Medizinische Interventionen zur Adipositastherapie

Zusammenfassung

Adipositas ist eine chronische Erkrankung, welche durch eine erhöhte Körperfettmasse und gestörte Fettgewebsfunktion charakterisiert ist und deren Pathogenese auf einer neurobiologischen Regulationsstörung der Energiehomöostase basiert. Primäres Ziel der medizinischen Adipositastherapie ist es, die pathologisch erhöhte Körperfettmasse zu reduzieren und dadurch Folgeerkrankungen zu verhindern und Komorbiditäten zu verbessern. In diesem Sinn stellt die bariatrisch-metabolische Chirurgie derzeit die effektivste Adipositastherapie dar. Neue Medikamente, welche im Wesentlichen auf einem GLP-1-Rezeptoragonismus basieren, erlauben mittlerweile auch eine immer wirksamere pharmakologische Therapie. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass sowohl die bariatrisch-metabolische Chirurgie als auch die pharmakologische Adipositastherapie direkte Effekte auf die zentralnervöse Regulation der Energiehomöostase sowie insbesondere von Hunger und Appetit ausüben und damit pathogenetisch kausale Therapien darstellen. In unserer Übersicht beleuchten wir die genannten medizinischen Interventionen zur Adipositastherapie und stellen sie in den Kontext eines pathogenetischen Krankheitskonzepts.

Einleitung

Adipositas ist eine chronische Erkrankung, welche pathogenetisch auf einer neurobiologischen Regulationsstörung basiert. Die Morbidität der Erkrankung definiert sich einerseits durch das Ausmass der Fettgewebsdysfunktion, anderseits durch die ausgeprägte soziale Stigmatisierung der Erkrankung und der Betroffenen. Während sich die Gesundheitssysteme meist auf die Behandlung der Begleit- und Folgeerkrankungen der Adipositas fokussieren, adressiert die eigentliche medizinische Adipositastherapie die zugrunde liegende Pathophysiologie der Erkrankung, indem sie zentralnervöse Regulationsprozesse der Energiehomöostase und insbesondere das Hunger- und Appetitempfinden beeinflusst. Dabei hat sich die bariatrisch-metabolische Chirurgie mittlerweile als effektivste Therapie der Adipositas etabliert, da sie unter anderem die Morbidität und Mortalität der Erkrankung langfristig massiv reduziert. Zudem gewinnen neue pharmakologische Therapien, welche aktuell im Wesentlichen auf eine Verstärkung des physiologischen Glucagon-like-Peptid-1-(GLP-1-) Signals basieren, als zusätzliche therapeutische Option der Adipositastherapie an Bedeutung. In unserem Artikel geben wir eine praxisorientierte Übersicht über die medizinischen Interventionen (pharmakologisch/chirurgisch) zur Behandlung der Adipositas und stellen sie in den Kontext der Pathogenese der Erkrankung.

Der Mythos, der einer effektiven ­Adipositastherapie im Wege steht

Obgleich wissenschaftlich seit Langem widerlegt, hält sich hartnäckig der weitverbreitete Mythos, dass das Köpergewicht und die damit verbundene Körperfettmasse einer willentlichen Kontrolle unterliegt. Dabei sind sich die Fachleute und Spezialist/-innen mittlerweile einig, dass das hyperphagische Essverhalten der betroffenen Patient/-innen nicht Ursache, sondern vielmehr das Leitsymptom der Adipositaserkrankung darstellt. Vereinfacht kann man also sagen, dass die betroffenen Patient/-innen nicht übergewichtig sind, weil sie zu viel essen, sondern sie essen zu viel, weil sie an Adipositas erkrankt sind. Folgerichtig haben sich kognitive Therapieansätze, wie beispielsweise Ernährungsberatung, Verhaltens- und Psychotherapie sowie Bewegungs- und Trainingstherapien, zwar als potenziell hilfreich in der Behandlung von Menschen mit Adipositas erwiesen, jedoch sind sie meist nicht effektiv genug, um die pathologisch erhöhte Fettmasse, also das krankheitsdefinierende Charakteristikum, dauerhaft zu reduzieren. Entsprechend sind diese klassischen Therapieansätze bestenfalls als supportiv und komplementär, jedoch nicht als alleinstehende Behandlung der Erkrankung anzusehen. Deshalb dürfen sie keine Hürde darstellen, die den Einsatz effektiverer und pathogenetisch kausaler Therapieansätze verhindert. Mit anderen Worten, ihr Einsatz respektive die Inanspruchnahme entsprechender Therapieangebote durch betroffene Personen darf keine Grundvoraussetzung für den Einsatz von evidenzbasierten, medizinischen Interventionen zur effektiven Behandlung der Erkrankung darstellen. Bei vielen anderen chronischen Erkrankungen, wie beispielsweise Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, koronare Herzkrankheit oder chronisch obstruktive Lungenerkrankung, wissen wir ebenfalls, dass behaviorale Therapieansätze positive Effekte auf den Krankheitsverlauf haben können, würden jedoch niemals auf die Idee kommen, betroffenen Personen bei unzureichendem Nutzen dieser Möglichkeiten eine Therapie mit wissenschaftlich nachgewiesener Effektivität vorzuenthalten. Genau dies ist jedoch im Fall der Adipositasbehandlung leider immer noch medizinischer Alltag.

Adipositas – eine zentralnervöse ­Regulationsstörung

Menschen mit Adipositas leiden unter einer zentralner­vösen Regulationsstörung der Energiehomöostase, insbesondere der Steuerung des Hunger- und Appetitempfindens. Dabei spielt eine unzureichende Wirkung neuroendokriner Feedbacksignale aus der Peripherie, wie beispielsweise Leptin und Insulin, im Sinne einer zentralnervösen Leptin-/Insulin-Resistenz eine bedeutende Rolle. Daraus resultierend ergibt sich bei Menschen mit Adipositas im Vergleich zu Nichtbetroffenen gemäss dem «Behavioral Balance Model» (1) ein physiologisch erhöhter «bottom-up»-Antrieb zur Gewichtzunahme (Abb. 1).


Um einen progredienten Gewichtsanstieg zu verhindern, müssen Menschen mit Adipositas daher also einen deutlich erhöhten kognitiven («top-down») «Aufwand» betreiben, um ihre Ernährung sowie ihr Bewegungsverhalten willentlich zu kontrollieren. Leider erhöht sich bei einer solchen forcierten Gewichtsreduktion durch Restriktion der Energiezufuhr («Diät») der «bottom-up»-Antrieb im Sinne einer neuroendokrinen Gegenregulation immer mehr, sodass der kognitive Aufwand irgendwann nicht mehr ausreicht, um einen Wiederanstieg des Gewichts zu verhindern. Während behaviorale Therapieansätze auf eine Stärkung der kognitiven Kontrolle abzielen, ist es das Ziel sowohl einer pharmakologischen als auch chirurgischen Adipositastherapie, den pathologisch gesteigerten «bottom-up»-Antrieb dauerhaft zu reduzieren (Abb. 2).

Pharmakotherapie und bariatrische ­Chirurgie wirken entlastend

Modelhaft kann man als pathophysiologisches Grundkonzept bei der Adipositas auch von einem nach oben verschobenen Set-Point des Körpergewichts ausgehen. Wie Abbildung 3 illustriert, gelingt es den betroffenen Personen zwar oft durch willentliche Anstrengungen, ihr Körpergewicht und damit ihre Körperfettmasse vorübergehend zu reduzieren, jedoch zieht der nach oben verschobene Set-Point wie eine aufgespreizte Spiralfeder das Körpergewicht wieder nach oben zurück.


Pharmakologische Interventionen sowie auch bariatrisch-metabolische Operationen können dabei helfen, das Gewicht auf reduziertem Niveau zu halten und dadurch betroffene Personen kognitiv zu entlasten. In der Praxis berichten viele der medikamentös und chirurgisch behandelten Patient/-innen, sich durch die Therapie von dem Zwang, permanent ihr Essverhalten unter Kontrolle halten zu müssen, befreit zu fühlen. Die Patient/-innen erlangen also durch die Therapie die Kontrolle über etwas zurück, über das sie zwischenzeitlich die Kontrolle verloren haben: das Essverhalten sowie das Hunger- und Appetitempfinden. Vor dem Hintergrund der bereits zuvor erwähnten Tatsache, dass das verstärkte Hungergefühl als Leitsymptom und nicht als Ursache der Erkrankung angesehen werden muss, kann man also konstatieren, dass es sich bei den pharmakologischen und chirurgischen Behandlungen um kausale Therapieansätze handelt. Dies geht meist mit einer erheblichen Steigerung der Lebensqualität einher. Wird dann jedoch die Pharmakotherapie beispielsweise aufgrund einer fehlenden Finanzierung beendet, so wird das Gewicht wieder «nach oben» gezogen, was nicht selten mit Versagensgefühlen seitens betroffener Personen und grosser Frustration einhergeht. Da bislang eine langfristige Finanzierung von medikamentösen Therapien der Adipositas durch die obligatorische Krankenversicherung aufgrund des, oben als Mythos bezeichneten, Fehlkonzepts der Adipositaserkrankung nicht gegeben ist, sollte diese langfristige Perspektive bei der Therapieplanung immer berücksichtigt werden. Die bariatrische Chirurgie bietet hier klar den Vorteil, dass durch eine einmalige Intervention ein langfristiger Effekt auf die chronische Erkrankung ausgeübt wird und somit nicht von einer dauerhaften Finanzierung abhängig ist.

Aktuelle Pharmakotherapie der ­Adipositas

Über die letzten Jahrzehnte hinweg erschien eine ganze Reihe verschiedener Medikamente zur Behandlung der Adipositas auf dem Markt (2, 3). Da sich aber bei einer Vielzahl dieser Medikamente bei breiter Anwendung eine hohe Rate an unerwünschten Nebenwirkungen zeigte, die das Risiko-Nutzen-Verhältnis infrage stellten, verschwanden viele dieser Medikamente ebenso schnell, wie sie gekommen waren. Daher ist es umso erfreulicher, dass nun zunehmend Medikamente entwickelt wurden und werden, welche nicht nur deutlich effektiver sind als alle Medikamente, die uns bisher zur Behandlung der Adipositas zur Verfügung standen, sondern darüber hinaus auch ein besseres Nutzen-Risiko-Verhältnis aufzuweisen scheinen. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um Substanzen, die als Agonisten am GLP-1-Rezeptor eine agonistische Wirkung entfalten. Diese Substanzgruppe kennen wir mittlerweile bereits seit bald zwei Jahrzehnten in der Therapie des Typ-2-Diabetes-mellitus (T2DM).
Für die Adipositastherapie sind in der Schweiz aktuell zwei GLP-1-Rezeptoragonisten (RA) zugelassen. Unter dem Namen Saxenda® ist Liraglutid bereits seit einigen Jahren im Einsatz. Liraglutid wird seit Beginn 2024 zunehmend durch Semaglutid (Handelsname: Wegovy®) ersetzt, welches einerseits wirksamer ist, anderseits im Gegensatz zu Liraglutid nicht täglich, sondern nur einmal wöchentlich s.c. appliziert wird. Unter Erfüllung der in der Spezialitätenliste des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) definierten Limitatio werden beide Medikamente von den Krankenkassen aktuell über maximal 3 Jahre finanziert. Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Chronizität der Adipositaserkrankung macht die zeitliche Limitation der Kostenübernahme medizinisch betrachtet keinen Sinn.
Eine dritte, in vielen Ländern bereits für die Adipositas-therapie zugelassene Substanz ist Tirzepatid (Handelsname: Mounjaro®), welche sowohl agonistisch am GLP-1-Rezeptor als auch am Rezeptor des glukoseabhängigen insulinotropen Polypeptids (GIP) wirkt.
Haupteffekt der genannten Medikamente ist eine Verminderung des Appetits sowie eine frühzeitige Sättigung nach Nahrungsaufnahme (4–7). Experimentelle Untersuchungen konnten zeigen, dass durch die Gabe von GLP-1- RA die Verarbeitung von visuellen Reizen im Gehirn, die unter normalen Bedingungen zur Nahrungsaufnahme anregen, deutlich unterdrückt wird (8). Dies erleichtert es betroffenen Personen, Kontrolle über ihr Essverhalten auszuüben, um eine Restriktion der Energiezufuhr zu erreichen und dadurch ihr Gewicht und ihre Körperfettmasse zu reduzieren.
Hinsichtlich ihres gewichtsreduzierenden Effektes zeigen die genannten Medikamente eine klare Dosis-Wirkung-Beziehung (9, 10). Gleiches gilt in der Regel auch für das Auftreten typischer Nebenwirkungen, insbesondere gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö oder auch Obstipation. Da solche Beschwerden insbesondere zu Beginn der Behandlung auftreten, werden die genannten Medikamente durch eine schrittweise Dosissteigerung eingeschlichen. Man muss jedoch damit rechnen, dass etwa 5 % der behandelten Patient/-innen die Medikation aufgrund von Nebenwirkungen nicht vertragen und die Therapie daher abgebrochen werden muss. Als ernsthafte Komplikationen sind zudem das gehäufte Auftreten von Gallenblasensteinen und Pankreatitiden zu erwähnen.
Gemäss den Zulassungsstudien der genannten Medikamente erreicht man unter Liraglutid eine durchschnittliche Gewichtsreduktion von etwa 8 % im Vergleich zum Ausgangsgewicht, unter Semaglutid von etwa 15 % sowie unter Tirzepatid von etwa 21 % (11–13). Ist der gewichtsreduzierende Effekt ausgeschöpft, so dient die fortgeführte Medikation dem Ziel, das Gewicht und damit auch die Fettmasse auf dem reduzierten Niveau zu halten. Stoppt man die Medikation, so kommt es zeitnah zu einem graduellen Wiederanstieg des Körpergewichts, wie in einigen Studien eindrücklich gezeigt werden konnte (Abb. 4) (14–16).
Die Pharmakotherapie der Adipositas unterscheidet sich somit prinzipiell nicht von anderen medikamentösen Behandlungen, wie beispielsweise der pharmakologischen antihypertensiven oder Cholesterin senkenden Therapie, bei der man ebenfalls von einem Wiederanstieg der adressierten Variablen ausgehen kann, sobald die Therapie beendet wird.


