionen (z.B. ausschliesslich Psychotherapie gegenüber einem kombinierten multimodalen Ansatz mit Ernährungs- und Bewegungstraining) eine bedeutende Rolle hinsichtlich der Interpretation der Studienergebnisse.
Eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse zur Effektivität von KVT im Vergleich zu passiven Kontrollgruppen (28) zeigte eine mittlere signifikante Effektgrösse bezüglich der Gewichtsabnahme. In Bezug auf den Gewichtserhalt zeigte die Metaanalyse einen moderaten, signifikanten Effekt der kognitiv-behavioralen Interventionen. In allen Studien, die ausreichende Daten zur Gewichtserhaltung bereitstellten, waren die Teilnehmer in den Interventionsgruppen signifikant erfolgreicher darin, die Gewichtsabnahme im Vergleich zur Kontrollgruppe aufrechtzuerhalten.
Weitere Metaanalysen (29, 30, 31) mit einem Vergleich von KVT zu passiven Kontrollgruppen berichteten kleine bis mittlere signifikante Effektgrössen bezüglich Gewichtsverlust nach Abschluss der Behandlung. In der Untersuchung von Comsa et al. (29) zeigte sich ferner, dass KVT-Interventionen sich als effektiver erwiesen, wenn sie durch multidisziplinäre Teams und mit längeren Sitzungen durchgeführt wurden.
Hinsichtlich neuerer kognitiv-behavioraler Interventionen zeigt die Akzeptanz- und Commitment-Therapie die konsistenteste Evidenz für ihre Wirksamkeit bezüglich der Gewichtsreduktion (23). Allerdings scheint ACT nur minimale Auswirkungen auf das Körpergewicht zu haben, insbesondere im Vergleich zu herkömmlichen Verhaltenstherapien (30). Die Metaanalysen (28, 29) weisen jedoch darauf hin, dass ACT einen positiven Einfluss auf die subjektive Lebensqualität, die depressive Symptomatik, die psychologische Flexibilität, die Wahrnehmung des gewichtsbezogenes Stigmas und das Essverhalten hat.
Die Fragestellung erhält zusätzliche Komplexität, wenn hinsichtlich der Gewichtsreduktion Studien berücksichtigt werden, die Personen untersuchen, die neben der Adipositas komorbid eine psychische Störung aufweisen. Eine Übersichtsarbeit (32) macht deutlich, dass das gleichzeitige Vorliegen von Adipositas mit komorbiden Essstörungen, insbesondere der Binge-Eating-Störung, die Aufmerksamkeit von Gesundheitsfachkräften erfordert. Gesundheitsfachkräfte, die auf die Behandlung von Adipositas spezialisiert sind und ein gestörtes Essverhalten nicht ansprechen, werden gemäss den Autoren mit erhöhter Wahrscheinlichkeit langfristig erfolglose Gewichtsreduktionsverläufe aufgrund fortgesetztem Binge-Eating beobachten. Eine kürzlich publizierte Studie (33) fasst einleitend die aktuelle Studienlage zusammen, die aufzeigt, dass die psychische Belastung, z.B. in Form von Depressionen oder Angsterkrankungen, mit der Gewichtskontrolle zusammenhängt. Die Ergebnisse der Studie stimmen damit überein und zeigen, dass psychische Belastungen moderat mit Massnahmen zur Gewichtskontrolle und stark mit Essverhalten assoziiert sind.

Ein Fallbeispiel aus der ­psychotherapeutischen Praxis

Frau H., 55 Jahre, somatische Diagnose Adipositas nicht näher bezeichnet (F66.99) mit einem BMI von 36 (Grad 2), berichtet ihrem Hausarzt von anhaltenden Schwierigkeiten, mit langfristiger Ernährungsberatung und kurzzeitiger medikamentöser GLP-1-Behandlung ihr Gewicht reduzieren zu können. Ihre Situation wird durch emotionales Essen und Night Eating Syndrome verschärft, was zu der Entscheidung des Hausarztes führt, parallel zur bereits laufenden Ernährungsberatung eine ambulante Psychotherapie zu verordnen.
Im therapeutischen Erstgespräch werden neben den bekannten Essstörungen auch Anzeichen einer leichten bis mittelgradigen depressiven Episode identifiziert. Die Therapie zielt darauf ab, die Selbstwahrnehmung der Patientin zu verbessern und das Verhalten positiv zu beeinflussen, insbesondere im Hinblick auf ihre hohe Leistungsorientierung und ihren Perfektionismus im Berufsleben, die als Stressfaktoren und Auslöser für ihr gestörtes Essverhalten identifiziert werden.
Die Behandlung umfasst kognitive Verhaltenstherapie (KVT) zur Bearbeitung dysfunktionaler Gedanken und Einstellungen, Entspannungstechniken und Achtsamkeitsübungen zur Stressbewältigung sowie schematherapeutische Interventionen, um tiefere emotionale Muster und Bedürfnisse anzusprechen. Dabei werden imaginative Techniken genutzt, um Frau H. zu helfen, sich mit prägenden Erinnerungen, u.a. aus der Kindheit, auseinanderzusetzen und ihre Selbstwahrnehmung positiv zu verändern.
Aufgrund räumlicher und mobilitätsbedingter Einschränkungen sowie beruflicher Verpflichtungen von Frau H. werden die Therapiesitzungen in einem Hybridmodell aus Präsenz- und Videoterminen durchgeführt. Ein App-basiertes System unterstützt die Therapie zwischen den Sitzungen durch regelmässige Push-Nachrichten, was die Verbindlichkeit und das Engagement der Patientin erhöht.
Im Verlauf zeigt Frau H. signifikante Verbesserungen in ihrem Essverhalten und eine Reduktion der depressiven Symptomatik. Sie berichtet über eine bessere Stressbewältigung ohne Rückgriff auf dysfunktionales Essverhalten und ein gesteigertes Selbstwertgefühl, was sich positiv auf ihre Lebensqualität und berufliche Zufriedenheit auswirkt. Die Verbesserungen ermöglichten es ihr, sich besser im Arbeitsumfeld abzugrenzen und mehr Raum für Selbstfürsorge zu schaffen. Letztendlich entscheidet sich Frau H. aufgrund anhaltender Gewichtsschwankungen, trotz leichter Entspannung der Gewichtskurve, für eine bariatrische Operation – eine Entscheidung, die sie zuvor mit grosser Ambivalenz und Sorge betrachtet hatte. Die Psychotherapie begleitet auch diesen Prozess niederfrequent mit, um längerfristige Verhaltensveränderungen nach dem operativen Eingriff zu unterstützen.
Der therapeutische Prozess hilft der Patientin, den Fokus von der Gewichtsabnahme auf die Verbesserung der Lebensqualität zu verlagern, was von dieser als wesentlicher Schritt in ihrer Behandlung zur Verbesserung ihres Wohlbefindens beurteilt wird.

Dr. phil. Niclà Lozza

Oviva AG
Zürcherstrasse 64
8852 Altendorf

nicla.lozza@psychologie.ch

Matthias Baumann

Oviva AG
Zürcherstrasse 64
8852 Altendorf

Dr. phil. Suzana Stojiljkovic

Oviva AG
Zürcherstrasse 64
8852 Altendorf

suzana.stojiljkovic@oviva.com

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Medizinische Interventionen zur Adipositastherapie

Zusammenfassung

Adipositas ist eine chronische Erkrankung, welche durch eine erhöhte Körperfettmasse und gestörte Fettgewebsfunktion charakterisiert ist und deren Pathogenese auf einer neurobiologischen Regulationsstörung der Energiehomöostase basiert. Primäres Ziel der medizinischen Adipositastherapie ist es, die pathologisch erhöhte Körperfettmasse zu reduzieren und dadurch Folgeerkrankungen zu verhindern und Komorbiditäten zu verbessern. In diesem Sinn stellt die bariatrisch-metabolische Chirurgie derzeit die effektivste Adipositastherapie dar. Neue Medikamente, welche im Wesentlichen auf einem GLP-1-Rezeptoragonismus basieren, erlauben mittlerweile auch eine immer wirksamere pharmakologische Therapie. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass sowohl die bariatrisch-metabolische Chirurgie als auch die pharmakologische Adipositastherapie direkte Effekte auf die zentralnervöse Regulation der Energiehomöostase sowie insbesondere von Hunger und Appetit ausüben und damit pathogenetisch kausale Therapien darstellen. In unserer Übersicht beleuchten wir die genannten medizinischen Interventionen zur Adipositastherapie und stellen sie in den Kontext eines pathogenetischen Krankheitskonzepts.

Einleitung

Adipositas ist eine chronische Erkrankung, welche pathogenetisch auf einer neurobiologischen Regulationsstörung basiert. Die Morbidität der Erkrankung definiert sich einerseits durch das Ausmass der Fettgewebsdysfunktion, anderseits durch die ausgeprägte soziale Stigmatisierung der Erkrankung und der Betroffenen. Während sich die Gesundheitssysteme meist auf die Behandlung der Begleit- und Folgeerkrankungen der Adipositas fokussieren, adressiert die eigentliche medizinische Adipositastherapie die zugrunde liegende Pathophysiologie der Erkrankung, indem sie zentralnervöse Regulationsprozesse der Energiehomöostase und insbesondere das Hunger- und Appetitempfinden beeinflusst. Dabei hat sich die bariatrisch-metabolische Chirurgie mittlerweile als effektivste Therapie der Adipositas etabliert, da sie unter anderem die Morbidität und Mortalität der Erkrankung langfristig massiv reduziert. Zudem gewinnen neue pharmakologische Therapien, welche aktuell im Wesentlichen auf eine Verstärkung des physiologischen Glucagon-like-Peptid-1-(GLP-1-) Signals basieren, als zusätzliche therapeutische Option der Adipositastherapie an Bedeutung. In unserem Artikel geben wir eine praxisorientierte Übersicht über die medizinischen Interventionen (pharmakologisch/chirurgisch) zur Behandlung der Adipositas und stellen sie in den Kontext der Pathogenese der Erkrankung.

