Sterben, kann man das lernen?

Therefore, because death stirs people to seek answers to important spiritual questions, it becomes the greatest ­servant of humanity, rather than its most feared enemy (Lord Krishna to Arjuna, Bhagavad Gita) (1).

Einleitung

Das Thema Tod und Sterben begleitet uns in der Betreuung und Begleitung schwer kranker Patient/-innen und bewegt uns – bewusst oder unbewusst. Dennoch spricht man im klinischen Kontext kaum darüber. Für viele Patient/-innen ist es schwierig, über das eigene Ableben nachzudenken, mit Patient/-innen wird die Thematisierung des Lebensendes wenn möglich vermieden. Auch für Angehörige ist es schwierig, mit ihren Liebsten über den Tod zu sprechen. Mit Berufskolleg/-innen wird selten über die Bedeutung des Sterbens und des Todes für Patient/-innen und deren Angehörige sowie für die eigene berufliche Tätigkeit reflektiert. Lieber versucht man, über weitere Therapieoptionen nachzudenken aus Sorge, die Konfrontation mit dem Lebensende könnte die therapeutische Beziehung zu stark belasten (2). In den zeitlich eng getakteten Tagesabläufen tendiert man, dieses Thema aus Sorge vor Reaktionen und möglichen emotionalen Ausbrüchen der Patient/-innen zu meiden. Eine mangelnde Schulung und Erfahrung in der Gesprächsführung kann es ebenfalls erschweren, sich gegenüber dem Sterben und dem Tod im Gespräch mit Patient/-innen zu öffnen (3). Letztlich dient die Vermeidung von Endlichkeit, Sterben und Tod dem Selbstschutz vor starken Gefühlen und dem schmerzhaften Abschiednehmen von unseren Patient/-innen (4).

Die Auseinandersetzung mit dem Lebensende ist für schwer kranke Menschen in existenzieller Hinsicht schwierig. Viele scheuen sich, das nahende Lebensende und Ängste in Zusammenhang mit dem Sterben und dem Tod offen mit ihrem Arzt/Ärztin anzusprechen aus Furcht vor einem Abbruch der medizinischen Behandlung oder therapeutischen Beziehung (5). Viele kranke Menschen entwickeln aufgrund des Verschweigens des sich aufdrängenden und unausweichlichen Lebensendes diffuse Ängste, existenziellen Distress sowie Verleugnung (Denial) (6). Diese Angstbewältigung kann zu zwei diametral verschiedenen Phänomenen führen: einerseits zum Wunsch nach einem raschen Versterben, andererseits zur Entscheidung für aggressive und belastende Therapien am Lebensende, welche in der Folge mit hoher Symptomlast und eingeschränkter Lebensqualität einhergeht (7, 8). Beide Verhaltensweisen sind Ausdruck eines verzweifelten (dysfunktionalen) Bewältigungsversuchs. Auch pflegende Angehörige finden sich häufig in einem Zwiespalt zwischen Fürsorge und Sorge um die kranke Person und der Überforderung mit eigenen Gefühlen wieder. Sie sprechen kaum über ihr Erleben, ihre Sorgen und Ängste in Bezug auf das nahende Lebensende der geliebten Person (3). Die fehlende Auseinandersetzung mit dem Tod und Sterben im Verlaufe einer komplexen medizinischen Behandlung kann dazu führen, dass auch Angehörige auf die Fortführung aggressiver Therapien am Lebensende drängen und das Gespräch über das nahende Lebensende erschwert wird (9).

Obwohl das Sterben Kernbestandteil des menschlichen Lebens ist, macht es uns Angst. Die Angst vor dem Tod ist universell und beschäftigt jede Person mit seiner latenten Präsenz und Bedrohung auf unterschiedliche Weise (10). Unterschiedliche wissenschaftliche Gebiete, darunter die Medizin, die Theologie, die Philosophie, die Rechts-, Natur- und Sozialwissenschaften, aber auch die Literatur, die Kunst und die Musik haben versucht, den Tod verständlich zu machen (11). Die Arbeit mit unseren Patient/-innen zeigt uns allerdings auf, dass es häufig nicht der Tod, sondern das Sterben ist, wovor sich die Menschen fürchten.

In diesem Artikel gehen wir unter Beleuchtung unterschiedlicher Perspektiven der Frage nach, warum wir uns vor dem Sterben und dem Tod fürchten, ob und wie man das Sterben lernen kann und wie eine Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens gelingen kann. Wir verfolgen die These, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit und der Vergänglichkeit einerseits unser Gesundheitsbewusstsein stärkt und die Verantwortung gegenüber dem Leben und die Fürsorge für sich selbst wie auch für andere fördert. Zudem kann die Anerkennung der eigenen Vulnerabilität sowie die Offenheit für die Unbeständigkeit des Lebens die Empathie gegenüber unseren Patient/-innen entscheidend vertiefen, wodurch sich die Beziehungsqualität, die Patientenzufriedenheit sowie die Lebensqualität verbessern. Dieser Artikel soll unsere Berufskolleg/-innen zur Selbstreflexion anregen und ermutigen, sich Gedanken über die eigene Endlichkeit und Vergänglichkeit zu machen, in der Hoffnung, sich in der Arbeit mit Patient/-innen und auch im privaten Leben gegenüber der Unbeständigkeit des Lebens zu öffnen und dadurch den Blick verstärkt auf das Wesentliche im Leben richten zu können.

Krankheit, Sterben und Tod

Krankheit, Sterben und Tod sind integrale Bestandteile des Lebens und betreffen nicht nur das hohe Alter, sondern auch Eltern mit kleinen Kindern, junge Erwachsene, Jugendliche oder Kinder. Das Erleben einer schweren Krankheit ist geprägt von Ängsten, Kontrollverlust, Verlust der körperlichen und psychischen Integrität, Schmerzen, Abhängigkeit, Autonomieverlust, Phasen der Zustandsverschlechterung, Krisenbewältigung, Fragen nach Sinn und Sinnlosigkeit des Daseins, Wunsch nach Weiterleben oder Resignation und kann einen tiefen Leidensdruck auslösen (12). Das Sterben hingegen beschreibt das Erlöschen der körperlichen Lebensvorgänge, den Prozess, den ein Organismus bis zum Eintreten des Todes durchläuft. Der Tod dagegen ist ein Zustand, das finale Ereignis, welches jedem Organismus ein unwiderrufliches Ende setzt (13).

Obwohl wir alle ein gewisses Grundverständnis von Tod und Sterben haben, bleibt unser Verständnis für die psychischen, spirituellen und transzendenten Erfahrungen während des Sterbeprozesses und nach dem Tod oft begrenzt. Sterben und Tod bleiben trotz allen Wissens über organische Zerfallsprozesse ein unbegreifliches Rätsel. Das Einzige, was man mit Bestimmtheit wissen kann, ist die Tatsache, dass der Tod irgendwann eintreten wird (14, S. 47). In einem evolutionsbiologischen Sinne hat der Tod zwei polar einander entgegengesetzte und dennoch aufeinander bezogene Funktionen, die sich nicht konfligieren, sondern ergänzen: Werden und Vergehen, Leid und Segen stehen sich gegenüber. Und wird der Tod gefürchtet, so kann er dennoch als erlösend erlebt oder sehnsüchtig erwartet werden (15).
Subjektiv betrachtet gibt es den Tod des anderen und den Tod, der uns betrifft. Der Tod des anderen wird häufig als schmerzhaft und bedrohlich wahrgenommen, denn er nimmt, was geschätzt oder geliebt wird (16). Wie bereits Mascha Kaléko bemerkte, muss es einem nicht bangen vor dem eigenen Tod, sondern nur vor dem Tod derer, die einem nahe sind (17). Was in der Umkehr bedeutet, dass viele sterbende Personen in Sorge um ihre Angehörigen sind. Im Gegensatz dazu bleibt der eigene Tod unvorstellbar und lehrt uns, vielleicht gerade deswegen, das Fürchten vor dem Nichts (18). Gleichzeitig widerspiegelt die Erfahrung des Todes anderer Menschen und die damit verbundene (oft unbewusste) Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit eine existenzielle Grenzerfahrung (19). Gedanken an den Tod erzeugen in uns Bilder, Vorstellungen und Gefühle, die von persönlichen und kulturellen Lebenserfahrungen geprägt sind. Ob wir ihn fürchten, uns gegen ihn auflehnen, ihn erwarten oder gar herbeisehnen, ob wir ihn als Gegner oder Begleiter des Lebens betrachten – die Wahrnehmungen über den Tod und das Sterben sind vielfältig (20, S. 248 –255).

Auch in der modernen Welt spielt die Frage der menschlichen Existenz und der zeitlichen Dimensionen des Lebens eine wichtige Rolle (11, S. 45). Geburt, Fortpflanzung, Reproduktionsmöglichkeiten und Möglichkeiten der Hightechmedizin, Krankheit, Alter, Tod und Sterben konfrontieren uns dabei immer wieder mit den Grenzen des Lebens und der Frage, wie man die begrenzte Lebenszeit erfüllend und sinnvoll nutzen kann und wo die Grenzen sind (21). Die kontrovers verlaufende Diskussion über medizinische Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung und Erfüllung der Lebenszeit, aber auch die Versöhnung von existenziell unerfüllten Lebenswünschen am Lebensende, also dem «ungelebten Leben», widerspiegelt im Wesentlichen die Frage, was eigentlich einen Menschen, ein sinnvolles Leben und damit zusammenhängend ein würdevolles Sterben ausmacht (21).

Leben und Tod im 21. Jahrhundert – der verdrängte Tod

Die Lebenswelt und Lebensgestaltung von Menschen der (post-)modernen westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist durch die Idee der Selbstverwirklichung und ein unersättliches Streben nach Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung gekennzeichnet. Das Bestreben nach Selbstoptimierung sowie der Wunsch, gesünder, schöner, stärker, resilienter und vor allem länger zu leben (engl. longevity), beeinflussen unser Selbstverständnis von Körper und Geist sowie die Art und Weise, wie wir unsere sozialen Beziehungen pflegen (22). Körper und Psyche werden zum Instrument der Selbstoptimierung, welches die Funktion hat, die Angst vor der eigenen Endlichkeit zu verdrängen und den Glauben an die eigene Unsterblichkeit zu stärken (16, S. 9). Seit Kurzem wissen wir, wie man den Alterungsprozess partiell verlangsamen kann (23). Tatsächlich ist es Forschern gelungen, durch die Veränderung eines einzelnen Genes in Labormäusen die Lebensdauer um 20 % zu verlängern (24). Es stellt sich nun die Frage, was dies für den Menschen bedeutet und welche sozialen Konsequenzen daraus folgen, wenn wir in der Lage sind, die Lebensdauer von Menschen durch genetische Veränderungen zu manipulieren. Interessanterweise stellt Selbstoptimierung kein Phänomen des 21. Jahrhunderts dar. Der stetige Drang nach Wissen und Selbstverwirklichung sowie der Traum vom ewigen Leben lassen sich seit jeher in der Menschheitsgeschichte beobachten (25, S. 26).

Die hoch entwickelte moderne Medizin erschwert mit ihrem Heilungsversprechen, dass wir uns eigenverantwortlich nicht nur mit Fragen von Krankheit und Gesundheit, sondern auch mit denen des Todes und Sterbens auseinandersetzen. Obwohl wir alle bewusst oder unbewusst um die Unausweichlichkeit des Todes wissen, tendieren wir dazu, den Tod auszublenden und diesen aus unserem Leben zu verdrängen. In der modernen Welt wünscht sich der Mensch ein grösstmögliches Mass an Autonomie und Selbstbestimmung sowohl über sein Leben als auch über seinen Tod und die Art und Weise, wie er stirbt (26). Diese zentralen Anliegen prägen unser Verständnis, wie das Lebensende verlaufen sollte – mit maximaler Selbstbestimmung und bestmöglicher Lebensqualität bis zum Tod. Die Gründung von Sterbehilfeorganisationen in der Schweiz hat sich als ein wichtiges Instrument zur Förderung dieser zentralen Anliegen erwiesen, ebenso wie das Recht, den Zeitpunkt des Todes selbst bestimmen zu dürfen (27, S. 16 ff.).
Obwohl Fortschritte in der Medizin sowie die Institutionalisierung und Medikalisierung des Lebensendes das Sterben einfacher und kontrollierbarer gemacht haben, ist uns durch diese Entwicklung der tiefere Sinn für das Sterben abhandengekommen. Das Lebensende wird vorwiegend als medizinisches Problem betrachtet, als ein Versagen der Hightechmedizin. Gleichzeitig entfernen wir uns zunehmend von traditionellen gesellschaftlichen und/oder religiösen Grundwerten, wodurch das Verständnis darüber, was es bedeutet, Mensch zu sein, in Vergessenheit gerät (28).

Der Übergang von Leben zu Tod findet oft im Krankenhaus oder in Pflegeeinrichtungen statt und ist weitgehend aus der unmittelbaren Verantwortung von Familien sowie der dörflichen oder kirchlichen Gemeinschaften gelöst und dem verwaltenden Staat und spezialisierten Berufen wie der Palliative Care übertragen worden (29). Noch nie starben Menschen so hygienisch wie heute, jedoch auch noch nie unter sozialen Bedingungen, welche die emotionale Einsamkeit der Sterbenden und ihrer Angehörigen in so hohem Masse fördern (16, S. 85). Rituale, Traditionen und auch die Sprache sind uns im Umgang mit Sterben, Tod, Verlust und Trauer teilweise verloren gegangen (16, S. 10, S. 29 ff.). Die Fähigkeit, die richtigen Worte mit Sterbenden und später mit den Angehörigen und Hinterbliebenen zu finden, wird nicht ausreichend geschult. Die Sterbebegleitung und die nachfolgende Trauerphase der Angehörigen finden zu grossen Teilen im Verborgenen statt. Das schweizerische Arbeitsrecht gewährt Personen nach dem Tod eines engen Familienangehörigen drei Tage Trauerzeit.1 Danach wird erwartet, dass die trauernde Person wieder arbeitsfähig ist . Dies verdeutlicht das Fehlen einer angemessenen Anerkennung der Belastung durch einen schweren Verlust sowie das Fehlen einer Trauerkultur.

Auch Arbeitgeber sind im Umgang mit schwerer Krankheit, Tod und Sterben sowie der Trauer von Angestellten häufig überfordert und wissen nicht, wie sie Angestellte in solchen Situation angemessen unterstützen können (30, 31). Die Förderung der Trauerkultur ist wichtig. Sie gibt praktische Handlungsanweisungen im Umgang mit Verstorbenen (Leichenpflege, Bestattung), für die soziale Ausgestaltung des krisenhaften Ereignisses (Unterstützung und Schutz durch die Gesellschaft) sowie bei der Bewältigung der psychischen Auswirkungen des Verlusts (Trauerarbeit) (32).

Fragen zur Förderung der Selbst­‑reflexion und Kultur der Endlichkeit und Vergänglichkeit

Die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit und der Vergänglichkeit in der Arbeit mit Patient/-innen ist sehr anspruchsvoll. Sie erfordert neben einer hohen sozialen Kompetenz eine vertiefte Selbstreflexion, Kenntnisse von Kommunikationstechniken sowie eine fundierte Schulung und Sensibilisierung bezüglich Fragen hinsichtlich Leben, Sterben, Tod, Verlust und Trauer. Diese Kenntnisse können erlernt werden, werden aber in der medizinischen und pflegerischen Aus-, Weiter- und Fortbildung nach wie vor zu wenig berücksichtigt.

Im Folgenden legen wir verschiedene Fragen vor, die zur Selbstreflexion anregen sollen und dazu beitragen können, eine Kultur der freundlichen Offenheit gegenüber der menschlichen Endlichkeit im klinischen Alltag als auch in der persönlichen Lebensgestaltung zu entwickeln. Diese Fragen dienen nicht nur als Leitfaden für die Kommunikationspraxis im medizinisch begleiteten Sterbeprozess, sondern sollen auch dazu anregen, dass jede/-r Einzelne sowie die Gesellschaft im Allgemeinen sich gegenüber Themen der Endlichkeit öffnen können.

Wie gelingt eine tiefgründige Auseinander­setzung mit der eigenen Endlichkeit?

Die Reflexion eigener Ängste vor dem Tod und dem Sterben sowie die Anerkennung der eigenen Vulnerabilität sind wichtige Voraussetzungen, um empathisch auf die Ängste, Gefühle, Verunsicherungen und Bedürfnisse der Patient/-innen einzugehen. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit eigenen Krankheits- oder Verlusterfahrungen sowie das Verständnis dafür, wie diese Erfahrungen die eigene psychische Gesundheit beeinflussen können. Die Anerkennung, dass das Leben nicht selbstverständlich und die Kontrolle über das Leben sehr beschränkt ist, richtet unsere Aufmerksamkeit auf das, was im Leben von Bedeutung ist. Sich immer wieder einmal die Zeit nehmen, innezuhalten, sich zu besinnen, auf das eigene Innenleben zu schauen und zu spüren, was jetzt gerade wichtig ist, ist eine wichtige Fähigkeit zur Unterstützung der Regeneration und Stärkung der Resilienz (33). Im Umgang mit schwerer Erkrankung empfiehlt es sich ebenfalls, immer wieder einmal die Frage zu stellen, was der Tod uns über das Leben lehrt. In Tabelle 1 sind Zitate aus der Lebens- und Praxiserfahrung von Palliativmediziner/-innen aus der Schweiz aufgeführt, welche die Selbstreflexion im Umgang mit der eigenen Endlichkeit anregen sollen.

Auch die von Harvey Chochinov entwickelte Dignity Therapy kann die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und Selbstreflexion fördern. Die Dignity Therapy wurde ursprünglich für Patient/-innen mit einer schweren fortgeschrittenen Erkrankung zur Linderung von existenziellem Leiden entwickelt. Durch Erzählen von Erinnerungen und bedeutungsvollen Momenten soll die Wertschätzung für das eigene Leben erhöht, die Sinnfindung unterstützt und die Bedeutung der eigenen Lebensgeschichte erkannt werden (34). Die Dignity Therapy kann aber in jeder Lebensphase ein wertvolles Instrument zur Förderung der Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und Vergänglichkeit darstellen, indem man sich besinnt, was man erreicht hat, auf was man besonders stolz ist, wann man sich am Lebendigsten fühlt und was man gern weitergeben möchte.

Vulnerabilität + Solidarität = Social Care
(Fürsorge gegenüber Patient/-innen wie sich selbst)

In der Behandlung und Begleitung von schwer kranken Menschen und ihren Angehörigen sind Gesundheitsfachpersonen stets angehalten, sich empathisch gegenüber den Ängsten, Nöten und Sorgen der Patient/-innen zu öffnen, wodurch sich das Risiko für die Entwicklung von stressbezogenen Krankheiten wie moralischen Distress, Burn-out oder Depression erhöht (35). Die Anerkennung der eigenen Grenzen sowie die Realisation, dass das Leben gegen gewisse Schicksalsschläge nicht abzuschirmen ist und ausserberufliche Ereignisse wie die Geburt eines Kindes, eine schwere Erkrankung, die Pflege eines kranken Angehörigen oder der plötzliche Verlust einer nahestehenden Person auch das eigene Leben betreffen und die Arbeits- und Beziehungsfähigkeit beeinflussen und/oder beeinträchtigen können, zeigt auf, wie wichtig die Aufrechterhaltung der eigenen Selbstfürsorge in der Arbeit mit kranken Menschen ist.

Die narrative Medizin ist ein wichtiges Instrument der Selbstfürsorge und ermöglicht Ärzten/Ärztinnen und Pflegefachkräften, in der komplexen Bedeutung ihrer Tätigkeit sowohl sich selbst als auch andere wiederzufinden und zu verorten. Sie stellt weniger die Krankheit als biologischen Prozess, sondern vielmehr die Krankheitserfahrung in den Vordergrund. Dabei wird der Tatsache Sorge getragen, dass wichtige Lebensereignisse, Übergänge von Gesundheit zu Krankheit, der Wechsel von Leben, Sterben und Tod oder die Erfahrung von Verlust und Trauer Rituale notwendig machen, um die entstandenen Lebenszäsuren zu verarbeiten und ihnen Sinn und Bedeutung zu geben. Die narrative Medizin versucht, das individuelle Erleben und die Gefühle von Gesundheitsfachpersonen zu erfassen, indem sie über Erzählungen, Essays, Bilder, Gedichte oder Geschichten die Selbstreflexion anregt und einen Zugang zum eigenen Erleben schafft. Sie öffnet einen Kanal, in dem man sich in der kompletten menschlichen Verwundbarkeit und der Ehrlichkeit unseres Seins in einem geschützten Rahmen begegnen kann. Die Selbstreflexion wirkt entschleunigend, stressreduzierend und schafft neue Einblicke und Erkenntnisse. Durch die narrative Medizin wird die Selbstfürsorge gefördert, die Resilienz gestärkt und die Fürsorge gegenüber unseren Patient/-innen vertieft (36, 37).

In der Behandlung von Menschen mit schweren Erkrankungen ist es wichtig, auf die eigene Gesundheit zu achten und sich immer wieder einmal zu fragen: «Wie geht es mir? Wie müde oder erschöpft bin ich? Achte ich auf meine Bedürfnisse, nehme ich mir regelmässig Auszeiten, und trete ich in einen fachlichen Austausch?» Die Teilnahme an Balint-Gruppen, Super- oder Intervision sind weitere wichtige Gefässe zur Förderung der Selbstreflexion und zur Stärkung der Resilienz.

Wie können philosophische Betrachtungen den Umgang mit der Endlichkeit und der Vergänglichkeit fördern?

Die Existenzphilosophie untersuchte die Gründe, weshalb wir uns vor dem Tod fürchten, was genau am Tod beängstigend ist und welche Bedeutung es für das Leben hat, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, wobei diese Diskussionen kontrovers verliefen (14, 38). Philosophische Reflexionen können die Entwicklung eines sinnvollen Verhältnisses zu verschiedenen Aspekten des Lebens unterstützen, darunter das Verständnis von Zeit und Zeitlichkeit, Freiheit, Individualität, Selbstverwirklichung, Verantwortung und Selbstfürsorge sowie die Art und Weise, wie wir unsere sozialen Beziehungen pflegen (14, 15). Heidegger betont die Wichtigkeit der Selbstverwirklichung und die Herausforderung, dem Leben Sinn und Bedeutung zu geben (39, S. 141). Er unterstreicht auch die Bedeutung, den Tod bewusst in die Lebensgestaltung zu integrieren, da er dem Leben einen Horizont gibt und ein Zeit- und Grenzbewusstsein vermittelt (14, S. 86). Tugendhat sieht in der Todesangst eher eine Furcht vor dem Sterben. Er war überzeugt, dass es die Nähe zum Tod ist, welche uns auf die Bedeutung des Lebens aufmerksam macht. Die Todesfurcht sei Ausdruck der Erkenntnis, eine Chance verpasst zu haben, dem Leben Sinn und Bedeutung zu geben und den Tod als guten Abschied zu verstehen (15, S. 44 ff.). Sartre hingegen betrachtet die Vorstellung des eigenen Todes als absurd und behindernd für die eigene Selbstverwirklichung (40, S. 23). Rosenzweig betont die Bedeutung der Liebe und der Beziehungen, um die Angst vor dem Tod zu überwinden, und verdeutlicht, dass Selbstverwirklichung nicht ohne Beziehung zu anderen Menschen erreicht werden kann (41). Kierkegaard wiederum sieht die unbeschränkten Möglichkeiten des Lebens als Ursache für menschliche Verzweiflung, da sie die Suche nach dem Sinn erschweren (18, S. 144 ff.). Tatsächlich ist das Leben nicht immer nur gut, wie von den Existenzphilosophen postuliert (38), sondern kann leidvoll erlebt werden. Manchmal ist es so unerträglich und der Leidensdruck so hoch, dass man sich den Tod herbeisehnt (15). Hamlets berühmte Frage «To be or not to be» stellt die existenzielle Ambivalenz des Lebens dar, in dem sowohl Freude als auch Leid existieren.
Die frühzeitige Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und Vergänglichkeit kann helfen, dem Leben einen tieferen Sinn und Bedeutung zu verleihen, indem der Blick auf das gerichtet werden kann, was wirklich von Bedeutung ist. Erst die bewusste Integration des Todes ins Leben ermöglicht ein gelingendes Leben. Die Beschäftigung mit dem Tod und die Anerkennung, dass Sterben und Tod Kernbestandteile des menschlichen Lebens sind, macht uns für das Lebend offener, lebendiger und kreativer (42).