Dass eine pharmakologische Adipositastherapie nicht nur das Körpergewicht und die Körperfettmasse reduziert, sondern darüber hinaus auch das Risiko von Komplikationen der Adipositas senkt, wurde erstmalig in der SELECT-Studie gezeigt (17). In dieser Studie wurden 17 604 Personen mit einen BMI von mindestens 27 kg/m2 und vorbestehender kardiovaskulärer Erkrankung (stattgehabter Herzinfarkt, stattgehabter Schlaganfall oder periphere arterielle Verschlusskrankheit) eingeschlossen und entweder mit Placebo oder 2.4 mg Semaglutid 1 x pro Woche s.c. ­behandelt. Als Ergebnis zeigte sich, dass nach einer mittleren Behandlungsdauer von etwa 34 Monaten das Auftreten des zusammengesetzten primären Endpunkts (kardiovaskulärer Tod, nicht tödlicher Myokardinfarkt, nicht tödlicher Schlaganfall) durch die Behandlung mit Sema­glutid gegenüber der Placebobehandlung um 20 % reduziert wurde (Placebo vs. Semaglutid: 8 % vs. 6.5 %, hazard ratio, 0.80; 95 % Konfidenzintervall, 0.72–0.90; P< 0.001). Die absolute Risikoreduktion betrug somit 1.5 %; die number-needed-to-treat über 34 Monate betrug 67.

Bariatrisch-metabolische Chirurgie

Die bariatrisch-metabolische Chirurgie hat sich in den letzten 30 Jahren weltweit als Standardtherapie der ausgeprägten Adipositas etabliert. Bei gegebener Indikation ist sie in der Schweiz als Pflichtleistung in der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KVL) verankert. Die wesentlichen Indikationskriterien zur Durchführung einer bariatrisch-metabolischen Operation sind in Tabelle 1 zusammengefasst.


Obgleich es mittlerweile eine Vielzahl an unterschiedlichen Operationsverfahren gibt, gelten heute in der Schweiz der Roux-en-Y-Magenbypass (Roux-en-Y gastric bypass, RYGB) sowie die Schlauchmagenresektion (Sleeve-Gas­trektomie) als Standardverfahren, welche auch weltweit am meisten angewendet werden. Wichtig ist dabei zu verstehen, dass beide Operationen zu einer veränderten ­Ausschüttung von gastrointestinalen Hormonen, wie unter anderen GLP-1, führen (18) und dadurch einen starken Hunger und Appetit vermindernden Einfluss auf die zentralnervösen Regulationszentren ausüben (19). So konnten beispielsweise Neuroimaging-Studien zeigen, dass sich die zentralnervöse Verarbeitung von stimulierenden Nahrungsreizen nach bariatrisch-metabolischen Operationen deutlich verändert (20, 21). Die Effekte der Operationen basierten somit weniger auf den durch sie etablierten anatomisch/mechanischen Veränderungen, sondern auf ihrem Einfluss auf die zentralnervösen Regulationszentren, was somit einen kausalen Therapieansatz darstellt – anlog zur medikamentösen Therapie, wie bereits oben ausgeführt.
Das Grundprinzip des RYGB basiert auf der Trennung von Nahrungsbrei und Verdauungssäften im oberen Gastrointestinaltrakt. Dazu wird eine kleine Magentasche direkt unterhalb des ösophagogastralen Übergangs vom restlichen Magen abgetrennt (Abb. 5).


Der ausgeschaltete Restmagen verbleibt in situ. Das Jejunum wird anschliessend etwa 50–70 cm aboral der Flexura duodenojejunalis (Treitz-Flexur) durchtrennt und als sog. alimentärer Schenkel mit der Magentasche anastomosiert (sog. Gastrojejunostomie). Anschliessend wird der proximale Abschnitt des Jejunums, in dem die Verdauungssäfte ohne Kontakt zum Nahrungsbrei transportiert werden (sog. biliopankreatischer Schenkel), ca. 150 cm aboral der Gastrojejunostomie Seit-zu-Seit mit dem alimentären Schenkel des Jejunums verbunden. Erwähnenswert ist, dass diese Art der Operation durch einen erneuten chirurgischen Eingriff wieder umgekehrt werden kann und somit reversibel ist, was jedoch nur in sehr seltenen Fällen nötig ist.
Bei der Schlauchmagenresektion (Sleeve-Gastrektomie) werden ca. 90 % des Magenvolumens grosskurvaturseitig entfernt, sodass nur noch ein schlauchförmiger Restmagen mit ca. 80–100 ml Fassungsvolumen verbleibt (Abbildung 5 rechts). Die anatomische Nahrungspassage und die Verdauungssekrete werden durch diese Operation nicht verändert. Dieser Eingriff ist im Vergleich zum laparoskopischen RYGB technisch einfacher, was wesentlich zu seiner dominanten Verbreitung weltweit beigetragen hat.
Beide Operationsverfahren, Schlauchmagen und RYGB, zeigen bezüglich dauerhafter Gewichtsreduktion (langfristig etwa 25–30 %) sowie auch Verbesserung vieler Adipositas-assoziierter Komorbiditäten vergleichbare Ergebnisse (22, 23). Auch hinsichtlich Komplikations- und Sterblichkeitsrate bestehen keine gravierenden Unterschiede zwischen den beiden Verfahren (24) . Bei präoperativ vorhandener gastroösophagealer Refluxerkrankung (GERD) bietet die RYGB-Operation jedoch deutliche Vorteile (25), da sie das Problem meist behebt, während der Schlauchmagen sogar das Neuauftreten von GERD fördert und mit einem erhöhten Risiko des Entstehens von Barrett-Metaplasien einherzugehen scheint (26). Auch hinsichtlich der Behandlung des Typ-2-Diabetes-mellitus scheint der RYGB etwas effektiver zu sein (27). Im Gegensatz zum RYGB führt die Schlauchmagenresektion nicht zu einer Umgehung des Duodenums sowie des proximalen Jejunums, sodass die Mikronährstoffaufnahme weniger beeinträchtigt wird. Entsprechend ist nach einer Schlauchmagenresektion eine weniger systematische Supplementation (insbesondere von Calcium) als nach einem RYGB notwendig. Zudem treten postprandiale Hypoglykämien im Sinne eines Spätdumping-Syndroms weitaus seltener nach einer Schlauchmagenresektion als nach der RYGB-Operation auf.
Generell kann die bariatrisch-metabolische Chirurgie heute als sicher angesehen werden. So liegt die Rate von schwerwiegenden Komplikationen (z.B. revisionspflichtige Nachblutungen, Klammernahtleckagen oder Anastomoseninsuffizienzen) bei etwa 1–3 %. Aufgrund eines postoperativen Problems (Wundinfekt, Thrombose, Lungenembolie, Darmpassageproblematik etc.) werden etwa 3–4 % der operierten Patient/-innen innerhalb von 30 Tagen erneut hospitalisiert, die 30-Tage-Mortalität beträgt 0.05–0.2 % (28).
Wie bei allen chronischen Erkrankungen ist auch bei Menschen mit Adipositas, welche sich einer bariatrisch-metabolischen Operation unterzogen haben, eine dauerhafte medizinische Betreuung notwendig. Hierbei geht es beispielsweise darum, der Entstehung von Mikronährstoffmängeln durch eine systematische Supplementation sowie entsprechende Laborkontrollen entgegenzuwirken. Andere Probleme, welche im postoperativen Verlauf auftreten können, sind beispielsweise die Entstehung von inneren Hernien, das Auftreten eines erhöhten Alkoholkonsums sowie evtl. eine erhöhte Suizidalität und damit verbunden psychischen Problemen (29).
Trotz des potenziellen Auftretens schwerwiegender Komplikationen überwiegen in der breiten Anwendung die positiven Effekte der bariatrisch-metabolischen Chirurgie ihre potenziellen Risiken deutlich. So konnte in vielen Studien klar gezeigt werden, dass die Funktionstüchtigkeit verschiedener Organsysteme wie Herz, Niere, Leber, Lunge sowie Gehirn nach einer bariatrisch-metabolischen Operation länger erhalten bleibt oder sich sogar verbessert (30–35). Zudem konnte auch eine Reduktion der Inzidenz von Adipositas-assoziierten Krebserkrankungen um 32 % sowie eine Reduktion der Krebs-assoziierten Mortalität um 48 % nach bariatrisch-metabolischen Operationen nachgewiesen werden (36). Eindrücklich sind auch die Ergebnisse einer Registerstudie (37), welche eine Verlängerung der Lebenserwartung von Menschen mit Adipositas durch bariatrisch-metabolische Operationen um durchschnittlich 6.1 Jahre fand. Bei Personen, welche zusätzlich präoperativ einen T2DM aufwiesen, betrug die errechnete Verlängerung der Lebenserwartung sogar 9.3 Jahre.

Prof. Dr. med. Bernd Schultes

Stoffwechselzentrum St. Gallen, friendlyDocs AG
Lerchentalstrasse 21
9016 St. Gallen

stoffwechselzentrum@friendlydocs.ch

Dr. rer. hum. biol. Barbara Ernst

Centre du métabolisme de Saint-Gall
friendlyDocs AG
Lerchentalstrasse 21
9016 St. Gallen

stoffwechselzentrum@friendlydocs.ch

Prof. Dr. med. Dr. phil. Marco Bueter

Universitätsspital Zürich, Klinik für Viszeralchirurgie,
& Spital Männedorf AG, Klinik Chirurgie

m.bueter@spitalmaennedorf.ch

Prof. Dr. med. Bernd Schultes gibt an, Vortragstätigkeiten für die Firmen Novo Nordisk, Elli Lilly, Johnson & Johnson, Böhringer-Ingelheim durchzuführen sowie an advisory boards dieser Firmen teilzunehmen. Diese Firmen produzieren und/oder erforschen u.a. Arzneimittel und Medizinprodukte zur Behandlung von Adipositas. Zudem war er als Investigator an klinischen Studien der Firma Novo Nordisk beteiligt.

Dr. rer. hum. biol. Barbara Ernst gibt an, als Studienkoordinatorin an klinischen Studien der Firma Novo Nordisk beteiligt gewesen zu sein.

Prof. Dr. med. Marco Bueter gibt an, Vortragstätigkeiten für die Firmen Johnson & Johnson und Medtronic durchzuführen.