Der Mythos, der einer effektiven ­Adipositastherapie im Wege steht

Obgleich wissenschaftlich seit Langem widerlegt, hält sich hartnäckig der weitverbreitete Mythos, dass das Köpergewicht und die damit verbundene Körperfettmasse einer willentlichen Kontrolle unterliegt. Dabei sind sich die Fachleute und Spezialist/-innen mittlerweile einig, dass das hyperphagische Essverhalten der betroffenen Patient/-innen nicht Ursache, sondern vielmehr das Leitsymptom der Adipositaserkrankung darstellt. Vereinfacht kann man also sagen, dass die betroffenen Patient/-innen nicht übergewichtig sind, weil sie zu viel essen, sondern sie essen zu viel, weil sie an Adipositas erkrankt sind. Folgerichtig haben sich kognitive Therapieansätze, wie beispielsweise Ernährungsberatung, Verhaltens- und Psychotherapie sowie Bewegungs- und Trainingstherapien, zwar als potenziell hilfreich in der Behandlung von Menschen mit Adipositas erwiesen, jedoch sind sie meist nicht effektiv genug, um die pathologisch erhöhte Fettmasse, also das krankheitsdefinierende Charakteristikum, dauerhaft zu reduzieren. Entsprechend sind diese klassischen Therapieansätze bestenfalls als supportiv und komplementär, jedoch nicht als alleinstehende Behandlung der Erkrankung anzusehen. Deshalb dürfen sie keine Hürde darstellen, die den Einsatz effektiverer und pathogenetisch kausaler Therapieansätze verhindert. Mit anderen Worten, ihr Einsatz respektive die Inanspruchnahme entsprechender Therapieangebote durch betroffene Personen darf keine Grundvoraussetzung für den Einsatz von evidenzbasierten, medizinischen Interventionen zur effektiven Behandlung der Erkrankung darstellen. Bei vielen anderen chronischen Erkrankungen, wie beispielsweise Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, koronare Herzkrankheit oder chronisch obstruktive Lungenerkrankung, wissen wir ebenfalls, dass behaviorale Therapieansätze positive Effekte auf den Krankheitsverlauf haben können, würden jedoch niemals auf die Idee kommen, betroffenen Personen bei unzureichendem Nutzen dieser Möglichkeiten eine Therapie mit wissenschaftlich nachgewiesener Effektivität vorzuenthalten. Genau dies ist jedoch im Fall der Adipositasbehandlung leider immer noch medizinischer Alltag.

Adipositas – eine zentralnervöse ­Regulationsstörung

Menschen mit Adipositas leiden unter einer zentralner­vösen Regulationsstörung der Energiehomöostase, insbesondere der Steuerung des Hunger- und Appetitempfindens. Dabei spielt eine unzureichende Wirkung neuroendokriner Feedbacksignale aus der Peripherie, wie beispielsweise Leptin und Insulin, im Sinne einer zentralnervösen Leptin-/Insulin-Resistenz eine bedeutende Rolle. Daraus resultierend ergibt sich bei Menschen mit Adipositas im Vergleich zu Nichtbetroffenen gemäss dem «Behavioral Balance Model» (1) ein physiologisch erhöhter «bottom-up»-Antrieb zur Gewichtzunahme (Abb. 1).


Um einen progredienten Gewichtsanstieg zu verhindern, müssen Menschen mit Adipositas daher also einen deutlich erhöhten kognitiven («top-down») «Aufwand» betreiben, um ihre Ernährung sowie ihr Bewegungsverhalten willentlich zu kontrollieren. Leider erhöht sich bei einer solchen forcierten Gewichtsreduktion durch Restriktion der Energiezufuhr («Diät») der «bottom-up»-Antrieb im Sinne einer neuroendokrinen Gegenregulation immer mehr, sodass der kognitive Aufwand irgendwann nicht mehr ausreicht, um einen Wiederanstieg des Gewichts zu verhindern. Während behaviorale Therapieansätze auf eine Stärkung der kognitiven Kontrolle abzielen, ist es das Ziel sowohl einer pharmakologischen als auch chirurgischen Adipositastherapie, den pathologisch gesteigerten «bottom-up»-Antrieb dauerhaft zu reduzieren (Abb. 2).

Pharmakotherapie und bariatrische ­Chirurgie wirken entlastend

Modelhaft kann man als pathophysiologisches Grundkonzept bei der Adipositas auch von einem nach oben verschobenen Set-Point des Körpergewichts ausgehen. Wie Abbildung 3 illustriert, gelingt es den betroffenen Personen zwar oft durch willentliche Anstrengungen, ihr Körpergewicht und damit ihre Körperfettmasse vorübergehend zu reduzieren, jedoch zieht der nach oben verschobene Set-Point wie eine aufgespreizte Spiralfeder das Körpergewicht wieder nach oben zurück.


Pharmakologische Interventionen sowie auch bariatrisch-metabolische Operationen können dabei helfen, das Gewicht auf reduziertem Niveau zu halten und dadurch betroffene Personen kognitiv zu entlasten. In der Praxis berichten viele der medikamentös und chirurgisch behandelten Patient/-innen, sich durch die Therapie von dem Zwang, permanent ihr Essverhalten unter Kontrolle halten zu müssen, befreit zu fühlen. Die Patient/-innen erlangen also durch die Therapie die Kontrolle über etwas zurück, über das sie zwischenzeitlich die Kontrolle verloren haben: das Essverhalten sowie das Hunger- und Appetitempfinden. Vor dem Hintergrund der bereits zuvor erwähnten Tatsache, dass das verstärkte Hungergefühl als Leitsymptom und nicht als Ursache der Erkrankung angesehen werden muss, kann man also konstatieren, dass es sich bei den pharmakologischen und chirurgischen Behandlungen um kausale Therapieansätze handelt. Dies geht meist mit einer erheblichen Steigerung der Lebensqualität einher. Wird dann jedoch die Pharmakotherapie beispielsweise aufgrund einer fehlenden Finanzierung beendet, so wird das Gewicht wieder «nach oben» gezogen, was nicht selten mit Versagensgefühlen seitens betroffener Personen und grosser Frustration einhergeht. Da bislang eine langfristige Finanzierung von medikamentösen Therapien der Adipositas durch die obligatorische Krankenversicherung aufgrund des, oben als Mythos bezeichneten, Fehlkonzepts der Adipositaserkrankung nicht gegeben ist, sollte diese langfristige Perspektive bei der Therapieplanung immer berücksichtigt werden. Die bariatrische Chirurgie bietet hier klar den Vorteil, dass durch eine einmalige Intervention ein langfristiger Effekt auf die chronische Erkrankung ausgeübt wird und somit nicht von einer dauerhaften Finanzierung abhängig ist.