Was bedeutet es, ein erfülltes Leben zu führen?

Die Auseinandersetzung und Bewältigung der Todesangst sind eine wichtige Entwicklungsaufgabe, die uns von der Kindheit an begleitet, in der Adoleszenz eintritt, uns später in der Lebensmitte erneut einholt und schliesslich im hohen Alter wieder begegnet (43, 44). Die Angst vor dem Tod in einer milden Ausprägung ist universell und gehört zur menschlichen Existenz. Sie widerspiegelt unser Bewusstsein für unsere Vulnerabilität, unsere soziale Angewiesenheit und das Wissen um unsere existenzielle Begrenztheit (45). Die Realisation, dass die Lebenszeit begrenzt ist, bewegt uns dazu, über unsere Entwicklungsaufgaben, den Lebenszyklus und unsere Lebensziele nachzudenken sowie darüber, was für das Leben von Sinn und Bedeutung ist. Das Stufenmodell von Erikson gliedert die psychosoziale Entwicklung in acht Stufen. Jede Stufe stellt eine Krise oder einen Konflikt dar, die oder den jeder Mensch für sich lösen muss, um eine gefestigte Persönlichkeit entwickeln zu können (46). Auch wenn dieses Stufenmodell immer wieder kritisiert wurde, zeigt es, dass wir uns im Verlaufe unseres Lebens unter Berücksichtigung der begrenzt verfügbaren Lebenszeit immer wieder mit Ängsten (Krisen) auseinandersetzen müssen.

Wenn es uns gelingt, diese zu überwinden, entstehen persönliche Reife und Weiterentwicklung (44). Eriksons Modell veranschaulicht ebenfalls, dass wir unser Verhalten unserem Alter und insbesondere unseren Entwicklungsaufgaben hingehend auszurichten haben. Sind wir uns des Lebenszyklus und der damit einhergehenden Aufgaben, Verantwortungen und Herausforderungen, aber auch Grenzen und Einschränkungen bewusst, lässt sich vermutlich auch ein besserer Umgang mit dem Tod und dem Sterben finden. Häufig reagiert der Mensch jedoch mit Abwehr und Verleugnung auf die Begrenztheit der eigenen Existenz. Im Schutze der Illusion, etwas Besonderes zu sein, fühlen sich viele Menschen unverletzbar und glauben, Krankheit und Leid blieben ihnen erspart (42). Diese neurotische Abwehr der Todesangst, die im Grunde genommen eine Lebensangst zum Ausdruck bringt (43, S. 117), kann in einem Teufelskreis enden und nicht nur die persönliche Entwicklung blockieren, sondern auch die Autonomie und Selbstverantwortung sowie die Beziehungs-, Liebes- und Genussfähigkeit einschränken (10). Um diesen existenziellen Ängsten zu begegnen, verwendet Irvin D. Yalom eine Art Gleichung. Er postuliert, je mehr ungelebtes Leben in uns steckt und je mehr wir bedauern, was wir nicht gelebt haben, desto mehr fürchten wir den Tod.

Die Auseinandersetzung mit dem Tod und der Begrenztheit des Lebens soll diesen Konflikt lösen und letzten Endes dazu beitragen, ein erfüllteres Leben zu führen. In der existenziellen Psychotherapie geht es nun darum, einen kreativen Umgang mit der Todesangst zu finden und dem Tod einen Platz im psychischen Raum zu geben, damit der Mensch trotz des Wissens um die Sterblichkeit ein persönlich erfülltes und sinnvolles Leben gestalten kann. Ein tägliches Bewusstsein dafür, dass das Leben kurz ist, soll helfen, authentisch und reflektiert zu leben und nichts anzuhäufen, was man am Lebensende bereuen würde (42, 47). Die Überwindung der Ängste vor dem Sterben kann als treibende Kraft zur persönlichen Entwicklung und sinnvollen Lebensgestaltung genutzt werden (43, S. 133).
Irvin D. Yalom ist zudem der Überzeugung, dass die verbleibende Lebenszeit sehr wichtig ist. Das Erlebte kann zwar nicht ungeschehen gemacht werden, die verbleibende Lebenszeit dagegen wird umso wichtiger und kann von jedem neu gestaltet werden. Der Blick darauf, was uns am Lebensende glücklich macht, soll als Massstab dafür dienen, die verbleibende Lebenszeit sinnvoll zu gestalten (42, 47).

Wie kann man Menschen (am Lebensende) helfen, Sinnfragen zu begegnen und ein ­würdevolles Sterben zu erreichen?

Spirituelle oder religiöse Rituale sowie transzendente Erfahrungen können am Lebensende wichtige Ressourcen im Umgang mit Sinnfragen, Ängsten oder existenziellen Nöten sein und auf das Lebensende und den Abschied vorbereiten, indem sie Trost vermitteln und die Verbundenheit zu Angehörigen stärken (48). Mit «spirituell» sind sinnstiftende Erfahrungen, Einstellungen und Rituale gemeint, die eine Person mit der Bedeutung des eigenen Lebens verbindet und können religiöser und nicht religiöser Natur sein (49). Religion und Spiritualität haben kulturübergreifend eine wichtige Aufgabe: Sie sollten die Angst vor dem Sterben und dem Tod lindern. Denn wenn der Tod nicht das Ende, sondern den Anfang markiert, gibt es keinen Grund, ihn zu fürchten. Schwindet jedoch dieser Glaube, nimmt die Angst zu (50).

Während die Ars moriendi im Mittelalter die Menschen aus Sorge um das Schicksal der Seele im Jenseits zu moralisch gutem Handeln anhielt (51), widerspiegeln moderne Interpretationen dieser Sterbekunst eine Lebensethik, die uns unter Einbezug der menschlichen Endlichkeit und Vergänglichkeit zur existenziellen Auseinandersetzung im Hier und Jetzt und zur persönlichen Entwicklung und Selbstverwirklichung ermutigt (52, S. 4–6). Es geht also weniger um die Vorbereitung der Seele auf einen heilsamen Tod als vielmehr darum, in der letzten Lebensphase nicht allein zu sein. Carlo Leget betont in seiner These zu einem erfüllten Leben und guten Sterben die Wichtigkeit, sich frühzeitig über die Dimensionen eines erfüllten Lebens und die damit zusammenhängenden Entscheidungen am Lebensende Gedanken zu machen. Dabei verweist er auf fünf existenzielle Themen, die einen individuellen Reflexionsprozess anregen und den Umgang mit der Endlichkeit und der Vergänglichkeit fördern sollen. Er ermutigt jeden Menschen, sich mit Fragen hinsichtlich eigener Autonomie, Position zu Leid und Schmerz, Abschied, unerledigter Dinge und Chance auf Erfüllung im Hier und Jetzt sowie innerer Wert- und Glaubensvorstellungen auseinanderzusetzen, damit dem Lebensende mit persönlicher Reife und mit innerem Frieden und Versöhnung entgegengeblickt werden kann (53). Die Offenheit gegenüber medizinischen, philosophischen und spirituellen Perspektiven ermöglicht diesen existenziellen Themen nicht nur am Lebensende, sondern im Leben generell mit Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu begegnen (54).

Durch die weltanschauliche Diversifizierung unserer Gesellschaft sind die Haltungen gegenüber dem Sterben und Tod beziehungsweise die damit verbundenen Überzeugungen in einem komplexen Wandel. In säkular geprägten Gesellschaften sind viele Menschen weniger um ihre Existenz nach dem Tod in Sorge, sondern vielmehr um den Weg zum Lebensende. Was bedeutet nun Lebensende, Sterben, Tod und Trauer, wenn der Glaube an ein Weiterleben im Jenseits schwindet? Religion und Spiritualität sind in schweren Lebenssituationen für etwa die Hälfte der Schweizer Bevölkerung nach wie vor bedeutsam (55). Gesundheitsfachpersonen sollten in der Lage sein, offen, wertschätzend und empathisch auf existenzielle, spirituelle und transzendente Bedürfnisse und Erfahrungen einzugehen (56).

Besonders angesichts einer unheilbaren Erkrankung, infausten Prognose, terminalen Situation oder eines Krankheitsprogresses können Spiritualität oder Glaube wieder an Bedeutung gewinnen und die Entscheidungsfindung hinsichtlich lebenserhaltender Therapien beeinflussen. Kestenbaum et al. empfehlen Patient/-innen, nach spirituellen Bedürfnissen und Belastungen zu fragen sowie zu eruieren, welche spirituellen oder religiösen Überzeugungen wichtig sind, um Patient/-innen in der Entscheidungsfindung unterstützen zu können (57). Hierzu eignen sich die revidierte Version der Edmonton Symptom Assessment Scale (ESAS) («Erleben Sie spirituelles Leid oder Schmerzen?») (58) oder das FICA Spiritual Assessment Tool (59). Spirituelle und transzendente Erfahrungen, wie sie nicht selten in Todesnähe auftreten, können ferner einen wichtigen Faktor in der Auseinandersetzung mit Sinnfragen angesichts der eigenen Endlichkeit darstellen (48). Ein nützliches Instrument zur Erfassung von spirituellen Ressourcen und Belastungen am Lebensende ist der von Peng-Keller entwickelte «Spiritual Distress and Resources Questionnaire (SDRQ) (49). Der Leitfaden kann Gesundheitsfachpersonen helfen, spirituelle Aspekte oder Themen in Bezug auf die verbleibende Lebenszeit und bedeutsame Beziehungen anzusprechen.

Wie können Patient/-innen und ihre ­Ange­hörigen auf den Tod vorbereitet werden?

Gespräche über das Lebensende, Sterben und Tod in der Begleitung von Patient/-innen mit einer schweren unheilbaren Erkrankung und ihren Angehörigen sind eine zentrale Aufgabe der Palliative Care und helfen, die Patient/-innen und ihre Angehörigen auf das Lebensende und den Tod vorzubereiten. Dabei ist eine vertrauensvolle, verlässliche Beziehung zum/-r fallführenden Arzt/Ärztin sowie regelmässig stattfindende Gespräche für die Aufrechterhaltung der Kontinuität massgeblich. Der Einbezug der Palliative Care ist besonders in der letzten Lebensphase von Bedeutung, soll jedoch bereits im Verlauf einer chronischen oder schweren unheilbaren Erkrankung und parallel zu kurativen Behandlungsmassnahmen eingesetzt werden (13). Die Palliative Care hat zum Ziel, eine Kultur des Sterbens in unserer Gesellschaft zu etablieren und das Sterben auf eine selbstbestimmte und menschenwürdige Weise zu gestalten.

Cicely Saunders, Mitbegründerin der Palliative Care und Hospizbewegung, beschrieb in ihrem Model «Total Pain», dass das menschliche Leiden eine körperliche, eine psychische/emotionale, eine soziale, eine spirituelle und existenzielle Ebene hat, die sich gegenseitig überschneiden und beeinflussen (60). Aufgabe der Palliative Care ist es nun, dem menschlichen Leiden auf diesen Ebenen unter Einbezug von multiprofessionellen Diensten zu begegnen, um es zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern. Dazu gehört neben der Krankheitsverarbeitung auch die Unterstützung bei der Entscheidungsfindung und bei ethisch-rechtlichen Fragestellungen sowie die Organisation und der Aufbau eines Betreuungsnetzes mit spezialisierten Diensten für zu Hause (z.B. palliative Spitex, Mahlzeitendienst, psychiatrisches Home Care Treatment etc.). Offene Fragen wie «Was haben Sie von Ihrer Krankheit verstanden? Gibt es etwas, das Sie wissen möchten? Was bereitet Ihnen Sorgen, wenn Sie an die nahe Zukunft denken? Was ist Ihnen besonders wichtig, wenn sich Ihr Gesundheitszustand verschlechtern würde? Gibt es etwas, was ich wissen muss, um Sie bestmöglich zu begleiten? Wie kann man Ihre Angehörigen unterstützen?» sind entscheidend, um Patient/-innen mit einer schweren fortgeschrittenen Erkrankung entsprechend ihren Wünschen, Bedürfnissen und Behandlungspräferenzen zu begleiten und zu unterstützen (61). Letztlich gibt es Menschen, die bis zum Lebensende nicht bereit sind, über Sterben und Tod zu sprechen. Auch das gilt es, zu akzeptieren und Wege zu finden, diese Personen wie auch ihre Angehörigen dennoch empathisch und würdevoll begleiten zu können (62).

Wie gelingt es mir, die Resilienz von schwer kranken Menschen zu stärken?

Die Erfahrung einer schweren unheilbaren Erkrankung sowie die Konfrontation mit dem nahenden Lebensende und die damit zusammenhängende Ungewissheit und eingeschränkten Zukunftsperspektiven können Ängste, dramatische Sinnkrisen und den Wunsch nach einem raschen Versterben auslösen (8). In der Auseinandersetzung mit dem Lebensende spielt Hoffnung eine bedeutende Rolle und wirkt als wichtiger Schutzfaktor zur Stärkung der Resilienz im Umgang mit vielfältigen Einschränkungen (63). Hoffnung steht als Gegenbegriff zu Verzweiflung und kann Lebenskraft mobilisieren. Sie verkörpert einen starken Handlungsantrieb, richtet Menschen in ihrem Leid und Verzweiflung auf, stärkt ihre Willenskraft und ihr Selbstwertgefühl. Im Hoffen wirkt immer ein Wunschgedanke. Über die Hoffnung erschliessen sich Menschen neue Existenz- und Handlungsmöglichkeiten, die über den Tod hinaus wirken können, und bewahren dadurch die Handlungsfähigkeit, Autonomie und Selbstbestimmung (64). Was bedeutet es für uns Menschen zu hoffen? Wie hoffen Menschen, wenn sie sich ihrem Lebensende nähern? Was bedeutet Hoffnung für Angehörige? Wie können Gesundheitsfachpersonen mit der Hoffnung von Patient/-innen oder der Hoffnung der Angehörigen interagieren, um ihre Würde, Identität, Autonomie und Selbstbestimmung zu stärken und aufrechtzuerhalten? Die Erzählung (narrative Konstruktion) als komplexer Prozess der Sinnbildung hat eine wichtige Bewältigungsfunktion und spielt in der Aufrechterhaltung der Hoffnung und Resilienz eine wichtige Rolle. Die Selbsterzählung ermöglicht die Verarbeitung der schweren Erkrankung und kann helfen, die lebensgeschichtliche Ruptur langsam in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren und eine neue stabilisierende Identität zu formen. Dabei kann besonders die Konzentration der positiven, bestärkenden Erfahrungen in der Biografie helfen, dem Funktions-, Kontroll- und Sinnverlust zu begegnen und dadurch die verletzte Würde wiederherzustellen (65). Die Aufrechterhaltung der Hoffnung und die Stärkung der Sinn- und Bedeutungsfindung am Lebensende durch palliative Fürsorge und stützende Gespräche können dazu beitragen, die Resilienz von schwer kranken Patient/-innen und ihren Angehörigen zu stärken. Ein besonderes Merkmal der Hoffnung ist, dass sie auch dann weiter bestehen kann, wenn sich Erwartungen und Wünsche nicht erfüllt haben, z.B. die Symptomlast nicht gebessert oder die Schwere der Erkrankung nicht gemildert werden kann. Das Wissen um die begrenzte Lebenszeit und andererseits die Hoffnung auf viele gute Tage oder auch ein Wunder stellen keinen Widerspruch dar. Diese Dualität im Denken (engl. double awareness) – auf das Beste hoffen und auf das Schlimmste vorbereitet sein – widerspiegelt einen wichtigen Grundsatz der Palliative Care. Auch wenn die Hoffnung auf Heilung schwindet, kann Hoffnung weiter bestehen bleiben und als wichtige Ressource zur Stärkung der Resilienz angesichts des nahenden Lebensendes verwendet werden. Fragen wie «Was gibt Ihnen in schwierigen Zeiten Kraft weiterzumachen? Woraus schöpfen Sie Hoffnung, Kraft und Trost?» oder «Was hoffen Sie angesichts der verbleibenden Lebenszeit noch erleben zu dürfen?» können helfen, die Hoffnung auf eine resilienzstärkende Ressource auszurichten (66). Dies gelingt durch eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung, welche sich durch Empathie, Vertrauen, beidseitige Offenheit und die Bereitschaft über den Tod und das Sterben zu sprechen, auszeichnet (62). Die Aufgabe der Palliative Care besteht folglich nicht nur in der Symptomlinderung, sondern auch in der Förderung der Kommunikation mit Angehörigen, der Stärkung der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie der Unterstützung des persönlichen und spirituellen Wachstums, das aus dem Erleben von existenziellem Leiden und Konfrontation mit dem Lebensende entstehen kann.

Wie unterstütze ich trauernde Menschen, ­trauernde Angehörige?

Die Trauer ist eine häufige und natürliche Reaktion auf antizipierte oder erlebte Verlusterfahrungen und hat in der Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und Vergänglichkeit eine wichtige psychische Aufgabe. Sie fördert die Akzeptanz von unwiederbringlichen Veränderungen, von unerfüllten Lebensträumen und/oder Verlusten von wichtigen Bindungen und trägt nach erfolgter Trauerarbeit zur psychischen Entwicklung bei. Scheitern wir an dieser psychischen Arbeit, bleiben wir an innere Objekte aus der Vergangenheit gebunden, die frustriert erlebt werden. Das Resultat ist anhaltende Trauer, depressive Verstimmung, Ängste sowie ein fehlendes Gefühl von Sinn und Bedeutung im Leben (67). Sinnzentrierte Interventionen (z.B. Dignity Therapy (34)) können die Thematisierung von Lebensendthemen unterstützen und Patient/-innen und ihren Angehörigen helfen, Verluste zu akzeptieren und Sinn- und Bedeutungsfindung sowie die Aufrechterhaltung der Würde zu stärken. Auch wenn die Klärung von komplexen medizinischen Situationen und Therapiemöglichkeiten am Lebensende und das Auffangen der emotionalen Reaktionen von Patient/-innen und ihren Angehörigen Zeit und Energie kostet, können diese Gespräche sehr wertvoll sein, eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung aufzubauen und pathologische Formen der Trauer abzuwehren. Dieses Fundament hilft später, Gespräche sehr gezielt und fokussiert auf die wichtigsten Punkte zu lenken (68). Nach dem Tod einer nahestehenden Person können psychotherapeutische Gespräche helfen, Schmerzen zum Ausdruck zu bringen, den Verlust zu verarbeiten und die Trauer zu bewältigen. Die alleinige Anwesenheit eines wachsam zuhörenden, akzeptierenden und nicht wertenden Gegenübers kann dabei tröstend wirken. Auch Abschiedsgespräche mit dem fallführenden Arzt/Ärztin können trauernden Angehörigen helfen, die Trauerarbeit zu initiieren und bieten gleichzeitig Beistand, Orientierung und Halt. Dauert die Trauer nach einem schweren Verlust mehr als sechs Monate an, sollte eine anhaltende Trauerstörung evaluiert und eine Gesprächspsychotherapie gegebenenfalls kombiniert mit einer Psychopharmakotherapie aufgegleist werden (69).

Diskussion

Selbstreflexion und Selbstfürsorge

Ob man das Sterben lernen kann, ist besser in der Umkehr der Frage zu beantworten, nämlich was lehrt uns der Tod über das Leben oder was lehrt uns das Leben generell? Denn der Tod wie die Geburt ist integraler Bestandteil des Lebens. Kliniker/-innen oder Gesundheitsfachpersonen verfügen über ein Bewusstsein der Sterblichkeit und die Erfahrung, andere Menschen sterben zu sehen. Man hat gewisse Kenntnisse über das menschliche Leiden bei schwerer Erkrankung und weiss von der Belastung durch existenzielle Ängste, Einsamkeit, Versagen, Hilflosigkeit, Verzweiflung oder Trauer am Lebensende von sterbenden Personen sowie ihren Angehörigen und kennt die klinischen Vorboten des Todes. Gleichzeitig hat der Tod der Patient/-innen einen bedeutenden Einfluss auf das Denken, Fühlen und Handeln von Gesundheitsfachpersonen. Die Erfahrung des Todes ist unweigerlich eine Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit, die Unbehagen auslösen kann. Jede Person entscheidet für sich, wie viel Nähe zum eigenen Tod ausgehalten und welche kreativen Lösungen gefunden werden können, um mit dieser Urangst umzugehen.

Das Thema Sterben und Tod aus einer gesundheitswissenschaftlichen Perspektive zu thematisieren, ist insofern relevant, weil durch die Akzeptanz der Endlichkeit nicht nur das Leben, sondern das «Er-Leben» des Lebens und damit auch das, was das Leben formt, nämlich die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, Gesundheit und Krankheit sowie Selbstachtung und die Fürsorge und Beziehung zueinander, in unser Blickfeld rückt. Jede/-r ist also zu einem sorgfältigen Umgang mit seiner begrenzten Lebenszeit angehalten sowohl in Bezug auf die Verwirklichung eigener Lebensprojekte als auch im Umgang mit ihren/seinen Beziehungen (14, S. 287). Die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit kann zu einer verstärkten Eigenverantwortung gegenüber dem eigenen wie auch dem Leben der anderen führen und dazu anhalten, das Leben auf möglichst befriedigende, selbstbestimmte und gesundheitsbewusste Weise zu leben und zu gestalten (11, S. 13–17). Aus den Reflexionen und Zitaten von Palliativmediziner/-innen wird verständlich, dass es gerade der Tod ist, der uns herausfordert, Sinn überhaupt erst zu suchen und in unserem Tun zu verwirklichen.

Umgang mit kranken Menschen und ihren ­Angehörigen

Die Perspektive ändert sich, wenn man sich plötzlich mit dem Lebensende konfrontiert sieht. Die Konfrontation mit dem Lebensende und der Verlust der körperlichen und ­seelischen Integrität, der Verlust von Sinn- und Bedeutung im Leben, der Verlust der eigenen Autonomie und Selbstständigkeit sowie die zunehmende Abhängigkeit können einen hohen Leidensdruck verursachen und den Wunsch nach einem raschen Versterben verstärken (34). Pflegende Angehörige dagegen haben häufig noch nie das Sterben eines nahen Menschen erlebt und haben oftmals unrealistische Vorstellungen bezüglich des Sterbeprozesses (13). Gerade im letzten Lebensabschnitt sowie im Hinblick auf die Trauerphase bedürfen schwer kranke Menschen und ihre Angehörigen einer fürsorglichen Begleitung und Unterstützung durch Fachdienste wie der Palliative Care, der Ethikberatung, der Psychoonkologie und der Seelsorge.

Wie ändert sich nun das Erleben von Zeit und Zeitlichkeit des Lebens, wenn der Tod akzeptiert und nicht verdrängt wird? Die klinische Erfahrung mit unseren Patient/-innen lehrt uns, dass die Konfrontation mit einer schweren unheilbaren Erkrankung und der eigenen Endlichkeit das Bewusstsein für die verbleibende, plötzlich wertvoll erscheinende Lebenszeit entscheidend beeinflussen kann (14, S. 49 ff.). Auf wundersame Weise kann die Nähe zum Tod durch eine schwere Erkrankung, eine Nahtoderfahrung oder der Verlust eines nahestehenden Menschen zu tiefgreifenden Veränderungen führen (10, 43). Erst das Erleben des mit dem Sterben verbundenen Leidens ermöglicht das Erleben unserer Urängste: die Angst vor der Einsamkeit, die Angst vor dem Leid und vor dem völligen Kontrollverlust (26). Durch Erfahrung unserer Vulnerabilität, existenziellen Begrenztheit und sozialer Angewiesenheit lässt sich unser Blick auf das richten, was uns wirklich wichtig ist im Leben. Dadurch lässt sich auch eine andere Perspektive auf das Sterben finden, was das Erleben von Transzendenz fördern kann (70). Durch die Erfahrung von schwerer Krankheit, Sterben, Tod, Verlust und Trauer werden Gespräche über den Sinn und die Bedeutung des vorangegangenen Lebens, der Erkrankung und des nahenden Lebensendes möglich. Die Erfahrung der Begrenztheit unseres Daseins bildet einen zentralen Bezugspunkt, wobei die Auseinandersetzung damit zu einer besseren Verortung des Selbst und zu einem tieferen Verständnis der eigenen Identität führt (21).