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CARE-(CArdiovasculaR prEvention) Score – ein Instrument zur Erfassung der Versorgungsqualität von kardiovaskulären Risikopatient/-innen in der Hausarztpraxis

Einleitung

Ungeachtet enormer Fortschritte in der Prävention und Therapie kardiovaskulärer Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten sind kardiovaskuläre Erkrankungen in Europa gemäss Angaben der World Health Organization (WHO) und der Krankheitsstatistik der europäischen Gesellschaft für Kardiologie (European Society of Cardiology, ESC) mit bis zu 3.9 Millionen Todesfällen für circa 45 % aller Todesfälle verantwortlich (1, 2).

In der Schweiz liegt der relative Anteil kardiovaskulärer Erkrankungen an allen Todesfällen etwas tiefer, so sind gemäss dem schweizerischen Gesundheitsobservatorium (OBSAN) 20.463 entsprechende Todesfälle im Jahre 2022 oder 27.5 % aller Todesursachen kardiovaskulärer Natur (3). Damit sind auch in der Schweiz kardiovaskuläre Erkrankungen die häufigste Todesursache. Eine Gesellschaft wie die unsere mit einem höheren Anteil älterer Menschen geht naturgemäss mit einer höheren Prävalenz an kardiovaskulären Erkrankungen einher, da das Lebensalter ein wesentlicher Risikofaktor für deren Entwicklung darstellt. Dennoch gibt es zahlreiche Studien, die zeigen, dass das Potenzial in der Primär- und vor allem auch der Sekundärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen nur unzureichend ausgeschöpft wird.

Dabei ist die den therapeutischen Interventionsmöglichkeiten zugrunde legende Evidenz überwältigend, so ist klar belegt, dass es einen linearen Zusammenhang zwischen dem LDL-Cholesterinspiegel im Blut und dem Risiko, ein kardiovaskuläres Ereignis zu erleiden, gibt, wie Mendelsche Randomisierungsstudien durch die Simulation einer lebenslangen Exposition eindrucksvoll belegen (4). Andererseits zeigte eine Schweizer Studie, die 4.349 Patienten und Patientinnen nach einem erlittenen Myokardinfarkt verfolgte, dass gerade einmal 6.9 % der Patientinnen die in den Leitlinien empfohlenen drei wichtigsten sekundärpräventiven Medikamente nach einem Jahr erhielten. Allein die Statintherapie ging in der Studie mit einer Risikoreduktion von fast 50 % (OR: 0.59 (0.45–0.77, 95 % CI)) für Mortalität und 0.54 (0.43–0.68) für MACE (major cardiovascular events) einher und zeigte damit den stärksten sekundärpräventiven Effekt aller Medikamente, noch vor der dualen Plättchenhemmung (5).

Analoges gilt für den Blutdruck: Eine aktuelle Analyse, die Blutdruckwerte aus dem National Health and Nutrition Examination Survey über einen Zeitraum von 19 Jahren (1999–2018) anhand von 53.289 Menschen analysierte, zeigte erneut den J-förmigen Zusammenhang zwischen Blutdruck und kardiovaskulärer Mortalität und belegte erneut eindrucksvoll, dass das niedrigste Risiko bei einem Druck von unter 120 mmHg systolisch respektive 80 mmHg diastolisch vorliegt (6). Im hausärztlichen Alltag erscheint es oft schwierig, Patienten und Patientinnen, die jahrzehntelang an – wenn auch oft nur leicht – hypertensive Werte gewöhnt sind, auf diese Blutdruckwerte einzustellen. Die Evidenz zeigt aber klar, dass auch eine grenzwertige Hypertonie frühzeitig behandelt werden sollte, wie dies den Blutdruckzielwerten der ESC und insbesondere den noch strengeren Zielwerten der American Heart Association/American College of Cardiology entspricht. Dennoch zeigen Studien, dass nur ein geringer Teil der Patient/-innen diese Zielwerte erreicht. Positiv zu vermerken ist, dass sich in den letzten 10 Jahren in der Schweiz die Blutdruckkontrolle verbessert hat, so wiesen gemäss der europäischen EURIKA-Studie 2010 nur 37.4 % der Patient/-innen einen Blutdruck im empfohlenen Zielbereich auf, während in einer aktuellen Arbeit mit Daten von 80.759 Patient/-innen 44.9 % Blutdruckwerte im Zielbereich der ESC-Guidelines aufwiesen (7). Allerdings bedeuten die aktuellen Ergebnisse immer noch, dass über 50 % die Zielwerte nicht erreichen.

Analog zur Therapie kardiovaskulärer Risikofaktoren zeigte vor Jahren eine Studie mit Daten des Krankenversicherers Helsana eine unzureichende Umsetzung von Leitlinienempfehlungen bei Diabetikern (8). Diese Ergebnisse veranlasste die Schweizer Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie, evidenzbasierte Kriterien einer Diabetikerversorgung im sogenannten «SGED Score» zusammenzufassen (9). Der Begriff «Score» bezieht sich dabei nicht – wie sonst im medizinischen Kontext meist üblich – auf ein Risiko, sondern der Score-Wert reflektiert das Ausmass der Umsetzung der Leitlinienempfehlungen; er stellt somit einen Adherence-Score dar. Der SGED-Score beträgt im Maximum 100 Punkte, wobei als Zielwert im Sinne einer Guideline-adhärenten Versorgung mindestens 70 Punkte vorgegeben werden.

Kardiovaskuläre Erkrankungen zeigen eine weit höhere Prävalenz als der Diabetes, ein analoges Instrument, dass die Versorgungsqualität bei kardiovaskulären Erkrankungen widerspiegelt, existiert bisher aber noch nicht. Im Dezember 2022 hat sich eine interdisziplinäre Gruppe aus Hausärzt/-innen und Kardiolog/-innen zusammengefunden und in Anlehnung an den SGED-Score ein analoges Evidence-Adherence Instrument zur Quantifizierung der Qualität der Versorgung kardiovaskulärer Risikopatient/-innen, den Take-CARE-Score (CArdiovasculaR prEvention score), entwickelt.

Methodik

Beginnend im Dezember 2022 wurde eine interdisziplinäre Projektgruppe aus Allgemeininternist/-innen und Kardiolog/-innen formiert, die neben den Autoren weitere Stakeholder, insbesondere auch aus dem Bereich der Krankenversicherer, dem Forum Managed Care und hausärztlicher Netzwerke umfasste. Das Ziel war es, einen evidenzbasierten Summenscore zu entwickeln, der die Qualität der Versorgung kardiovaskulärer Risikopatient/-innen, im Hinblick auf ihre Zielwerterreichung, quantifiziert. Grundlage für die Zielwerte waren die Leitlinien der ESC respektive deren adaptierte Leitlinien für das Schweizer Grundversorgersetting aus dem Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich.

Der Score sollte aus den üblichen hausärztlichen Routinedaten errechenbar sein, die im Rahmen der Betreuung von kardiovaskulären Risikopatient/-innen gemäss Leitlinien zu dokumentieren sind. Ziel des Scores ist es, dem einzelnen Arzt oder der Ärztin einen einfachen und pragmatischen Überblick über die «Performance» und Guideline-Adhe­rence der eigenen Versorgung zu bieten. Natürlich können diese Daten auch in Qualitätszirkeln oder in Netzwerken zu Qualitätsmassnahmen genutzt werden. Eine Stärke des SGED-Score ist es, nicht nur Prozesse abzubilden, sondern auch klinische Outcomes, wie das HbA1c oder den Blutdruck, abzubilden, dies sollte analog auch im CARE-Score erfolgen. Diese kontinuierlichen, klinischen Variablen werden je nach Zielwerterreichung in beiden Scores mit einem Score-Wert verknüpft.

Für den CARE-Score wurden die nachfolgenden Varia­blen, basierend auf den Empfehlungen der ESC, identifiziert (10), (Tabelle 1).

Die Leitlinien machen grösstenteils keine Empfehlung, wie häufig die jeweiligen Werte zu kontrollieren sind, die Vorgabe für den CARE-Score ist eine mindestens einmalige jährliche Messung respektive Kontrolle der Parameter 1–6. Die KDIGO-Leitlinie und die Empfehlung der Schweizer Gesellschaft für Nephrologie sehen ein Screening bei Patient/-innen mit arterieller Hypertonie, Diabetes mellitus, Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen mittels eGFR und Albuminausscheidung im Urin mindestens einmal jährlich vor. Für jeden Test, eGFR und Albumin, werden im CARE-Score je 5 Prozesspunkte vergeben (11, 12).

Zielwerte

Auf der Basis der in der Schweiz vorhandenen Zielwerterreichungsgrade erschien es der Projektgruppe sinnvoll, 40 % Zielerreichung als untersten Wert zu definieren, ab dem es einen CARE-Score-Punkt gibt. Wenn bei mindestens 60 % aller Patient/-innen die entsprechenden Parameter gemessen werden, wird bereits der maximale CARE-Score-Wert von 10 vergeben. Für die Erfassung von Raucherstatus oder Endorganschäden respektive einer vorhanden ASCVD werden bei erfolgter Dokumentation 5 CARE-Score-Punkte vergeben.

Um den Outcomes mehr Bedeutung beizumessen als dem reinen Messen und somit den Prozessparametern, sind die Zielwerterreichungen im LDL-Cholesterin respektive dem Blutdruck höhere Score-Punkte zugeordnet. Beginnend wiederum bei 40 % als Minimum wird hier pro Prozentpunkt höherer Zielwerterreichung ein Score-Punkt mehr vergeben, bis der maximale Score-Punktewert bei 65 % erreicht ist. Rational für den unteren Schwellenwert von 40 % Patient/-innen, die mindestens den Zielwert erreichen sollten, um einen CARE-Score-Punkt zu erhalten, ist die verfügbare Literatur, die zeigt, dass in der Schweizer Grundversorgung dieser Wert beim Hypertonus im Median leicht überschritten wird, beim LDL-Cholesterin in Abhängigkeit von der ESC-Risikokategorie unterschritten oder knapp erreicht wird (4, 8). Im Bereich von 40–65 % Patient/-innen auf Zielwert gibt es pro 2 % höherem Patientenanteil, der dies erreicht, je 1 CARE-Score-Punkt, bis zum Maximum von 25 bei 65 %. Bereits bei 65 %, wenn also knapp zwei Drittel aller Patientinnen und Patienten im Zielbereich sind, gibt es somit die volle Punktzahl.

Somit können bis zu 35 % der Patient/-innen aufgrund mangelnder Adherence, Alter und Multimorbidität aus der Betrachtung der Performance ausgeklammert werden. Dieser Wert liegt weit über den Werten, die von General Practicioners im englischen Pay-for-Performance-Programm im Rahmen des Quality and Outcomes-Framework des National Health Service (NHS) durch sie tatsächlich ausgeschlossen werden (13). In der Summe resultieren daraus 100 Punkte, wobei 50 Punkte auf Prozessparameter entfallen und 50 Punkte auf Outcomevariablen. Wichtig ist hierbei zu betonen, dass der CARE-Score und der SGED-Score komplementär sind, das heisst, bei Diabetikern kommen beide zum Einsatz. Grundsätzlich sollte der CARE-Score bei allen Patient/-innen über 40 Jahren und mit einem Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis im ESC-Score von grösser einem Prozent erfasst werden und alle drei Jahre überprüft werden, dies reflektieren die EVIPREV-Empfehlungen für die Schweiz (https://eviprev.ch/).

Ergebnisse – Proof of concept

Um die Machbarkeit und die Resultate des CARE-Scores in real-life zu testen, führten wir eine Kalkulation innerhalb des FIRE-Forschungsnetzwerkes des Instituts durch. Eingeschlossen wurden hierbei 463 Hausärzte mit einem Schwerpunkt in der Deutschschweiz (die räumliche Verteilung der Praxen ist unter https://www.fireproject.ch einzusehen, 68.203 Patient/-innen). Das mittlere Alter der Patient/-innen betrug 67.9 Jahre (SD 12.8), 46.3 % davon waren Frauen.