Aktuelle Pharmakotherapie der ­Adipositas

Über die letzten Jahrzehnte hinweg erschien eine ganze Reihe verschiedener Medikamente zur Behandlung der Adipositas auf dem Markt (2, 3). Da sich aber bei einer Vielzahl dieser Medikamente bei breiter Anwendung eine hohe Rate an unerwünschten Nebenwirkungen zeigte, die das Risiko-Nutzen-Verhältnis infrage stellten, verschwanden viele dieser Medikamente ebenso schnell, wie sie gekommen waren. Daher ist es umso erfreulicher, dass nun zunehmend Medikamente entwickelt wurden und werden, welche nicht nur deutlich effektiver sind als alle Medikamente, die uns bisher zur Behandlung der Adipositas zur Verfügung standen, sondern darüber hinaus auch ein besseres Nutzen-Risiko-Verhältnis aufzuweisen scheinen. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um Substanzen, die als Agonisten am GLP-1-Rezeptor eine agonistische Wirkung entfalten. Diese Substanzgruppe kennen wir mittlerweile bereits seit bald zwei Jahrzehnten in der Therapie des Typ-2-Diabetes-mellitus (T2DM).
Für die Adipositastherapie sind in der Schweiz aktuell zwei GLP-1-Rezeptoragonisten (RA) zugelassen. Unter dem Namen Saxenda® ist Liraglutid bereits seit einigen Jahren im Einsatz. Liraglutid wird seit Beginn 2024 zunehmend durch Semaglutid (Handelsname: Wegovy®) ersetzt, welches einerseits wirksamer ist, anderseits im Gegensatz zu Liraglutid nicht täglich, sondern nur einmal wöchentlich s.c. appliziert wird. Unter Erfüllung der in der Spezialitätenliste des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) definierten Limitatio werden beide Medikamente von den Krankenkassen aktuell über maximal 3 Jahre finanziert. Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Chronizität der Adipositaserkrankung macht die zeitliche Limitation der Kostenübernahme medizinisch betrachtet keinen Sinn.
Eine dritte, in vielen Ländern bereits für die Adipositas-therapie zugelassene Substanz ist Tirzepatid (Handelsname: Mounjaro®), welche sowohl agonistisch am GLP-1-Rezeptor als auch am Rezeptor des glukoseabhängigen insulinotropen Polypeptids (GIP) wirkt.
Haupteffekt der genannten Medikamente ist eine Verminderung des Appetits sowie eine frühzeitige Sättigung nach Nahrungsaufnahme (4–7). Experimentelle Untersuchungen konnten zeigen, dass durch die Gabe von GLP-1- RA die Verarbeitung von visuellen Reizen im Gehirn, die unter normalen Bedingungen zur Nahrungsaufnahme anregen, deutlich unterdrückt wird (8). Dies erleichtert es betroffenen Personen, Kontrolle über ihr Essverhalten auszuüben, um eine Restriktion der Energiezufuhr zu erreichen und dadurch ihr Gewicht und ihre Körperfettmasse zu reduzieren.
Hinsichtlich ihres gewichtsreduzierenden Effektes zeigen die genannten Medikamente eine klare Dosis-Wirkung-Beziehung (9, 10). Gleiches gilt in der Regel auch für das Auftreten typischer Nebenwirkungen, insbesondere gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö oder auch Obstipation. Da solche Beschwerden insbesondere zu Beginn der Behandlung auftreten, werden die genannten Medikamente durch eine schrittweise Dosissteigerung eingeschlichen. Man muss jedoch damit rechnen, dass etwa 5 % der behandelten Patient/-innen die Medikation aufgrund von Nebenwirkungen nicht vertragen und die Therapie daher abgebrochen werden muss. Als ernsthafte Komplikationen sind zudem das gehäufte Auftreten von Gallenblasensteinen und Pankreatitiden zu erwähnen.
Gemäss den Zulassungsstudien der genannten Medikamente erreicht man unter Liraglutid eine durchschnittliche Gewichtsreduktion von etwa 8 % im Vergleich zum Ausgangsgewicht, unter Semaglutid von etwa 15 % sowie unter Tirzepatid von etwa 21 % (11–13). Ist der gewichtsreduzierende Effekt ausgeschöpft, so dient die fortgeführte Medikation dem Ziel, das Gewicht und damit auch die Fettmasse auf dem reduzierten Niveau zu halten. Stoppt man die Medikation, so kommt es zeitnah zu einem graduellen Wiederanstieg des Körpergewichts, wie in einigen Studien eindrücklich gezeigt werden konnte (Abb. 4) (14–16).
Die Pharmakotherapie der Adipositas unterscheidet sich somit prinzipiell nicht von anderen medikamentösen Behandlungen, wie beispielsweise der pharmakologischen antihypertensiven oder Cholesterin senkenden Therapie, bei der man ebenfalls von einem Wiederanstieg der adressierten Variablen ausgehen kann, sobald die Therapie beendet wird.


Dass eine pharmakologische Adipositastherapie nicht nur das Körpergewicht und die Körperfettmasse reduziert, sondern darüber hinaus auch das Risiko von Komplikationen der Adipositas senkt, wurde erstmalig in der SELECT-Studie gezeigt (17). In dieser Studie wurden 17 604 Personen mit einen BMI von mindestens 27 kg/m2 und vorbestehender kardiovaskulärer Erkrankung (stattgehabter Herzinfarkt, stattgehabter Schlaganfall oder periphere arterielle Verschlusskrankheit) eingeschlossen und entweder mit Placebo oder 2.4 mg Semaglutid 1 x pro Woche s.c. ­behandelt. Als Ergebnis zeigte sich, dass nach einer mittleren Behandlungsdauer von etwa 34 Monaten das Auftreten des zusammengesetzten primären Endpunkts (kardiovaskulärer Tod, nicht tödlicher Myokardinfarkt, nicht tödlicher Schlaganfall) durch die Behandlung mit Sema­glutid gegenüber der Placebobehandlung um 20 % reduziert wurde (Placebo vs. Semaglutid: 8 % vs. 6.5 %, hazard ratio, 0.80; 95 % Konfidenzintervall, 0.72–0.90; P< 0.001). Die absolute Risikoreduktion betrug somit 1.5 %; die number-needed-to-treat über 34 Monate betrug 67.

Bariatrisch-metabolische Chirurgie

Die bariatrisch-metabolische Chirurgie hat sich in den letzten 30 Jahren weltweit als Standardtherapie der ausgeprägten Adipositas etabliert. Bei gegebener Indikation ist sie in der Schweiz als Pflichtleistung in der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KVL) verankert. Die wesentlichen Indikationskriterien zur Durchführung einer bariatrisch-metabolischen Operation sind in Tabelle 1 zusammengefasst.


Obgleich es mittlerweile eine Vielzahl an unterschiedlichen Operationsverfahren gibt, gelten heute in der Schweiz der Roux-en-Y-Magenbypass (Roux-en-Y gastric bypass, RYGB) sowie die Schlauchmagenresektion (Sleeve-Gas­trektomie) als Standardverfahren, welche auch weltweit am meisten angewendet werden. Wichtig ist dabei zu verstehen, dass beide Operationen zu einer veränderten ­Ausschüttung von gastrointestinalen Hormonen, wie unter anderen GLP-1, führen (18) und dadurch einen starken Hunger und Appetit vermindernden Einfluss auf die zentralnervösen Regulationszentren ausüben (19). So konnten beispielsweise Neuroimaging-Studien zeigen, dass sich die zentralnervöse Verarbeitung von stimulierenden Nahrungsreizen nach bariatrisch-metabolischen Operationen deutlich verändert (20, 21). Die Effekte der Operationen basierten somit weniger auf den durch sie etablierten anatomisch/mechanischen Veränderungen, sondern auf ihrem Einfluss auf die zentralnervösen Regulationszentren, was somit einen kausalen Therapieansatz darstellt – anlog zur medikamentösen Therapie, wie bereits oben ausgeführt.
Das Grundprinzip des RYGB basiert auf der Trennung von Nahrungsbrei und Verdauungssäften im oberen Gastrointestinaltrakt. Dazu wird eine kleine Magentasche direkt unterhalb des ösophagogastralen Übergangs vom restlichen Magen abgetrennt (Abb. 5).


Der ausgeschaltete Restmagen verbleibt in situ. Das Jejunum wird anschliessend etwa 50–70 cm aboral der Flexura duodenojejunalis (Treitz-Flexur) durchtrennt und als sog. alimentärer Schenkel mit der Magentasche anastomosiert (sog. Gastrojejunostomie). Anschliessend wird der proximale Abschnitt des Jejunums, in dem die Verdauungssäfte ohne Kontakt zum Nahrungsbrei transportiert werden (sog. biliopankreatischer Schenkel), ca. 150 cm aboral der Gastrojejunostomie Seit-zu-Seit mit dem alimentären Schenkel des Jejunums verbunden. Erwähnenswert ist, dass diese Art der Operation durch einen erneuten chirurgischen Eingriff wieder umgekehrt werden kann und somit reversibel ist, was jedoch nur in sehr seltenen Fällen nötig ist.
Bei der Schlauchmagenresektion (Sleeve-Gastrektomie) werden ca. 90 % des Magenvolumens grosskurvaturseitig entfernt, sodass nur noch ein schlauchförmiger Restmagen mit ca. 80–100 ml Fassungsvolumen verbleibt (Abbildung 5 rechts). Die anatomische Nahrungspassage und die Verdauungssekrete werden durch diese Operation nicht verändert. Dieser Eingriff ist im Vergleich zum laparoskopischen RYGB technisch einfacher, was wesentlich zu seiner dominanten Verbreitung weltweit beigetragen hat.
Beide Operationsverfahren, Schlauchmagen und RYGB, zeigen bezüglich dauerhafter Gewichtsreduktion (langfristig etwa 25–30 %) sowie auch Verbesserung vieler Adipositas-assoziierter Komorbiditäten vergleichbare Ergebnisse (22, 23). Auch hinsichtlich Komplikations- und Sterblichkeitsrate bestehen keine gravierenden Unterschiede zwischen den beiden Verfahren (24) . Bei präoperativ vorhandener gastroösophagealer Refluxerkrankung (GERD) bietet die RYGB-Operation jedoch deutliche Vorteile (25), da sie das Problem meist behebt, während der Schlauchmagen sogar das Neuauftreten von GERD fördert und mit einem erhöhten Risiko des Entstehens von Barrett-Metaplasien einherzugehen scheint (26). Auch hinsichtlich der Behandlung des Typ-2-Diabetes-mellitus scheint der RYGB etwas effektiver zu sein (27). Im Gegensatz zum RYGB führt die Schlauchmagenresektion nicht zu einer Umgehung des Duodenums sowie des proximalen Jejunums, sodass die Mikronährstoffaufnahme weniger beeinträchtigt wird. Entsprechend ist nach einer Schlauchmagenresektion eine weniger systematische Supplementation (insbesondere von Calcium) als nach einem RYGB notwendig. Zudem treten postprandiale Hypoglykämien im Sinne eines Spätdumping-Syndroms weitaus seltener nach einer Schlauchmagenresektion als nach der RYGB-Operation auf.
Generell kann die bariatrisch-metabolische Chirurgie heute als sicher angesehen werden. So liegt die Rate von schwerwiegenden Komplikationen (z.B. revisionspflichtige Nachblutungen, Klammernahtleckagen oder Anastomoseninsuffizienzen) bei etwa 1–3 %. Aufgrund eines postoperativen Problems (Wundinfekt, Thrombose, Lungenembolie, Darmpassageproblematik etc.) werden etwa 3–4 % der operierten Patient/-innen innerhalb von 30 Tagen erneut hospitalisiert, die 30-Tage-Mortalität beträgt 0.05–0.2 % (28).
Wie bei allen chronischen Erkrankungen ist auch bei Menschen mit Adipositas, welche sich einer bariatrisch-metabolischen Operation unterzogen haben, eine dauerhafte medizinische Betreuung notwendig. Hierbei geht es beispielsweise darum, der Entstehung von Mikronährstoffmängeln durch eine systematische Supplementation sowie entsprechende Laborkontrollen entgegenzuwirken. Andere Probleme, welche im postoperativen Verlauf auftreten können, sind beispielsweise die Entstehung von inneren Hernien, das Auftreten eines erhöhten Alkoholkonsums sowie evtl. eine erhöhte Suizidalität und damit verbunden psychischen Problemen (29).
Trotz des potenziellen Auftretens schwerwiegender Komplikationen überwiegen in der breiten Anwendung die positiven Effekte der bariatrisch-metabolischen Chirurgie ihre potenziellen Risiken deutlich. So konnte in vielen Studien klar gezeigt werden, dass die Funktionstüchtigkeit verschiedener Organsysteme wie Herz, Niere, Leber, Lunge sowie Gehirn nach einer bariatrisch-metabolischen Operation länger erhalten bleibt oder sich sogar verbessert (30–35). Zudem konnte auch eine Reduktion der Inzidenz von Adipositas-assoziierten Krebserkrankungen um 32 % sowie eine Reduktion der Krebs-assoziierten Mortalität um 48 % nach bariatrisch-metabolischen Operationen nachgewiesen werden (36). Eindrücklich sind auch die Ergebnisse einer Registerstudie (37), welche eine Verlängerung der Lebenserwartung von Menschen mit Adipositas durch bariatrisch-metabolische Operationen um durchschnittlich 6.1 Jahre fand. Bei Personen, welche zusätzlich präoperativ einen T2DM aufwiesen, betrug die errechnete Verlängerung der Lebenserwartung sogar 9.3 Jahre.