Fazit

Über den Tod sprechen ist wichtig. Nur so werden wir uns unserer Unvollkommenheit und beschränkten Möglichkeiten bewusst. Die Auseinandersetzung mit der Angst vor dem Tod und dem Sterben ist eine wichtige Entwicklungsaufgabe. Sie erfordert unter Berücksichtigung der begrenzt verfügbaren Lebenszeit eine fortwährende Bewältigung im Verlaufe unseres Lebens, damit diese nicht blockiert, sondern als treibende Kraft zur persönlichen Entwicklung und sinnvollen Lebensgestaltung genutzt werden kann. Die Öffnung gegenüber der eigenen Endlichkeit führt zu einer verstärkten Eigenverantwortung für das eigene Leben und das der anderen und zu einer selbstbestimmten, gesundheitsbewussten und zufriedenen Lebensgestaltung. Die Offenheit gegenüber unserer eigenen Endlichkeit und Vergänglichkeit befähigt uns, mit unseren Patient/-innen über den Tod zu sprechen und sie und ihre Angehörigen empathisch und verlässlich bis zum Lebensende hin zu begleiten. Dadurch gelingt es auch schwer kranken Patient/-innen und ihren Angehörigen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und Therapieentscheidungen zu treffen, die ihr Leiden lindern und die Lebensqualität verbessern.

Danksagung

Die Autorinnen und Autoren danken Professor Dr. med. Dr. phil. Ralf Jox für seine Reflexionen über Leben, Sterben und Tod.

Historie
Manuskript eingereicht: 08.04.2024
Angenommen nach Revision: 01.07.2024

PD Dr. phil. Annina Seiler

Klinik für Radio-Onkologie, Kompetenzzentrum Palliative Care,
Universitätsspital Zürich

annina.seiler@usz.ch

PD Dr. med. Caroline Hertler

Klinik für Radio-Onkologie
Kompetenzzentrum Palliative Care
Universitätsspital Zürich und Universität Zürich

Sophia Rose Evstigneev

Klinik für Radio-Onkologie, Kompetenzzentrum Palliative Care, Universitätsspital Zürich und Universität Zürich

Markus Schettle

Klinik für Radio-Onkologie, Kompetenzzentrum Palliative Care, Universitätsspital Zürich und Universität Zürich

Prof. Dr. med. Steffen Eychmüller

Chefarzt
Universitäres Zentrum für Palliative Care
Inselspital Bern, SWAN Haus
Freiburgstrasse 38
3010 Bern

Prof. Dr. Jan Gärtner

Palliativzentrum, Universität Basel, Schweiz

Dr. med. Sandra Eckstein

Abteilung für Palliative Care, Departement Theragnostik, Universitätsspital Basel, Basel

PD Dr. med. Tanja Fusi-Schmidhauser

Clinica di Cure Palliative e di Supporto, Ente Ospedaliero Cantonale, Lugano e Bellinzona

Dr. med. Christa Hauswirth Siegenthaler

Zentrum für Palliative Care, Kantonsspital Winterthur

Prof. Dr. Brigitte Booth

Gemeinschaftspraxis Psychotherapie Bellevue, Zürich

Prof. Dr. Simon Peng-Keller

Professur für Spiritual Care, Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät, Universität Zürich

Prof. Dr. med. David Blum

Klinik für Radio-Onkologie, Kompetenzzentrum Palliative Care, Universitätsspital Zürich und Universität Zürich

Die Autorinnen und Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Formula-Diäten für den Gewichtsverlust – Chancen und Herausforderungen

Zusammenfassung:

Formula-Diäten können mit dem Einsatz von industriell hergestellten Mahlzeitenersatzprodukten zu einer effektiven und schnellen Gewichtsreduktion und Verbesserung von Übergewichts-assoziierten Komorbiditäten führen. Durch die spezifische Zusammensetzung der Mahlzeitenersatzprodukte wird die Einhaltung der Kalorienziele und die Versorgung mit essenziellen Nährstoffen während einer erheblichen Energierestriktion vereinfacht. Trotz vieler möglicher Anwendungsfelder, Wirkungsnachweisen aus randomisiert kontrollierten Studien und Einfachheit in der praktischen Umsetzung bestehen Herausforderungen. Eintönigkeit und soziale Einschränkungen erschweren das Durchhalten und die Akzeptanz. Der Einsatz von Formula-Diäten zum nachhaltigen Gewichtsverlust erfordert deren Integration in ein multimodales Behandlungskonzept mit dem Ziel einer langfristigen Änderung des Ess- und Bewegungsverhaltens. Dazu gehört eine begleitende Ernährungsberatung, Bewegungsförderung, Evaluation adjuvanter pharmakolgischer oder interventioneller Therapien, sowie psychologische Unterstützung. Durch die Entwicklung neuer Inkretin-basierter Adipositasmedikamente hat sich ein weiteres Anwendungsfeld für Formula-Produkte eröffnet. Optimierungspotenzial liegt in einer Ausweitung des Produkteangebots und der Kombination mit digitalen Anwendungen, womit die Akzeptanz gesteigert und eine grössere Patientengruppe angesprochen werden kann.

Formula-Diäten werden als voller oder teilweiser Mahlzeitenersatz in der Behandlung von Übergewicht und Adipositas eingesetzt, um einen vergleichsweisen schnellen Gewichtsverlust von 5-10% innert 3-6 Monaten zu erzielen (1-3) . Aufgrund der weltweit steigenden Prävalenz von Übergewicht und Adipositas mit Verdreifachung der Zahl der Menschen mit Adipositas in den letzten fünf Jahren (4) werden gezielte Ernährungsinterventionen, ggf. auch in Kombination mit pharmakologischen Therapien immer relevanter. Im folgenden Übersichtsartikel werden das Therapiekonzept der Formula-Diäten, deren klinische Anwendungsfelder, sowie die aktuelle Studienlage zu häufigen Einsatzgebieten vorgestellt. Zudem werden Herausforderungen in der Umsetzung und ein mögliches Entwicklungspotenzial für die Zukunft diskutiert.

Formula-Diäten – Definitionen und Hintergrund

Die Voraussetzung für einen Gewichtsverlust durch eine Ernährungsintervention ist eine Reduktion der Energiezufuhr mit dem Ziel eine negative Energiebilanz (d.h. Energiezufuhr unterschreitet Energieverbrauch) zu erreichen. Generell werden Energierestriktions-Diäten in «very low calorie diet» (VLCD) mit weniger als 800 Kilokalorien pro Tag (kcal/d) und «low calorie diet» (LCD) mit 800-1200 kcal/d unterteilt (5). Bei einem Energieumsatz von 2000 kcal/d bedeutet dies ein Energiedefizit von 50-60% täglich. Rechnerisch kann bei einem Kaloriendefizit von 1000-1200 kcal/d ein Gewichtsverlust von 1-1.2 kg pro Woche erzielt werden. Eine Formula-Diät ist eine VLCD oder LCD, bei welcher Mahlzeiten ganz oder teilweise durch industriell angefertigte Formula-Produkte ersetzt werden. Formula-Produkte, welche den täglichen Nährstoffbedarf bei vollständigem Mahlzeitenersatz (4-5 Produkte bei einem Energiegehalt von durchschnittlich 200-220 kcal/Produkt) abdecken, gelten als vollbilanziert, bei partieller Abdeckung als teilbilanziert. Formula-Produkte gelten als Diätprodukte mit medizinischer Zweckbestimmung (sog. Foods for Specific Medical Purposes), wobei gesetzliche Vorgaben in Bezug auf die Zusammensetzung einzuhalten sind (5).

Bei Verwendung von Formula-Produkten zum vollständigen Mahlzeitenersatz müssen die entsprechenden Vorgaben für Makro- und Mikronährstoffgehalt sichergestellt sein (6). Beispielsweise muss ein Cholingehalt von mindestens 400 mg und eine Mindestproteinmenge von 75 g eingehalten werden, wobei der Aminosäureindex (protein digestibility-corrected amino acid score, PDCAAS) als Nachweis einer adäquaten Eiweissqualität bei 1.0 liegen muss. Bei den essentiellen Fettsäuren wird nach kürzlich erfolgter Anpassung nur noch eine Mindestzufuhr von 0.8 g alpha-Linolensäure vorgegeben (7). Erfüllt der Hersteller mit seiner Mahlzeitenersatzdiät alle Vorgaben, können die Produkte als «vollständiger Mahlzeitenersatzdiät zur Gewichtskontrolle» (original: «total diet replacement for weight control») vermarktet werden. Die Dauer vollständigen Mahlzeitenersatzes ist nur für maximal acht Wochen (früher 12 Wochen) zugelassen, weshalb auch diese Information auf dem Produkt klar ersichtlich sein muss.

Historische Entwicklung

Die erste beschriebene Formula-Diät zur Behandlung einer Gesundheitsstörung war die „Karell-Diät“, die im Zusammenhang mit Herzerkrankungen im frühen 20. Jahrhundert eingeführt wurde (8). Diese, auf Milch basierende Diät, lieferte 500 bis 1000 kcal pro Tag und wurde für 5 bis 6 Tage verschrieben. Erste Studien zum Einsatz von Formula-Diäten zur Gewichtsabnahme wurden in den 1950er Jahren mit selbstgemischten Shakes berichtet, die Zucker, Maisöl, Milch und Wasser enthielten (9). Obwohl bei diesen ersten Untersuchungen die Gesamtenergiezufuhr 1500 kcal pro Tag überstieg und die Diät nur einen Monat lang durchgeführt wurde, verloren die Teilnehmer/-innen in dieser Studie bis zu 13.8 kg. Allerdings fielen 56% der Teilnehmer jedoch innerhalb von zwei Wochen wieder zurück auf ihr Ausgangsgewicht. Die meisten heute verwendeten Formula-Diät-Programme, wie Counterweight, Lighter Life oder die 1:1-Diät, basieren auf dem Cambridge Weight Plan, der in den 1970er Jahren vom Ernährungswissenschaftler Dr. Alan Howard entwickelt wurde (10).

Einsatz von Formula-Diäten in medizinisch begleiteten Abnehmprogrammen

Formula-Diäten werden idealerwiese medizinisch begleitet an spezialisierten Adipositaszentren durchgeführt. Vorgehend sollten Kontraindikationen für eine LCD oder VLCD (z.B. bestimmte angeborene Stoffwechselkrankheiten oder Schwangerschaft/Stillzeit) und sekundäre Adipositasursachen ausgeschlossen werden und ein detailliertes Ernährungsassessment erfolgen. Auch ist eine ärztliche Aufklärung über mögliche Nebenwirkungen und ggf. Instruktion von Begleitmassnahmen (z.B. Anpassungen von Ko-Medikationen wie Antihypertensiva oder Antidiabetika) angezeigt. Die Diät-Instruktion und Begleitung sollte durch eine qualifizierte Ernährungsfachperson erfolgen. Die Umsetzung orientiert sich in der Regel an einer klaren Struktur bestehend aus drei Phasen (Abb. 1) (5). Initial erfolgt ein vollständiger Mahlzeitenersatz (meist 8 Wochen), gefolgt von einer Übergangsphase mit teilweisem Mahlzeitenersatz und Abschluss mit einer Stabilisierungsphase zum Erhalt des erzielten Gewichtsverlustes.

Begleitend werden Massnahmen zur Bewegungsförderung, Erhöhung der Ernährungskompetenz und ggf. auch Verhaltenstherapie umgesetzt. Bei längeren Programmen oder komplexeren Patient/-innen werden auch ärztliche Zwischenuntersuchungen eingeplant. Ab Phase zwei (Wiedereinführung von Nahrungsmitteln mit einem schrittweisen Austausch von Formula-Produkten) wird die Gesamtenergiezufuhr wieder allmählich, angepasst an das Zielgewicht und Aktivitätsniveau, gesteigert und die Verwendung der Produkte auf einmal täglich reduziert. In der letzten Phase der Gewichtsstabilisierung, werden individuelle Energieziele mehrheitlich über Energie- und Nährstoff-definierte ausgewogene Mahlzeiten, auf Basis des erworbenen Ernährungswissens, eingehalten.

Eine Auswahl von Formula- Produkten verschiedenerer Hersteller ist in Tabelle 1 dargestellt. Oft werden dazugehörig auch spezifische Umsetzungsprogramme vorgeschlagen. Adipositaszentren können sich daran orientieren oder auch eigene Konzepte etablieren, da eine Bindung der Patient/-innen an spezifische Hersteller und kommerzielle Programme oft nicht erwünscht ist. Je nach Produktwahl, Kombination mit normalen Nahrungsmitteln und individuellen Nährstoffbedürfnissen ist durch eine Fachperson zu entscheiden, ob zusätzlich Supplemente wie zum Beispiel Mikronährstoffe oder Ballaststoffe erforderlich sind.

Die Kosten für Formula-Produkte liegen bei etwa 5 bis 5.50 CHF pro Portion, entsprechend betragen die Gesamtkosten bei drei bis fünf Produkten pro Tag 140 bis 155 CHF pro Woche. Es hängt vom Land ab, ob Krankenversicherungen die Kosten für Formula-Diäten und dazugehörige Abnehmprogramme übernehmen. In der Schweiz ist es nicht üblich, finanzielle Unterstützung von Krankenversicherungen zu erhalten, während in Großbritannien das NHS ein 12-wöchiges digitales Abnehmprogramm einschließlich der Anwendung von Formula-Produkten entwickelt hat und die Kosten dafür trägt (11).

Wirksamkeitsnachweis in klinischen Studien

Formula-Diäten und Gewichtsreduktion

Formula-Diäten wurden in verschiedenen klinischen Studien zur Gewichtsreduktion verwendet, wobei Unterschiede hinsichtlich Produktauswahl, Dauer und Umsetzungsprogramm bestehen. In einer Observationsstudie von 2012 wurden über 8000 Teilnehmer/-innen während ihrer Gewichtsreduktion mit dem Optifast 52 Programm begleitet. Nach einem Jahr lag der absolute Gewichtsverlust bei den knapp 4500 Teilnehmer/-innen, welche das Programm bis zum Abschluss der 52 Wochen durchführten, bei 21.2 kg. Das entspricht einem relativen Gewichtsverlust von 17.9%. Damit einhergehend kam es zu einer reduzierten Prävalenz des metabolischen Syndroms, einem geringeren Auftreten von arterieller Hypertonie und einer Verbesserung des Lipidprofils (12). Gemäss einer Übersichtsarbeit von 2017 kann mit einer Formula-Diät ein Gewichtsverlust von bis zu 20 kg innert zwölf Monaten erzielt werden (13).

In dieser Arbeit wurden sowohl VLCD als auch LCD mit über 800 kcal/Tag mit einer Interventionsdauer von 4-52 Wochen eingeschlossen. Es konnte zudem kein Unterschied in der Gewichtsabnahme bei Personen mit oder ohne Diabetes festgestellt werden. Im Vergleich zu einer reinen Lifestyle-Intervention zeigt sich jedoch eine zusätzliche mittlere Gewichtsabnahme von 3.9 kg (2). Auch langfristige Ergebnisse konnten bereits erfasst werden und bestätigen, dass nach initialer Verwendung einer VLCD ein anhaltender Gewichtsverlust von 3.4-4.2 kg nach bis zu fünf Jahren im Vergleich zum Ausgangsgewicht beibehalten werden kann.

Zwei neuere randomisierte Studien verglichen eine Formula-Diät mit vollständigem Mahlzeitenersatz für mindestens zwölf Wochen mit einer üblichen Diät. In der DROPLET-Studie ersetzten 138 Teilnehmer/-innen Mahlzeiten vollständig durch Formula-Produkte (Total Diet Replacement, TDR) mit 810 kcal/Tag über acht Wochen, gefolgt von einer Phase der Nahrungswiedereinführung (1). Die TDR-Gruppe erreichte innerhalb von 12 Monaten eine Gewichtsabnahme von 10,7 kg im Vergleich zu einer Gewichtsabnahme von 3,1 kg in der Gruppe mit üblicher Versorgung. 45% verloren mit der Formula-Diät mindestens 10% ihres Ausgangsgewichts, im Gegensatz zu 15% in der Kontrollgruppe. Die OPTIWIN-Studie zur Evaluation des OPTIFAST-Programms (OP) verglich als multizentrische randomisiert kontrollierte Studie die etablierte Formula-Diät mit einem auf Lebensmitteln basierenden Ernährungsplan mit einem Kaloriendefizit von 500-750 kcal (food-based, (FB)) (14).

Die 135 Teilnehmer/-innen der OP-Gruppe erhielten einen vollständigen Mahlzeitenersatz mit 800 kcal/Tag für 12-16 Wochen. Nach 26 Wochen betrug die durchschnittliche Gewichtsabnahme in der OP-Gruppe 12.4% im Vergleich zu 6% in der FB-Gruppe, und nach 52 Wochen 10.5% und 5.5%. 30% der Teilnehmer/-innen der OP-Gruppe erreichten nach einem Jahr eine Gewichtsabnahme von mehr als 15%. Zudem wurden weitere kardiovaskuläre Risikomarker erfasst und es zeigte sich eine signifikant höhere Abnahme des Taillenumfangs und der Gesamtkörperfettmasse in der OP-Gruppe, aber auch die Abnahme der Gesamtkörpermagermasse war ausgeprägter. Milde bis moderate Nebenwirkungen traten bei 76.8% der Teilnehmer/-innen in der OP Gruppe auf, gegenüber 62.7% in der FB Gruppe. Die häufigsten Nebenwirkungen in diesen beiden Studien waren Obstipation, Kopfschmerzen, Schwindel, Durchfall, Übelkeit und Fatigue.

Die teilweise Mahlzeitenersatzdiät ist eine weitere Option für Adipositasprogramme. Eine Studie hat gezeigt, dass bereits ein Mahlzeitenersatz pro Tag die kalorische Aufnahme um etwa 200 kcal reduzieren und innerhalb von 12 Wochen zu einer Gewichtsreduktion von 4.3% führen kann gegenüber der Kontrollgruppe mit Standarddiät und einem Gewichtsverlust von 0.3% (15).

Formula-Diäten für Diabetes-Remission

Eine Gewichtsreduktion durch eine Formula-Diät kann eine diabetische Stoffwechsellage nicht nur verhindern, sondern oft auch rückgängig machen. Im Jahr 2002 konnte das «Diabetes Disease Prevention Program» zeigen, dass eine multimodale Lebensstilintervention, einschließlich diätetischer Veränderungen, grosses Potenzial hat, die Inzidenz von Typ-2-Diabetes zu reduzieren (16). Gemäss einer aktuellen Übersichtsarbeit kann eine Diät mit initialer Anwendung einer VLCD in Form eines vollständigen Mahlzeitenersatzes innerhalb von einem Jahr bei im Mittel 54% der Patient/-innen eine Diabetesremission bewirken (17). Die durchschnittliche Diabetes-Dauer der Teilnehmer/-innen lag bei 3-5 Jahren und der durch die Formula-Diät erreichte mittlere Gewichtsverlust 10-12 kg nach 12 Monaten. Im Vergleich zu anderen Diätformen wie der mediterranen oder ketogenen Ernährung war die VLCD der effektivste Ansatz zur Initiierung einer Diabetesremission.

Jedoch zeigte auch bereits ein teilweiser Mahlzeitenersatz eine Remissionsrate von 11% bei begleitender Gewichtsreduktion von 8.6 kg innerhalb eines Jahres. Die Remissionsrate wurde auch in der 2018 veröffentlichten offenen, cluster- randomisierten DIRECT-Studie untersucht. Die Interventionsgruppe in dieser Studie mit 149 Teilnehmer/-innen mit Übergewicht und Diabetes (max. 6 Jahre) ohne Insulintherapie folgte dem Counterweight Plus Programme und wurde mit einer Kontrollgruppe verglichen, die ein übliches Gewichtsmanagement durchlief (3, 18). 77.9% der Interventionsgruppe und 94% der Kontrollgruppe nahmen an dem Assessment nach zwei Jahren teil. Dort wurde bei 41.1% der Teilnehmer/-innen der Interventionsgruppe im Vergleich zu 3.4% in der Kontrollgruppe eine Diabetes-Remission erreicht bei einem durchschnittlichen Gewichtsverlust in der Interventionsgruppe von 7.6 kg gegenüber 2.3 kg in der Kontrollgruppe. Die höchste Diabetes Remissionsrate wurde bei Teilnehmer/-innen mit einem Gewichtsverlust von mehr als 10 kg beobachtet (73%), bei 15 kg Gewichtsverlust lag die Remissionsrate sogar bei 86%. In der Analyse nach einem Jahr benötigten 74% der Patient/-innen in der Interventionsgruppe keine antidiabetische Pharmakotherapie mehr.

Im Vergleich nutzte die Look AHEAD Studie als eine der ersten randomisierten kontrollierten Studien, einen teilweisen Mahlzeitenersatz (2 Mahlzeitenersatzprodukte pro Tag; 1 normale Mahlzeit) in einem multimodalen Interventionsprogramm für Diabetespatienten/-innen. Über 5000 Teilnehmer/-innen mit Übergewicht und Diabetes wurden initial in die Studie eingeschlossen und in den Gruppen betrug die Follow-up Rate 94.1% in der Interventions- und 93.1% in der Kontrollgruppe. Nach vier Jahren hatte sich der HbA1c-Wert in der Interventionsgruppe signifikant um 0.36 Prozentpunkte gegenüber 0.09 Prozentpunkte in der Kontrollgruppe verbessert. Es mussten in der Interventionsgruppe über den Zeitraum von vier Jahren weniger Teilnehmer/-innen mit der Einnahme von antidiabetischen Medikamenten im Vergleich zur Kontrollgruppe starten (42% gegenüber 67%) und 9% konnten innerhalb der vier Jahre ihre orale antidiabetische Therapie stoppen (19). Auch eine Insulintherapie musste im Vergleich zur Kontrollgruppe in dem Zeitraum bei weniger Patient/-innen gestartet werden (7% gegenüber 12%) und nach vier Jahren konnten 23% ihre Insulintherapie stoppen.

Studien, welche Personen mit Diabetes und Insulintherapie einschlossen, dokumentierten keine erhöhte Rate an Hypoglykämien in Interventionsgruppen, welchen einen vollständigen Mahlzeitenersatz durchführten (20). Die Autor/-innen wiesen jedoch darauf hin, dass eine engmaschige Betreuung zur regelmässigen Anpassung der Insulindosis notwendig ist.

Formula Diäten zur präoperativen Gewichtsreduktion vor Adipositaschirurgie

Eine vorgeschriebene Gewichtsreduktion unmittelbar vor einer bariatrischen Operation ist in vielen chirurgischen Abteilungen üblich. Auch wenn die Studienlage nicht ganz eindeutig ist, gibt es Hinweise darauf, dass eine präoperative Gewichtsreduktion die perioperative Morbidität und/oder Mortalität reduzieren kann (21). Eine Übersichtsarbeit untersuchte die Machbarkeit und Effektivität eines präoperativen Mahlzeitenersatzes zur Verbesserung chirurgischer Outcomes bei Patient/-innen mit Adipositas (22). Unter den 15 eingeschlossenen Studien waren zwei randomisiert kontrollierte Studien enthalten (120 und 273 Teilnehmer/-innen), sowie zwei retrospektive Analysen. Es wurde eine hohe Akzeptanz und Adhärenz der Diät in diesem Setting festgestellt. Bei über 70% der Studien konnte ein Gewichtsverlust von 5% bei einer Diät-Dauer von im Mittel 4 Wochen (6-168 Tage) erreicht werden und bei der Hälfte der Studien von über 10% bei einer Interventionsdauer von einer bis 16 Wochen. Zudem zeigte sich eine Diät-induzierte Reduktion des Lebervolumens von 10%. Bezüglich der postoperativen Outcomes wurde eine Verbesserung metabolischer Risikofaktoren wie Blutglukose oder Lipidprofil, sowie in vier Studien eine Reduktion der Mortalitätsrate festgestellt.

Herausforderungen in der klinischen Praxis

Der Erfolg des Gewichtsverlusts durch diätetische Intervention hängt hauptsächlich von der Adhärenz der Patient/-innen während des Programms ab. Daher untersuchten viele Studien die Akzeptanz, Erfahrungen und Probleme während multimodaler Gewichtsverlustprogramme auf der Grundlage von Formula-Diäten. Die meisten teilnehmenden übergewichtigen Patient/-innen haben in der Vergangenheit schon viele erfolglose Diätversuche durchgeführt. Mit dem Wunsch nach einem nachhaltigen Gewichtsverlust für bessere Gesundheit und Aussehen, starten sie zunächst sehr motiviert in eine Formula-basierte diätische Intervention mit Erwartungen an den Therapieerfolg.