Abbildung 1 zeigt deutlich, dass vor allem die Prozessparameter häufig umgesetzt werden und daraus entsprechende CARE-Score-Punkte resultieren, bei den Blutdruckzielwerten zeigt sich, dass es sowohl zahlreiche Hausärztinnen und Hausärzte gibt, die nicht mindestens 40 % ihrer Patient/-innen auf Zielwert haben, dass es aber auch eine grosse Anzahl an Hausärztinnen und Hausärzten gibt, die die volle CARE-Score-Punktzahl erreichen, also mehr als 65 % der Patient/-innen im Blutdruckzielbereich haben.
Beim LDL-Zielwert zeigte sich, dass nur ganz wenige Ärzte den Schwellenwert von mindestens 40 % erreichten, um mindestens 1 CARE-Score-Wert zu erreichen. Die grundsätzliche Erreichbarkeit wurde allerdings dadurch belegt, dass es 5 Ärzte gab, die 65 % oder mehr aus LDL-Zielwerten hatten. Abbildung 2 liefert ein differenziertes Bild der LDL-Zielwerterreichung. Hier zeigt sich, dass der Grossteil der Patient/-innen den Schwellenwert im LDL-Zielwert von mindestens 40 %, die auf LDL-Zielwert sind, nicht erreichen. Die meisten Hausärzt/-innen erreichen den LDL-Zielwert nur bei 10–20 % ihrer Patient/-innen.

Diskussion

Kardiovaskuläre Erkrankungen sind die führende Todesursache in der Schweiz, und es gibt eine überwältigende medizinische Evidenz, dass die heute zur Verfügung stehenden medikamentösen Interventionsmöglichkeiten zu einer signifikanten Reduktion von Morbidität und Mortalität führen. Zahlreiche Studien belegen jedoch ebenso, dass diese Massnahmen nur bei einem geringen Teil umgesetzt werden, obgleich auch in der Schweiz die notwendige Evidenz durch hausärztliche Guidelines zur Verfügung steht (14, 15). Strukturierte Tools, die Versorgungsqualität valide abbilden, können Ärztinnen und Ärzte hierbei unterstützen und machen zudem die Leistung transparent und vergleichbar.
Im Bestreben, medizinische Behandlungsqualität erfassbar zu machen, wurden in den letzten Jahren Qualitätsindikatoren, insbesondere im stationären Setting, in grosser Zahl entwickelt und untersucht. Häufig handelt es sich hierbei allerdings um Prozessindikatoren, die kein wirklich valides Bild liefern. Insbesondere im Kontext von Eingriffen wären die Indikations- und Ergebnisqualität weitaus bessere Indikatoren, insbesondere die Indikationsqualität ist aber sehr schwer zu erfassen. Qualitätsindikatoren oder entsprechende Qualitätsscores können daher häufig auch eine Scheinqualität vortäuschen, und ihre Aussagekraft ist oft allein schon aufgrund der unterschiedlichen Patientenpopulationen limitiert (16, 17).

International sind viele Anstrengungen unternommen worden, den evidence-performance-gap zu minimieren, gerade auch im kardiovaskulären Bereich (18, 19). Das Chronic Care Model wurde als Vorlage zur Versorgung chronisch kranker Patient/-innen entwickelt (20–22), aber auch heute noch scheitert eine wirksame Umsetzung bereits an den verfügbaren elektronischen Krankengeschichten (KGs), mit welchen sich diese Parameter weder adäquat aufbereiten noch ausreichend informativ für den Nutzer zur Verfügung stellen lassen. Fehlende Standards verhindern zudem eine digitale Vernetzung zwischen den Ärzten (23).

Der SGED-Score hat sich in der Schweiz als Score zur Erfassung der Versorgungsqualität bei Diabetikern fest etabliert (9). Mittlerweile hat der SGED-Score sogar Eingang in Managed-Care-Verträge zahlreicher Versicherer mit Ärztenetzwerken gefunden. Mit dem CARE-Score wurde der Versuch unternommen, ein ähnliches Instrument für die noch weitaus grössere Gruppe von Patient/-innen mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko zu entwickeln. Der CARE-Score nutzt wie der SGED-Score die vorhandene medizinische Evidenz aus international akzeptierten und teilweise lokal adaptierten medizinischen Guidelines, die den Kriterien des Instituts of Medicine entsprechen respektive von der FMH akkreditiert sind (10, 14).

Anhand einer Berechnung des CARE-Scores auf Basis der im FIRE-Netzwerk verfügbaren Daten konnte hier gezeigt werden, dass der CARE-Score aus hausärztlichen Routinedaten ohne jeden Mehraufwand für die beteiligten Ärzt/-innen errechnet werden kann. Einzig die Dokumentation von Raucherstatus und Endorganschäden und ASCVD sind nicht in allen elektronischen KGs in Form von strukturierten Feldern möglich. Hier wurden aber für den FIRE-Datensatz Ansätze mit künstlicher Intelligenz entwickelt, die die Extraktion dieser Angaben zumindest zum Teil auch dann ermöglicht, wenn sie nicht in einem von der elKG vorgegebenen Feld dokumentiert wurden.

Die Simulation des CARE-Scores am FIRE-Datensatz hat – wie zuvor nationale und internationale Studien – gezeigt, dass es noch Verbesserungspotenzial in der Umsetzung der Leitlinienempfehlung gibt, insbesondere in den klinischen Outcomes. Der evidence-performance-gap, also die Lücke aus theoretischer Evidenz und täglicher Praxis, ist noch erheblich (24). Der Einwand von Kritikern, die Zielvorgaben im CARE-Score seien zu ambitioniert respektive aufgrund von Multimorbidität und mangelnder Adherence von Patientinnen und Patienten nicht erreichbar, wird widerlegt durch die Hausärztinnen und Hausärzte im FIRE-Netzwerk, die dies durchaus erreicht haben. Zudem scheinen die Zielvorgaben – mit einem Maximalwert bereits bei 65 %, also noch nicht einmal zwei Drittel aller Patient/-innen auf Zielwert – durch die Literatur gut abgestützt. Zudem muss man sich vor Augen führen, dass im staatlichen Gesundheitssystem Englands, dem NHS beispielsweise, der Erreichungsgrad beispielsweise beim Blutdruckzielwert (140/90 mmHg) im Jahre 2023 bei weit über 70 %, in vielen Praxen bei fast 80 % lag (25). Im englischen Pay-for-Performance-Programm ist es den General Practitioners erlaubt, Patient/-innen aufgrund mangelnder Adhärenz und anderen Gründen wie Alter oder Multimorbidität, die eine vollständige Umsetzung der Leitlinien verhindern, auszuschliessen. Eine Analyse von 8.105 englischen Hausarztpraxen zeigte jedoch, dass im Median nur 5.3 % aller Patient/-innen aus diesen Gründen ausgeschlossen wurden (13). Mit einem maximal avisierten Zielerreichungsgrad von 65 % im CARE-Score wird somit Alter, Multimorbidität und vor allem Non-Adherence der Patientinnen und Patienten mehr als Rechnung getragen.

Limitationen

FIRE ermöglicht eine routinemässige Kalkulation von Qualitätsindikatoren respektive dem CARE-Score, dennoch sind bei der Betrachtung der Ergebnisse einige Limitationen zu beachten: Im Gegensatz zur Situation in UK, wo die Hausärztinnen und Hausärzte sich bewusst mit den Zielerreichungsgraden auseinandersetzen, erfolgte die Dokumentation in den elektronischen Krankenakten in der Schweiz wesentlich individueller, und Werte werden beispielsweise nicht in den von der elKG vorgegebenen strukturierten Feldern erfasst. Dies kann zu einer Verschlechterung der Resultate führen. Diesem Umstand wurde in den jüngsten FIRE-Datenexporten und mithilfe künstlicher Intelligenz, die strukturelle «Fehleingaben» korrigieren kann, Rechnung getragen, gilt aber noch nicht für länger zurückliegende Behandlungsperioden und ältere Werte, die hier teilweise in die Berechnung mit eingeflossen sind. Eine weitere Limitation, die zu (scheinbar) schlechteren Ergebnissen führt, ist die Tatsache, dass in UK die Qualitätsindikatoren incentiviert sind, was für den CARE-Score nicht gilt. Incentivierungen haben aber naturgemäss einen erheblichen Einfluss auf die Dokumentation und Outcomes (26, 27). Daher sind die in diesem Artikel errechneten Werte nicht als absolut zu werten, sondern einzig als «Proof-of-concept», dass der CARE-Score automatisiert aus Routinedaten zu errechnen ist. Eine Analyse aus einem Ärztenetzwerk, das den SGED-Score als Behandlungsmassstab bereits implementiert hat, zeigte zudem deutlich bessere Ergebnisse. Dies kann als Hinweis gewertet werden, dass bei einer Implementierung des CARE-Scores die Awareness unter den Ärzten derart erhöht wird, dass sich rasch deutliche Verbesserungen abbilden, allein schon durch eine bessere Dokumentation.

Schlussfolgerung

Der Erfassung von medizinischer Behandlungsqualität kommt auch in der ambulanten Praxis in der Schweiz eine zunehmend grössere Bedeutung bei. Scores wie der eta­blierte SGED-Score zur Versorgung von Diabetikern oder der hier vorgestellte CARE-Score für kardiovaskuläre Risikopatient/-innen zeichnen aufgrund der Erfassung von Prozess- wie auch Ergebnisqualität ein zuverlässiges Bild der Guideline-Adhärenz und der Versorgungsqualität. Sie können auf der Basis hausärztlicher Routinedaten aus elektronischen KGs ohne Mehraufwand errechnet werden und eignen sich für Massnahmen zur Qualitätsdokumentation und vor allem Qualitätssteigerung, indem sie beispielsweise die Grundlage eines entsprechenden Austausches in Ärztenetzwerken und Qualitätszirkeln bilden. Durch die Anpassung der Zielwerterreichungsgrade sind sie an unterschiedliche Versorgungskontexte und Populationen flexibel anpassbar, die im aktuellen CARE-Score reflektierten Werte tragen mangelnder Patienten-Adherence ebenso Rechnung wie hohem Patientenalter und Multimobidität.
Der CARE-Score stellt somit ein einfaches und pragmatisches Instrument dar, den evidence-perfomance-gap wirksam zu verkleinern.

Historie:
Manuskript eingereicht: 08.04.2024
Angenommen nach Revision 30.04.2024

Prof. Dr. Dr. med.Thomas Rosemann

Institut für Hausarztmedizin
Universitätsspital Zürich
Pestalozzistrasse 24
8091 Zürich

thomas.rosemann@usz.ch

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

 

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Aktuelle Diagnostik und Therapie der chronischen Rhinosinusitis

Einleitung und Pathophysiologie

Ziel dieses Reviews ist, Grundversorger über die aktuell gültigen Guidelines zur chronischen Rhinosinusitis (CRS) zu informieren. Der hier vorgelegte Überblick basiert auf dem European Position Paper on Rhinosinusitis and Polyps, abgekürzt EPOS2020 und beschreibt die Anwendung von Biologika bei chronischer Rhinosinusitis in der Schweiz. Die Krankheit betrifft 5–12 % der Gesamtbevölkerung und tritt meist in der fünften Lebensdekade auf. Während bisher anhand des Phänotyps differenziert wurde zwischen einer CRS mit oder ohne Nasenpolypen, steht heute der diagnostisch und therapeutisch wichtige Endotyp im Vordergrund. Es werden drei Endotypen von molekularen Entzündungsmustern unterschieden. Endotyp 1 ist eine durch Interferon Gamma (IFN-γ) geprägte Entzündungsreaktion gegen intrazelluläre Pathogene, etwa Viren. Endotyp 2 ist dagegen ursprünglich gegen Parasiten gerichtet und durch IL-4, IL-5 und IL-13 vermittelt.Dies ist der vorherrschende Endotyp bei CRS und Polypen in westlichen Populationen. Endotyp 3 wehrt unter Sekretion von IL-17 und IL-22 extrazelluläre Bakterien ab. Eine traditionelle Unterteilung der CRS in eine Form mit und ohne Polypen (CRSwNP/CRSsNP) wird in der neueren Literatur zunehmend verlassen zugunsten der Endotypen. Für den klinischen Alltag hat sich eine vereinfachende Unterteilung in Typ-2- und Non-Typ-2-Entzündung durchgesetzt. Aus den Endotypen werden die Phänotypen hergeleitet, ein Endotyp kann zu verschiedenen Phänotypen führen (1).