Prof. Dr. med. Bernd Schultes

Stoffwechselzentrum St. Gallen, friendlyDocs AG
Lerchentalstrasse 21
9016 St. Gallen

stoffwechselzentrum@friendlydocs.ch

Dr. rer. hum. biol. Barbara Ernst

Centre du métabolisme de Saint-Gall
friendlyDocs AG
Lerchentalstrasse 21
9016 St. Gallen

stoffwechselzentrum@friendlydocs.ch

Prof. Dr. med. Dr. phil. Marco Bueter

Universitätsspital Zürich, Klinik für Viszeralchirurgie,
& Spital Männedorf AG, Klinik Chirurgie

m.bueter@spitalmaennedorf.ch

Prof. Dr. med. Bernd Schultes gibt an, Vortragstätigkeiten für die Firmen Novo Nordisk, Elli Lilly, Johnson & Johnson, Böhringer-Ingelheim durchzuführen sowie an advisory boards dieser Firmen teilzunehmen. Diese Firmen produzieren und/oder erforschen u.a. Arzneimittel und Medizinprodukte zur Behandlung von Adipositas. Zudem war er als Investigator an klinischen Studien der Firma Novo Nordisk beteiligt.

Dr. rer. hum. biol. Barbara Ernst gibt an, als Studienkoordinatorin an klinischen Studien der Firma Novo Nordisk beteiligt gewesen zu sein.

Prof. Dr. med. Marco Bueter gibt an, Vortragstätigkeiten für die Firmen Johnson & Johnson und Medtronic durchzuführen.

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CARE-(CArdiovasculaR prEvention) Score – ein Instrument zur Erfassung der Versorgungsqualität von kardiovaskulären Risikopatient/-innen in der Hausarztpraxis

Einleitung

Ungeachtet enormer Fortschritte in der Prävention und Therapie kardiovaskulärer Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten sind kardiovaskuläre Erkrankungen in Europa gemäss Angaben der World Health Organization (WHO) und der Krankheitsstatistik der europäischen Gesellschaft für Kardiologie (European Society of Cardiology, ESC) mit bis zu 3.9 Millionen Todesfällen für circa 45 % aller Todesfälle verantwortlich (1, 2).

In der Schweiz liegt der relative Anteil kardiovaskulärer Erkrankungen an allen Todesfällen etwas tiefer, so sind gemäss dem schweizerischen Gesundheitsobservatorium (OBSAN) 20.463 entsprechende Todesfälle im Jahre 2022 oder 27.5 % aller Todesursachen kardiovaskulärer Natur (3). Damit sind auch in der Schweiz kardiovaskuläre Erkrankungen die häufigste Todesursache. Eine Gesellschaft wie die unsere mit einem höheren Anteil älterer Menschen geht naturgemäss mit einer höheren Prävalenz an kardiovaskulären Erkrankungen einher, da das Lebensalter ein wesentlicher Risikofaktor für deren Entwicklung darstellt. Dennoch gibt es zahlreiche Studien, die zeigen, dass das Potenzial in der Primär- und vor allem auch der Sekundärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen nur unzureichend ausgeschöpft wird.

Dabei ist die den therapeutischen Interventionsmöglichkeiten zugrunde legende Evidenz überwältigend, so ist klar belegt, dass es einen linearen Zusammenhang zwischen dem LDL-Cholesterinspiegel im Blut und dem Risiko, ein kardiovaskuläres Ereignis zu erleiden, gibt, wie Mendelsche Randomisierungsstudien durch die Simulation einer lebenslangen Exposition eindrucksvoll belegen (4). Andererseits zeigte eine Schweizer Studie, die 4.349 Patienten und Patientinnen nach einem erlittenen Myokardinfarkt verfolgte, dass gerade einmal 6.9 % der Patientinnen die in den Leitlinien empfohlenen drei wichtigsten sekundärpräventiven Medikamente nach einem Jahr erhielten. Allein die Statintherapie ging in der Studie mit einer Risikoreduktion von fast 50 % (OR: 0.59 (0.45–0.77, 95 % CI)) für Mortalität und 0.54 (0.43–0.68) für MACE (major cardiovascular events) einher und zeigte damit den stärksten sekundärpräventiven Effekt aller Medikamente, noch vor der dualen Plättchenhemmung (5).

Analoges gilt für den Blutdruck: Eine aktuelle Analyse, die Blutdruckwerte aus dem National Health and Nutrition Examination Survey über einen Zeitraum von 19 Jahren (1999–2018) anhand von 53.289 Menschen analysierte, zeigte erneut den J-förmigen Zusammenhang zwischen Blutdruck und kardiovaskulärer Mortalität und belegte erneut eindrucksvoll, dass das niedrigste Risiko bei einem Druck von unter 120 mmHg systolisch respektive 80 mmHg diastolisch vorliegt (6). Im hausärztlichen Alltag erscheint es oft schwierig, Patienten und Patientinnen, die jahrzehntelang an – wenn auch oft nur leicht – hypertensive Werte gewöhnt sind, auf diese Blutdruckwerte einzustellen. Die Evidenz zeigt aber klar, dass auch eine grenzwertige Hypertonie frühzeitig behandelt werden sollte, wie dies den Blutdruckzielwerten der ESC und insbesondere den noch strengeren Zielwerten der American Heart Association/American College of Cardiology entspricht. Dennoch zeigen Studien, dass nur ein geringer Teil der Patient/-innen diese Zielwerte erreicht. Positiv zu vermerken ist, dass sich in den letzten 10 Jahren in der Schweiz die Blutdruckkontrolle verbessert hat, so wiesen gemäss der europäischen EURIKA-Studie 2010 nur 37.4 % der Patient/-innen einen Blutdruck im empfohlenen Zielbereich auf, während in einer aktuellen Arbeit mit Daten von 80.759 Patient/-innen 44.9 % Blutdruckwerte im Zielbereich der ESC-Guidelines aufwiesen (7). Allerdings bedeuten die aktuellen Ergebnisse immer noch, dass über 50 % die Zielwerte nicht erreichen.

Analog zur Therapie kardiovaskulärer Risikofaktoren zeigte vor Jahren eine Studie mit Daten des Krankenversicherers Helsana eine unzureichende Umsetzung von Leitlinienempfehlungen bei Diabetikern (8). Diese Ergebnisse veranlasste die Schweizer Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie, evidenzbasierte Kriterien einer Diabetikerversorgung im sogenannten «SGED Score» zusammenzufassen (9). Der Begriff «Score» bezieht sich dabei nicht – wie sonst im medizinischen Kontext meist üblich – auf ein Risiko, sondern der Score-Wert reflektiert das Ausmass der Umsetzung der Leitlinienempfehlungen; er stellt somit einen Adherence-Score dar. Der SGED-Score beträgt im Maximum 100 Punkte, wobei als Zielwert im Sinne einer Guideline-adhärenten Versorgung mindestens 70 Punkte vorgegeben werden.