Eine gute Betreuung durch professionelle Berater/-innen und eine Unterstützung durch das soziale Umfeld sind wichtige Erfolgsfaktoren. Neben dem Gewichtsverlust trägt auch eine Verbesserung des körperlichen und psychischen Wohlbefindens oder eine Verbesserung der Diabeteseinstellung mit weniger Medikamentenbedarf zur anhalten Motivation bei. Während der Teilnahme an einem multimodalen Programm berichten Patient/-innen häufig, dass sie die Durchführung als einfacher empfinden, als erwartet und Vorteile darin sehen kein Essen vorbereiten oder einkaufen zu müssen. Als herausfordernd werden jedoch die sozialen Einschränkungen durch die fehlende Teilnahme an gemeinsamen Mahlzeiten und auch die fehlende Abwechslung in der Ernährung empfunden. So entwickeln Patient/-innen häufig Strategien, um Herausforderungen und Versuchungen aus dem Weg zu gehen. Sie ziehen sich zum Essen in einem separaten Raum zurück, meiden Orte und Situationen, wo ihnen ein Verzicht schwerfallen könnte oder suchen sich aktiv eine Ablenkung, um Versuchungen zu wiederstehen. In Summe erleben Teilnehmer/-innen meist ein Überwiegen der positiven Effekte gegenüber Einschränkungen und Nebenwirkungen (23-25).

Ausblick und Entwicklungspotenzial

Die kurzfristige Wirksamkeit von Formula-Diäten im Rahmen von teilweisem oder vollständigem Mahlzeitenersatz konnte in Studien nachgewiesen werden. Herausforderungen bestehen vor allem in der Adhärenz und der langfristigen Gewichtsstabilisierung. Wie in vielen Diäten besteht ein hohes Risiko für eine erneute Gewichtszunahme, dem sogenannten Jojo-Effekt. Nachfolgend gehen wir auf das Entwicklungspotenzial und weitere Anwendungsfelder der Formula-Diäten ein.

Kombination mit Pharmakotherapie

Inkretin-basierte Medikamente sind in den letzten 3-5 Jahren zur Standardinterventionen in der Adipositasbehandlung geworden, wobei Kostenübernahme und Verfügbarkeit noch grosse Herausforderungen darstellen. Obwohl die Wirksamkeit erhältlicher Präparate noch nicht vergleichbar ist mit bariatrischer Chirurgie, erzielen die heute bereits eingesetzten Therapien in der Mehrheit der Fälle einen Gewichtverlust von 5-15% (26). Die Kombination einer Energierestriktionsdiät auf Basis von Formula-Produkten zur Initiierung des Gewichtsverlusts mit der Verwendung von Inkretin-Pharmakotherapie kann bei der Aufrechterhaltung der Gewichtsreduktion unterstützen (27). Die Hauptwirkung der neuen Medikationen besteht in einer Reduktion des Appetits und einem verstärkten Sättigungsgefühl. Bei Therapiebeginn treten in der Mehrheit der Fälle auch gastrointestinale Nebenwirkungen auf, womit es zu einer erheblichen Reduktion der Nahrungszufuhr kommt. Auch wenn hierdurch die gewünschte Gewichtsabnahme eingeleitet wird, besteht damit ein Risiko Nährstoffdefizite zu entwickeln. Hier können bilanzierte Formula- Produkte zu einer Mikronährstoff- und Proteinversorgung beitragen, ohne das Kaloriendefizit zu gefährden. Zudem stellen Formula-Produkte bei aktuell häufig auftretenden Lieferengpässen der Medikamente eine überbrückende Massnahme zum Erreichen individueller Gewichtsziele dar.

Zugänglichkeit und Telemedizin

Digitalisierung und telemedizinische Ansätze werden bereits in vielen medizinischen Bereichen eingesetzt, um die Datensammlung, Patientenversorgung und Therapieentscheidungen zu vereinfachen (28), womit auch ein großes Potenzial für deren Nutzung in der Adipositasbehandlung besteht. Wenn es möglich ist, diese standardmässig in die medizinische Versorgung zu integrieren, könnten Gesundheitsdienstleister mehr Informationen über das Ess- und Bewegungsverhalten ihrer Patient/-innen erhalten, sowie Probleme bei der Gewichtsreduktion während der Behandlung erkennen. Insbesondere die frühzeitige Erkennung von Zielabweichungen und Einleitung von präventiven oder korrektiven Massnahmen sind vorteilhaft. Formula-Diäten mit Übergang in optimierte Ernährungsweisen eignen sich folglich für App-basierte Ernährungsberatungen, welche auch das Monitorisieren von Mahlzeiten, Gewichtsverlauf und Nebenwirkungen ermöglichen. Auch die erleichterte Zugänglichkeit ohne Abhängigkeit von örtlichen Kapazitäten und die Möglichkeit der Betreuung grösserer Patientenzahlen können Vorteile sein.

Produktevielfalt, Zusammensetzung und begleitende Ernährungsunterstützung

Aktuell wird hauptsächlich Protein aus tierischen Quellen für Formula-Produkte verwendet, auch insbesondere bei industriellen Anfertigungen. Gleichwertige Proteinqualitäten können jedoch auch mit einer Kombination verschiedener pflanzlicher Quellen erreicht werden. Dies sollte im Hinblick auf die planetare Gesundheit und dem Ressourcenverbrach bei der Entwicklung neuer Produkte berücksichtigt werden (29-32). Zudem besteht weiteres Optimierungspotenzial in einer Erhöhung des Ballaststoffgehalts, welcher in den verfügbaren Produkten meist noch niedrig ausfällt. Das sollte im Rahmen der Intervention gemeinsam mit einer Fachperson besprochen werden. Dies kann ebenso zu einer verbesserten Adhärenz beitragen, wie ein Ausbau des Produktangebotes, sowie spezifische Rezeptvorschläge zur selbständigen Energie- und Nährstoff-definierten Mahlzeitenzubereitung.

Eine engmaschige Betreuung durch qualifizierte Ernährungsberater/-innen hat sich bereits als essenziell erwiesen und sollte weiter intensiviert werden und um gezielte Einkaufsempfehlungen ergänzt werden. Zudem ist oft auch eine gute Information der Patient/-innen hinsichtlich begleitender Ballaststoffpräparate, sowie ergänzender Einnahme von Multivitaminpräparaten notwendig. Je nach Produktauswahl, Menge und Begleiterkrankungen mit zum Beispiel vorbestehendem Mikronährstoffmangel, kann eine ergänzende Supplementation sinnvoll oder notwendig sein. Als Gesundheitsdienstleister/-innen sollten wir Möglichkeiten entwickeln, all diesen unterschiedlichen Anliegen Rechnung zu tragen und parallel die weitere Forschung und Entwicklung auf diesem Gebiet voranzutreiben.

Nele Endner

Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin & Metabolismus (UDEM)
Inselspital, Universitätsspital
Universität Bern

Prof. Dr. med. Dr. phil. Lia Bally

Leitende Ärztin, Leiterin Ernährungsmedizin, Metabolismus und Adipositas
Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin & Metabolismus (UDEM)
Inselspital, Universitätsspital Bern
Julie-von-Jenner-Haus
Freiburgstrasse 15
CH-3010 Bern

lia.bally@insel.ch

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

Da die Behandlungsoptionen für Adipositas zunehmen und Ausgangslagen und Therapieansprechen unterschiedlich sind, sind Ernährungsinterventionen wichtige Therapiekomponenten. Die aktuelle Evidenz legt nahe, dass Formula-Diäten, insbesondere vollständiger diätetischer Mahlzeitenersatz, das Potenzial haben, zu einem schnellen und erfolgreichen Gewichtsverlust zu führen und Begleiterkrankungen zu reduzieren. Diese kurze Übersicht und unsere eigenen Erfahrungen haben gezeigt, dass es notwendig ist, Formula-Diäten in ein multimodales, interdisziplinäres Programm zu integrieren, um die besten Ergebnisse zu erzielen. Es gibt viele weitere Ansätze für die Implementierung von Formula-Diäten in Adipositasprogrammen. Eine Hauptherausforderung besteht in der Aufrechterhaltung eines erreichten Gewichtsverlusts nach Abschluss des Therapieprogrammes, wobei die Kombinationen mit Inkretin-basierten Adipositasmedikamenten unterstützen könnte – weitere Forschung ist erforderlich, um bestehende Wissenslücken zu schließen.

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Körperliche Aktivierung bei Adipositas

Zusammenfassung:

Personen mit Adipositas, die sich operativer oder pharmakologischer Therapien unterziehen, erzielen bezüglich Gewichts- und kardiometabolischer Risikoreduktion gute Ergebnisse. Nicht selten setzen Betroffene das Ausmass der erreichten Gewichtsreduktion einem langfristigen Behandlungserfolg gleich. Dabei wird übersehen, dass neben der Adipositas auch die starke Gewichtsreduktion ein Sarkopenierisiko birgt. Sarkopenische Adipositas und Sarkopenie erhöhen wiederum das Risiko für kardiometabolische Erkrankungen. Körperliche Aktivierung besitzt das Potenzial, dem durch Adipositas und Sarkopenie hervorgerufenen kardiometabolischen Erkrankungsrisiko entgegenzuwirken. Den hierfür zugrunde liegenden Mechanismus beherbergt das endokrine Organ Skelettmuskulatur. Durch Produktion und Aussendung von Myokinen kann dieses der sarkopenischen Adipositas und deren Folgeerkrankungen entgegenwirken. Um die Myokinproduktion in Gang zu setzen, bedarf es körperlicher Aktivierung. Ausdauer- und Krafttraining erweisen sich als eine sinnvolle Kombination. Um eine nachhaltige kardiometabolische Risikoreduktion zu erzielen, sollten Zielsetzungen und zeitlicher Ablauf der körperlichen Aktivierungsmassnahmen in zwei Phasen unterteilt werden, eine vorbereitende Phase und eine tatsächliche Gewichtsreduktionsphase.

Zugrunde liegende Mechanismen

Bariatrisch operative Interventionen oder pharmakologische Therapien reduzieren bei Personen mit Adipositas neben dem Körpergewicht auch das kardiometabolische Erkrankungsrisiko (1, 2). Nicht selten setzen Betroffene das Ausmass der erreichten Gewichtsreduktion einem langfristigen Behandlungserfolg gleich. Dabei wird übersehen, dass nicht nur die Adipositas, sondern auch eine starke Gewichtsreduktion ein Sarkopenierisiko birgt (3, 4). Sarkopenische Adipositas und Sarkopenie erhöhen wiederum das langfristige Risiko für kardiometabolische Erkrankungen (5–7). Nicht der Body-Mass-Index (BMI), sondern die Körperkomposition scheint hierfür von entscheidender Vorhersagekraft. Das viszerale Fettgewebe als Ursprungsort schädigender und das Organ Skelettmuskulatur als Produktionsort gesundheitsfördernder Zytokine stehen sich diesbezüglich als Hauptakteure gegenüber (8–17).

Ein zentrales Kennzeichen der Erkrankung Adipositas ist die übermässige viszerale Fettanhäufung. Günstigenfalls vermehren sich, häufig jedoch hypertrophieren viszerale Fettzellen, um die anflutenden Energiemengen abspeichern zu können. Durch das hohe Mass an abzuspeicherndem Energieüberschuss gelangen die viszeralen Fettzellen an ihre Kapazitätsgrenzen. Dies führt zum einen zu ektoper Fettansammlung und zum anderen zu einer Überbeanspruchung und Schädigung viszeraler Fettzellen. Das Immunsystem reagiert auf diese Schädigung mit einer Entzündungsreaktion mit Konsequenzen für den ganzen Organismus. Entzündungsfördernde Makrophagen setzen proinflammatorische Zytokine frei. Zusammen mit Adipozyten gelangen diese aus dem viszeralen Fettgewebe in den Organismus und sorgen für eine chronische subklinische systemische Entzündungslage. Diese bewirkt Beeinträchtigungen des kardiovaskulären Systems, von Zucker- und Fettstoffwechsel und führt zu entzündlich bedingten degenerativen Prozessen wie der Sarkopenie und letztendlich zu einem zunehmenden kardiometabolischen Erkrankungsrisiko (8–10).

Die Skelettmuskulatur hat das Potenzial, diesem entzündlich degenerativen Krankheitsgeschehen entgegenzuwirken. Als endokrines Organ besitzt sie die Fähigkeit, Zytokine, sogenannte Myokine, zu produzieren und für den gesamten Organismus verfügbar zu machen. Voraussetzung, um diesen Mechanismus in Gang zu setzen, ist körperliche Aktivierung.
Myokine wirken unter anderem antiinflammatorisch, regulieren Fett- und Zuckerstoffwechsel, sorgen für Muskelwachstum und -qualität und beeinflussen zentrale Steuerungsprozesse wie die Appetitregulation im Gehirn (11–17).

Wie in Abbildung 1 zu erkennen ist, kann das aktive Organ Skelettmuskulatur der übermässigen viszeralen Fettanhäufung, der daraus resultierenden chronischen subklinischen systemischen Entzündung und den damit verbundenen kardiometabolischen Risikofaktoren entgegenwirken.
In welcher Form und zeitlichen Abfolge körperliche Aktivierung optimale Wirksamkeit entfaltet, soll im Folgenden dargestellt werden.

Körperliche Aktivierung vor der ­Gewichtsreduktion (Phase 1)

In Phase 1 zielt die körperliche Aktivierung als vorbereitende Massnahme insbesondere auf die Steigerung der körperlichen Beanspruchbarkeit, die Reduktion der chronischen subklinischen systemischen Entzündung und die Verbesserung von Muskelquantität und -qualität ab. Um diese Zielsetzungen zu erreichen, werden regelmässige körperliche Aktivierungsmassnahmen, insbesondere Krafttraining in Form von Muskelaufbautraining und Ausdauertraining, benötigt. Unabdingbar ist eine begleitende Ernährungsberatung (18).
Zur Verlaufs- und Erfolgskontrolle sollten die Trainingsmassnahmen durch eine regelmässige Ermittlung der Körperkomposition, des Phasenwinkels (19) und der Handkraft (20) begleitet werden. Die tägliche Überprüfung der Herzratenvariabilität in Ruhe, zur Orientierung und bei Bedarf kurzfristig anzupassenden Belastungsgestaltung, erscheint sinnvoll (21, 22).

Muskelaufbautraining vor der Gewichts­reduktion (Phase 1)

In der ambulanten Adipositastherapie dienen Muskelaufbautrainingsprogramme im Allgemeinen dem Erhalt von Skelettmuskelmasse unter den Bedingungen einer Kalorienrestriktion. Ein schwieriges Unterfangen, da eine starke Gewichtsreduktion, z. B. im Rahmen einer bariatrischen Intervention, häufig mit einem deutlichen Verlust von Lean-Body-Mass (LBM) und damit verbunden Muskelmasse einhergeht (4).
Die Zielsetzung des vorbereitenden Muskelaufbautrainings in Phase 1 liegt nun darin, Muskelquantität und -qualität vor der Phase der eigentlichen Gewichtsreduktion zu optimieren. Dadurch soll der Verlust an LBM in der Gewichtsreduktionsphase minimiert werden. Zur Erfolgskontrolle dienen die Ermittlung der Handkraft und die bioelektrische Impedanz-analyse (BIA):
Die Handkraftstärke steht hierbei stellvertretend für den gesamten Körper, in positiver Korrelation mit einer günstigen Körperkomposition und in negativer mit dem Sarkopenie­risiko einer ungünstigen Körperkomposition (20).

Anhand der BIA kann Körperkomposition und Phasenwinkel ermittelt werden. Hierbei gibt der Phasenwinkel mittels elektrischer Widerstands- und Leitfähigkeitsmessung Auskunft über extrazelluläre und intrazelluläre Flüssigkeitsverteilung und Zellintegrität. Ein niedriger Phasenwinkel geht mit einer ungünstigen Flüssigkeitsverteilung, wie er bei einer übermässigen Fettansammlung vorzufinden ist, einher. Ein niedriger Phasenwinkel deutet aber auch auf den Verlust von LBM, eine schlechte Zellintegrität und eine chronische subklinische systemische Entzündungslage hin (19).
Im Zusammenhang mit bariatrischen Operationen haben präoperative Handkraft und präoperativer Phasenwinkel hohe Vorhersagekraft bezüglich langfristiger Effektivität und Qualität des postoperativen Gewichtsverlustes (20)!

Ein vorbereitendes Muskelaufbautraining besitzt das Potenzial, Handkraft und Phasenwinkel zu optimieren. Hierzu wird ein begleitendes Ernährungsprogramm primär nicht zur Kalorienreduktion, sondern durch eine geeignete Makronährstoffzusammenstellung und Energiezufuhrlenkung zur Verbesserung der Körperkomposition, insbesondere hinsichtlich Skelettmuskelquantität und -qualität, benötigt. Stokes et al. empfehlen im Rahmen von Krafttraining und einer isokalorischen Energiezufuhr 1.6–2.2 Gramm Proteinzufuhr, pro Kilogramm Körpergewicht und Tag. Die tägliche zuzuführende Proteinmenge sollte auf drei bis vier Mahlzeiten verteilt werden, um optimale Wirksamkeit zu erzielen (23).
Campa et al. (24) haben in einer kontrollierten randomisierten Studie mit Frauen mit Adipositas eine signifikante Verbesserung von Handkraft und Körperkomposition durch Muskelaufbautraining ohne Kalorienrestriktion belegen können.

Hierzu bedurfte es einem 24-wöchigen, jeweils dreimal wöchentlich stattfindenden Krafttrainings. Trainiert wurden alle grossen Muskelgruppen mit 8–12 Wiederholungen pro Trainingssatz und einer Intensität von 60–80% der maximalen konzentrischen Muskelkontraktionskraft (1-RM). Neben der Verbesserung von Handkraft und Körperkomposition konnten kardiometabolische Risikofaktoren wie Nüchternplasmaglukose, Insulin, HOMA-IR, HbA1c, Gesamtcholesterin, Triglyzeride und LDL-Cholesterin signifikant gesenkt werden (24).

Auch für die Verbesserung des Phasenwinkels erscheint ein Krafttraining in Form von Muskelaufbautraining über eine längere Trainingsdauer von ca. 12–24 Wochen, einer Trainingshäufigkeit von dreimal pro Woche und einer Intensität von ca. 60–80% der 1-RM bei etwa 8–12 Wiederholungen pro Trainingssatz als zielführend. Sardina und Rosa konnten dies im Rahmen ihrer Metaanalyse bestätigen (25). Sie führten die Verbesserung des Phasenwinkels einerseits auf eine Erhöhung der Glykogenspeicherkapazität und damit einhergehend erhöhten Flüssigkeitsspeicherkapazität in der Muskelzelle zurück. Durch die veränderte Flüssigkeitsverteilung im Körper verbesserte sich die Leitfähigkeit des Körperwassers. Dies führte zu einer Verringerung des ersten Teilwiderstands, der im Rahmen der BIA gemessen wird, der sogenannten Resistanz.

Die weitere Ursache sahen sie in der Verbesserung des intrazellulären Protein- und Zellstruktur-Remodelling und damit einhergehend der Integrität der Muskelzelle. Dies führte zu einer Erhöhung des zweiten Teilwiderstands, der im Rahmen der BIA an den Körperzellen gemessen wird, der sogenannten Reaktanz. Der Phasenwinkel, der das Verhältnis zwischen Leitfähigkeit des Körperwassers und Körperzellwiderstand beschreibt, wurde somit sowohl durch eine Erniedrigung der Resistanz als auch durch eine Erhöhung der Reaktanz verbessert (25).

Für die praktische Umsetzung des Muskelaufbautrainings in Phase 1 lassen sich daraus folgende Empfehlungen ableiten:
Eine Dauer von drei bis sechs Monaten mit einer Häufigkeit von drei Trainingseinheiten pro Woche an nicht aufeinanderfolgenden Tagen erscheint zielführend. Nach einer mindestens zweiwöchigen Einführungs- und Gewöhnungsphase sollte die Intensität in etwa 60–80% Prozent der 1-RM betragen. Dies spiegelt sich in einer Wiederholungszahl von 8–12 Wiederholungen pro Übungssatz bis zur jeweiligen Ausschöpfung der Muskelkraft wider.
Für Beginner ist zunächst ein Trainingssatz pro Übung und Trainingstag ausreichend. Die Anzahl der Trainingssätze pro Woche und Übung kann dann alle vier Wochen um einen Satz, bis zu zehn Sätzen pro Woche, gesteigert werden (26–28). Alle grossen Muskelgruppen sollten in das Muskelaufbautraining miteinbezogen werden. Für die obere Extremität sind dies insbesondere Brust-, breite Rücken- und Armmuskulatur, für den Rumpf Bauch- und autochthone Rückenmuskulatur und für die untere Extremität Gesäss-, vordere und hintere Oberschenkelmuskulatur und Wadenmuskulatur.

Neben dem Ganzkörpertraining kann entweder ein Zirkeltraining oder das Stationstraining als Organisationsform gewählt werden. Beide Varianten bieten Vor- und Nachteile.
Die diagnostische Kontrolle beruht auf der Ermittlung der Körperkomposition, des Phasenwinkels, der Handkraft und günstigenfalls auch der HRV in der Erholungsphase, um bei Bedarf tagesaktuelle Dosierungsanpassungen vornehmen zu können (29).

Wie in Abbildung 2 zu erkennen ist, geht dem eigentlichen Muskelaufbautraining eine Aufwärmphase voraus. Diese unterteilt sich in eine allgemeine Vorbereitung für das Herz-Kreislauf-System und eine spezifische für die beanspruchten Muskelgruppen und Gelenke. Danach erfolgt das eigentliche Muskelaufbautraining. Die Übungsreihenfolge sorgt dafür, dass es zu keiner vorzeitigen Ermüdung einzelner Muskelgruppen durch redundante Beanspruchung kommt. Am Ende des Trainings steht die Abwärmphase. Diese dient der Einleitung der Regenerationsphase, die für das Krafttraining mindestens einen Tag beansprucht. Erst in der Regenerationsphase finden die qualitativen und quantitativen Anpassungseffekte statt.

Tabelle 1 stellt beispielhaft die Kennziffern, Belastungsparameter und diagnostischen Massnahmen im Rahmen der praktischen Umsetzung der gesammelten Erkenntnisse dar. Trainiert wird jeweils an drei nicht aufeinanderfolgenden Tagen pro Woche. In den ersten Trainingswochen genügt ein Trainingssatz pro Übung mit 8–12 Wiederholungen bis zur jeweiligen Ermüdung der beanspruchten Muskelgruppe. Dies entspricht einer Trainingsintensität von 60–80 % des 1-RM. Die Anpassung des Trainingsgewichtes orientiert sich hierbei an der Wiederholungszahl. Das bedeutet, dass eine Beanspruchung von in etwa 80% erreicht wird, wenn 8 Wiederholungen unter muskulärer Auslastung durchgeführt werden können. Eine Beanspruchung von 60% der 1-RM entspräche dann 12 Wiederholungen unter muskulärer Auslastung.
Durch die tagesaktuelle Anpassung des jeweils möglichen Trainingsgewichts, die Möglichkeit der Modifikation der Wiederholungszahl pro Trainingssatz und die Steigerung um einen Trainingssatz alle vier Wochen bis zu maximal zehn Trainingssätzen pro Woche wird das erforderliche progressive Vorgehen berücksichtigt (26).

Moderates allgemeines aerobes Ausdauertraining vor der Gewichtsreduktion (Phase 1)

Ein allgemeines aerobes Ausdauertraining mit moderater Intensität verfolgt in dieser Anfangsphase der körperlichen Aktivierung mehrere Ziele. Zum einen soll die Herz-Kreislauf-Funktion verbessert und eine Optimierung der Mobilisation freier Fettsäuren bewirkt werden. Zum anderen dient das in Phase 1 durchgeführte moderate aerobe Ausdauertraining zum regenerativen Ausgleich gegenüber den notwendigen intensiven Krafttrainingseinheiten in dieser Phase und als Vorbereitung und Gewöhnung an höhere Intensitäten in Phase 2.