EPOS2020 Definitionen

Eine CRS wird in der EPOS2020 als eine mindestens zwölf Wochen persistierende Entzündung der sinunasalen Schleimhaut definiert. Sie geht definitionsgemäss mit folgenden Symptomen einher:

• Nasenobstruktion/-blockierung und/oder anteriore oder posteriore Rhinorrhoe, wobei mindestens eines davon obligat vorhanden sein muss
• sowie optional Druckgefühl/Gesichtsschmerzen oder Riechminderung, sollten nicht beide erstgenannten Symptome erfüllt sein

Die klinische Definition kann im Verlauf durch eine Nasenendoskopie und ein natives CT der Nasennebenhöhlen (NNH) ergänzt werden. Dabei ist der endoskopische Nachweis von Polypen, purulentem Sekret oder entzündeter, ödematöser Schleimhaut im mittleren Nasengang notwendig. CT-graphisch ist eine Mukosaschwellung der Sinus oder in der osteomeatalen Einheit erforderlich, also dem gemeinsamen Drainageweg von Kiefer-, Stirn- und vorderer Siebbeinhöhlen (2). Die EPOS2020 unterscheidet zwischen primärer und sekundärer CRS. Sekundäre Formen entstehen auf dem Boden einer Grunderkrankung, wie z.B. einer zystischen Fibrose oder einer Vaskulitis.

Die Phänotypen

Die primäre CRS, welche in dieser Übersichtsarbeit thematisiert wird, ist nach anatomischer Beteiligung in einseitig oder beidseitig unterteilt (Abb. 1). Die weitere Unterteilung erfolgt nach dem Endotyp. Folgende klinischen Befunde, also Phänotypen, ergeben sich aus einer bilateralen primären CRS vom Endotyp 2:

• Die chronische Rhinosinusitis mit Nasenpolypen: Diese tritt meistens in der fünften Lebensdekade auf, Männer sind eher betroffen. Bei dieser Form findet sich eine Prävalenz von bis zu 31 % für Allergien auf Inhalationsantigene, ein Zusammenhang mit Asthma wird in 45 % der Fälle angegeben (1).
• Die eosinophile Form (eCRS) benötigt den histologischen und laborchemischen Nachweis von Eosinophilen (1).
• Seltenere Phänotypen sind die allergische Pilz-Rhinosinusitis und die central compartment atopic disease (CCAD), zu Deutsch atopische Krankheit der zentraleKompartimente. Die allergische Pilz-Rhinosinusitis ist eine nicht invasive Mykose der Nasennebenhöhlen, die durch eine Typ I allergische Reaktion gegen Pilzhyphen geprägt ist. Sie kommt gehäuft in feuchteren und wärmeren Gegenden vor und wird oft von einem allergischen Asthma begleitet (1).

Die bilaterale primäre CRS vom Non-Typ 2 Endotyp hat als einzigen Phänotyp die non eosinophile CRS (Non-eCRS). Entsprechend weist sie histologisch < 10 Eosinophile/Gesichtsfeld im Sinusepithel, laborchemisch eher niedrige IgE-Spiegel und normwertige Eosinophile-Anzahl auf (1). Diese Patienten leiden oft an eitriger Rhinorrhoe, manchmal begleitet von Gesichtsschmerzen, und häufigen akuten Infekten.
Eine einseitige CRS ist immer verdächtig auf eine sekundäre Form der CRS, z.B. in Form eines invertierten Papillomes, eines Malignoms oder einer dentogenen Ursache. EPOS2020 empfiehlt bei einseitiger CRS die direkte Zuweisung an einen HNO-Spezialisten und eine Bildgebung. Hervorzuheben ist zudem, dass eine isolierte Verschattung im Sinus maxillaris zwar am häufigsten bei einer dentogenen Infektion auftritt, jedoch auch ein Malignom als Ursache haben kann (1).

Diagnostik und Therapie in der ­haus­ärztlichen Sprechstunde

Der Hausarzt kann eine CRS anhand der Symptome, wie von den EPOS 2020 vorgeschlagen, postulieren und behandeln (Abb. 2). Zu beachten sind Warnsymtome und unilaterale Symptome, welche eine zeitnahe Überweisung notwendig machen (Abb. 2). Daneben sollen in der hausärztlichen Praxis einerseits die Komorbiditäten im Zusammenhang mit der CRS diagnostiziert und therapiert werden, andererseits wird die Basistherapie mit nasalen Steroidsprays und Nasenspülungen begonnen. Rauchen führt zu einem oxidativen Stress der Mukosa. Das metabolische Syndrom scheint ein unabhängiger Risikofaktor für die CRS zu sein. Es wird postuliert, dass das vermehrte Fettgewebe pro-inflammatorisch wirkt. Ein weiterer unabhängiger Risikofaktor für eine CRS ist das Obstruktive Schlafapnoesyndrom (OSAS), wobei hier die pathophysiologischen Zusammenhänge unklar sind. Daneben scheint ein gastroösophagealer Reflux eine CRS zu begünstigen, der Nachweis einer Besserung der CRS-Symptomatik durch die Gabe von Säureblockern steht jedoch aus. Die Exposition gegenüber Papier-, Metall-, Textilienstaub, Reinigungsmittel, Schimmel, Feuchtigkeit und toxischen Gasen begünstigt die CRS (1).

Die Aspirin Exacerbated Respiratory Disease (AERD, auch Widal-Trias genannt) ist eine chronische, eosinophile Entzündung des respiratorischen Epithels mit einer Verschlimmerung von Atembeschwerden durch die Einnahme von Aspirin und anderen NSAR. Die Betroffenen leiden unter einem Asthma und einer CRS Typ 2, in der Regel mit dem Phänotyp von Nasenpolypen. Ursache ist eine vermehrte Leukotrienbildung wegen einer Störung der Eicosanoid-Synthese. AERD-Patienten sind jünger als andere CRS-Patienten und leiden häufiger an Rezidivpolypen trotz adäquater Therapie. Empfohlen wird eine strikte Auslöserkarenz. Während früher in ausgewählten Fällen eine Aspirindesensibilisierung versucht wurde, wird man heute eine Therapie mit einem Biologikum bevorzugen.

Ein starker Zusammenhang besteht zwischen CRS und Asthma. Die Prävalenz eines Asthma bronchiale liegt je nach Endotyp der CRS zwischen 21–45 % und sogar 73 % bei AFRS. Eine gute Evidenz für oder gegen eine allergische Prädisposition und CRS gibt es nicht, hingegen sind Unterformen wie CCAD und AFRS mit Allergien vergesellschaftet. Sowohl für CRS als auch für eine allergische Rhinitis besteht die Therapie in der Anwendung von topischen Steroiden, aktuell kann bei Non-Allergikern mit CRS keine zusätzliche Antihistamintherapie empfohlen werden. Die meisten COPD- und Bronchiektasie-Patienten weisen CT-graphische Hinweise für eine CRS auf, ursächlich dafür dürfte eine Ziliendysfunktion sein (1).

Die genaue Instruktion der Basistherapie mit Nasenspülungen und nasalen Steroidsprays ist für den Therapieeffekt und die Compliance essenziell. Für die Nasenspülung wird isotonisches Salzwasser empfohlen. Vor der topischen Steroidanwendung soll die Nase zuerst gespült und dann geschnäuzt werden. Der Spray soll vor dem Gebrauch gut geschüttelt werden, da das Kortison meist in einer Suspension vorliegt. Dann wird der Behälter mit aufrechtem Oberkörper in einer Hand gehalten und gekreuzt in das gegenseitige Nasenloch eingesprüht. Die Basistherapie wird täglich für sechs bis zwölf Wochen durchgeführt, eine Besserung ist erst nach zwei bis drei Wochen zu erwarten. Bei gutem Ansprechen auf die Basistherapie bei einer bilateralen CRS kann diese bei Bedarf über Jahre hinweg fortgeführt werden.

Bei Beschwerdepersistenz sollte eine Überweisung für eine rhinologische Abklärung bei einem HNO-Arzt erfolgen (Abb. 2). Differenzialdiagnostisch ist auch an eine sekundäre CRS zu denken, wobei hier bei Kindern vor allem eine primär ziliäre Dyskinesie oder zystische Fibrose und bei Erwachsenen eine Vaskulitis wie eine Granulomatose mit Polyangiitis infrage kommen.

Die weitere Diagnostik und Therapie beim HNO-Facharzt

Initial werden die Diagnose und Differentialdiagnose einer CRS reevaluiert. In der ergänzenden Anamneseerhebung beim HNO-Arzt wird nochmals die korrekte Spül- und Spraytechnik überprüft. Die Einschränkung der Lebensqualität bei CRS-Patienten wird mit dem SNOT-22 Formular (Sinonasal Outcome Test) festgehalten. Mittels Riechtest wird nach einer Hyposmie gesucht. Es erfolgt die Nasenendoskopie mit Beurteilung der Schleimhaut, Anatomie, Dokumentation von allfälligem pathologischen Sekret oder Polypen sowie Ausschluss einer Raumforderung. Ein Prick-Test kann bei möglichem Vorliegen einer Allergie ergänzend durchgeführt werden. Laborchemisch werden die Eosinophilen im Blutbild und das Gesamt-IgE als Hinweise für eine Typ-2-Inflammation bestimmt. Bildgebend wird nach adäquater Vorbehandlung ein CT-NNH nativ durchgeführt, einerseits um das Ausmass der Verschattung der Sinus zu bestimmen, andererseits zur Planung einer möglichen endoskopischen NNH-Operation. Therapeutisch wird bei einer CRS Typ 2 die Basistherapie mit kurzdauernden systemischen Steroidstössen (maximal ein-/zweimal pro Jahr) ergänzt. Eine funktionelle NNH-Operation, im Sinne einer endoskopischen Eröffnung der betroffenen Sinus, ist indiziert, wenn trotz Basistherapie für mindestens acht Wochen und trotz systemischen Steroiden bei CRS Typ 2 oder Antibiotika bei CRS Non-Typ 2 keine Besserung der Beschwerden eintritt. Der Patient muss sich bewusst sein, dass durch die Operation keine Heilung eintritt, sondern die weiterhin notwendige Basistherapie besser zu dem eröffneten Sinus gelangt. Bei Beschwerdepersistenz trotz stufengerechter medikamentöser und operativer Therapie sollte die Diagnose einer primären Form der CRS hinterfragt, eine sekundäre CRS in Betracht gezogen oder eine Revisionsoperation angedacht werden. Eine Option für eine therapierefraktäre, stark symptomatische CRS Typ 2 trotz adäquater medikamentöser und operativer Therapie sind Biologika (Abb. 3). Bei Vorliegen von Rezidivpolypen nach erfolgter endoskopischer NNH-Operation sollten für die Indikation zur Therapie mit einem Biologikum gemäss EPOS2020 mindestens drei der aufgeführten Kriterien erfüllt sein (1):

• Hinweise für eine Typ-2-Inflammation:
. histologisch Gewebseosinophilie ≥10 Eosinophile/Gesichtsfeld oder
. Bluteosinophilie ≥250 u/L oder
. Gesamt-IgE im Blut >100 IU/ml
• Notwendigkeit von zwei oder mehr systemischen Steroidtherapien pro Jahr oder Kontraindikation für Steroide
• SNOT-22 ≥40
• Nachweis einer Anosmie im Riechtest
• Asthmadiagnose mit Notwendigkeit von inhalativen Steroiden

Da es sich in der Regel um Patienten mit fachübergreifenden chronischen Atemwegserkrankungen handelt, sollte die Indikation zur Therapie einer CRS Typ 2 mit einem Biologikum an einem interdisziplinären Fachboard mit HNO-Ärzten, Pneumologen, Immunologen/Allergologen, Hämatologen gestellt werden (3).

In der Schweiz sind zur Zeit drei Biologika für die Behandlung der chronischen Rhinosinusitis mit Nasenpolypen (Typ-2-Inflammation) von Swissmedic zugelassen.
Omalizumab ist ein selektiver monoklonaler Antikörper, welcher IgE bindet und das Andocken von IgE an Mastzellen oder Basophilen und somit die Aktivierung der Entzündungskaskade verhindert. Omalizumab wird seit 2003 zur Behandlung von Asthma und seit 2014 bei chronischer Urtikaria eingesetzt (4). Die gewichtsadaptierte Dosis wird durch den prätherapeutischen Gesamt-IgE-Spiegel beeinflusst und alle vier Wochen subkutan verabreicht. Während der Behandlung kann der Gesamt-IgE-Spiegel steigen, da nun die IgEs an Omalizumab gebunden sind und nicht mehr an den Zellrezeptoren (5). In einer Phase-III-Studie bei CRSwNP verbesserte sich der SNOT-22 um etwa 20 Punkte nach 24 Wochen Anwendung, endoskopisch kam es zu einer Polypenreduktion (6).
Mepolizumab ist ein monoklonaler Antikörper gegen IL-5 und wird neben der CRSwNP seit 2015 bei Asthma sowie bei eosinophiler Granulomatose mit Polyangiitis und ­Hypereosinophilie-Syndrom angewendet (7). Bei CRSwNP ist das IL-5 im sinunasalen Epithel hochreguliert und wird von verschiedenen Entzündungszellen produziert, Eosinophile werden dadurch aktiviert und überlebensfähig gemacht (8). Mepolizumab wird alle 4 Wochen subkutan injiziert. Nach 52 Wochen Therapie fand sich in der Phase-III-Studie bei CRSwNP eine SNOT-22-Reduktion von fast 30 Punkten, ebenso wurden die Polypen kleiner (9).