Kardiovaskuläre Erkrankungen zeigen eine weit höhere Prävalenz als der Diabetes, ein analoges Instrument, dass die Versorgungsqualität bei kardiovaskulären Erkrankungen widerspiegelt, existiert bisher aber noch nicht. Im Dezember 2022 hat sich eine interdisziplinäre Gruppe aus Hausärzt/-innen und Kardiolog/-innen zusammengefunden und in Anlehnung an den SGED-Score ein analoges Evidence-Adherence Instrument zur Quantifizierung der Qualität der Versorgung kardiovaskulärer Risikopatient/-innen, den Take-CARE-Score (CArdiovasculaR prEvention score), entwickelt.

Methodik

Beginnend im Dezember 2022 wurde eine interdisziplinäre Projektgruppe aus Allgemeininternist/-innen und Kardiolog/-innen formiert, die neben den Autoren weitere Stakeholder, insbesondere auch aus dem Bereich der Krankenversicherer, dem Forum Managed Care und hausärztlicher Netzwerke umfasste. Das Ziel war es, einen evidenzbasierten Summenscore zu entwickeln, der die Qualität der Versorgung kardiovaskulärer Risikopatient/-innen, im Hinblick auf ihre Zielwerterreichung, quantifiziert. Grundlage für die Zielwerte waren die Leitlinien der ESC respektive deren adaptierte Leitlinien für das Schweizer Grundversorgersetting aus dem Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich.

Der Score sollte aus den üblichen hausärztlichen Routinedaten errechenbar sein, die im Rahmen der Betreuung von kardiovaskulären Risikopatient/-innen gemäss Leitlinien zu dokumentieren sind. Ziel des Scores ist es, dem einzelnen Arzt oder der Ärztin einen einfachen und pragmatischen Überblick über die «Performance» und Guideline-Adhe­rence der eigenen Versorgung zu bieten. Natürlich können diese Daten auch in Qualitätszirkeln oder in Netzwerken zu Qualitätsmassnahmen genutzt werden. Eine Stärke des SGED-Score ist es, nicht nur Prozesse abzubilden, sondern auch klinische Outcomes, wie das HbA1c oder den Blutdruck, abzubilden, dies sollte analog auch im CARE-Score erfolgen. Diese kontinuierlichen, klinischen Variablen werden je nach Zielwerterreichung in beiden Scores mit einem Score-Wert verknüpft.

Für den CARE-Score wurden die nachfolgenden Varia­blen, basierend auf den Empfehlungen der ESC, identifiziert (10), (Tabelle 1).

Die Leitlinien machen grösstenteils keine Empfehlung, wie häufig die jeweiligen Werte zu kontrollieren sind, die Vorgabe für den CARE-Score ist eine mindestens einmalige jährliche Messung respektive Kontrolle der Parameter 1–6. Die KDIGO-Leitlinie und die Empfehlung der Schweizer Gesellschaft für Nephrologie sehen ein Screening bei Patient/-innen mit arterieller Hypertonie, Diabetes mellitus, Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen mittels eGFR und Albuminausscheidung im Urin mindestens einmal jährlich vor. Für jeden Test, eGFR und Albumin, werden im CARE-Score je 5 Prozesspunkte vergeben (11, 12).

Zielwerte

Auf der Basis der in der Schweiz vorhandenen Zielwerterreichungsgrade erschien es der Projektgruppe sinnvoll, 40 % Zielerreichung als untersten Wert zu definieren, ab dem es einen CARE-Score-Punkt gibt. Wenn bei mindestens 60 % aller Patient/-innen die entsprechenden Parameter gemessen werden, wird bereits der maximale CARE-Score-Wert von 10 vergeben. Für die Erfassung von Raucherstatus oder Endorganschäden respektive einer vorhanden ASCVD werden bei erfolgter Dokumentation 5 CARE-Score-Punkte vergeben.

Um den Outcomes mehr Bedeutung beizumessen als dem reinen Messen und somit den Prozessparametern, sind die Zielwerterreichungen im LDL-Cholesterin respektive dem Blutdruck höhere Score-Punkte zugeordnet. Beginnend wiederum bei 40 % als Minimum wird hier pro Prozentpunkt höherer Zielwerterreichung ein Score-Punkt mehr vergeben, bis der maximale Score-Punktewert bei 65 % erreicht ist. Rational für den unteren Schwellenwert von 40 % Patient/-innen, die mindestens den Zielwert erreichen sollten, um einen CARE-Score-Punkt zu erhalten, ist die verfügbare Literatur, die zeigt, dass in der Schweizer Grundversorgung dieser Wert beim Hypertonus im Median leicht überschritten wird, beim LDL-Cholesterin in Abhängigkeit von der ESC-Risikokategorie unterschritten oder knapp erreicht wird (4, 8). Im Bereich von 40–65 % Patient/-innen auf Zielwert gibt es pro 2 % höherem Patientenanteil, der dies erreicht, je 1 CARE-Score-Punkt, bis zum Maximum von 25 bei 65 %. Bereits bei 65 %, wenn also knapp zwei Drittel aller Patientinnen und Patienten im Zielbereich sind, gibt es somit die volle Punktzahl.

Somit können bis zu 35 % der Patient/-innen aufgrund mangelnder Adherence, Alter und Multimorbidität aus der Betrachtung der Performance ausgeklammert werden. Dieser Wert liegt weit über den Werten, die von General Practicioners im englischen Pay-for-Performance-Programm im Rahmen des Quality and Outcomes-Framework des National Health Service (NHS) durch sie tatsächlich ausgeschlossen werden (13). In der Summe resultieren daraus 100 Punkte, wobei 50 Punkte auf Prozessparameter entfallen und 50 Punkte auf Outcomevariablen. Wichtig ist hierbei zu betonen, dass der CARE-Score und der SGED-Score komplementär sind, das heisst, bei Diabetikern kommen beide zum Einsatz. Grundsätzlich sollte der CARE-Score bei allen Patient/-innen über 40 Jahren und mit einem Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis im ESC-Score von grösser einem Prozent erfasst werden und alle drei Jahre überprüft werden, dies reflektieren die EVIPREV-Empfehlungen für die Schweiz (https://eviprev.ch/).

Ergebnisse – Proof of concept

Um die Machbarkeit und die Resultate des CARE-Scores in real-life zu testen, führten wir eine Kalkulation innerhalb des FIRE-Forschungsnetzwerkes des Instituts durch. Eingeschlossen wurden hierbei 463 Hausärzte mit einem Schwerpunkt in der Deutschschweiz (die räumliche Verteilung der Praxen ist unter https://www.fireproject.ch einzusehen, 68.203 Patient/-innen). Das mittlere Alter der Patient/-innen betrug 67.9 Jahre (SD 12.8), 46.3 % davon waren Frauen.

Abbildung 1 zeigt deutlich, dass vor allem die Prozessparameter häufig umgesetzt werden und daraus entsprechende CARE-Score-Punkte resultieren, bei den Blutdruckzielwerten zeigt sich, dass es sowohl zahlreiche Hausärztinnen und Hausärzte gibt, die nicht mindestens 40 % ihrer Patient/-innen auf Zielwert haben, dass es aber auch eine grosse Anzahl an Hausärztinnen und Hausärzten gibt, die die volle CARE-Score-Punktzahl erreichen, also mehr als 65 % der Patient/-innen im Blutdruckzielbereich haben.
Beim LDL-Zielwert zeigte sich, dass nur ganz wenige Ärzte den Schwellenwert von mindestens 40 % erreichten, um mindestens 1 CARE-Score-Wert zu erreichen. Die grundsätzliche Erreichbarkeit wurde allerdings dadurch belegt, dass es 5 Ärzte gab, die 65 % oder mehr aus LDL-Zielwerten hatten. Abbildung 2 liefert ein differenziertes Bild der LDL-Zielwerterreichung. Hier zeigt sich, dass der Grossteil der Patient/-innen den Schwellenwert im LDL-Zielwert von mindestens 40 %, die auf LDL-Zielwert sind, nicht erreichen. Die meisten Hausärzt/-innen erreichen den LDL-Zielwert nur bei 10–20 % ihrer Patient/-innen.

Diskussion

Kardiovaskuläre Erkrankungen sind die führende Todesursache in der Schweiz, und es gibt eine überwältigende medizinische Evidenz, dass die heute zur Verfügung stehenden medikamentösen Interventionsmöglichkeiten zu einer signifikanten Reduktion von Morbidität und Mortalität führen. Zahlreiche Studien belegen jedoch ebenso, dass diese Massnahmen nur bei einem geringen Teil umgesetzt werden, obgleich auch in der Schweiz die notwendige Evidenz durch hausärztliche Guidelines zur Verfügung steht (14, 15). Strukturierte Tools, die Versorgungsqualität valide abbilden, können Ärztinnen und Ärzte hierbei unterstützen und machen zudem die Leistung transparent und vergleichbar.
Im Bestreben, medizinische Behandlungsqualität erfassbar zu machen, wurden in den letzten Jahren Qualitätsindikatoren, insbesondere im stationären Setting, in grosser Zahl entwickelt und untersucht. Häufig handelt es sich hierbei allerdings um Prozessindikatoren, die kein wirklich valides Bild liefern. Insbesondere im Kontext von Eingriffen wären die Indikations- und Ergebnisqualität weitaus bessere Indikatoren, insbesondere die Indikationsqualität ist aber sehr schwer zu erfassen. Qualitätsindikatoren oder entsprechende Qualitätsscores können daher häufig auch eine Scheinqualität vortäuschen, und ihre Aussagekraft ist oft allein schon aufgrund der unterschiedlichen Patientenpopulationen limitiert (16, 17).