Für den Trainingsbeginner kann eine mehrmals wöchentlich stattfindende moderate Ausdauerbelastung von kurzer Zeitdauer (10–30 Minuten), z. B. in Form von Spazierengehen, Nordic Walking oder Fahrradfahren, durchaus ausreichend sein. Nach der Eingewöhnungsphase kann dann die Belastungsdauer je nach Beanspruchbarkeit, entsprechend den Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung von Pfeifer u. Rütten (30), auf 30–60 Minuten pro Bewegungseinheit gesteigert werden. In Ergänzung zu den genannten können Bewegungsformen wie Wassergymnastik, Schwimmen, Skilanglauf und weitere geeignete hinzukommen. Um die für diese Phase essenzielle moderate Belastung zu gewährleisten, sollte sich die Belastungsdosierung am subjektiven Belastungsempfinden anhand der Borg-Skala (31) und die Belastungsverträglichkeit an der täglich morgendlich zu messenden Herzratenvariabilität (HRV) in Ruhe (32) orientieren. Eine Belastungsdosierung anhand bekannter Herzfrequenzformeln könnte aufgrund der häufig in dieser Zielgruppe verabreichten Blutdruck- und Herzfrequenz senkenden Medikation zu einer Fehleinschätzung der Belastungsdosierung führen (33).
Eine moderate aerobe Belastungsform in Kombination mit geeigneten Ernährungsmassnahmen gewährleistet in dieser Phase auch die Optimierung von Zucker- und Fettstoffwechsel (34).

Die in Phase 1 geschaffenen Grundlagen beugen einer Überlastung und katabolen Situation (z. B. Eiweissabbau, Verlust an LBM), verursacht durch die notwendigen intensiveren Trainingseinheiten in Phase 2, vor (34–36).
Die in Tabelle 2 empfohlene Belastungsdosierung nach dem subjektiven Belastungsempfinden nach Borg (31) kann Anwendung in der praktischen Umsetzung eines moderaten allgemeinen aeroben Ausdauertrainings finden, wie es beispielhaft in Abbildung 3 dargestellt wird.


Beispiel 1 in Abbildung 3 beinhaltet bewusst moderate allgemeine Ausdauertrainingseinheiten von kurzer Zeitdauer. Diese niedrige Belastungsdosierung richtet sich an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter den Trainierenden, die als Bewegungsanfänger einzustufen sind. Sie stellt für diese Zielgruppe zunächst einen angemessenen Belastungsreiz dar (37). Mit zunehmender oder bereits bestehender Trainingserfahrung orientieren sich zeitliche Trainingsumfänge und Intensitäten dann an der gesteigerten Beanspruchbarkeit einer trainingserfahrenen Personengruppe (siehe Beispiel 2).

Körperliche Aktivierung zur Gewichts­reduktion (Phase 2)

In Phase 1 wurden die Voraussetzungen für eine langfristige Reduktion kardiometabolischer Risikofaktoren geschaffen. In Phase 2 gilt es nun, grundsätzlich zu unterscheiden, ob das körperliche Aktivierungsprogramm zur Unterstützung der medizinisch interventiv bewirkten Gewichtsreduktion, beispielhaft im Folgenden nach einer bariatrischen Operation, oder als eigenständiges Gewichtsreduktionsprogramm genutzt werden soll.

Muskelaufbautraining zur Gewichtsreduktion (Phase 2)

Für das Muskelaufbautraining gilt nun die zentrale Zielsetzung, dass die LBM, insbesondere in Form von Skelettmuskelmasse und -qualität, trotz Gewichtsreduktion erhalten werden kann (20).
Wird nun die Gewichtsreduktion durch eine deutliche Kalorienrestriktion bedingt, wie es nach einer bariatrischen Operation der Fall ist, muss diese Ausgangssituation in der Trainingsgestaltung Berücksichtigung finden. Neben den bekannten günstigen Konsequenzen erhöht sich durch die bariatrisch interventiv bewirkte starke Gewichtsreduktion das Risiko, aufgrund des Verlustes an LBM langfristig eine Sarkopenie zu entwickeln (38, 39). Unter den gegebenen katabolen Umständen ist es deswegen essenziell, einen erhöhten Skelettmuskelabbau und eine Erhöhung des viszeralen Fettanteils durch eine geeignete Trainingsdosierung und Energiezufuhrgestaltung zu verhindern. Eine Metaanalyse von Bellicha et al. bestätigt diesen Sachverhalt (40). In den darin vorgestellten Studien verbesserten postoperative Trainingsprogramme, meistens aus einer Kombination von Kraft- und Ausdauertraining bestehend, kardiometabolische Faktoren und Muskelkraft. In den meisten der in der Metaanalyse erfassten Studien gelang es allerdings nicht, den deutlichen Verlust von durchschnittlich 10 kg LBM innerhalb der ersten 12 Monate nach Gastric-Bypass-Operationen zu verhindern. Die Autoren begründeten diesen Sachverhalt mit einer unzureichenden Proteinzufuhr und einer zu kurzen Trainingsinterventionsdauer von höchstens viereinhalb Monaten. Nur in zwei im Rahmen der Metaanalyse vorgestellten Studien, hierbei handelte es sich jedoch bei der bariatrischen Intervention um keine Gastric-Bypass-Operation, konnte der Verlust von LBM gering gehalten werden. Zusätzlich konnte eine Verbesserung der Knochendichte nachgewiesen werden. Diese positiven Effekte schrieben die Autoren der langen Trainingsinterventionsdauer von 9 bzw. 24 Monaten zu, obwohl im Rahmen des Trainingsprogramms Krafttrainingseinheiten nur zweimal wöchentlich durchgeführt wurden (40).

Aufgrund der dargestellten Erkenntnisse sollte ein Muskelaufbautraining nach bariatrischer Operation langfristig angelegt werden und zwei Trainingseinheiten pro Woche beinhalten (siehe Tabelle 3). Dies entspricht auch den Vorgaben eines gesundheitsorientierten Krafttrainings (30). Eine ausreichende Eiweisszufuhr ist zum Erhalt der LBM essenziell (23).


Ist beabsichtigt, die Gewichtsreduktion ohne operative Intervention durch ein körperliches Aktivierungsprogramm in Begleitung zielführender Ernährungsmassnahmen herbeizuführen, kann dies variabel über Energieverbrauch, Energiezufuhr und Makronährstoffzusammenstellung gesteuert werden.
Im Rahmen einer kontrollierten randomisierten Untersuchung zur Gewichtsreduktion führten Frauen mit Adipositas ein Krafttraining unter reduzierter Kalorienzufuhr durch. Über einen Zeitraum von 24 Wochen wurden entweder eine oder drei Trainingseinheiten Muskelaufbautraining pro Woche mit entsprechender ernährungsgesteuerter Kalorien­restriktion begleitet. Trainiert wurde jeweils in vier Sätzen zu 8–12 Wiederholungen unter Einbezug aller grossen Muskelgruppen. Die Trainingsintensität richtete sich nach dem jeweils bewältigbaren Gewicht bei 10 Wiederholungen. Konnte das Gewicht mit 10 Wiederholungen leicht bewältigt werden, fand eine Trainingsgewichtserhöhung statt. Konnte das Gewicht mit 10 Wiederholungen nicht bewältigt werden, fand eine Reduktion des Ausgangsgewichtes statt.

Körpergewicht, Taillenumfang und prozentualer Fettanteil verringerten sich in beiden Gruppen signifikant. Im Rahmen der BIA verbesserten sich der kapazitive Widerstand zu Körperhöhe (Xc/h), als Zeichen der Zellintegrität, der Phasenwinkel, stellvertretend für LBM und Gesamtkörper-wasserverteilung, und die Handkraft, stellvertretend für Körperkomposition und Sarkopenierisiko, jedoch nur in der Gruppe, die dreimal wöchentlich trainierte (27).
Wie in Tabelle 4 ersichtlich ist, ergibt sich für die praktische Umsetzung des Muskelaufbautrainings im Rahmen der Gewichtsreduktion durch körperliche Aktivierung und ernährungsgesteuerter Kalorienrestriktion eine ähnliche Trainings- und Intensitätsgestaltung wie in Phase 1.

Allgemeines aerobes Ausdauertraining zur Gewichtsreduktion (Phase 2)

Als Unterstützung der erzielten Gewichtsreduktion nach ba­riatrischer Operation dient das aerobe Ausdauertraining weiterhin der kardiometabolischen Risikoreduktion, der Regeneration und der Rekrutierung von viszeralem Körperfett für die Energiebereitstellung. Längere Umfänge, mit moderaten und höheren Intensitäten im Wechsel, sind hierfür zielführend.

Bei der Gestaltung des Ausdauertrainings muss wie beim Muskelaufbautraining beachtet werden, dass eine deutliche Kalorienrestriktion, bedingt durch den bariatrischen Eingriff, bereits vorgegeben ist. Ein zusätzliches Kaloriendefizit durch körperliche Überlastung könnte sich deswegen als kontraproduktiv erweisen (35, 36). Aus diesem Grund wird, wie in Abbildung 4, Beispiel 1, dargestellt, die Trainingshäufigkeit des Ausdauertrainings auf drei Tage reduziert. Dies entspricht den Empfehlungen zu einem gesundheitsorientierten Ausdauertraining (30).
Im Rahmen der Ernährungsberatung muss nun darauf geachtet werden, dass eine Mangelversorgung bzgl. Mikronährstoffen und ein übermässiger Eiweissabbau, der Muskulatur und Immunsystem beeinträchtigen kann, verhindert wird.

Soll allein durch die körperliche Aktivierung in Kombination mit geeigneten Ernährungsmassnahmen, ohne bariatrisch operative Intervention, eine Gewichtsreduktion erzielt werden, ist es Aufgabe des Ausdauertrainings, einen möglichst hohen Kalorienverbrauch zu generieren. Bei der nun trainingserfahrenen und gut beanspruchbaren Zielgruppe können hierzu anstrengende aerobe Ausdauertrainingseinheiten von bis zu einer Stunde und kurzzeitige intensivste Trainingsbelastungen, wie beim High-Intensity-Intervall-Training (HIIT), genutzt werden.

Mendelson et al. (41) führten hierzu eine randomisierte Untersuchung mit 19 Teilnehmerinnen und 41 Teilnehmern durch. Es fand eine Aufteilung in drei Gruppen statt. Gruppe 1 führte ein moderates kontinuierliches Ausdauertraining auf dem Fahrradergometer für 45 Minuten nahe der maximalen Fettverbrennungsrate durch. Laut Autoren entspricht dies in etwa 50% der maximalen Sauerstoffaufnahme. Gruppe 2 absolvierte ein HIIT für die Dauer von 45 Minuten mit jeweils einer Minute Belastung und einer Minute Erholung, ebenfalls auf dem Fahrradergometer. Gruppe 3 absolvierte ein ähnliches Programm wie Gruppe 2, jedoch mit variabler Pausengestaltung von jeweils 30–120 Sekunden zwischen den Trainingsintervallen. Die Belastungsdauer wurde während der zweimonatigen Studie von 32 Minuten im Rahmen des kontinuierlichen Ausdauertrainings und von 16 Minuten im Rahmen der HIIT-Trainingsformen in der ersten Woche, auf 44 Minuten in der letzten Woche für alle drei Trainingsgruppen gesteigert. Taillenumfang, Gesamtfettmasse und abdominelle Fettmasse nahmen nur in der HIIT-Trainingsgruppe 2 signifikant ab. In Trainingsgruppe 1 konnten Insulin und HOMA2-IR signifikant gesenkt werden. Die Verbesserungen konnten ohne Kalorienrestriktion erzielt werden (41).

Hierzu ist anzumerken, dass ein anstrengendes aerobes Ausdauertraining oder ein intensives Intervalltraining grundsätzlich einen hohen Energiebedarf generiert. Obwohl dieser relativ gesehen über die aerobe oder anaerobe Verstoffwechs­lung eines hohen Kohlehydratanteils abgedeckt wird, kann bei trainierten Personen, wie es durch die Vorbereitungen in Phase 1 der Fall ist, im Rahmen dieser hohen Intensitäten absolut gesehen ein höherer Anteil an freien Fettsäuren oxidiert werden, als dies durch ein moderates Ausdauertraining möglich wäre. So z. B. im Kontext einer 60-minütigen aeroben Ausdauerbelastung in einer Intensität, mit der diese Beanspruchung gerade noch absolviert werden kann, oder im Rahmen eines 20-minütigen anaeroben Intervalltrainings. Ein trainierter Organismus oxidiert hierbei während der aeroben Ausdauerbelastung, während der Regenerationspausen zwischen den Intervallen eines Intervalltrainings, insbesondere aber auch in der Regenerationsphase nach den Belastungen, einen hohen Anteil freier Fettsäuren. Bei gleichzeitig stattfindender geeigneter Energiezufuhrlenkung kann dadurch eine Gewichtsreduktion mittels Abbaus viszeralen Fettgewebes erzielt werden (34, 42–46).

Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse sollte in der praktischen Umsetzung zur Gewichtsreduktion sowohl ein anstrengendes aerobes Ausdauertraining von ca. 60 Minuten Dauer als auch das HIIT genutzt werden. Um die Zielsetzung der Gewichtsreduktion unter Beibehaltung von Muskelmasse und Reduzierung viszeralen Fettgewebes umsetzen zu können, muss die Ernährungsberatung neben der variabel an das Training anzupassenden Kalorienreduktion eine geeignete Energielenkung und Makronährstoffversorgung berücksichtigen. Dies bedeutet, dass der Zeitpunkt der Energiezufuhr und die Makronährstoffzusammensetzung so gewählt werden, dass die Mobilisierung von freien Fettsäuren, insbesondere aus dem Fettgewebe, nicht behindert wird. Hierfür ist es wichtig, dass das Speicherhormon Insulin dieser Mobilisierung während der Beanspruchung und in den Regenerationsphasen nicht im Wege steht. Nahrungskarenz vor der Beanspruchung und eine grundsätzliche Makronährstoffzusammenstellung mit niedriger glykämischer Last und Insulinwirkung scheinen hierfür sinnvoll. Anstelle des zu reduzierenden Zucker- und Stärkeanteils dienen Ballaststoffe, die Erhöhung des Eiweiss- und Fettanteils, insbesondere in Form von Olivenöl und marinen Omega-3-Fettsäuren, dem Erhalt der Muskelmasse, der Regeneration und der Unterstützung entzündungshemmender regulatorischer Prozesse (34, 43–48).

In Abbildung 4 ist beispielhaft jeweils eine Trainingswoche für ein Ausdauertraining zur Begleitung der durch eine bariatrische Intervention erzielten Gewichtsreduktion (Beispiel 1) oder als eigenständiges Trainingsprogramm zur Gewichtsreduktion (Beispiel 2) dargestellt. Die Belastungsdosierung orientiert sich an dem subjektiven Belastungsempfinden nach Borg (Tabelle 4).

Zusammenfassung und Ausblick

Auch wenn die Körpergewichtsreduktion häufig das primäre Ziel in der Therapie von Personen mit Adipositas darstellt, darf hierbei nicht übersehen werden, dass eine starke Gewichtsreduktion mit einem zunehmenden kardiometabolischen Erkrankungsrisiko einhergeht.
Dieser Sachverhalt erfordert zukünftig sowohl vonseiten der Betroffenen als auch der Betreuenden eine teilweise Neuausrichtung in der Priorisierung von Zielsetzungen und zusätzliche Anstrengungen bzgl. Strukturierung, Koordination und Umsetzung von Massnahmen.

Schwerpunkte bilden hierbei die vorbereitende Phase vor der eigentlichen Gewichtsreduktion, die enge Verknüpfung stationärer und ambulanter Massnahmen und die Strukturierung und Koordination der multimodalen ambulanten Betreuung rund um die Gewichtsreduktionsmassnahme.
Für eine nachhaltige kardiometabolische Risikoreduktion im Rahmen körpergewichtsreduzierender Interventionen sind neben einem intakten Herz-Kreislauf-System Skelettmuskelmasse, Muskelkraft und -qualität von richtungsweisender Bedeutung. Deshalb sollte der eigentlichen Gewichtsreduktionsmassnahme eine vorbereitende Phase, die eine Verbesserung von Muskelquantität und -qualität, und nicht die Gewichtsreduktion zum Ziel hat, vorgeschaltet werden.

Während der Gewichtsreduktionsphase sollte dann dem Erhalt dieser quantitativen und qualitativen Eigenschaften, neben der Reduktion des viszeralen Fettanteils, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Um diese Zielsetzungen zu erreichen, ist eine dauerhafte Umsetzung von Kraft- und Ausdauertraining, kombiniert mit einer zielführenden Ernährungsstrategie, essenziell.
Zur Erfolgskontrolle sollten diagnostische Massnahmen Parameter berücksichtigen, die Aussagekraft bzgl. Körperkomposition, Muskelqualität und Herz-Kreislauf-Funktion besitzen.

Grundsätzlich darf das Ausmass der Gewichtsreduktion diese wesentlichen Zielsetzungen der Adipositastherapie nicht gefährden.
Um die erforderlichen Verhaltensmassnahmen dauerhaft
umzusetzen, sind Motivation und Modifikation von Bewertungsstrukturen vonseiten der Betroffenen erforderlich. Die hierfür notwendigen edukativen Massnahmen liegen genauso wie die Schaffung von strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen für eine nachhaltige Umsetzung im Verantwortungsbereich der Betreuenden.

MA Ulrich Hamberger

Physiotherapeut, Gesundheitsmanager (MA)
Römerauterrasse 12
D-86899 Landsberg am Lech

uhamberger@ulrich-hamberger.de

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Adipositas und Nierenerkrankungen

Zusammenfassung:

Die Adipositas-Epidemie hat zu einem erhöhten Vorkommen der Obesity-related oder Adipositas-bedingten Glome­rulopathie (ORG) geführt. Diese eigenständige Erkrankung wird durch Proteinurie, Glomerulomegalie, fortschreitende Glomerulosklerose sowie einen Rückgang der Nierenfunktion gekennzeichnet. Bei Personen mit Adipositas besteht gehäuft arterielle Hypertonie und Diabetes mellitus, wodurch die renale Schädigung augmentiert wird. Die Pathogenese umfasst eine Überaktivierung des RAAS (Renin-Angiotensin-Aldosteron-System), eine glomeruläre Hyperfiltration, Entzündungsreaktionen mit oxidativem Stress, Hyperinsulinämie-bedingte hämodynamische Änderungen sowie Lipotoxizität. Zusätzlich ist Adipositas ein relevanter Risikofaktor für Nierensteinbildung und kann dadurch zusätzlich zu einer Nierenschädigung beitragen. Das Management der adipositasinduzierten Nephropathie umfasst insbesondere Gewichtsreduktionsstrategien sowie eine optimierte Kontrolle von Blutdruck und Stoffwechselfaktoren. Früherkennung ist dabei entscheidend, um dem Fortschreiten der Nierenschädigung entgegenzuwirken. Letztlich ist erwähnenswert, dass Adipositas die Durchführung von Nierenersatzverfahren bis hin zur Nierentransplantation erheblich erschwert und die Komplikationsrate erhöht. In Summe gibt es somit viele Gründe, warum auch in der Nephrologie ein besonderes Augenmerk auf das Thema Adipositas gelegt werden sollte.

Schädigungen der Nieren durch Adipositas

Adipositas ist mit verschiedenen Erkrankungen der ­Nieren wie Glomerulopathien und Nephrolithiasis sowie auch einer schlechteren Nierentransplantat-Überlebens­rate ver-
bunden (1). Zudem konstituiert sich das metabolische Syndrom, dessen Haupttreiber die Adipositas darstellt, aus klassischen Risikofaktoren für chronische Nierenerkrankungen (CKD) und damit auch verbundenen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Vermehrt zirkulierende proinflammatorische Zytokine, ein Hauptmerkmal sowohl der CKD als auch der Adipositas, tragen zu Glomerulosklerose und tubulointerstitieller Atrophie bei. Zusätzlich bildet das vermehrte, insbesondere viszerale Fettgewebe entzündungsfördernde humorale Faktoren wie Angiotensin II und Leptin. Der Anstieg der Fettmasse mit der damit meist verbundenen Fettzellhypertrophie verändert die Bildung und Freisetzung dieser humoralen Faktoren, was sich negativ auf Podozyten, mesangiale Zellen und Tubuluszellen auswirkt (2). Hohe Leptinspiegel und niedrige Adiponektinspiegel, wie sie bei der Adipositaskrankheit oft zu finden sind, können eine proinflammatorische Immunantwort begünstigen, welche auch im Kontext der Organabstossung bei nierentransplantierten Patienten relevant ist (1, 3).

Adipositas-assoziierte histopathologische Nierenveränderungen

Bei Adipositas kommen vorwiegend zwei Arten von Glomerulopathien gehäuft vor: erstens die fokal segmentale Glome­rulosklerose (FSGS), welche durch ein segmentales Remodelling des Glomerulus durch extrazelluläre Matrix und/oder Hyalin definiert ist und damit zur Kapillarobliteration führt. Zweitens die Obesity-related Glomerulopathie (ORG) mit segmentaler, oft perihilärer Sklerose der typischerweise hypertrophierten Glomeruli. Der Prozentsatz der betroffenen Glomeruli ist bei ORG niedriger als bei der primären FSGS, was darauf hindeutet, dass die ORG eine mildere, weniger aggressive Form der FSGS darstellt. In tierexperimentellen Modellen der ORG, wie beispielsweise Fischerratten unter Ad-libitum-Diät, steigt das Volumen des Glomerulus exponentiell mit dem Körpergewicht an. Das Zellvolumen der Podozyten nimmt ebenfalls im Verhältnis zur Gewichtszunahme zu, was auf eine adaptive Hypertrophie der Podozyten hindeutet. Dies jedoch in geringerem Masse als die Zunahme des Glomerulusvolumens, was zu einer Volumendiskrepanz zwischen diesen beiden histologischen Organstrukturen führt.

Da Podozyten sich nicht vermehren können und ihre Fähigkeit zur Hypertrophie begrenzt ist, erreicht die mechanische Belastung dieser Zellen durch Dehnungsspannung und Scherstress, wenn das Glomerulusvolumen zunimmt, einen Grenzwert (4). Daraus resultierend entsteht eine Albuminurie, welche sich klinisch einfach nachweisen lässt. Die mechanische Unterstützung der glomerulären Kapillaren ist dadurch reduziert. Bei extremer Vergrösserung der Glomeruli kann auch der Durchmesser der glomerulären Kapillaren zunehmen. Gemäss dem Laplace-Gesetz kann dann die Wandspannung der glomerulären Kapillaren ansteigen, was zu einem Barotrauma und damit schliesslich zur Destruktion und Sklerosierung des Glomerulus führt (2, 5).

Hauptmechanismen der Nieren­schädigung bei Adipositas

Adipositas fordert über eine ganze Reihe von verschiedenen Pathomechamismen eine Nierenschädigung, welche sich wie folgt differenzieren lassen (Abbildung 1):

Aktivierung des Renin-Angiotesin-Aldosteron- Systems (RAAS)

Adipositas triggert eine Überaktivierung des RAAS. Dies führt zu hämodynamischen Veränderungen und Hyperfiltration und spielt dadurch eine wichtige Rolle in der Pathogenese und Aufrechterhaltung von ORG. Die erhöhte RAAS-Aktivität bei Adipositas wird auf verschiedene Faktoren zurückgeführt: (a) mechanische hämodynamische Veränderungen, die aus einer Kompression des Nierenhilus und des Nierenparenchyms durch viszerales Fett resultieren; (b) ein generell erhöhter intraabdominaler Druck; (c) eine erhöhte Synthese und Freisetzung verschiedener Komponenten des RAAS durch viszerales Fett und (d) eine neurohormonale Stimulation des sympathischen Nervensystems, unter anderem bedingt durch eine Adipositas-assoziierte Hyperleptinämie und Hyperinsulinämie. Angiotensin II und Aldosteron als wesentliche Wirkkomponenten des RAAS regulieren den Vasomotorentonus mit einer überwiegend vasokonstriktiven Wirkung, insbesondere auf die abführende Arteriole, was den hydrostatischen glomerulären Druck und die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) erhöht (6).