Dupilumab ist ein monoklonaler Antikörper gegen IL-4 und IL-13 (10). Beide Interleukine können die Interzellularverbindungen zwischen den Epithelzellen schwächen. IL-13 kann in den B-Zellen einen IgE-Klassenwechsel herbeiführen, womit lokal mehr IgE gebildet wird, zudem kann das Zytokin Proteine bilden lassen, welche den Übertritt von Entzündungszellen vom Blut ins Gewebe erleichtern (9). Dupilumab wird alle 2 Wochen subkutan angewendet, nach 52 Wochen Therapie zeigte sich in einer Phase-III-Studie bei CRSwNP eine Verbesserung des SNOT-22 um 20 Punkte, und die Polypen wurden kleiner (10). Weitere Indikationen für Dupilumab sind Asthma, atopische Dermatitis, Prurigo nodularis und die eosinophile Ösophagitis.

Gemeinsame Nebenwirkungen von allen drei Biologika können in seltenen Fällen eine anaphylaktische Reaktion sein, die Bildung von Antikörper gegen die verabreichten monoklonalen Antikörper und eine mögliche Abschwächung der Immunantwort gegen Helminthen sein (5, 11, 12). Welches der drei Biologika das Effektivste ist, bleibt ungeklärt. Bisherige Reviews zeigen eine leichte Überlegenheit von Dupilumab, was den Geruchssinn angeht, jedoch bei eingeschränkter Vergleichbarkeit (13). Da die Kosteneffektivität von Biologika in der primären Behandlung der CRSwNP gegenüber den Standardtherapien schlecht abschneidet (14), sollte ihr Einsatz ausschliesslich schweren, therapierefraktären Formen vorbehalten bleiben. Bei fehlendem Ansprechen innerhalb von 16 Wochen sollte das Biologikum abgesetzt werden.

Abkürzungen:
AFRS Allergic Fungal Rhinosinusitis
CCAD Central Compartment Atopic Disease
COPD Chronic Obstructive Pulmonary Disease
CRS Chronische Rhinosinusitis
CRSsNP Chronic Rhinosinusitis sine Nasal Polyps
CRSwNP Chronic Rhinosinusitis with Nasal Polyps
CT Computer Tomographie
eCRS eosinophilic Chronic Rhinosinusitis
EPOS European Position Paper on Rhinosinusitis and Polyps
HNO Hals-Nasen-Ohren
IgE Immunoglobulin E
IL Interleukin
IFN Interferon
AERD Aspirin Exacerbated Respiratory Disease
NNH Nasennebenhöhlen
Non-eCR Non eosinophilic Chronic Rhinosinusitis
NSAR Nichtsteroidale Antirheumatika
SNOT Sinonasal Outcome Test

Historie:
Manuskript eingereicht: 07.03.2024
Nach Revision angenommen: 02.05.2024

Dipl. med. Letizia Meier

Klinik für Hals-, Nasen-, Ohren- und Gesichtschirurgie
Luzerner Kantonsspital
Spitalstrasse
6000 Luzern

letizia.meier@luks.ch

Es bestehen keine Interessenkonflikte.

• Eine chronische Rhinosinusitis kann symptombezogen in der Hausarztpraxis postuliert werden. Wenn die bilaterale Krankheit durch eine Behandlung mit topischen Stero­iden und Nasenspülungen erfolgreich therapiert wird, sind keine weiteren Schritte erforderlich.
• Die CRS stellt häufig eine fachübergreifende Atemwegserkrankung dar. Komorbiditäten und Risikofaktoren wie Tabakrauch, Asthma, Allergien und AERD sollen mitberücksichtigt werden. Einseitige Symptome oder nasale Warnsymptome erfordern die zeitnahe Überweisung an einen HNO-Facharzt und eine Bildgebung.
• Die CRS kann in den meisten Fällen symptombezogen und stufengerecht mit einer Basistherapie bestehend aus Salzwassernasenspülungen und topischen Steroidsprays, maximal 1–2 kurzdauernden oralen Steroidbehandlungen oder einer NNH-Operation erfolgreich behandelt werden.
• In ausgewählten Fällen kann die Therapie mit einem Biologikum bei therapierefraktärer CRSwNP sinnvoll sein. Die Indikation dazu sollte an einem interdisziplinären Fachboard getroffen werden.

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4. Drugsite Trust, Dallas TX, USA; 2024. www.drugs.com/history/xolair.html letzter Zugriff 14.04.2024
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14. Scangas GA, Wu AW, Ting JY et al. Cost Utility Analysis of Dupilumab Versus Endoscopic Sinus Surgery for Chronic Rhinosinusitis With Nasal Polyps. Laryngoscope. 2021;131:E26-33

Cost Perception of Cardiological Procedures Among ­Medical Students and Doctors in Switzerland

Introduction

Healthcare is increasingly expensive. Switzerland has one of the highest health care expenditures per capita in the world and devotes about 11 % of the gross national product (GNP) to health care(1). As a large percentage of health care expenditures are the results of doctors‘ decisions, a majority of Swiss doctors in a cross-sectional study agreed that trying to contain costs was their responsibility and that they should worry about the costs of tests and procedures they order (2).

Decisions and choices in health care inescapably involve value judgments. Intrinsic to any value judgment is the consideration of what you get for your money and hence all costs are weighed against the expected benefits and related to alternative, less or more expensive choices (3). Unfortunately, physicians rarely know the charges of the services, tests, and procedures they order or perform (4, 5). Enhancing cost knowledge and cost awareness is potentially cost-saving: A recent systematic review of charge transparency interventions (6) found, that having real-time access to charges changed ordering and prescribing behavior in the majority of studies. Of the clinically based interventions looking at laboratory and radiology ordering, seven of the nine studies reported statistically significant cost reduction when charges were displayed.
The aim of the present study was to describe the level of cost knowledge of cardiological tests and procedures among medical students, residents and doctors in Switzerland and discuss trends in cost perception in health expenditures.

Methods

Study Setting

Health insurance is compulsory in Switzerland (under constitutional law since 1994). Around 60 authorized non-profit insurers offer compulsory health insurance (basic insurance) and optional daily allowance insurance. Compulsory health insurance provides cover for illness, maternity and accidents and offers the same range of services and benefits to all insured people. Compulsory health insurance is financed by policyholders’ contributions (premiums) and co-payments (deductible, retention fee, contribution to the costs of a hospital stay) and federal and cantonal funding (premium subsidies).

Ambulatory care is provided by doctors in private practice or institutional (e.g. hospital-based outpatient clinic, community practice/ambulatory health care center). The service providers are reimbursed mostly “fee-for-service” (in contrast to case-based payments in inpatient setting) based on a nation-wide uniform tariff catalogue (in the present study period: TARMED 01.09.00_BR_KVG).

Data set

We compiled a set of 13 common cardiological services, tests and procedures and calculated the costs applying a tax point value of 0.89 (cantonal reference Zurich) to the corresponding codes of the TARMED-tariff catalogue. Costs of implanted materials were excluded, since they are very variable and not part of a fixed tariff code. Detailed codes are listed in Appendix 1.
The study was reviewed and approved by the ethics committee of the Canton of Zurich, Switzerland (BASEC-Nr. Req-20147-00296).

Data acquisition

Participants were randomly recruited by mailing lists, messaging app or via direct contact. A mailing list has been used in particular regarding the physicians group. A systematic email has been sent by the national professional association of cardiologists (Swiss Society of Cardiology, SSC) to all members (including cardiologists from different region and with different cardiologic background/work field in Switzerland).
Also, known general practitioners and internists working in different regional hospitals in Switzerland/Zurich were encouraged either via email or via direct contact to send the link containing the questionnaire to their fellow physicians.

Medical students were recruited via WhatsApp Messenger App, containing a link to get to the questionnaire. As there exist group chats including almost all of the students of equal academic year and in the same region, sending there has been considered the most reasonable option for recruiting. Most students were recruited from the German-speaking part of Switzerland, including Zurich, Basel and Bern.
Primary data relevant to the subsequent statistical analysis was acquired by means of an online questionnaire tool. Participation was voluntary. In order to enhance the response rate, a lottery drawing for participants was initiated.

In the questionnaire, personal data for each participant was recorded (age, gender, professional setting). Subsequently, participants had to estimate the costs of the 13 predefined services, tests and procedures in Swiss Francs (CHF). The three general services included consultation fees (15 minutes) for a cardiologist and a family doctor, respectively; and a medical report of 1 page. The seven diagnostic tests listed were an electrocardiogram (ECG), a bicycle stress test (exercise test), a 24 hours Holter ECG monitoring, three different types of heart ultrasound tests (transthoracic echocardiography (TTE), transesophageal echocardiography (TEE) as well as pharmacological stress echo) and a pacemaker (PM) control of a 2 lead device. The three interventions consisted of a dual chamber PM implantation, a coronary angiogram as well as a simple percutaneous coronary intervention (PCI) using 1 stent.

Short technical descriptions of the procedures and tests were provided. Accurate cost perception was defined as an estimate within a ±25 %-range of the effective reimbursement amount.

Statistics / Data interpretation

Continuous data are expressed as medians and interquartile ranges (IQR) or as mean ± standard deviation (SD) as appropriate, and categorical data as number and percentage (%).
A p value of < 0.05 was considered statistically significant. Statistical analyses were performed on R Studio (V 1.1.463).
To interpret the data, we used a behavioral economics approach proposed by nobel prize winners Kahnemann and Smith on human judgment and decision-making: Humans are unreliable decision makers, their judgments are strongly influenced by several factors. “Noise” describes the chance variability of judgments, whereas “bias” states if estimates are generally either too high or too low (7).
The accuracy of an individual’s (i) estimation was represented by a percentage over or under estimation of every position (c).

An individual’s bias is given by the average of all accuracies across the 13 positions.

An individual’s noise is represented by the standard deviation across the 13 positions.

Two regression models (M1 & M2) were used to test the impact of independent variables on the dependent variables as follows (students aren´t included, as they´re mutually exclusive with the other independent variables):

M1: Bias β0+ β1 × Noise + β2 × Age + β3 × Gender + β4 × Practitioner + β5 × Resident + β6 × Hospital.Physician + ε

M2: Noise = β0 + β1 × Age + β2 × Gender + β3 × Practitioner + β4 × Resident + β5 × Hospital.Physician + ε

Results

Study population

A total of 939 participants, who completed personal data entry and estimated at least one test or procedure, were enrolled (172 physicians and 767 medical students).
Medical students had a mean age of 22.7 years (SD ±2.4 years) and 70 % were women. They were recruited from universities all over Switzerland. All academic years were represented. (see Table 1), with a medical degree obtainable after six years of study. (Table 1)
Physicians had a mean age of 43.3 years (SD ±10.3 years) and 31 % were women. They were grouped in residents, hospital-based physicians (of different hierarchic levels / functions) and practitioners (physicians in private practice). (see Table 2). The majority of included physicians were specialized in internal medicine and/or cardiology.

Accuracy of cost estimation

Accurate cost perception was defined as an estimate within a ±25 %-range of the effective reimbursement amount. Figure 1 shows the percentage of accurate cost estimates ordered by subgroups (students, residents, hospital-based physicians and practitioners) and gestures.

Furthermore, we calculated the overall proportion of medical gestures estimated within ±25 % of the reimbursement rate (see Figure 2) and found substantial differences between the subgroups: Whereas in the student group, only 19.3 % (SD ±8.7 %) of estimates were within the defined range, practitioners indicated the costs accurately in 55.4 % (SD ±23.5 %) overall (ranging from 14.7 % in pacemaker-implantation to 82.3 % in stressechocardiography). Residents (26.2 %, SD ±9.2 %) and hospital-based physicians (38.0 %, SD ±14.4 %) performed intermediately.

Invasive (and costly) procedures (PCI, PM-implantation, coronary angiogram) seem to be most difficult to estimate for all subgroups (e.g. for PM-implantation: 17.0 % correct estimates, SD ±5.9 %) (see Figure 3) by procedures.