International sind viele Anstrengungen unternommen worden, den evidence-performance-gap zu minimieren, gerade auch im kardiovaskulären Bereich (18, 19). Das Chronic Care Model wurde als Vorlage zur Versorgung chronisch kranker Patient/-innen entwickelt (20–22), aber auch heute noch scheitert eine wirksame Umsetzung bereits an den verfügbaren elektronischen Krankengeschichten (KGs), mit welchen sich diese Parameter weder adäquat aufbereiten noch ausreichend informativ für den Nutzer zur Verfügung stellen lassen. Fehlende Standards verhindern zudem eine digitale Vernetzung zwischen den Ärzten (23).

Der SGED-Score hat sich in der Schweiz als Score zur Erfassung der Versorgungsqualität bei Diabetikern fest etabliert (9). Mittlerweile hat der SGED-Score sogar Eingang in Managed-Care-Verträge zahlreicher Versicherer mit Ärztenetzwerken gefunden. Mit dem CARE-Score wurde der Versuch unternommen, ein ähnliches Instrument für die noch weitaus grössere Gruppe von Patient/-innen mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko zu entwickeln. Der CARE-Score nutzt wie der SGED-Score die vorhandene medizinische Evidenz aus international akzeptierten und teilweise lokal adaptierten medizinischen Guidelines, die den Kriterien des Instituts of Medicine entsprechen respektive von der FMH akkreditiert sind (10, 14).

Anhand einer Berechnung des CARE-Scores auf Basis der im FIRE-Netzwerk verfügbaren Daten konnte hier gezeigt werden, dass der CARE-Score aus hausärztlichen Routinedaten ohne jeden Mehraufwand für die beteiligten Ärzt/-innen errechnet werden kann. Einzig die Dokumentation von Raucherstatus und Endorganschäden und ASCVD sind nicht in allen elektronischen KGs in Form von strukturierten Feldern möglich. Hier wurden aber für den FIRE-Datensatz Ansätze mit künstlicher Intelligenz entwickelt, die die Extraktion dieser Angaben zumindest zum Teil auch dann ermöglicht, wenn sie nicht in einem von der elKG vorgegebenen Feld dokumentiert wurden.

Die Simulation des CARE-Scores am FIRE-Datensatz hat – wie zuvor nationale und internationale Studien – gezeigt, dass es noch Verbesserungspotenzial in der Umsetzung der Leitlinienempfehlung gibt, insbesondere in den klinischen Outcomes. Der evidence-performance-gap, also die Lücke aus theoretischer Evidenz und täglicher Praxis, ist noch erheblich (24). Der Einwand von Kritikern, die Zielvorgaben im CARE-Score seien zu ambitioniert respektive aufgrund von Multimorbidität und mangelnder Adherence von Patientinnen und Patienten nicht erreichbar, wird widerlegt durch die Hausärztinnen und Hausärzte im FIRE-Netzwerk, die dies durchaus erreicht haben. Zudem scheinen die Zielvorgaben – mit einem Maximalwert bereits bei 65 %, also noch nicht einmal zwei Drittel aller Patient/-innen auf Zielwert – durch die Literatur gut abgestützt. Zudem muss man sich vor Augen führen, dass im staatlichen Gesundheitssystem Englands, dem NHS beispielsweise, der Erreichungsgrad beispielsweise beim Blutdruckzielwert (140/90 mmHg) im Jahre 2023 bei weit über 70 %, in vielen Praxen bei fast 80 % lag (25). Im englischen Pay-for-Performance-Programm ist es den General Practitioners erlaubt, Patient/-innen aufgrund mangelnder Adhärenz und anderen Gründen wie Alter oder Multimorbidität, die eine vollständige Umsetzung der Leitlinien verhindern, auszuschliessen. Eine Analyse von 8.105 englischen Hausarztpraxen zeigte jedoch, dass im Median nur 5.3 % aller Patient/-innen aus diesen Gründen ausgeschlossen wurden (13). Mit einem maximal avisierten Zielerreichungsgrad von 65 % im CARE-Score wird somit Alter, Multimorbidität und vor allem Non-Adherence der Patientinnen und Patienten mehr als Rechnung getragen.

Limitationen

FIRE ermöglicht eine routinemässige Kalkulation von Qualitätsindikatoren respektive dem CARE-Score, dennoch sind bei der Betrachtung der Ergebnisse einige Limitationen zu beachten: Im Gegensatz zur Situation in UK, wo die Hausärztinnen und Hausärzte sich bewusst mit den Zielerreichungsgraden auseinandersetzen, erfolgte die Dokumentation in den elektronischen Krankenakten in der Schweiz wesentlich individueller, und Werte werden beispielsweise nicht in den von der elKG vorgegebenen strukturierten Feldern erfasst. Dies kann zu einer Verschlechterung der Resultate führen. Diesem Umstand wurde in den jüngsten FIRE-Datenexporten und mithilfe künstlicher Intelligenz, die strukturelle «Fehleingaben» korrigieren kann, Rechnung getragen, gilt aber noch nicht für länger zurückliegende Behandlungsperioden und ältere Werte, die hier teilweise in die Berechnung mit eingeflossen sind. Eine weitere Limitation, die zu (scheinbar) schlechteren Ergebnissen führt, ist die Tatsache, dass in UK die Qualitätsindikatoren incentiviert sind, was für den CARE-Score nicht gilt. Incentivierungen haben aber naturgemäss einen erheblichen Einfluss auf die Dokumentation und Outcomes (26, 27). Daher sind die in diesem Artikel errechneten Werte nicht als absolut zu werten, sondern einzig als «Proof-of-concept», dass der CARE-Score automatisiert aus Routinedaten zu errechnen ist. Eine Analyse aus einem Ärztenetzwerk, das den SGED-Score als Behandlungsmassstab bereits implementiert hat, zeigte zudem deutlich bessere Ergebnisse. Dies kann als Hinweis gewertet werden, dass bei einer Implementierung des CARE-Scores die Awareness unter den Ärzten derart erhöht wird, dass sich rasch deutliche Verbesserungen abbilden, allein schon durch eine bessere Dokumentation.

Schlussfolgerung

Der Erfassung von medizinischer Behandlungsqualität kommt auch in der ambulanten Praxis in der Schweiz eine zunehmend grössere Bedeutung bei. Scores wie der eta­blierte SGED-Score zur Versorgung von Diabetikern oder der hier vorgestellte CARE-Score für kardiovaskuläre Risikopatient/-innen zeichnen aufgrund der Erfassung von Prozess- wie auch Ergebnisqualität ein zuverlässiges Bild der Guideline-Adhärenz und der Versorgungsqualität. Sie können auf der Basis hausärztlicher Routinedaten aus elektronischen KGs ohne Mehraufwand errechnet werden und eignen sich für Massnahmen zur Qualitätsdokumentation und vor allem Qualitätssteigerung, indem sie beispielsweise die Grundlage eines entsprechenden Austausches in Ärztenetzwerken und Qualitätszirkeln bilden. Durch die Anpassung der Zielwerterreichungsgrade sind sie an unterschiedliche Versorgungskontexte und Populationen flexibel anpassbar, die im aktuellen CARE-Score reflektierten Werte tragen mangelnder Patienten-Adherence ebenso Rechnung wie hohem Patientenalter und Multimobidität.
Der CARE-Score stellt somit ein einfaches und pragmatisches Instrument dar, den evidence-perfomance-gap wirksam zu verkleinern.

Historie:
Manuskript eingereicht: 08.04.2024
Angenommen nach Revision 30.04.2024

Prof. Dr. Dr. med.Thomas Rosemann

Institut für Hausarztmedizin
Universitätsspital Zürich
Pestalozzistrasse 24
8091 Zürich

thomas.rosemann@usz.ch

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

 

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Aktuelle Diagnostik und Therapie der chronischen Rhinosinusitis

Einleitung und Pathophysiologie

Ziel dieses Reviews ist, Grundversorger über die aktuell gültigen Guidelines zur chronischen Rhinosinusitis (CRS) zu informieren. Der hier vorgelegte Überblick basiert auf dem European Position Paper on Rhinosinusitis and Polyps, abgekürzt EPOS2020 und beschreibt die Anwendung von Biologika bei chronischer Rhinosinusitis in der Schweiz. Die Krankheit betrifft 5–12 % der Gesamtbevölkerung und tritt meist in der fünften Lebensdekade auf. Während bisher anhand des Phänotyps differenziert wurde zwischen einer CRS mit oder ohne Nasenpolypen, steht heute der diagnostisch und therapeutisch wichtige Endotyp im Vordergrund. Es werden drei Endotypen von molekularen Entzündungsmustern unterschieden. Endotyp 1 ist eine durch Interferon Gamma (IFN-γ) geprägte Entzündungsreaktion gegen intrazelluläre Pathogene, etwa Viren. Endotyp 2 ist dagegen ursprünglich gegen Parasiten gerichtet und durch IL-4, IL-5 und IL-13 vermittelt.Dies ist der vorherrschende Endotyp bei CRS und Polypen in westlichen Populationen. Endotyp 3 wehrt unter Sekretion von IL-17 und IL-22 extrazelluläre Bakterien ab. Eine traditionelle Unterteilung der CRS in eine Form mit und ohne Polypen (CRSwNP/CRSsNP) wird in der neueren Literatur zunehmend verlassen zugunsten der Endotypen. Für den klinischen Alltag hat sich eine vereinfachende Unterteilung in Typ-2- und Non-Typ-2-Entzündung durchgesetzt. Aus den Endotypen werden die Phänotypen hergeleitet, ein Endotyp kann zu verschiedenen Phänotypen führen (1).