Glomeruläre Hyperfiltration

Glomeruläre Hyperfiltration ist der zentrale Mechanismus der Nierenschädigung bei der ORG. Adipositas ist mit einer Vasodilatation der zuführenden Arteriole verbunden, was in einem erhöhten renalen Plasmafluss, einer erhöhten glomerulären Filtrationsrate (GFR) sowie Filtrationsfraktion resultiert. Der erhöhte intraglomeruläre Druck verursacht Schäden an der glomerulären Filtrationsbarriere, was zu Glomerulomegalie, Podozytenhypertrophie und Apoptose führt. Gemäss der tubulozentrischen Hypothese könnte die Adipositas-bedingte Hyperfiltration auch tubulären Ursprungs sein (6, 7). So fördert Adipositas die Natrium- und Wasserreabsorption im proximalen Tubulus, was zu verminderter Natriumzufuhr zur Macula densa und damit Deaktivierung des tubuloglomerulären Feedbacks führt (8). Die erhöhte Natriumreabsorption durch eine verstärkte Aktivierung des distalen tubulären epithelialen Natriumkanals (ENac) resultiert auch aus der Überproduktion von Angiotensin II, was das tubuloglomeruläre Feedback-System we­niger ansprechbar macht. Diese Mechanismen können insgesamt zu einer verringerten präglomerulären Gefässresistenz und folglich zu einer Vasodilatation der glomerulären zuführenden Arteriole führen, was wiederum die GFR erhöht (6).

Entzündung und oxidativer Stress

Adipositas ist mit erhöhten zirkulierenden Spiegeln pro­inflam­matorischer Adipokine wie Leptin, Resistin oder Fetuin-A sowie auch reaktiver Sauerstoffspezies (ROS) verbunden (6, 9, 10). Insbesondere das viszerale Fettgewebe ist ein hochaktives endokrines Organ. Es produziert und setzt viele verschiedene Zytokine und Hormone frei, welche systemische Effekte ausüben. Einige dieser Hormone (Adipokine) sowie auch «kidney signaling molecules» spielen eine wesentliche Rolle in der Pathogenese der ORG.

Insulinresistenz und Hyperinsulinämie

Insulinresistenz und kompensatorische Hyperinsulinämie haben einen grossen Einfluss auf die Hämodynamik und fördern zudem chronische Entzündungsprozesse bei der ORG. Erhöhte Insulinspiegel fördern präglomeruläre Vasodilatation und glomeruläre Hypertonie (10). Insulin beeinflusst zudem die Funktion, Morphologie und das Überleben von Podozyten. Insulinresistenz wurde mit dem Einsetzen einer Albuminurie sowie dem Rückgang der Nierenfunktion bei Personen mit Adipositas auch ohne Diabetes mellitus in Verbindung gebracht. Zudem fördert eine Insulinresistenz Podozytenapoptose und Hypertrophie der verbleibenden Podozyten, was in eine Glomerulosklerose mündet (6, 11).

Lipotoxizität

Eine erhöhte Fettakkumulation in den perirenalen und pararenalen Räumen bei Adipositas kann die Nierenfunktion direkt beeinträchtigen. Freie Fettsäuren (FFAs) und Adipokine, die vom perirenalen Fett freigesetzt werden, erreichen die Nierenrinde und verstärken den intrarenalen Schaden zusätzlich durch parakrine Lipotoxizität. Die ektopische Ansammlung von Fett in perirenalen und pararenalen Räumen komprimiert auch physikalisch die Nierengefässe und das Parenchym, erhöht den renalen interstitiellen hydrostatischen Druck und verringert dadurch den tubulären Blutfluss. Darüber hinaus könnte eine erhöhte De-novo-­Lipogenese in der Niere ein wichtiger Treiber für die renale Lipotoxizität bei ORG sein (6, 12).

Untersuchung der Nierengesundheit bei Adipositas

Die häufigste klinische Manifestation der Adipositas-assoziierten Glomerulopathie ist der Nachweis von Proteinurie bei normalem Harnsediment.
Die korrekte Einschätzung der Nierenfunktion bei Patienten mit Adipositas ist eine Herausforderung. Sie ist nicht nur für die Stadieneinteilung der CKD und die Überwachung des Krankheitsverlaufs essenziell, sondern auch für die Anpassung der Dosierung von verschiedenen Medikamenten. Die CKD-EPI-Gleichung bietet eine gute Vorhersage der abgeschätzten (estimated) glomerulären Filtrationsrate (eGFR) für eine eGFR < 60 ml/min/1.73 m² bei Personen mit einem BMI < 40 kg/m² (12). Die Anpassung der eGFR/gemessenen GFR an die Körperoberfläche führt jedoch zu einem relevanten Fehler und impliziert eine signifikante Unterschätzung der Nierenfunktion bei Personen mit Übergewicht und Adipositas (12).

Zudem sollte beachtet werden, dass auch die Messung der Kreatinin-Clearance zur Schätzung der GFR fehleranfällig sein kann, da die tubuläre Sekretion von Kreatinin bei Personen mit normaler GFR etwa 10 % bis 20 % des Urinkreatinins ausmacht. Dieser Prozentsatz steigt mit abnehmender GFR progressiv an, was zu einer erheblichen Überschätzung der GFR führt, insbesondere bei Patienten mit fortgeschrittener CKD (12).Daher haben einige Autoren die Verwendung einer Goldstandardmethode (z. B. Inulin- oder Iohexol-Plasmaclearance oder die transdermale Messung der glomerulären Filtrationsrate unter Verwendung von Clearance fluoreszierender Tracer) bei Personen mit Adipositas empfohlen, obwohl diese Techniken aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit und der geringen Praktikabilität im täglichen klinischen Routinebetrieb nicht weitverbreitet sind (13, 14).

Obwohl die Bestimmung von Albuminurie/Proteinurie weitverbreitet für die nicht invasive Beurteilung von Nierener­krankungen eingesetzt wird, ist sie nicht immer ein früher Marker für Nierenschäden. Tatsächlich können bereits strukturelle Nierenveränderungen vorhanden sein, bevor eine Nierenfunktionsstörung durch eine Albuminurie/Proteinurie nachweisbar ist. So wurden in einer Studie bei Personen mit ausgeprägter Adipositas, die sich einer bariatrischen Operation unterzogen, für die Adipositas-assoziierte Glomerulopathie typische histologische Veränderungen nachgewiesen, obgleich Nierenfunktion unbeeinträchtigt war und keine Albuminurie vorlag (15).

Neue Marker zur Detektion einer Nierenschädigung

Vor dem oben genannten Hintergrund wird nach verschiedenen neuen Markern gesucht, um die Nierenschädigung im Frühstadium erkennen zu können. Darunter existieren molekulare und bildgebende Methoden.

Biomarker der subklinischen Nierenschädigung

Unter den Biomarkern, welche auch eine Bedeutung bei der ORG haben, sind die vielversprechendsten das im Blut gemessene kidney injury molecule‐1 (KIM‐1) sowie die im Urin gemessenen Marker Cystatin C, N-Acetyl-Beta-D-Glucosaminidase (NAG) und Neutrophile Gelatinase-Assoziierte Lipocalin (NGAL) (16). Einige dieser tubulären Marker können zur frühzeitigen Detektion der diabetischen Nephropathie bei Typ-2-Diabetes-mellitus (T2DM) eingesetzt werden und können die Gefahr eines beschleunigten Rückgangs der GFR anzeigen. Weitere molekulare Marker eines Tubulusschadens sind GluAp (Glutamyl aminopeptidase), AlaAp, Klotho, OPN (Osteopontin), Netrin‐151 sowie für glomeruläre Podozytenschäden PCX (Podocalyxin), Podocin, Nephrin und die Podoctin:Nephrin Ratio (16). Es bleibt abzuwarten, ob einige dieser Biomarker in Zukunft in die Routinedia­gnostik zur frühzeitigen Detektion von Nierenerkrankungen Einzug halten werden.

Perirenales Fettgewebe als unabhängiger Risikofaktor für CKD

Wie bereits dargelegt, hat die ektopische Lipidakkumulation in Form von perirenalem Fett eine besondere, pathogenetisch relevante Bedeutung für Nierenschäden bei Patienten mit Adipositas-assoziierter Glomerulopathie (ORG). Die Darstellung und Quantifizierung dieses Fetts durch bildgebende Verfahren wie Ultraschall, CT oder MRI haben daher das Potenzial, als neue Risikomarker in die klinische Praxis Einzug zu halten. Die Messung der para- und perirenalen Fettdicke (PUFT) stellt zudem ein nützliches Instrument zur Abschätzung der viszeralen Fettdepots dar, welches besser als klassische als anthropometrische Parameter, wie beispielsweise BMI oder Bauchumfangsmessung, das kardiovaskuläre Risiko voraussagt und auch einen unabhängigen Risikofaktor für die Entwicklung einer Nephropathie darstellt (6, 17).

Aufgrund ihres relativ einfachen Zugangs und der niedrigen Kosten bieten die Ultrasonografie und die zunehmend in die Geräte integrierte Ultraschall-Elastografie die Möglichkeit, strukturelle Veränderungen im Verlauf der ORG zu bewerten und eine zunehmende renale Fibrose zu erkennen. Die Farbdoppler-Ultraschalluntersuchung eignet sich zudem zur Beurteilung intrarenaler hämodynamischer Parameter, welche Hinweise auf frühe vaskuläre Veränderungen bieten können (6, 18). So gilt beispielsweise ein pathologischer Resistenzindex (RI) der intrarenalen Gefässe, insbesondere der interlobären Arterien, als zuverlässiger Indikator einer veränderten Nierenperfusion als frühes Zeichen von Nierenschäden. Die kontrastverstärkte Ultraschalluntersuchung kann zudem für eine optimierte Beurteilung von Nierenperfusion sowie kortikaler Mikrozirkulation genutzt werden (19).

Erhöhtes Nierensteinrisiko bei Adipositas – lithogene Nierenschädigung

Adipositas ist mit einer erhöhten Inzidenz von Nierensteinen assoziiert (20). Zur Illustration sei hier eine Metaanalyse, welche Daten von insgesamt 479 405 Personen inkludierte, angeführt (21). Die durchgeführten Analysen zeigten, dass eine Erhöhung des BMI um 5 kg/m2 mit einem um 31 % erhöhten Risiko für das erstmalige Auftreten von Nierensteinen verbunden ist (Hazard Ratio (HR)=1,31). Ebenso war eine Erhöhung des waist-hip-ratio (WHR) um 0,05 mit einem um 34 % erhöhten Risiko (HR=1,34) und eine Erhöhung der waist circumference (WC) um 10 cm mit einem um 29 % erhöhten Risiko (HR=1,29) für das erstmalige Auftreten von Nierensteinen verbunden (21).

Nierensteine bei Patienten mit Übergewicht oder Adipositas sind meist Oxalat- sowie auch Uratsteine. So kann bei entsprechenden Personengruppen oft auch eine erhöhte Ausscheidung von Kalzium, Oxalat und Harnsäure im Urin nachgewiesen werden (22). Darüber hinaus haben Studien gezeigt, dass Adipositas mit einer veränderten Urinchemie einhergeht und durch einen erniedrigten Urin-pH sowie einer Harnsäureübersättigung das Risiko für Nephrolithiasis erhöht (23). Mehrere Mechanismen können erklären, wie Adi­positas auch ohne weitere spezifische metabolische Abnormalitäten zur Nierensteinerkrankung beiträgt (Tabelle 1). Die Adipositas-bedingte, veränderte Expression und Freisetzung von Adipokinen sowie vermehrte Bildung von proinflammatorischen Zytokinen, wie Tumornekrosefaktor-α und Interleukin-6, spielen dabei wohl eine wichtige Rolle. Die verminderte Freisetzung des antiinflammatorisch wirkenden Adipokins Adiponektin aus dem Fettgewebe bedingt zudem einen erhöhten oxidativen Stress und proinflammatorischen Zustand. Zusammengenommen entsteht so ein metabolisch-inflammatorisches Milieu, welches die renale Lithogenese fördert.

Nierensteinbildung und Oxalatne­phro­pa­thie nach malabsorptiven ­bariatrischen Operationen

Nicht nur die Adipositas per se, sondern auch spezifische Therapieverfahren dieser chronischen Erkrankung können zu einer erhöhten Inzidenz von Nierensteinen sowie auch zur Oxalatnephropathie führen. Konkret handelt es sich hierbei um stark malabsorptive Verfahren der bariatrischen Chirurgie, wie insbesondere der biliopankreatischen Diversion (BPD). Dabei kommt es durch die verminderte Fettdigestion sowie -malabsorption zu einer vermehrten Verseifung von Calcium im Darmlumen, sodass weniger freies Calcium zur Bindung von Oxalsäure zur Verfügung steht. Dies führt zu einer vermehrten Resorption und konsekutiv zu einer vermehrten renalen Exkretion von Oxalat. Die daraus resultierende Hyperoxalurie in Verbindung mit der bei BPD zudem häufig beobachteten Hypocitraturie erhöht die Lithogenität des Urins.

Das über die Nieren ausgeschiedene Oxalat stammt aus einer Kombination von hepatischem Stoffwechsel und gastrointestinaler Absorption. In der Leber stellt Oxalat ein Endprodukt des Glyoxalatstoffwechsels dar. Zudem wird Oxalat über die Nahrung über den Darm aufgenommen. Das Oxalat, welches in bestimmten Nahrungspflanzen wie Spinat, Mangold, Rhabarber oder Rote Beete besonders konzentriert vorkommt, liegt primär in Form von relativ unlöslichen Calciumoxalatkristallen vor. Daher werden unter normalen Bedingungen nur 5 % bis 10 % des über die Nahrung zugeführten Oxalats absorbiert und der Rest mit dem Stuhl ausgeschieden. Bei Patienten mit Fettmalabsorption, unabhängig von deren Ursache (z. B. BPD oder exokrine Pankreasinsuffizienz), gelangen vermehrt freie Fettsäuren in distale Darmabschnitte, wo sie, wie bereits erwähnt, mit Calcium verseifen. Dadurch steht weniger Calcium zur Oxalatbindung zur Verfügung, und es wird dadurch bis zu ≥ 30 % des intraluminalen Oxalats resorbiert.
In den Nieren wird Oxalat glomerulär filtriert und auch über eine proximal tubuläre Sekretion ausgeschieden. Eine erhöhte Oxalatkonzentration im Blut führt somit zu einer erhöhten Ausscheidung von Oxalat im Urin, was das Risiko für Calciumoxalat-Nierensteine, eine kortikomedulläre Nephrokalzinose sowie auch einer Oxalat-Nephropathie erhöht (24).

Bedeutung von Adipositas bei Nieren­ersatzverfahren

Adipositas ist nicht nur ein wichtiger Risikofaktor für Nierenerkrankungen, sondern hat auch einen erheblichen Einfluss auf die Behandlung von Patienten mit fortgeschrittener Nierenerkrankung. Dies zeigt sich beispielsweise bei verschiedenen Nierenersatzverfahren sowie auch in der nephrologischen Transplantationsmedizin.

Peritonealdialyse

Obgleich ausgeprägte Adipositas als relative Kontraindikation für Peritonealdialyse (PD) angesehen wird, ist diese Dialysemodalität bei übergewichtigen Patienten grundsätzlich möglich. Adipositas ist bei PD mit einem erhöhten Infektrisiko verbunden und erschwert zudem die Beurteilung der Dialysequalität. Bei Patienten mit PD muss auf mechanische (Leakage, Hernien) oder infektiöse Komplikationen (Katheder-assoziierte Infekte und Peritonitis) besonders geachtet werden. Der geringste Verdacht auf eine Infektion erfordert eine frühzeitige, niederschwellige Diagnostik und Therapiebeginn (25).
Es sollte zudem beachtet werden, dass Patienten, die mit einer PD beginnen, dazu neigen, an Gewicht zuzunehmen. Dies wird vermutlich einerseits durch die Auflösung der urämischen Anorexie und dem damit vermehrtem Appetit, andererseits auch durch eine erhöhte Kalorienaufnahme durch die Absorption von Glukose aus den Dialyselösungen verursacht (26). Die zugeführte Energie durch die Aufnahme von Glukose aus dem Dialysat beträgt dabei 400–800 kcal pro Tag. Dies führt zu einer durchschnittlichen Gewichtszunahme von etwa 5–7 kg, wobei der Grossteil hiervon in den ersten 6 Monaten der PD-Behandlung zugenommen wird (27).
Die Kt/V als Indikator der Dialysequalität kann bei Patienten mit Adipositas aufgrund des bezogen auf die Körpermasse proportional geringeren Körperwasservolumens bei höherem Körperfettanteil irreführend falsch tief sein, was zu Interpretationsfehlern führen kann. Eine daraus resultierende
Intensivierung der Therapie mit Erhöhung des Dialysatvolumens kann zur weiteren Gewichtszunahme oder zu einem eigentlich unnötigen Wechsel auf Hämodialyse führen (26).

Hämodialyse

Patienten mit Adipositas unter Hämodialyse (HD)-Behandlung neigen ebenfalls zu vermehrten Komplikationen, welche einerseits den Dialyseprozess negativ beeinflussen, andererseits auch allgemein weitreichende negative gesundheitliche Folgen haben können. Dazu gehören beispielsweise Probleme mit dem Gefässzugang durch Schwierigkeiten bei der Anlage eines Shunts und zentralvenösen Katheters, Katheterokklusion sowie auch zu tief liegenden Shunts und damit verbundenen Punktionsproblemen. Zudem bestehen Herausforderungen in Bezug auf die Dialyseeffizienz sowie ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Schlafapnoe und Infektionen. Einschränkungen der Mobilität sowie auch technische Limitation und Ausrüstungsschwierigkeiten können zudem die Versorgung von Menschen mit Adipositas in der Hämodialysepraxis erheblich erschweren. Die Hämodialysebehandlung von Patienten mit Adipositas erfordert daher oft einen multidisziplinären Ansatz und muss sorgfältig geplant werden (28, 29).
Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle die Beobachtung eines «Obesity-Paradox». So zeigte beispielsweise eine US-amerikanische Kohortenstudie eine u-förmige Beziehungskurve zwischen BMI und Mortalität bei Patienten mit HD (26). Dabei wurde die geringste Mortalität in der BMI-Gruppe von 30–35 kg/m2 beobachtet. Die Körperzusammensetzung sowie das Fettverteilungsmuster, welche sich nicht im BMI widerspiegeln, spielen hierbei wohl eine besondere Rolle. So zeigte eine Studie, in die etwa 70 000 HD-Patienten eingeschlossen wurden, ein vermindertes Sterberisiko bei einem hohen BMI in Verbindung mit einer hohen, jedoch nicht bei Vorliegen einer geringen Muskelmasse (25). In einer weiteren Studie war der Taillenumfang (als Marker der abdominalen Adipositas) direkt und unabhängig vom BMI positiv mit der kardiovaskulären und Gesamtsterblichkeit assoziiert (30). Vor dem Hintergrund dieser Daten lässt sich nicht davon ausgehen, dass Adipositas tatsächlich ein protektiver Faktor bei Menschen an der Hämodialyse darstellt.

Nierentransplantation

Adipositas stellt eine relative Kontraindikation für die Nierentransplantation dar. Nierentransplantierte Patienten mit Übergewicht weisen im Vergleich zu Patienten mit Normalgewicht eine erhöhte Rate an verzögerter Transplantatfunktion, Wundinfektionen und auch Abstossung auf (31, 32). In einer Studie von Hoogeveen et al. wurde beispielsweise festgestellt, dass Nierentransplantatempfänger mit ein­em BMI von mehr als 30 kg/m² ein um 20 %–40 % höheres Risiko für Transplantatversagen und Tod im Vergleich zu Empfängern mit normalem Gewicht aufweisen (31). Solche Beobachtungen haben zu willkürlichen BMI-Grenzwerten an vielen Nierentransplantation-durchführenden Institutionen geführt, die von 32 kg/m2 bis zu 40 kg/m2 reichen. So ergab eine Erhebung in den USA, dass im Zeitraum von 1995–2006 an 15 % der erfassten Transplantationszentren kein einziger Patient mit einem BMI > 35 kg/m2 und in 21 % der Zentren kein Patient mit einem BMI > 40 kg/m2 zur Nierentransplantation aufgelistet wurde (33).

Zusätzlich zeigte sich, dass Patienten mit einem BMI > 35 kg/m2, die in den verbleibenden Zentren gelistet waren, im Vergleich zu Patienten mit einem niedrigeren BMI eine um 28 % geringere Wahrscheinlichkeit hatten, eine Nierentransplantation zu erhalten. Diese Daten deuten auf eine systematische, medizinisch nur bedingt begründete Diskriminierung von Menschen mit Adipositas hin, welche in jüngster Zeit zunehmend infrage gestellt wurde. So zeigen Datenanalysen zwar, dass der Überlebensvorteil einer Nierentransplantation gegenüber fortgeführten Dialyseverfahren bei Personen mit > 40 kg/m2 zwar geringer als bei Personen mit niedrigem BMI ausgeprägt, jedoch immer noch klar nachweisbar ist (34).

Da allein konservative Gewichtsreduktionstherapien meist nicht ausreichend erfolgreich sind, schaffen es betroffene Patienten meist nicht, in den für eine Transplantation ­geforderten BMI-Bereich zu kommen. In der Konsequenz verbleiben sie oft jahrelang auf Wartelisten für Organspenden. Die Bedeutung dieser Tatsache wird klar, wenn man sich die jährliche Sterblichkeitsrate von 5 %–10 % auf entsprechenden Wartelisten für eine DBD/DCD (Donation after Brain Death/Donation after Cardiac Death)-Organspende vor Augen führt (27, 35). Leider ist zudem anzunehmen, dass die Mortalität von Personen mit Adipositas auf der Warteliste noch deutlich höher ist.

Obgleich die prognostische Bedeutung einer vor einer Nierentransplantation erreichten Gewichtsreduktion nicht eindeutig belegt ist, wird die bariatrische Chirurgie in Betracht gezogen, wenn es darum geht, terminal niereninsuffiziente Patienten auf eine Nierentransplantation vorzubereiten (27, 36). Man darf gespannt sein, welche Rolle die zunehmend effektiven und vermehrt angewendeten Anti-Adipositas-Medikamente in diesem Kontext zukünftig spielen werden.

Einfluss von gewichtsreduzierenden ­Therapien auf Nierenerkrankungen

Bei der ORG hat eine Gewichtsabnahme bereits kurzfristig einen sehr positiven Effekt. So zeigten Studien, dass es unter einer kalorienreduzierten Diät bereits nach wenigen Wochen bis Monaten zu einer deutlichen Reduktion der Proteinurie kommt (6, 37, 38). In einer dieser Studien führte eine diätetisch induzierte, durchschnittliche Gewichtsabnahme von nur 4 % nach 5 Monaten bereits zu einer durchschnittlichen Reduktion der Proteinurie um 30 %. Bei einem Gewichtsverlust von > 6–10 % zeigte sich sogar eine Reduzierung der Proteinurie um > 60–70 % des Ausgangswertes (38). Diätetische Restriktionen zur Gewichtsreduktion sind jedoch meist langfristig nicht erfolgreich, da sie nur selten dauerhaft durchgehalten werden. Zudem sind stark energiereduzierte Ernährungsformen insbesondere bei Dialysepatienten schwer umzusetzen, da darunter kaum der erhöhte Proteinbedarf gedeckt werden kann (27).
Interessant ist, dass Glucagon-like-peptide-1 (GLP-1)-Rezeptoragonisten (RA), welche seit Langem in der Therapie des Typ-2-Diabetes und zunehmend auch in der Adipositastherapie eingesetzt werden, einen antiproteinurischen Effekt bei der diabetischen Nephropathie zeigen (39). Für Menschen mit Adipositas ohne Diabetes liegen bislang noch keine entsprechenden Daten vor, sodass letztlich nicht geklärt ist, ob es sich bei der Reduktion der Proteinurie um einen inhärenten Effekt des Medikaments oder einen indirekten Effekt vermittelt durch den medikamenteninduzierten Gewichtsverlust handelt.
Bereits deutlich robuster ist die Datenlage zu den positiven Effekten der bariatrischen Chirurgie auf die Nierengesundheit. So zeigten Studien nach bariatrischen Operationen eine Verminderung der Adipositas-assoziierten Hyperfiltration (40), einer vorbestehenden Albuminurie (41) sowie des GFR-Abfalls im Zeitverlauf (42, 43).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich eine Gewichtsreduktion bei Nierenpatienten mit ORG, FSGS oder auch diabetischer Nephropathie und gleichzeitig vorliegender Adipositas positiv auf die Nierengesundheit auswirkt und dass die bariatrische Chirurgie diesbezüglich die bei Weitem effektivste und am besten erforschte Therapie darstellt.