Trends in cost perception

To assess over- or underestimations, we calculated the mean differences between effective reimbursement and estimated costs per procedure and groups (see Table 3). Table 4 shows the accuracy of an individual’s estimation, represented by a percentage over or under estimation of every position.

The previously described lack of accuracy is well reflected by the considerable high standard deviations (noise): They were highest in students, intermediate in residents/hospital-based physicians and lowest in practitioners. Indeed, in the regression model (M2) the only statistically significant predictor of variability (noise) was age (less variability with advanced age, p<0.05). Interestingly, variability (noise) was gender-independent (p=ns). Overall, M2 was statistically significant (p<0.001) with an R2 of 0.025. (see Appendix 2)
In general, overestimation was the most prevalent perception bias. Nevertheless, practitioners tended to underestimate several procedures (namely consultation, report, 24h-ECG, TTE and PM-implantation). In the regression model (M1), bias was mainly influenced by variability/noise (Effect size 0.61). The more uncertainty was present, the more biased were the estimates. Interestingly, bias was gender-dependent: Women tended to be more overestimating than men (effect size 0.13, p<0.05). Overall, M1 was statistically significant (p<0.001) with an R2 of 0.82 (see Appendix 3).

Discussion

Patients in the Swiss health care system incur substantial out-of-pocket costs: one third of health care spending comes from copayments and other private payments (1). Unlike countries with a long tradition of a national health service or comprehensive social insurance, Switzerland faces no historically based societal expectation that the state or taxpayers will systematically cover all health care expenses (9). In such a setting, shared decision-making in choosing diagnostic or therapeutic procedures should also elucidate economic cost considerations.

The level of cost knowledge of cardiological tests and procedures among medical students, residents and doctors in Switzerland is modest: The overall proportion of medi-
cal gestures estimated correctly within ±25 % of the reimbursement rate ranged from 10 % (students) to 55 % in practitioners. Similar previously published analyses from other medical subspecialties were comparable: Swedish emergency department physicians had a mean deviation to the real cost of 52 % with a correct estimation of an average of 28 % (10). In members of surgical teams, only 18.6 % of estimates were considered correct (11). Postgraduate physician trainees across all disciplines demonstrate limited awareness of the costs of commonly ordered imaging examinations, only 5.7 % of responses were within the correct ±25 % range (12). Another study showed that family doctors underestimated costs of expensive drugs and laboratory investigations and overestimated costs of inexpensive drugs (13).

In the present study, accuracy showed substantial differences between the subgroups and type of gesture. Lack of accuracy is reflected by the variability (statistical noise) of estimates. The only statistically significant predictor of variability was age (less variability with advanced age). Increasing (professional or general) experience seems to sharpen the accuracy of cost estimation. This effect was gender-independent.

In general, overestimation was the most prevalent cost perception bias. Interestingly, this bias was gender-dependent: Women tended to be more overestimating than men. Nevertheless, bias was mainly influenced by variability (statistical noise) – the more uncertainty was present, the more biased were the estimates. This is an interesting finding, as Kahneman suggested Bias and Noise to be independent (8). Either in a system of legally limited health expenditures (governmental defined global budget, actually discussed in Switzerland) or systems with substantial out-of-pocket costs for patients, overestimating cost perception by the health care provider is problematic: Overestimation will result in more restrictive ordering than it would be appropriate and affordable for the individual patient.

More profound and proactive education of physicians about costs, reimbursement, and charges associated with the care they deliver, would improve decision making applying proper value judgments in economic consideration of cost related to the differential benefits to be derived from alternative (less or more expensive) choices.

Limitations

Despite an overall representative population sample size, several potentially influencing factors could not be analyzed because of small subgroups (e.g. hierarchic position within the hospital, regional differences). Since the participation was voluntary, we cannot exclude a certain population selection bias. Additionally, the methodological standard of assessing accuracy within a ±25 %-range is questionable, larger absolute estimation ranges (e.g. for more expensive gestures) have been suggested (14).

Conclusion

The level of cost knowledge of cardiological tests and procedures among medical students, residents and doctors in Switzerland is modest, correctly estimated costs ranged from 10 % in students to 55 % in practitioners. In general, the costs were overestimated. Increasing experience seems to sharpen the accuracy of cost estimation. Either in systems of governmental defined global budget or systems with substantial out-of-pocket costs for patients, overestimated costs will potentially result in more restrictive ordering than it would be appropriate and affordable for the individual patient.

History
Manuscript submitted: 19.02.2024
Accepted after revision: 23.04.2024

Acknowledgments
We would like to thank Verena Reichl for assistance for data management and administration.

Author contributions
AM and CW contributed to the conception of the work and to the acquisition of data. AM, CW and RM contributed to the analysis and interpretation of data for the work and drafted the manuscript. PB and LO critically revised the manuscript. All gave final approval and agree to be accountable for all aspects of work ensuring integrity and accuracy.

 

Prof. Dr. med. Christophe Alain Wyss

– HerzKlinik Hirslanden,
Witellikerstrasse 40
8032 Zürich
– Universität Zürich
Rämistrasse 71
8006 Zürich

christophe.wyss@hirslanden.ch

The authors have no conflicts of interest to declare.

• The level of cost knowledge of cardiological tests and procedures among medical students, residents and doctors in Switzerland is modest, correctly estimated costs ranged from 10 % in students to 55 % in practitioners.
• In general, the costs were overestimated. Increasing experience seems to sharpen the accuracy of cost estimation.
• Either in systems of governmental defined global budget or systems with substantial out-of-pocket costs for patients, overestimated costs will potentially result in more restrictive ordering than it would be appropriate and affordable for the individual patient.

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Trousse d’ urgence pour les visites à domicile chez l’ adulte – Propositions

Résumé: La visite à domicile occupe une place importante dans la pratique médicale en Suisse et contribue à limiter le recours aux centres d’ urgences. Afin d’ assurer une prestation de qualité, le contenu de la trousse d’ urgence doit être adapté à la pratique à domicile : suffisant pour faire face à diverses s ituations cliniques sans être excessif pour rester transportable. Nous proposons ici un contenu de la trousse d’ urgence actualisé, ciblé sur les moyens nécessaires au diagnostic et au traitement. Nous distinguons les éléments de base des moyens complémentaires qui permettent d’ étendre la prise en charge, en particulier dans des régions ne disposant pas de moyens sanitaires de proximité.
Mots-clés: Visite à domicile – Trousse d’ urgence – Médecine de premier recours – Urgences

1. Introduction

La visite médicale à domicile (VAD) est couramment pratiquée et contribue à limiter le recours aux services d’  urgences (1, 2). Une étude dans le canton de Vaud a montré que les VAD représentent environ 2.5% des consultations médicales, s’ adressent principalement aux personnes de plus de 65 ans et constituent pour 20% des consultations urgentes (3). Environ 70% des VAD sont réalisées en raison d’ une mobilité réduite des patients (4). Les problématiques musculo-squelettiques, circulatoires, respiratoires, neurologiques et psychiatriques sont les plus rencontrées (5).
En raison du vieillissement de la population et des stratégies favorisant le maintien des personnes âgées à domicile, les VAD devraient garder une place importante dans l’ activité des médecins de premier recours, voire se développer, comme en témoigne l’ apparition récente en Suisse romande d’ entreprises spécialisées dans les visites médicales à domicile («Docadom» à Lausanne, «Médecins à domicile» ou «Médecins Genève» à Genève, «SOSmed» sur la Côte, «Médecins du Léman» sur la Riviera et le Chablais, etc.).
Afin d’ assurer une prestation de qualité, le contenu de la trousse d’ urgence utilisée lors des VAD doit être suffisant pour faire face à des situations cliniques diverses. Certains éléments peuvent être mutualisés avec l’ équipement du cabinet, en particulier pour le matériel onéreux. Il n’ existe pas de recommandation validée dans la littérature du contenu de la trousse d’ urgence, cependant quelques publications (6,7,8) ont émis des propositions.
Cet article est une proposition actualisée du contenu de la trousse d’ urgence médicale, basée sur la littérature lorsqu’ elle existe, avec un contenu de base qui peut être complété par des dispositifs et traitements supplémentaires, en fonction du type et du lieu de la pratique (gardes domiciliaires, région plus excentrée, etc.) et de l’ expérience des médecins.

2. Outils diagnostics

2.1.1 Outils de bases

La trousse d’ urgence devrait comprendre des outils diagnostics de bases, listés dans le tableau 1.

2.1.2 Appareil à électrocardiogramme (ECG)

Un appareil à ECG est utile pour diagnostiquer une pathologie cardiaque. Il existe de nombreux modèles portables convenant pour un double usage au cabinet et pour les VAD. En cas de suspicion de syndrome coronarien aigu (SCA), un ECG devrait être fait dans les 10 minutes après le premier contact médical, idéalement déjà en préhospitalier, pour détecter un infarctus de type STEMI et activer une filière de prise en charge rapide. En cas d’ infarctus de type non STEMI ou d’ angor instable, l’ ECG peut être normal et ne permet pas d’ exclure un SCA (9).

2.1.3 Appareil à ultrasons

Le développement de l’ échographie clinique au lit du malade pour les médecins de premier recours, ou point-of-care ultrasound (POCUS), l’ apparition d’ appareils ultraportables à prix abordables, et la possibilité de facturer l’ examen une fois la formation certifiée, rend cet outil intéressant dans le contexte des VAD. Soulignons qu’ une formation complète est indispensable afin de réaliser et interpréter correctement les images*. L‘utilité du POCUS est démontrée avec une forte évidence pour la recherche d’ une thrombose veineuse profonde, l’ évaluation d’ une dyspnée aiguë, la distinction d’ une dermo-hypodermite ou d’ un abcès, et avec une évidence modérée pour rechercher des signes de colique néphrétique (hydronéphrose, calcul) ou de cholécystite (10). Il est également utile pour mettre en évidence une rétention urinaire aiguë. Le POCUS a ainsi le potentiel d’ étendre les possibilités diagnostiques, de réduire l’ incertitude et d’ administrer un traitement plus ciblé.

2.2 Tests biologiques

Les analyses de type «point-of-care» (POC) se développent et sont en partie réalisables au domicile des patients. Les plus fréquemment utilisées sont la mesure de la glycémie, le stix urinaire ou encore les tests antigéniques à SARS-Cov2, les strepto-Tests et éventuellement l’ INR. L’ utilisation de tests POC plus avancés devient possible grâce à l’ apparition de dispositifs portables fournissant des résultats en quelques minutes et peut s’ avérer utile pour des situations urgentes ou des VAD en dehors des heures ouvrables (11). À titre d’ exemple, plusieurs examens sont intéressants, comme la mesure de la CRP pour limiter le recours aux antibiotiques lors d’ infection des voies aériennes dans le contexte ambulatoire (12), la mesure des D-dimères pour exclure une thrombose veineuse profonde ou une embolie pulmonaire (13) et la mesure de la créatinine pour guider le dosage d’ un traitement. Cependant les études décrivant ces tests ont été faites majoritairement dans un contexte de consultation au cabinet ou à l’ hôpital et ne sont pas formellement validées pour les VAD. La mesure de troponine ultra-sensible de type POC («POC hs-Troponin») pourrait également s’ avérer utile à domicile, mais le cadre de son utilisation doit également être précisé et validé par des études portant sur ce type de population.

3. Therapeutiques

3.1 Pharmacologiques (Tableau 2)

Les traitements recommandés ci-après concernent les situations les plus à même d’ être rencontrées lors de consultations urgentes à domicile. Nous avons sélectionné des médicaments pouvant être conservés à température ambiante (les fabricants spécifient généralement une température comprise entre 15 et 25°C). La trousse devra être conservée en général dans un lieu sec et à l’ abri de la lumière. Pour garantir la qualité des médicaments, il faudra éviter de la laisser pour une durée prolongée dans une voiture, où la température peut atteindre des valeurs extrêmes. La liste distingue les éléments de base de ceux nécessitant une expérience et des connaissances spécifiques ou utiles selon le contexte de la pratique. L’ inclusion de médicaments chers est à faire selon le contexte de la pratique et de la probabilité de leur usage.