EPOS2020 Definitionen

Eine CRS wird in der EPOS2020 als eine mindestens zwölf Wochen persistierende Entzündung der sinunasalen Schleimhaut definiert. Sie geht definitionsgemäss mit folgenden Symptomen einher:

• Nasenobstruktion/-blockierung und/oder anteriore oder posteriore Rhinorrhoe, wobei mindestens eines davon obligat vorhanden sein muss
• sowie optional Druckgefühl/Gesichtsschmerzen oder Riechminderung, sollten nicht beide erstgenannten Symptome erfüllt sein

Die klinische Definition kann im Verlauf durch eine Nasenendoskopie und ein natives CT der Nasennebenhöhlen (NNH) ergänzt werden. Dabei ist der endoskopische Nachweis von Polypen, purulentem Sekret oder entzündeter, ödematöser Schleimhaut im mittleren Nasengang notwendig. CT-graphisch ist eine Mukosaschwellung der Sinus oder in der osteomeatalen Einheit erforderlich, also dem gemeinsamen Drainageweg von Kiefer-, Stirn- und vorderer Siebbeinhöhlen (2). Die EPOS2020 unterscheidet zwischen primärer und sekundärer CRS. Sekundäre Formen entstehen auf dem Boden einer Grunderkrankung, wie z.B. einer zystischen Fibrose oder einer Vaskulitis.

Die Phänotypen

Die primäre CRS, welche in dieser Übersichtsarbeit thematisiert wird, ist nach anatomischer Beteiligung in einseitig oder beidseitig unterteilt (Abb. 1). Die weitere Unterteilung erfolgt nach dem Endotyp. Folgende klinischen Befunde, also Phänotypen, ergeben sich aus einer bilateralen primären CRS vom Endotyp 2:

• Die chronische Rhinosinusitis mit Nasenpolypen: Diese tritt meistens in der fünften Lebensdekade auf, Männer sind eher betroffen. Bei dieser Form findet sich eine Prävalenz von bis zu 31 % für Allergien auf Inhalationsantigene, ein Zusammenhang mit Asthma wird in 45 % der Fälle angegeben (1).
• Die eosinophile Form (eCRS) benötigt den histologischen und laborchemischen Nachweis von Eosinophilen (1).
• Seltenere Phänotypen sind die allergische Pilz-Rhinosinusitis und die central compartment atopic disease (CCAD), zu Deutsch atopische Krankheit der zentraleKompartimente. Die allergische Pilz-Rhinosinusitis ist eine nicht invasive Mykose der Nasennebenhöhlen, die durch eine Typ I allergische Reaktion gegen Pilzhyphen geprägt ist. Sie kommt gehäuft in feuchteren und wärmeren Gegenden vor und wird oft von einem allergischen Asthma begleitet (1).

Die bilaterale primäre CRS vom Non-Typ 2 Endotyp hat als einzigen Phänotyp die non eosinophile CRS (Non-eCRS). Entsprechend weist sie histologisch < 10 Eosinophile/Gesichtsfeld im Sinusepithel, laborchemisch eher niedrige IgE-Spiegel und normwertige Eosinophile-Anzahl auf (1). Diese Patienten leiden oft an eitriger Rhinorrhoe, manchmal begleitet von Gesichtsschmerzen, und häufigen akuten Infekten.
Eine einseitige CRS ist immer verdächtig auf eine sekundäre Form der CRS, z.B. in Form eines invertierten Papillomes, eines Malignoms oder einer dentogenen Ursache. EPOS2020 empfiehlt bei einseitiger CRS die direkte Zuweisung an einen HNO-Spezialisten und eine Bildgebung. Hervorzuheben ist zudem, dass eine isolierte Verschattung im Sinus maxillaris zwar am häufigsten bei einer dentogenen Infektion auftritt, jedoch auch ein Malignom als Ursache haben kann (1).

Diagnostik und Therapie in der ­haus­ärztlichen Sprechstunde

Der Hausarzt kann eine CRS anhand der Symptome, wie von den EPOS 2020 vorgeschlagen, postulieren und behandeln (Abb. 2). Zu beachten sind Warnsymtome und unilaterale Symptome, welche eine zeitnahe Überweisung notwendig machen (Abb. 2). Daneben sollen in der hausärztlichen Praxis einerseits die Komorbiditäten im Zusammenhang mit der CRS diagnostiziert und therapiert werden, andererseits wird die Basistherapie mit nasalen Steroidsprays und Nasenspülungen begonnen. Rauchen führt zu einem oxidativen Stress der Mukosa. Das metabolische Syndrom scheint ein unabhängiger Risikofaktor für die CRS zu sein. Es wird postuliert, dass das vermehrte Fettgewebe pro-inflammatorisch wirkt. Ein weiterer unabhängiger Risikofaktor für eine CRS ist das Obstruktive Schlafapnoesyndrom (OSAS), wobei hier die pathophysiologischen Zusammenhänge unklar sind. Daneben scheint ein gastroösophagealer Reflux eine CRS zu begünstigen, der Nachweis einer Besserung der CRS-Symptomatik durch die Gabe von Säureblockern steht jedoch aus. Die Exposition gegenüber Papier-, Metall-, Textilienstaub, Reinigungsmittel, Schimmel, Feuchtigkeit und toxischen Gasen begünstigt die CRS (1).

Die Aspirin Exacerbated Respiratory Disease (AERD, auch Widal-Trias genannt) ist eine chronische, eosinophile Entzündung des respiratorischen Epithels mit einer Verschlimmerung von Atembeschwerden durch die Einnahme von Aspirin und anderen NSAR. Die Betroffenen leiden unter einem Asthma und einer CRS Typ 2, in der Regel mit dem Phänotyp von Nasenpolypen. Ursache ist eine vermehrte Leukotrienbildung wegen einer Störung der Eicosanoid-Synthese. AERD-Patienten sind jünger als andere CRS-Patienten und leiden häufiger an Rezidivpolypen trotz adäquater Therapie. Empfohlen wird eine strikte Auslöserkarenz. Während früher in ausgewählten Fällen eine Aspirindesensibilisierung versucht wurde, wird man heute eine Therapie mit einem Biologikum bevorzugen.

Ein starker Zusammenhang besteht zwischen CRS und Asthma. Die Prävalenz eines Asthma bronchiale liegt je nach Endotyp der CRS zwischen 21–45 % und sogar 73 % bei AFRS. Eine gute Evidenz für oder gegen eine allergische Prädisposition und CRS gibt es nicht, hingegen sind Unterformen wie CCAD und AFRS mit Allergien vergesellschaftet. Sowohl für CRS als auch für eine allergische Rhinitis besteht die Therapie in der Anwendung von topischen Steroiden, aktuell kann bei Non-Allergikern mit CRS keine zusätzliche Antihistamintherapie empfohlen werden. Die meisten COPD- und Bronchiektasie-Patienten weisen CT-graphische Hinweise für eine CRS auf, ursächlich dafür dürfte eine Ziliendysfunktion sein (1).

Die genaue Instruktion der Basistherapie mit Nasenspülungen und nasalen Steroidsprays ist für den Therapieeffekt und die Compliance essenziell. Für die Nasenspülung wird isotonisches Salzwasser empfohlen. Vor der topischen Steroidanwendung soll die Nase zuerst gespült und dann geschnäuzt werden. Der Spray soll vor dem Gebrauch gut geschüttelt werden, da das Kortison meist in einer Suspension vorliegt. Dann wird der Behälter mit aufrechtem Oberkörper in einer Hand gehalten und gekreuzt in das gegenseitige Nasenloch eingesprüht. Die Basistherapie wird täglich für sechs bis zwölf Wochen durchgeführt, eine Besserung ist erst nach zwei bis drei Wochen zu erwarten. Bei gutem Ansprechen auf die Basistherapie bei einer bilateralen CRS kann diese bei Bedarf über Jahre hinweg fortgeführt werden.

Bei Beschwerdepersistenz sollte eine Überweisung für eine rhinologische Abklärung bei einem HNO-Arzt erfolgen (Abb. 2). Differenzialdiagnostisch ist auch an eine sekundäre CRS zu denken, wobei hier bei Kindern vor allem eine primär ziliäre Dyskinesie oder zystische Fibrose und bei Erwachsenen eine Vaskulitis wie eine Granulomatose mit Polyangiitis infrage kommen.