Bei nierentransplantierten Patienten hingegen erscheint die Datenlage etwas weniger eindeutig. Zwar verbessert die ba­riatrische Chirurgie auch in dieser Situation die Nierenfunktion, jedoch scheint sie auch das Risiko für Abstossungsreaktionen zu erhöhen (44). Letzteres hängt möglicherweise mit einer verminderten Bioverfügbarkeit von Immunsuppressiva zusammen, sodass regelmässige Spiegelbestimmungen entsprechender Medikamente obligat sind.

Dipl. Ärztin Boglárka Oesch-Régeni

Nierenpraxis und Dialyse St. Gallen AG
Schuppisstrasse 10
9016 St. Gallen

dr.b.regeni@gmail.com

Prof. Dr. med. Bernd Schultes

Stoffwechselzentrum St. Gallen, friendlyDocs AG
Lerchentalstrasse 21
9016 St. Gallen

stoffwechselzentrum@friendlydocs.ch

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

Adipositas kann über eine Vielzahl verschiedener Mecha­nismen die Nierengesundheit gefährden. Daher sind regelmässige Untersuchungen zur Nierengesundheit bei Patienten mit Adipositas sinnvoll. Zudem kann das Vor­handensein einer Adipositas die Durchführung von verschieden Ersatzverfah­ren erschweren und ist zudem mit einer verminderten Chance auf eine Nierentransplantation assoziiert. Eine Gewichtsreduktion führt zu einer ­Ver­besserung der Nierengesundheit und sollte daher bei ­Nierenpatienten mit Adipositas ein wichtiges therapeutisches Ziel darstellen. Die bariatrische Chi­rurgie hat sich vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Evidenz diesbezüglich bereits etabliert. Es ist zu hoffen, dass die zukünftig zunehmend zur Verfügung stehenden Anti-Adipositas-Medikamente ebenfalls einen positiven Effekt auf die Nierengesundheit haben werden.

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Konsequenzen von Chronodisruption auf Körpergewichtsregulation und Stoffwechsel

Zusammenfassung:

Die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas hat weltweit ein dramatisches Ausmass erreicht. Parallel ist Schlafmangel ein Teil des modernen Lebensstils geworden, ebenso Schicht- und Nachtarbeit. Als Folge ist eine Chronodisruption, d. h., eine Veränderung von physiologischen Prozessen, die durch die innere Uhr gesteuert werden, fast alltäglich. Epidemiologische Daten zeigen, dass eine kurze, aber auch zu lange Schlafdauer mit einem erhöhten Risiko für Adipositas in Verbindung gebracht wird, ebenso wie Nachtschichtarbeit. Adipositas tritt häufig im Rahmen eines metabolischen Syndroms (MetS) auf, und auch hier gibt es Evidenz, dass sowohl kurzer als auch langer Schlaf das Risiko eines MetS steigern. Bislang ist nicht abschliessend geklärt, wie eine Chronodisruption dieses Risiko beeinflusst. Klinisch experimentelle Untersuchungen berichten über neuroendokrine und zirkadiane Mechanismen, und es hat sich u. a. gezeigt, dass Schlafmangel das Hunger fördernde Hormon Ghrelin sowie das subjektive Hungergefühl erhöht und den Leptinspiegel verringert. Schlafmangel steigert zudem den hedonischen Drang nach Nahrung und nahrungsbezogenen Belohnungssignalen. Durch präventive Massnahmen, sog. Schlafhygiene, kann einer Chronodisruption und so dem Risiko einer Adipositas entgegengewirkt werden. Inwieweit Smartwatches und Fitnesstracker, mit denen der Schlaf laut Herstellerangaben gemessen und analysiert werden kann, ein objektives Bild des Schlafs liefern, ist nicht ausreichend untersucht. Smartwatches und Fitnesstracker können jedoch die Aufmerksamkeit für das Thema Schlaf in der Gesellschaft erhöhen.

Einleitung

Der Nobelpreis für Medizin im Jahr 2017 wurde an Forscher verliehen, die die Funktionsweise der inneren Uhr enträtselt haben. Unsere innere Uhr ist dafür zuständig, Tag und Nacht den Biorhythmus von Lebewesen zu steuern. In unserer modernen Gesellschaft ist eine Chronodisruption, d. h., eine Veränderung von physiologischen Prozessen, die durch die innere Uhr gesteuert werden, fast alltäglich geworden. Das Themengebiet der Chronobiologie erlangte auch ausserhalb von Wissenschaft und Forschung einen grösseren Bekanntheitsgrad. Die Möglichkeit, seinen eigenen Schlaf über sogenannte Smart Watches oder Fitness­tracker zu erfassen, hat das Interesse der Gesellschaft am Schlaf-Wach-Rhythmus verstärkt.
Schlaf und Wachheit sind das Ergebnis einer zentralnervösen Integration von aktivierenden und schlafinduzierenden Signalen, welche von zirkadianen Signalen moduliert werden. Bereiche des Hypothalamus spielen in der Verarbeitung dieser zirkadianen Signale eine zentrale Rolle. Hervorzuheben hierbei ist, dass alle beteiligten Kerngebiete auch Schlüsselpositionen in der Regulation des menschlichen Energiestoffwechsels einnehmen und eine Dysregulation zu einer Gewichtszunahme führen kann. Im folgenden ­Artikel werden daher Zusammenhänge von Adipositas und Chronobiologie dargestellt sowie mögliche Ansätze für eine Prävention und Behandlung der Adipositas skizziert.

Adipositas

Die Adipositas stellt als chronische Erkrankung ein weltweites und zunehmendes gesundheitliches Problem dar. Die Prävalenz der Adipositas hat sich in insgesamt 73 Ländern verdoppelt und steigt in anderen Ländern seit 1980 stetig an (1). Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen wurde eine Zunahme von Übergewicht und Adipositas festgestellt. Die gesundheitlichen Folgekomplikationen, die aus der Adipositas resultieren, betreffen mittlerweile mehr als zwei Milliarden Menschen weltweit. Ein hoher BMI war zudem weltweit für 4,0 Millionen Todesfälle verantwortlich. Dabei waren mehr als zwei Drittel der Todesfälle im Zusammenhang mit einem hohen BMI auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückzuführen. Weitere chronische Erkrankungen wie Diabetes mellitus, chronische Nierenerkrankungen, viele Krebserkrankungen und eine Reihe von Muskel-Skelett-Erkrankungen treten bei Vorliegen einer Adipositas gehäuft auf (2).
Die Ursachen der Adipositas sind multifaktoriell. Neben einer gesteigerten Aufnahme hochkalorischer Nahrung und Mangel an körperlicher Aktivität spielt die Schlafdauer und -qualität eine entscheidende Rolle (3). Eine gute Schlafqualität sowie eine ausreichende tägliche Schlafdauer stellen jedoch eine grosse Herausforderung in unserer heutigen modernen Gesellschaft dar. Parallel zum Anstieg der Adipositasprävalenz ist in den letzten Jahren auch die Zahl der Menschen zurückgegangen, die ausreichend, das heisst 7–9 Stunden, Schlaf pro Tag erreichen. Dabei geben viele Personen an, weniger als 6 Stunden Schlaf pro Nacht zu haben (4). Insbesondere für Schichtarbeiter/-innen ist es schwierig, einen regelmässigen und ausreichende Stunden Schlaf pro Tag zu erreichen. Schichtarbeit ist mittlerweile in der heutigen Gesellschaft fest integriert und beschränkt sich nicht mehr nur auf lebenswichtige Dienstleistungen wie Gesundheit, öffentliche Sicherheit und Schwerindustrie, sondern findet auch in anderen Bereichen der Güter- und Dienstleistungsproduktion statt. Dabei haben Arbeiter/-innen im Schichtdienst ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Übergewicht und Adipositas (5).
Insgesamt verdeutlichen aber vor allem der rasche Anstieg der Prävalenz sowie die Komplikationen der Adipositas die Notwendigkeit von präventiven Massnahmen einer Gewichtszunahme (2).

Chronobiologie

Ein zirkadianer Rhythmus synchronisiert rund um die Uhr physiologische Vorgänge im Körper. Hormonelle und metabolische Parameter zeigen dabei eine mehr oder weniger ausgeprägte zirkadiane Rhythmik, die auch auf Verhaltensebene wie bei Aufmerksamkeit oder körperlicher Leistungsfähigkeit zu erkennen ist.
Schlaf und Wachheit sind das Ergebnis zentralnervöser Integration von aktivierenden und schlafinduzierenden Signalen, welche von zirkadianen Signalen moduliert werden. Dabei spielen hypothalame Kerngebiete in der Verarbeitung zirkadianer und schlafregulierender Signale eine zentrale Rolle. Auffallend ist dabei insbesondere, dass alle hierbei beteiligten Kerngebiete auch Schlüsselpositionen in der Regulation des menschlichen Energiestoffwechsels einnehmen, wie beispielsweise in der Regulation von Hunger und Sättigung.
Für die Generierung eines stabilen zirkadianen Rhythmus ist ein zentraler Schrittmacher, der Nucleus suprachiasmaticus (SCN), verantwortlich, der an der Basis des Hypothalamus lokalisiert ist. Afferenzen aus dem Tractus retinohypothalamicus, dessen Fasern aus dem Chiasma opticum zum SCN führen, ermöglichen eine stetige Synchronisierung dieser zentralen «inneren Uhr» mit regelmässig wiederkehrenden Umgebungsfaktoren, den sogenannten Zeitgebern, beispielsweise Licht. Weitere Beispiele für Zeitgeber sind die Nahrungsaufnahme oder körperliche Aktivität. Der SCN wiede­rum synchronisiert über endokrine Signale und das autonome Nervensystem die peripheren Uhren, die in nahezu allen Geweben nachweisbar sind.
Uhrengene regulieren in miteinander gekoppelten Rückkopplungsschleifen ihre eigene Transkription in einem 24-Stunden-Rhythmus. Heterodimere aus den Transkriptionsfaktoren CLOCK und BMAL1, die positiven Elemente dieser Rückkopplungsschleife, induzieren über regulatorische E-Box-Elemente die Transkription von Genen der negativen Faktoren wie Period 1 & 2 sowie Cryptochrome 1 & 2. Im Sinne eines negativen Feedbacks hemmen diese wiederum die Transkription von CLOCK und BMAL1, sodass es zu einer periodischen transkriptionellen Aktivierung und Deaktivierung im 24-Stunden-Takt kommt (6, 7).
Beim Chronotyp eines Menschen werden drei verschiedene Typen unterschieden, d. h. der Morgen-, der Abend- und der Mischtyp. Der Chronotyp bestimmt mit die Präferenz für Morgen- und Abendzeit und somit den individuellen Verlauf beispielsweise von Hormonspiegeln, Körpertemperatur, Schlaf- und Wachphasen sowie Leistungsvermögen (8, 9).

Zusammenhänge zwischen der inneren Uhr, Schlaf und einem modernen Lebensstil

Schlafmangel ist in allen Altersgruppen Teil des modernen Lebensstils geworden (10, 11). Die durchschnittliche Schlafdauer sank von 8–9 Stunden/Nacht im Jahr 1960 auf 7 Stunden/Nacht im Jahr 1995, und die Prävalenz von kurzer Schlafdauer wurde 2014 in den Vereinigten Staaten mit 45% angegeben, wobei ein Drittel der Erwachsenen in den USA weniger als 6 Stunden/Nacht schlief (12). In Deutschland gehören Schlafstörungen zu den häufigsten gesundheitlichen Beschwerden, und nach Datenerhebungen des Robert Koch- Instituts leiden 22% der 11–17-Jährigen an Schlafschwierigkeiten, während dies bei den 18–31-Jährigen fast 20% waren (9). Bei den Erwachsenen berichten ca. 25% über Schlafstörungen, und mehr als 10% erleben ihren Schlaf häufig oder dauerhaft als nicht erholsam (13).

Einfluss der inneren Uhr auf den Stoffwechsel: Kommt es zu einer Verschiebung von Phase und/oder Amplitude des zirkadianen Rhythmus wird von einer Chronodisruption gesprochen. Die Ursache kann dabei entweder in einer Störung synchronisierender Zeitgeber – z. B. Licht während der Schlafenszeit oder ein Zeitgebershift bei einer Transkontinentalreise – oder aber in einer Oszillationsstörung bzw. Störung in der Kommunikation der einzelnen Uhren liegen. Chronodisruption kann schliesslich zu pathologischen Veränderungen auf metabolischer, kardiovaskulärer, proliferativer und kognitiver Ebene führen.

Metabolische Konsequenzen von Chronodisruption

Basierend auf metaanalytischen Daten wird eine kurze Schlafdauer durchgängig mit einem erhöhten Risiko für Adipositas in Verbindung gebracht (14–16). Je kürzer die Schlafdauer, desto höher ist das Risiko für Adipositas. Laut der Metaanalyse von Itanie et al. (2007) ist das Risiko für Adipositas um 9% erhöht pro einstündiger Reduktion der Schlafdauer im Vergleich zu 7–8 Stunden Schlaf. Aber auch langer Schlaf ist mit einem erhöhten Risiko für Adipositas assoziiert, das laut einer Metaanalyse mit 13 Studien und über 300.000 Probanden bei 15% lag. Kurzer Schlaf erhöhte nach dieser Analyse das Risiko um 14% (17). Der Zusammenhang zwischen Schlafdauer und Adipositas scheint
u-förmig zu sein, was sowohl eine kurze als auch lange Schlafdauer betrifft.
Auch ein Kurzschlaf am Tag, als Powernap bezeichnet, ist Bestandteil der heutigen Gesellschaft geworden. Während ein Powernap mit verschiedenen gesundheitlichen Vorteilen in Verbindung gebracht wird, darunter einer Verbesserung der kognitiven Funktion, ist der Zusammenhang mit Übergewicht und Adipositas nicht eindeutig beschrieben. Die Ergebnisse einer Metaanalyse zeigen erste Evidenz, dass Powernapping das Risiko für Adipositas erhöht (18).
Das Vorliegen einer Adipositas tritt häufig im Rahmen eines metabolischen Syndroms (MetS) auf. Hierunter ist das Risiko für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes (T2D) sehr hoch. Auch hier gibt es Evidenz für einen Zusammenhang mit der Schlafdauer, der ebenfalls als u-förmig beschrieben werden kann, wobei kurzer und langer Schlaf das Risiko eines MetS um etwa 15% bzw. 19% erhöhten (17). Eine Metaanalyse mit insgesamt mehr als 480.000 Probanden zeigt, dass eine Schlafdauer von 7 bis 8 Stunden pro Tag mit der geringsten Prävalenz für T2D verbunden ist. Verglichen mit einer Schlafdauer von 7 Stunden pro Tag erhöhte jede einstündige Verkürzung der Schlafdauer das Risiko für T2D um 9% bei Personen, die weniger als 7 Stunden pro Tag schliefen und 14% für jeden einstündigen Anstieg der Schlafdauer bei Personen mit längerer Schlafdauer (19).
Eine zirkadiane Disruption wirkt sich negativ auf die Insulinsensitivität aus (20, 21). Insbesondere eine Unterbrechung oder Verkürzung des sogenannten Slow-wave Sleep, ein Schlafstadium, das hauptsächlich in der frühen Nachthälfte auftritt und mit Erholung verbunden ist, zeigte eine Assoziation zu einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer Insulinresistenz (22).
Eine zu kurze oder zu lange Schlafzeit ist ausserdem nicht nur mit negativen Auswirkungen auf den Metabolismus assoziiert. Eine lange Schlafdauer von mindestens neun Stunden oder mehr ist u. a. mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten von Depression, chronischem Schmerz oder obstruktiver Schlafapnoe verbunden (23).
Schichtarbeit ist ein klassisches Beispiel für Chronodisruption. Einer Metaanalyse zufolge, die 28 Studien berücksichtigt, erhöht Nachtschichtarbeit das Risiko von Übergewicht und Adipositas um 23%. In Bezug auf die Regelmässigkeit der Nachtarbeit legen die Ergebnisse nahe, dass permanente Nachtarbeiter ein um 29% höheres Risiko als rotierende Schichtarbeiter besitzen (24). Die Energieaufnahme über 24 Stunden von Schichtarbeitern und Nichtschichtarbeitern scheint jedoch nicht unterschiedlich zu sein (25). Andere Faktoren müssen demzufolge für das bei Nachtarbeitern erhöhte Risiko für Adipositas mitverantwortlich sein.
Aufgrund zahlreicher Studien liegt eine hohe Evidenz vor, dass die Chronodisruption einen Risikofaktor für Gewichtszunahme, Adipositas und auch metabolische Begleiterkrankungen ist. Bisher ist aber nicht abschliessend geklärt, wie eine Chronodisruption dieses Risiko beeinflusst (12). Zugrunde liegende Mechanismen können in klinisch experimentellen Untersuchungen unter standardisierten Bedingungen untersucht werden, und Studien berichten über verschiedene neuroendokrine und zirkadiane Mechanismen, die den Metabolismus beeinflussen. Es hat sich u. a. gezeigt, dass bereits eine einzige Nacht ohne Schlaf das Hunger fördernde Hormon Ghrelin sowie insgesamt das subjektive Hungergefühl erhöhen kann (26). Nach einer längeren Phase mit Schlafmangel (6 Nächte mit jeweils nur 4 Stunden Schlaf) zeigten sich zudem verringerte Leptinspiegel (27). Leptin ist ein Hormon, das von weissen Adipozyten produziert wird und den Appetit zügelt. Sinken die Leptinspiegel im Blut, kann es daher zu einem gesteigerten Appetit kommen (28). Die Verringerung des Leptinanstiegs ist auch quantitativ mit einem Anstieg der abendlichen Cortisolspiegel einhergegangen, was die Existenz von Wechselwirkungen zwischen der physiologischen Regulierung von Leptin und Cortisol unterstützt. Dieser negative Zusammenhang zwischen Veränderungen von Leptin und Cortisol während der Schlafbeschränkung könnte ausserdem die gut dokumentierte unterdrückende Wirkung von Leptin auf die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Aktivität widerspiegeln (27, 29). Neben den Veränderungen von Hormonkonzentrationen zeigen sich auch unterschiedlich stark ausgeprägte Aktivitäten bestimmter Gehirnregionen nach Schlafmangel. Bei gesunden Probanden mit eingeschränktem Schlaf konnte eine erhöhte Aktivität von bestimmten Gehirnarealen gesehen werden, wenn ihnen Bilder von schmackhaften und hochkalorischen Lebensmitteln im MRT gezeigt wurden. Diese bestimmten Gehirnareale wie das Putamen, der Nucleus accumbens, der Thalamus und der präfrontale Kortex sind entscheidend für die Regulierung von Hunger, Appetit und Belohnung zuständig (28, 30).
Weiterhin steigert Schlafmangel den hedonischen Drang nach Nahrung und erhöht die nahrungsbezogenen Belohnungssignale. Hinzu kommt, dass die durch Schlafeinschränkungen verursachte längere Wachheit mit einem Anstieg des Grundenergieverbrauchs und einer anschliessenden Überkompensation der Energieaufnahme einhergeht, was zu einer positiven Energiebilanz und Gewichtszunahme führt (31, 32). Passend dazu zeigte sich in einer klinisch-experimentellen Studie, dass es nach vier Nächten mit zunehmender Schlafverringerung zu einer Gewichtszunahme von 0,4 kg kommt (33). In einer weiteren Studie, bei der die teilnehmenden Probanden fünf Nächte mit verkürztem Schlaf hatten, lag die Gewichtszunahme sogar bei durchschnittlich 0,8 kg (34).
In einer klinisch-experimentellen Studie hat sich ausserdem gezeigt, dass auch der Zeitpunkt des verkürzten Schlafs eine Rolle in der Auswirkung auf den Metabolismus spielt. So waren Ghrelin, Hunger- und Appetitgefühle sowie das Verlangen nach Nahrung bei Schlafverlust in der späten Nacht (von 2.15 bis 6.45 Uhr) erhöht, nicht jedoch bei Schlafverlust in der frühen Nacht (von 22.30 bis 3 Uhr), während Leptin vom Zeitpunkt des Schlafverlusts unbeeinflusst blieb (35).
Nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität des Schlafs scheint den Glukosestoffwechsel zu beeinflussen. So führte eine selektive Unterdrückung des Tiefschlafs durch akustische Signale bereits nach drei Nächten zu einer verringerten Glukosetoleranz und Insulinsensitivität bei gesunden Probanden, dieses ohne Veränderung der absoluten Schlafdauer (36).
Ein weiteres Problem für den Stoffwechsel stellt die nächtliche Einwirkung von künstlichem Licht aus verschiedenen Lichtquellen dar. Dies kommt in unserer modernen Gesellschaft häufig vor und gilt zudem als globales Problem. Mäuse zeigten beispielsweise eine Gewichtszunahme und unregulierte Fressgewohnheiten, wenn sie vier Wochen lang hellem (150 Lux) oder schwachem Licht (5 Lux) über 24 Stunden hinweg ausgesetzt waren. Ausserdem verschlechterte sich die Glukosetoleranz im Vergleich zu denen, die im Dunkeln gehalten wurden. Die Effekte waren ausgeprägter bei den Mäusen, die hellem Licht statt schwachem Licht ausgesetzt waren (37). Auch eine Studie an gesunden Männern konnte zeigen, dass bereits leichtes und gedämpftes Licht während zwei Nächten hintereinander die Schlafarchitektur veränderte, ohne dabei Auswirkungen auf den Glukosestoffwechsel zu induzieren (38).
Nicht nur das erhöhte Risiko für die Entwicklung einer Adipositas steht mit einer veränderten Chronobiologie in Zusammenhang. Auch eine Assoziation mit einem erhöhten Risiko für einen Typ-2-Diabetes-mellitus (T2D) konnte in einigen Studien gezeigt werden. Eine verkürzte Schlafdauer von 4 Stunden/Nacht über 6 Tage führte bei gesunden Personen bereits zu einer prädiabetischen Stoffwechsellage in einem intravenösen Glukosetoleranztest (39). Eine weitere Studie konnte eine eingeschränkte Glukosetoleranz sowie eine reduzierte Insulinsensitivität nach zwei Tagen mit nur vier Stunden Schlaf messen (40). Auch der Zeitpunkt der Schlafbeschränkung spielt für den Glukosemetabolismus eine entscheidende Rolle. Es hat sich gezeigt, dass, obwohl Schlafentzug die Insulinsensitivität unabhängig vom nächtlichen Zeitpunkt verringert, der Schlafverlust am frühen Morgen die Aktivität der α-Zellen und der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse stärker als der Schlafverlust in der ersten Nachthälfte beeinträchtigt (41).
Die folgende Abbildung fasst die relevanten Faktoren der Chronodisruption, die einen Einfluss auf das Körpergewicht haben und ein Risiko für die Entwicklung einer Adipositas darstellen, zusammen (Abb. 1).

Präventive Massnahmen zur Vermeidung von Chronodisruption

Bewegung und körperliches Training: Körperliche Aktivität nimmt in der Adipositastherapie und -prävention eine wichtige Rolle ein, obwohl der energetische Beitrag nur eine geringere Bedeutung hat. Körperliche Aktivität senkt jedoch das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko. Insbesondere in Hinsicht auf eine oftmals geringe Therapieadhärenz bei Bewegung und Training ist es umso wichtiger, ein optimiertes Trainingsprogramm individuell für den Patienten zu erstellen. In Bezug auf den zirkadianen Rhythmus gibt es erste Evidenz, dass das Timing von Training, u. a. vormittags versus nachmittags, die Response beispielsweise in Bezug auf den Glukosemetabolismus beeinflusst (42). Momentan ist jedoch eine A-priori-Identifikation von Personen hinsichtlich des optimalen Trainingszeitpunktes nicht möglich. Hier bedarf es intensiver weiterer Forschungsbestrebungen, um einerseits die metabolischen Effekte von Timing von Training zu quantifizieren und um andererseits Kriterien zu entwickeln, die optimale Trainingszeit vor Therapiebeginn festlegen zu können.