Die weitere Diagnostik und Therapie beim HNO-Facharzt

Initial werden die Diagnose und Differentialdiagnose einer CRS reevaluiert. In der ergänzenden Anamneseerhebung beim HNO-Arzt wird nochmals die korrekte Spül- und Spraytechnik überprüft. Die Einschränkung der Lebensqualität bei CRS-Patienten wird mit dem SNOT-22 Formular (Sinonasal Outcome Test) festgehalten. Mittels Riechtest wird nach einer Hyposmie gesucht. Es erfolgt die Nasenendoskopie mit Beurteilung der Schleimhaut, Anatomie, Dokumentation von allfälligem pathologischen Sekret oder Polypen sowie Ausschluss einer Raumforderung. Ein Prick-Test kann bei möglichem Vorliegen einer Allergie ergänzend durchgeführt werden. Laborchemisch werden die Eosinophilen im Blutbild und das Gesamt-IgE als Hinweise für eine Typ-2-Inflammation bestimmt. Bildgebend wird nach adäquater Vorbehandlung ein CT-NNH nativ durchgeführt, einerseits um das Ausmass der Verschattung der Sinus zu bestimmen, andererseits zur Planung einer möglichen endoskopischen NNH-Operation. Therapeutisch wird bei einer CRS Typ 2 die Basistherapie mit kurzdauernden systemischen Steroidstössen (maximal ein-/zweimal pro Jahr) ergänzt. Eine funktionelle NNH-Operation, im Sinne einer endoskopischen Eröffnung der betroffenen Sinus, ist indiziert, wenn trotz Basistherapie für mindestens acht Wochen und trotz systemischen Steroiden bei CRS Typ 2 oder Antibiotika bei CRS Non-Typ 2 keine Besserung der Beschwerden eintritt. Der Patient muss sich bewusst sein, dass durch die Operation keine Heilung eintritt, sondern die weiterhin notwendige Basistherapie besser zu dem eröffneten Sinus gelangt. Bei Beschwerdepersistenz trotz stufengerechter medikamentöser und operativer Therapie sollte die Diagnose einer primären Form der CRS hinterfragt, eine sekundäre CRS in Betracht gezogen oder eine Revisionsoperation angedacht werden. Eine Option für eine therapierefraktäre, stark symptomatische CRS Typ 2 trotz adäquater medikamentöser und operativer Therapie sind Biologika (Abb. 3). Bei Vorliegen von Rezidivpolypen nach erfolgter endoskopischer NNH-Operation sollten für die Indikation zur Therapie mit einem Biologikum gemäss EPOS2020 mindestens drei der aufgeführten Kriterien erfüllt sein (1):

• Hinweise für eine Typ-2-Inflammation:
. histologisch Gewebseosinophilie ≥10 Eosinophile/Gesichtsfeld oder
. Bluteosinophilie ≥250 u/L oder
. Gesamt-IgE im Blut >100 IU/ml
• Notwendigkeit von zwei oder mehr systemischen Steroidtherapien pro Jahr oder Kontraindikation für Steroide
• SNOT-22 ≥40
• Nachweis einer Anosmie im Riechtest
• Asthmadiagnose mit Notwendigkeit von inhalativen Steroiden

Da es sich in der Regel um Patienten mit fachübergreifenden chronischen Atemwegserkrankungen handelt, sollte die Indikation zur Therapie einer CRS Typ 2 mit einem Biologikum an einem interdisziplinären Fachboard mit HNO-Ärzten, Pneumologen, Immunologen/Allergologen, Hämatologen gestellt werden (3).

In der Schweiz sind zur Zeit drei Biologika für die Behandlung der chronischen Rhinosinusitis mit Nasenpolypen (Typ-2-Inflammation) von Swissmedic zugelassen.
Omalizumab ist ein selektiver monoklonaler Antikörper, welcher IgE bindet und das Andocken von IgE an Mastzellen oder Basophilen und somit die Aktivierung der Entzündungskaskade verhindert. Omalizumab wird seit 2003 zur Behandlung von Asthma und seit 2014 bei chronischer Urtikaria eingesetzt (4). Die gewichtsadaptierte Dosis wird durch den prätherapeutischen Gesamt-IgE-Spiegel beeinflusst und alle vier Wochen subkutan verabreicht. Während der Behandlung kann der Gesamt-IgE-Spiegel steigen, da nun die IgEs an Omalizumab gebunden sind und nicht mehr an den Zellrezeptoren (5). In einer Phase-III-Studie bei CRSwNP verbesserte sich der SNOT-22 um etwa 20 Punkte nach 24 Wochen Anwendung, endoskopisch kam es zu einer Polypenreduktion (6).
Mepolizumab ist ein monoklonaler Antikörper gegen IL-5 und wird neben der CRSwNP seit 2015 bei Asthma sowie bei eosinophiler Granulomatose mit Polyangiitis und ­Hypereosinophilie-Syndrom angewendet (7). Bei CRSwNP ist das IL-5 im sinunasalen Epithel hochreguliert und wird von verschiedenen Entzündungszellen produziert, Eosinophile werden dadurch aktiviert und überlebensfähig gemacht (8). Mepolizumab wird alle 4 Wochen subkutan injiziert. Nach 52 Wochen Therapie fand sich in der Phase-III-Studie bei CRSwNP eine SNOT-22-Reduktion von fast 30 Punkten, ebenso wurden die Polypen kleiner (9).

Dupilumab ist ein monoklonaler Antikörper gegen IL-4 und IL-13 (10). Beide Interleukine können die Interzellularverbindungen zwischen den Epithelzellen schwächen. IL-13 kann in den B-Zellen einen IgE-Klassenwechsel herbeiführen, womit lokal mehr IgE gebildet wird, zudem kann das Zytokin Proteine bilden lassen, welche den Übertritt von Entzündungszellen vom Blut ins Gewebe erleichtern (9). Dupilumab wird alle 2 Wochen subkutan angewendet, nach 52 Wochen Therapie zeigte sich in einer Phase-III-Studie bei CRSwNP eine Verbesserung des SNOT-22 um 20 Punkte, und die Polypen wurden kleiner (10). Weitere Indikationen für Dupilumab sind Asthma, atopische Dermatitis, Prurigo nodularis und die eosinophile Ösophagitis.

Gemeinsame Nebenwirkungen von allen drei Biologika können in seltenen Fällen eine anaphylaktische Reaktion sein, die Bildung von Antikörper gegen die verabreichten monoklonalen Antikörper und eine mögliche Abschwächung der Immunantwort gegen Helminthen sein (5, 11, 12). Welches der drei Biologika das Effektivste ist, bleibt ungeklärt. Bisherige Reviews zeigen eine leichte Überlegenheit von Dupilumab, was den Geruchssinn angeht, jedoch bei eingeschränkter Vergleichbarkeit (13). Da die Kosteneffektivität von Biologika in der primären Behandlung der CRSwNP gegenüber den Standardtherapien schlecht abschneidet (14), sollte ihr Einsatz ausschliesslich schweren, therapierefraktären Formen vorbehalten bleiben. Bei fehlendem Ansprechen innerhalb von 16 Wochen sollte das Biologikum abgesetzt werden.

Abkürzungen:
AFRS Allergic Fungal Rhinosinusitis
CCAD Central Compartment Atopic Disease
COPD Chronic Obstructive Pulmonary Disease
CRS Chronische Rhinosinusitis
CRSsNP Chronic Rhinosinusitis sine Nasal Polyps
CRSwNP Chronic Rhinosinusitis with Nasal Polyps
CT Computer Tomographie
eCRS eosinophilic Chronic Rhinosinusitis
EPOS European Position Paper on Rhinosinusitis and Polyps
HNO Hals-Nasen-Ohren
IgE Immunoglobulin E
IL Interleukin
IFN Interferon
AERD Aspirin Exacerbated Respiratory Disease
NNH Nasennebenhöhlen
Non-eCR Non eosinophilic Chronic Rhinosinusitis
NSAR Nichtsteroidale Antirheumatika
SNOT Sinonasal Outcome Test

Historie:
Manuskript eingereicht: 07.03.2024
Nach Revision angenommen: 02.05.2024

Dipl. med. Letizia Meier

Klinik für Hals-, Nasen-, Ohren- und Gesichtschirurgie
Luzerner Kantonsspital
Spitalstrasse
6000 Luzern

letizia.meier@luks.ch

Es bestehen keine Interessenkonflikte.

• Eine chronische Rhinosinusitis kann symptombezogen in der Hausarztpraxis postuliert werden. Wenn die bilaterale Krankheit durch eine Behandlung mit topischen Stero­iden und Nasenspülungen erfolgreich therapiert wird, sind keine weiteren Schritte erforderlich.
• Die CRS stellt häufig eine fachübergreifende Atemwegserkrankung dar. Komorbiditäten und Risikofaktoren wie Tabakrauch, Asthma, Allergien und AERD sollen mitberücksichtigt werden. Einseitige Symptome oder nasale Warnsymptome erfordern die zeitnahe Überweisung an einen HNO-Facharzt und eine Bildgebung.
• Die CRS kann in den meisten Fällen symptombezogen und stufengerecht mit einer Basistherapie bestehend aus Salzwassernasenspülungen und topischen Steroidsprays, maximal 1–2 kurzdauernden oralen Steroidbehandlungen oder einer NNH-Operation erfolgreich behandelt werden.
• In ausgewählten Fällen kann die Therapie mit einem Biologikum bei therapierefraktärer CRSwNP sinnvoll sein. Die Indikation dazu sollte an einem interdisziplinären Fachboard getroffen werden.

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