Fitnesstracker zur Beurteilung von Schlaf

Gadgets wie Smartwatches und Fitnesstracker haben Funktionen, mit denen der eigene Schlaf unter den Alltagsbedingungen gemessen und analysiert werden kann. Die Daten werden dann meist in einer App oder teilweise direkt am Display des Gerätes abgelesen. Umfragen zufolge nutzen immer mehr Menschen diese Funktion. Inwieweit dies zu einem «gesünderen» Schlaf führt, ist jedoch nicht bekannt. Smartwatches können das Bewusstsein dafür schärfen, dass der Schlaf eine sehr wichtige biologische Funktion erfüllt. Eine Vielzahl der Gadgets sind allerdings noch ungenau, und weder Qualität des Schlafs noch Schlafmenge können richtig gemessen werden. Ihre Technik beruht auf Beschleunigungsmesser, Elektrokardiografie oder Temperatur, einzeln oder in Kombination. Allerdings gibt es Bestrebungen, die der Analyse zugrunde liegenden Algorithmen zu optimieren und so beispielsweise die verschiedenen Schlafstadien erfassen zu können. Aber auch aufgrund der Zeitspanne, die zwischen Experimenten im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie und der Publikation der Daten liegt, können diese Ergebnisse kaum keinen aktuellen Stand zu der Genauigkeit der Smartwatches widerspiegeln (43–46).

Polymorphismen von Uhrengenen, Adipositas und Gewichtsreduktion

Genetische Varianten (d. h. Einzelnukleotidpolymorphismen, SNPs) von Uhrengenen scheinen im Zusammenhang mit dem Risiko für Adipositas (47) und der Schlafdauer zu stehen (48, 49). Es wurden bereits über 300 SNPs von Uhrengenen in genomweiten Assoziationsstudien mit dem Chronotyp in Verbindung gebracht (50). Einen Zusammenhang zum Risiko für Adipositas scheinen beispielsweise SNPs rs3749474, rs1801260 des CLOCK-Gens zu zeigen (49). In Bezug auf eine Gewichtsabnahme im Rahmen eines Interventionsprogramms, welches auf der Mittelmeerdiät basierte, wurde diese durch den SNP des CLOCK-Gens rs1801260 zusätzlich beeinflusst. Zudem wird berichtet, dass die Personen, die als «Spätesser» charakterisiert wurden, weniger Körpergewicht abnahmen als die «Frühesser» (51). Ein Zusammenhang zwischen SNPs des CLOCK-Gens, Adipositas und der langfristigen Gewichtsreduktion sechs Jahre nach einer bariatrischen Operation wurde bei 375 Patienten mit morbider Adipositas und 230 Kontrollpersonen untersucht. Das G-Allel der rs1801260-Variante des CLOCK-Gens zeigte einen protektiven Effekt gegenüber Adipositas. Postoperativ war der Gewichtsverlust höher sowie die Gewichtszunahme geringer bei Trägern des A-Allels. Bei Personen, die homozygot für das T-Allel vom CLOCK-Gen rs3749474 waren, lag Assoziation zur Adipositas vor, und sechs Jahre nach einer bariatrischen Operation wurde ein geringer Gewichtsverlust und eine deutlich grössere Gewichtszunahme festgestellt (52).

Ausblick

Eine Optimierung oder ein Erhalt des zirkadianen Rhythmus kann zur Prävention bzw. Therapie von Adipositas beitragen. Einfache Massnahmen können zu einem «guten Schlaf» beitragen, wie adäquate Schlafdauer und adäquater Schlaf-Wach-Rhythmus, optimierte Umgebungsbedingungen wie Vermeidung von Licht und Lärm sowie die Vermeidung von ausgeprägtem Powernapping. Inwieweit ein Schlaftracking mit handelsüblichen Smartwatches eine Möglichkeit bietet, den Schlaf zu optimieren, ist derzeit noch nicht geklärt.
Therapiestrategien in der Ernährung sollten nicht nur die Kalorienaufnahme und Makronährstoffverteilung – wie klassisch üblich – berücksichtigen, sondern auch den Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme. Dies gilt auch für das körperliche Training, wobei hier noch umfangreicher Forschungsbedarf besteht.

PD Dr. med. Svenja Meyhöfer

Medizinische Klinik, Universität zu Lübeck
23562 Lübeck
Deutschland

PD Dr. Britta Wilms

Center of Brain, Behavior and Metabolism
Universität zu Lübeck
Marie Curie Strasse, Haus 66
D-23562 Lübeck

britta.wilms@uni-luebeck.de

Die Autorinnen haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Neue Entwicklungen und Innovationen in der ­Psychotherapie bei Adipositas

Zusammenfassung:

Dieser Beitrag zeigt neue Entwicklungen und Innovationen in der psychologischen Psychotherapie für Patient/-innen mit Adipositas auf. Es wird die Bedeutung einer interdisziplinären Behandlung, die neben traditionellen Ansätzen auch moderne Psychotherapieverfahren wie die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) umfasst, betont. Der aktuelle Forschungsstand legt nahe, dass die Bewertung der Wirksamkeit der Psychotherapie nicht ausschliesslich anhand von Gewichtsveränderungen erfolgen sollte, sondern auch andere Ergebnisse wie die subjektive Lebensqualität und psychische Gesundheit berücksichtigt werden sollten. Darüber hinaus wird die Rolle der Telemedizin und Blended-Psychotherapie als vielversprechende Ansätze zur Verbesserung der Zugänglichkeit und Effektivität der Behandlung hervorgehoben. Anhand eines Fallbeispiels einer 55-jährigen Frau mit Adipositas und psychischen Komorbiditäten wird die Wirksamkeit eines multimodalen psychotherapeutischen Ansatzes demonstriert.

Die Wechselwirkung zwischen ­psychischer Gesundheit und Adipositas

Adipositas wird laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgrund der Prävalenzzahlen weltweit als das grösste chronische Gesundheitsproblem betrachtet (1). In der Schweiz sind gemäss Bundesamt für Statistik 39.1 % der Männer und 22.8 % der Frauen übergewichtig, während die Zahlen für Adipositas bei 13.2 % (Männer) bzw. 11.0 % (Frauen) liegen. Vom Jahr 1992 bis 2022 hat sich in der Schweiz der Anteil an Personen mit Adipositas verdoppelt (2). Die hohen bzw. steigenden Prävalenzen stehen im Widerspruch zum Umstand, dass Adipositas als eines der am meisten vernachlässigten Gesundheitsprobleme gilt (1). Die Gründe dafür sind komplex und vielfältig, wobei häufig bislang eine gewichtsbezogene Stigmatisierung bei Patient/-innen nachgewiesen werden konnte (3). Vernachlässigt werden zudem auch die langjährigen psychosozialen Belastungen; oftmals geht Adipositas einher mit erheblichen Problemen im Selbstwertgefühl, dem Körperbild, eingeschränktem körperlichen Wohlbefinden, Schwierigkeiten in Beziehungen und im sozialen Kontakt, depressiven Verstimmungen, Ängsten, sozialer Isolation, beruflichen Herausforderungen und einer insgesamt deutlich verminderten Lebensqualität (4, 5).
Die aktuellen empirischen Befunde deuten darauf hin, dass die Beziehung zwischen Adipositas und Psychopathologie von bidirektionaler Natur ist, da Adipositas wiederholt mit einer Vielzahl neuropsychischer Dysfunktionen assoziiert wurde und gleichzeitig verschiedene Untergruppen psychiatrischer Patient/-innen nachweislich ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Adipositas aufweisen (6). Die Autoren letzterer Studie erklären beispielsweise den Pfad «Adipositas zu Psychopathologie» durch die chronisch erhöhten Entzündungswerte, endokrine Störungen und metabolische Dyshomöostase. Dadurch werden langfristig strukturelle neurodegenerative Prozesse im Gehirn beeinflusst. Die damit einhergehenden Läsionen und vor allem der deutliche Verlust neuronaler Zellen werden schliesslich mit psychischen Störungen in Zusammenhang gebracht.
Hinsichtlich des Pfades «Psychopathologie zu Adipositas» konnte in zahlreichen Studien gezeigt werden, dass psychische Komorbiditäten bei Adipositas häufig sind. Beispielsweise unterscheiden sich die Prävalenzen bei Personen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) deutlich, nämlich 27.4 % bei BMI ≥ 30 im Gegensatz zu einer Prävalenz von etwa 3 %–4 % in der allgemeinen Bevölkerung (7). Im Gegenzug haben Erwachsene und Kinder mit ADHS jeweils ein um 70 % bzw. 40 % erhöhtes Risiko, an Adipositas zu erkranken (8). In Bezug auf traumatische Ereignisse weist eine Metaanalyse darauf hin, dass bei Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung das Risiko im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um den Faktor 1.55 erhöht ist. Personen mit aversiven oder traumatischen Erfahrungen während der frühen Entwicklung (Adverse Childhood Events; ACE) weisen gemäss zweier Metaanalysen ein signifikant erhöhtes Risiko für Übergewicht und Adipositas im Erwachsenenalter auf (9, 10). Ferner konnte ein erhöhtes Risiko bei Personen mit Adipositas im Vergleich zu Personen ohne Adipositas bei den Diagnosen Nikotinabhängigkeit, schizoaffektive Störungen, bipolare Störungen, depressive Episoden, rezidivierende Depressionen, Dysthymie, Angststörungen, Somatisierungsstörungen, Essstörungen sowie Persönlichkeitsstörungen gefunden werden (4). Die Mechanismen, die von der psychischen Störung zu Adipositas führen, sind hierbei komplex und werden durch das mit der psychischen Störung assoziierten Verhalten (z.B. Impulsivität, Abhängigkeitsverhalten, Aktivitätsminderung bei Depressionen), der emotionalen Dysregulation und einer exekutiven Dysfunktion in Verbindung gebracht (11).

Die Relevanz von psychischen Faktoren hinsichtlich des Gewichtsverlaufs

Im Rahmen der psychotherapeutischen Adipositasbehandlung hat sich eine Untersuchung der Psychopathologie etabliert (12). Hierdurch können psychische Störungen identifiziert werden, die einen Einfluss auf den Behandlungsverlauf der Adipositas haben (z.B. Depression, Binge Eating Disorder, Night Eating Syndrome, Insomnie, Abhängigkeitserkrankungen). Eine Übersichtsarbeit (13) aus der bariatrischen Chirurgie zeigt, dass ein postoperativ gestörtes Essverhalten (z.B. Essanfälle oder unkontrolliertes Essen, Grazing¹, Snacking, emotionales Essen und nächtliches Essen) schlechtere Ergebnisse beim Gewichtsverlust voraussagen. Von diesen Verhaltensweisen weisen die Binge-Eating-Störung und unkontrolliertes Essen (unterhalb der Schwelle einer Binge-Eating-Störung) die meisten empirischen Belege hinsichtlich eines geringeren postoperativen Gewichtsverlustes auf.
Durch ein entsprechendes Screening können Verhaltensweisen identifiziert werden, welche die Adipositas weiter aufrechterhalten. Zudem können Personen adressiert werden, die eine erhöhte psychopathologische Vulnerabilität aufweisen und deren Leidensdruck im Verlauf der Adipositasbehandlung signifikant hoch werden kann. Aus der ba­riatrischen Chirurgie ist beispielsweise bekannt, dass selbstverletzendes Verhalten den Höhepunkt 2–3 Jahre nach der Operation erreicht, also zu dem Zeitpunkt, an dem die meisten Patienten typischerweise kein Gewicht mehr verlieren (14). Auch Suizidgedanken nehmen mit der Zeit zu (15; mittlerer Follow-up-Zeitrahmen der Studie: 7.1 Jahre).

Psychotherapeutischer Behandlungspfad bei Adipositas

Die komplexe Ätiologie von Übergewicht und Adipositas erfordert ein multidisziplinäres therapeutisches Vorgehen, das Ernährungsberatung, Anleitung zu körperlicher Aktivität, medizinische Therapien (pharmakologisch, chirurgisch) und psychologisch-psychotherapeutische Behandlung umfasst (16). Die Wichtigkeit einer interdisziplinären Vorgehensweise zeigt sich ferner anhand des Beispiels der zunehmend häufiger eingesetzten Medikamente zur Behandlung von Adipositas (GLP-1-Analoga, z.B. Liraglutid), die sich als vielversprechende Option zur Gewichtsabnahme anbieten (17). Wie die weiterhin erfolgreichste Methode hinsichtlich der Gewichtsabnahme, der bariatrischen Chirurgie (17), kann die medikamentöse Adipositastherapie durch die Gewichtsabnahme zu einer erheblichen Verbesserung der Lebensqualität und Reduktion der depressiven Symptomatik führen (18). Die Rolle der Psychotherapie liegt hierbei wie bei der bariatrischen Chirurgie in der diagnostischen Abklärung zu Beginn der Behandlung, um Menschen mit vorbestehenden psychischen Störungen zu identifizieren und gegebenenfalls Kontraindikationen festhalten zu können. Ferner unterstützt die Psychotherapie die Massnahmen der Verhaltensänderung. Wie bei der bariatrischen Chirurgie hält die Psychotherapie ferner eine zentrale Rolle bei denjenigen inne, wo Medikamente zur Behandlung von Adipositas nicht die erwünschte Wirkung erzielen, die Rückfälle erleben oder wo die Behandlung aufgrund von Nebenwirkungen oder der Versorgungssituation (z.B. Lieferengpässe) nicht weitergeführt werden kann (19). Nachfolgend werden zunächst psychotherapeutische Inhalte und deren Anwendung im Rahmen der Adipositas erläutert, worauf nachfolgend auf Technologie und das Setting eingegangen wird.

Psychotherapeutische Verfahren bei Adipositas

Die grösste Evidenz bezüglich psychotherapeutischer Interventionen bei Übergewicht und Adipositas erbringen kognitiv-verhaltenstherapeutische (KVT) Programme. Üblicherweise umfassen diese Therapiebestandteile wie Psychoedukation, Selbstbeobachtung und Verhaltensanalysen, Stimuluskontrolle, Kontrolle von Nahrungsreizen, kognitive Umstrukturierung, erlernen funktionaler Verhaltensweisen und Rückfallprophylaxe (20, 21). Ergänzend lassen sich neuere Psychotherapieverfahren einsetzen, wie die Compassion-Focused Therapy, die Mindfulness-based Cognitive Behaviour Therapy oder die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), wobei ACT die breiteste empirische Evidenz aufweist (22, 23). Bei ACT handelt es sich um einen Ansatz, der Strategien zur Klärung von Werten einsetzt, um zu identifizieren, was für die einzelne Person tiefgreifend und persönlich bedeutsam ist. Diese Werte werden dann mit Verhaltenszielen verknüpft. Das primäre Ziel ist hierbei nicht, das Gewicht zu reduzieren, sondern herauszufinden, was der einzelnen Person wichtig ist, und sie trotz bestehenden Übergewichts darin zu unterstützen, dies schrittweise und anhand von realistischen Zielen umzusetzen. Die Gewichtsabnahme kann hieraus sekundär erfolgen, wird jedoch nicht direkt angestrebt. Anders als die klassischen KVT-Programme nutzt ACT Strategien, um die Akzeptanz unerwünschter Gedanken, Gefühle und körperlicher Empfindungen (z.B. Selbstkritik, Müdigkeit, leichte Schmerzen, Stress) zu erhöhen. Dies mit dem Ziel, die Fähigkeit zur Ausübung von Verhalten (z.B. körperliche Aktivität) zu steigern, selbst wenn diese Hindernisse vorhanden sind.

Blended Care-Ansätze

Hinsichtlich des Settings der Adipositasbehandlung ist der Umstand entscheidend, dass Adipositas eine chronische Erkrankung darstellt, wobei sie von der Weltgesundheitsorganisation offiziell seit 2008 als chronische Erkrankung definiert wird (24). Vor diesem Hintergrund ist zu beachten, dass der Erfolg von Gewichtsmanagement-Programmen mit häufigeren Besuchen steigt, während Gewichtszunahme häufig insbesondere bei Personen auftritt, die keine Behandlung mehr erhalten. Daher wird ein langfristiger Behandlungskontakt mit kontinuierlichem Patientenengagement als entscheidend angesehen, um bei Patient/-innen mit Adipositas Gewichtsverlust zu erreichen und aufrechtzuerhalten (25). Durch die Verbesserung des Zugangs zur Versorgung über geografische und logistische Barrieren hinweg bietet die Telemedizin mit Blended-Care-Ansätzen eine entscheidende Möglichkeit zur Förderung der Selbstüberwachung und letztendlich zur Verbesserung des langfristigen Adipositasmanagements sowie der gesundheitsbezogenen Ergebnisse im Zusammenhang mit dem Gewicht. Blended-Psychotherapie bezieht sich hierbei auf die integrative Anwendung von persönlichen psychotherapeutischen Sitzungen und technologiebasierten Interventionen wie Onlinetherapie oder mobile Gesundheitsanwendungen, um eine flexi­blere und individualisierte psychologische Betreuung zu ermöglichen. Zudem können die zu behandelnden Personen durch Hausaufgaben, Lerninhalte und Selbstmonitoring zwischen den Sitzungen ressourceneffizient engagiert gehalten werden. Eine entsprechende Metaanalyse (26) weist auf die Überlegenheit bzw. die zusätzlichen Vorteile von mobiler Technologie hin, basierend auf einer Untergruppe von Studien, die ein «Behandlung» versus «Behandlung und technologische Unterstützung» Design verwendet haben.

Befunde zur Wirksamkeit der Psycho­therapie bezüglich der kurzfristigen vs. langfristigen Gewichtsreduktion

Die vorhandenen Forschungsarbeiten zur psychotherapeutischen Behandlung in Bezug auf Gewichtsreduktion weisen eine erhebliche Heterogenität auf, sowohl hinsichtlich der Stichprobengrösse, des Ausgangsgewichts, des Zuweisungsmodus, der Dauer, der Frequenz und des Katamnesezeitraums der Behandlung (27). Ebenso spielen die Zusammensetzung und Anzahl der Interventionen (z.B. ausschliesslich Psychotherapie gegenüber einem kombinierten multimodalen Ansatz mit Ernährungs- und Bewegungstraining) eine bedeutende Rolle hinsichtlich der Interpretation der Studienergebnisse.
Eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse zur Effektivität von KVT im Vergleich zu passiven Kontrollgruppen (28) zeigte eine mittlere signifikante Effektgrösse bezüglich der Gewichtsabnahme. In Bezug auf den Gewichtserhalt zeigte die Metaanalyse einen moderaten, signifikanten Effekt der kognitiv-behavioralen Interventionen. In allen Studien, die ausreichende Daten zur Gewichtserhaltung bereitstellten, waren die Teilnehmer in den Interventionsgruppen signifikant erfolgreicher darin, die Gewichtsabnahme im Vergleich zur Kontrollgruppe aufrechtzuerhalten.
Weitere Metaanalysen (29, 30, 31) mit einem Vergleich von KVT zu passiven Kontrollgruppen berichteten kleine bis mittlere signifikante Effektgrössen bezüglich Gewichtsverlust nach Abschluss der Behandlung. In der Untersuchung von Comsa et al. (29) zeigte sich ferner, dass KVT-Interventionen sich als effektiver erwiesen, wenn sie durch multidisziplinäre Teams und mit längeren Sitzungen durchgeführt wurden.
Hinsichtlich neuerer kognitiv-behavioraler Interventionen zeigt die Akzeptanz- und Commitment-Therapie die konsistenteste Evidenz für ihre Wirksamkeit bezüglich der Gewichtsreduktion (23). Allerdings scheint ACT nur minimale Auswirkungen auf das Körpergewicht zu haben, insbesondere im Vergleich zu herkömmlichen Verhaltenstherapien (30). Die Metaanalysen (28, 29) weisen jedoch darauf hin, dass ACT einen positiven Einfluss auf die subjektive Lebensqualität, die depressive Symptomatik, die psychologische Flexibilität, die Wahrnehmung des gewichtsbezogenes Stigmas und das Essverhalten hat.
Die Fragestellung erhält zusätzliche Komplexität, wenn hinsichtlich der Gewichtsreduktion Studien berücksichtigt werden, die Personen untersuchen, die neben der Adipositas komorbid eine psychische Störung aufweisen. Eine Übersichtsarbeit (32) macht deutlich, dass das gleichzeitige Vorliegen von Adipositas mit komorbiden Essstörungen, insbesondere der Binge-Eating-Störung, die Aufmerksamkeit von Gesundheitsfachkräften erfordert. Gesundheitsfachkräfte, die auf die Behandlung von Adipositas spezialisiert sind und ein gestörtes Essverhalten nicht ansprechen, werden gemäss den Autoren mit erhöhter Wahrscheinlichkeit langfristig erfolglose Gewichtsreduktionsverläufe aufgrund fortgesetztem Binge-Eating beobachten. Eine kürzlich publizierte Studie (33) fasst einleitend die aktuelle Studienlage zusammen, die aufzeigt, dass die psychische Belastung, z.B. in Form von Depressionen oder Angsterkrankungen, mit der Gewichtskontrolle zusammenhängt. Die Ergebnisse der Studie stimmen damit überein und zeigen, dass psychische Belastungen moderat mit Massnahmen zur Gewichtskontrolle und stark mit Essverhalten assoziiert sind.

Ein Fallbeispiel aus der ­psychotherapeutischen Praxis

Frau H., 55 Jahre, somatische Diagnose Adipositas nicht näher bezeichnet (F66.99) mit einem BMI von 36 (Grad 2), berichtet ihrem Hausarzt von anhaltenden Schwierigkeiten, mit langfristiger Ernährungsberatung und kurzzeitiger medikamentöser GLP-1-Behandlung ihr Gewicht reduzieren zu können. Ihre Situation wird durch emotionales Essen und Night Eating Syndrome verschärft, was zu der Entscheidung des Hausarztes führt, parallel zur bereits laufenden Ernährungsberatung eine ambulante Psychotherapie zu verordnen.
Im therapeutischen Erstgespräch werden neben den bekannten Essstörungen auch Anzeichen einer leichten bis mittelgradigen depressiven Episode identifiziert. Die Therapie zielt darauf ab, die Selbstwahrnehmung der Patientin zu verbessern und das Verhalten positiv zu beeinflussen, insbesondere im Hinblick auf ihre hohe Leistungsorientierung und ihren Perfektionismus im Berufsleben, die als Stressfaktoren und Auslöser für ihr gestörtes Essverhalten identifiziert werden.
Die Behandlung umfasst kognitive Verhaltenstherapie (KVT) zur Bearbeitung dysfunktionaler Gedanken und Einstellungen, Entspannungstechniken und Achtsamkeitsübungen zur Stressbewältigung sowie schematherapeutische Interventionen, um tiefere emotionale Muster und Bedürfnisse anzusprechen. Dabei werden imaginative Techniken genutzt, um Frau H. zu helfen, sich mit prägenden Erinnerungen, u.a. aus der Kindheit, auseinanderzusetzen und ihre Selbstwahrnehmung positiv zu verändern.
Aufgrund räumlicher und mobilitätsbedingter Einschränkungen sowie beruflicher Verpflichtungen von Frau H. werden die Therapiesitzungen in einem Hybridmodell aus Präsenz- und Videoterminen durchgeführt. Ein App-basiertes System unterstützt die Therapie zwischen den Sitzungen durch regelmässige Push-Nachrichten, was die Verbindlichkeit und das Engagement der Patientin erhöht.
Im Verlauf zeigt Frau H. signifikante Verbesserungen in ihrem Essverhalten und eine Reduktion der depressiven Symptomatik. Sie berichtet über eine bessere Stressbewältigung ohne Rückgriff auf dysfunktionales Essverhalten und ein gesteigertes Selbstwertgefühl, was sich positiv auf ihre Lebensqualität und berufliche Zufriedenheit auswirkt. Die Verbesserungen ermöglichten es ihr, sich besser im Arbeitsumfeld abzugrenzen und mehr Raum für Selbstfürsorge zu schaffen. Letztendlich entscheidet sich Frau H. aufgrund anhaltender Gewichtsschwankungen, trotz leichter Entspannung der Gewichtskurve, für eine bariatrische Operation – eine Entscheidung, die sie zuvor mit grosser Ambivalenz und Sorge betrachtet hatte. Die Psychotherapie begleitet auch diesen Prozess niederfrequent mit, um längerfristige Verhaltensveränderungen nach dem operativen Eingriff zu unterstützen.
Der therapeutische Prozess hilft der Patientin, den Fokus von der Gewichtsabnahme auf die Verbesserung der Lebensqualität zu verlagern, was von dieser als wesentlicher Schritt in ihrer Behandlung zur Verbesserung ihres Wohlbefindens beurteilt wird.

Dr. phil. Niclà Lozza

Oviva AG
Zürcherstrasse 64
8852 Altendorf

nicla.lozza@psychologie.ch

Matthias Baumann

Oviva AG
Zürcherstrasse 64
8852 Altendorf

Dr. phil. Suzana Stojiljkovic

Oviva AG
Zürcherstrasse 64
8852 Altendorf

suzana.stojiljkovic@oviva.com

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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