3.1.1 Antalgie

Les douleurs légères peuvent être traitées par du para­cétamol ou un AINS. En cas de douleurs modérées, le paracétamol et un AINS peuvent être combinés, et un opioïde faible ajouté (tramadol ou codéine). Les douleurs sévères nécessitent un opioïde. La voie d’ administration se fera selon la configuration et le degré de douleur, et le choix de la molécule selon les compétences du médecin et les caractéristiques du patient (14). Une administration paren­térale d’ opioïde nécessite une surveillance, en raison du risque de dépression respiratoire ou d’ autres effets secon­dai­res. Elle s’ avérera utile en cas de soins palliatifs ou dans l’ attente d’ un transfert hospitalier. Son utilisation nécessite de disposer d’ un antidote (naloxone).

3.1.2 Cardiovasculaire

En cas de suspicion de SCA, il est recommandé d’ administrer 150 à 300mg d’ aspirine PO sous forme non gastro-résistante (ou 75 à 250 mg IV), avec un probable bénéfice sur la mor­talité d’ une administration précoce en préhospitalier (9,15). En cas d’ allergie, une dose de charge de clopidogrel (300-600 mg PO) peut être administrée (16). Une double anti-agré­gation n’ est pas recommandée avant la coronaro­graphie (9). Un traitement par nitré est utile en cas de douleurs thoraci­ques d’ origine ischémique.
En cas de crise hypertensive (sans atteinte d’ organe), la ten­sion peut être abaissée – en évitant une chute brusque – en ajustant le traitement habituel et par l’ ajout d’ une molé­cule. Nous proposons la nifédipine retard (17). L’ insuffisance car­dia­que symptomatique nécessite un traitement par diu­ré­tique, IV ou PO, et des dérivés nitrés en cas d’ œdème aigu des poumons (18). En cas de tachyarythmie (fibrillation auri­cu­laire, extra­systoles symptomatiques), nous proposons un béta-bloqueur, sous réserve d’ une insuffisance cardiaque asso­ciée.
En cas de survenue d’ un arrêt cardio-respiratoire (ACR), la priorité reste le Basic Life Support (BLS) comprenant la ré­animation cardio-pulmonaire (massage cardiaque et venti­la­tion) et la défibrillation. La poursuite de la réanimation im­pliquera l’ administration d’ adrénaline et en cas de rythme choquable résistant à la défibrillation, de l’ amiodarone. Dans la plupart des situations, ce traitement pourra probablement attendre l’ arrivée de l’ ambulance et/ou du SMUR.
En cas de probabilité pré-test intermédiaire ou élevée d’ une embolie pulmonaire, une anticoagulation thérapeutique dev­rait être débutée en attendant les résultats de tests diagnos­tiques (19). En cas de délai supérieur à 4 heures pour obtenir les D-dimères ou obtenir un ultrason des membres inférieurs pour rechercher une thrombose veineuse profonde, une anti­­coagulation thérapeutique devrait être débutée (20). Nous proposons le fondaparinux 7.5mg en inj. sc qui s’ admi­nistre 1x/j et convient pour les poids de 50 à 100 kg.

3.1.3 Respiratoire

En cas d’ exacerbation d’ asthme légère à modérée, il est re­commandé d’ administrer 4-10 push (400-1000 mcg) de salbutamol en aérosol doseur, si possible avec une chambre d’ inhalation, aux 20 minutes sur la première heure , à adapter selon la réponse par la suite, d’augmenter la dose du traitement de fond et d’administrer de la prednisone 20 à 40mg PO. En cas de péjoration ou d’ exacer­bation sévère, de l’ ipratropium bromide devrait être ajouté en attendant une hospitalisation urgente (21). L’exacerbation légère à modérée de BPCO doit être traitée par bêta-agoniste à courte durée d’action ± associée à de l’ipratropium bromide, en maintenant le traitement de fond, d’une corticothérapie de 5 jours par prednisone 40mg en cas de sévérité, et d’une antibiothérapie en cas de suspicion d’infection associée (22).
En cas de désaturation en oxygène, une oxygénothérapie est souvent nécessaire et impliquera une réflexion sur un éven­tuel transfert en milieu hospitalier, mais les avantages et inconvénients du transfert doivent être bien mesurés, en particulier pour les patients en EMS. En raison du coût élevé d’ un appareil d’ oxygénothérapie (plusieurs milliers de francs pour un concentrateur portable), nous ne proposons pas cet équipement dans la trousse. Il pourra toutefois être envisagé selon le type de pratique et la probabilité d’ occur­rence d’ ur­gences vitales.

3.1.4 Anaphylaxie

En cas d’ anaphylaxie avec atteinte cardiovasculaire ou respiratoire, il est primordial d’ administrer précocement de l’ adrénaline IM (sur la face antéro-latérale de la cuisse) à une dose de 0.5mg à répéter au besoin après 5 minutes. En cas d’ angioœdème ou d’ atteinte cutanée uniquement, un traitement anti-histaminique s’ avère généralement suffi­sant (23). Les glucocorticoïdes sont souvent utilisés dans le but de réduire le risque de réaction biphasique, mais il n’ ex­iste pas d’ évidence de leur efficacité et leur admini­stration systématique n’ est plus recommandée (24).

3.1.5 Métabolique

En cas d’ hypoglycémie chez une personne diabétique, le traitement repose sur l’ administration de glucose 15-20g PO suivie d’ une collation ou un repas. Si l’ administration PO n’ est pas possible, le traitement implique l’ admini­stra­tion de glucose 20-25g IV ou de glucagon 1mg SC ou IM (25). En cas d’ hypo­gly­cémie et de suspicion de déficit en thia­mine ou de syndrome de Gayet-Wernicke avéré, la correc­tion immédiate de l’ hypo­gly­cémie est prioritaire et la substitution en thiamine peut être faite dans un second temps, dans les plus brefs délais (26).

3.1.6 Digestif

En cas de symptomatologie digestive, nous proposons comme antiémétique la dompéridone (ne pas administrer en cas d’ hypo­kaliémie probable ou de QT long en raison du risque de prolongation du QT), comme anti-diarrhéique le lopéramide, comme antispasmodique la butylscopalamine, et comme inhibiteur de la pompe à proton le lansoprazole. Il convient de disposer également de l’ équipement pour pou­voir effectuer un lavement.

3.1.7 Neuropsychiatrique

Nous proposons comme traitement antiépileptique, admini­strable de manière IV ou IM, le midazolam, dont une formu­lation intra-nasale proposée par certaines pharmacies peut également être utile. Le diazépam est une alternative, mais le délai d’ atteinte du pic de concentration des formes IM et IN est plus long (27). Le lorazepam en solution injectable doit se con­server au frigo et n’ est donc pas adapté à une trousse d’ urgence. La dystonie aiguë secondaire à un traitement avec propriétés anti-dopaminergique (typiquement un neurolep­tique) néces­site l’ administration d’ un anticholinergique, tel que le bipéri­dène (Akineton®) en PO ou IV (28).
En cas d’ agitation aiguë, si les mesures non pharmacologiques ont échoué, un traitement par benzodiazépine (p.e. lorazépam 2.5mg en PO, midazolam en IM ou IV) ou antipsychotique peut être nécessaire. L’ olanzapine présente moins de risque d’ allongement du QT et de troubles extrapyramidaux que les neuroleptiques de 1ère génération. Cependant l’ halopéridol, un antipsychotique de 1ère génération, a l’ avantage d’ un coût bien moindre (29). Les benzodiazépines seront utiles égale­ment en cas d’ anxiété.

3.1.8 Infectiologie

Nous proposons des antibiotiques pour un traitement empi­rique des infections courantes susceptibles d’ être prises en charge de manière ambulatoire selon les recommandations de la Société Suisse d’ Infectiologie (30). Le traitement devra être adapté selon les résultats microbiologiques lorsqu’ ils ont été réalisés.
Nous proposons la nitrofurantoïne pour l’ infection urinaire simple. Pour l’ infection urinaire sans fièvre chez l’ homme (ne pouvant attendre les résultats d’ une culture), ou la pyélon­éphrite chez la femme, nous proposons, après prélèvement microbiologique d’ urine, la ciprofloxacine (à noter que la Food and Drug Administration a émis un «Boxed Warning» en raison du risque de tendinopathie). Pour la prostatite, la ceftriaxone est actuellement recommandée en IV, l’ alternative orale étant la ciprofloxacine, après culture également. Nous proposons la co-amoxicilline pour une pneumonie traitée ambulatoirement chez un patient avec des comorbidités, et en cas d’ allergie aux pénicillines, une quinolone telle que la lévofloxacine. La SSI n’ a pas publié de recommandation sur la dermo-hypodermite, mais la co-amoxicilline couvrira les germes fréquemment responsables. La ceftriaxone peut com­pléter la trousse pour être administrée en IM ou IV en cas de suspicion de méningite avec une méningococcémie ou en présence d’ un état de choc (31).

3.1.9 Toxicologie

Vu le recours fréquent aux opiacées, nous recommandons d’ avoir à disposition son antidote, la naloxone. L’ antidote aux benzodiazépines, le flumazénil, peut être utile en cas de mono-intoxication, mais il existe un risque de crise d’ épi­lepsie s’ il est utilisé notamment lors d’ une poly-intoxi­cation, d’ une dépen­dance aux benzodiazépines ou d’ une épilepsie sous-jacente. Concernant les autres in­toxi­cations, la prise en charge con­sistera essentiellement en un traite­ment de soutien en attente d’ un transfert en milieu hos­pitalier.

3.1.10 Divers

Des poches de cristalloïdes (sodium chlorure 0.9% 500ml ou Ringer-Lactate 500ml) seront utiles comme solution de remplissage, des fioles de NaCl 0.9% pour le rinçage des voies veineuses, une solution désinfectante cutanée pour la désin­fection des plaies et petits gestes, une solution an­esthé­sique locale en cas de suture et du gel anesthésiant pour la pose de sonde vésicale. L’ acide tranexamique peut être utile en appli­cation locale pour une hémostase.

3.2 Matériel

3.2.1 Base

Du matériel de base sera nécessaire dans toutes les trousses et est listé dans le tableau 3. Le matériel plus avancé dépendra du contexte de la pratique et de l’ expérience du médecin. Un embout atomiseur pour application de médicament par voie intra-nasale (Mucosal Atomization Device) peut-être utile pour l’ administration d’ un sédatif ou anti-épileptique (p.e. midazolam).

3.2.2 Cardio-respiratoire

Une canule nasopharyngée (Wendel) ou une canule oro­­pharyngée (Guedel) (illustration 1) permettent de maintenir les voies aériennes perméables en cas de trouble de l’ état de conscience. Un masque de poche et un insufflateur sont utiles en cas de réanimation. En cas de recours à des bron­chodilatateurs dans un contexte de dyspnée aiguë, il est recommandé d’ utiliser une chambre d’ inhalation.


Bien que l’ ACR d’ un patient soit un évènement rare au cabinet des médecins (32), les médecins de premier recours sont potentiellement exposés à une population à risque. La pratique d’ une réanimation cardio-pulmonaire par les médecins de premiers recours améliore les chances de survie des patients (33) et la défibrillation effectuée par les témoins d’ un ACR avec un rythme choquable hors hôpital améliore la survie avec un bon status neurologique par rapport à la défibrillation effectuée par les services de secours, et ce dès un délai de 4 minutes entre l’ appel des secours et leur arrivée (34). S’ équiper d’ un défibrillateur peut être pertinent pour un cabinet plus à risque d’ urgence vitale (région reculée, pro­cédure à risque, cabinet de groupe), et être approprié lors des gardes domiciliaires, surtout pour des gardes réali­sées sans triage téléphonique en amont, en zone difficile d’ accès pour des moyens d’ urgence pré-hospitalier, ou en zone de faible densité de défibrillateur externe automatique disponibles. Des consultations en milieu carcéral ou dans des postes de police exposent à un risque également un peu plus important.

3.2.3 Traumatologie

Il peut être utile de réaliser une petite suture au domicile du patient, afin d’ éviter le recours à un service d’ urgence. La colle tissulaire peut remplacer une suture en cas de petite plaie, linéaire, propre et sans tension (35). En cas d’ hémorragie externe, des compresses hémostatiques (de type Tabotamp ou Quik Clot) peuvent être utiles. Si des situations de poly­traumatisme peuvent être rencontrées (médicalisation de rencontres sportives par exemple), une attelle provisoire, une ceinture pelvienne ou encore un tourniquet seront utiles. Un collier cervical peut être utile mais la pertinence de son utilisation dans ce contexte reste débattue (36).

3.2.4 Divers

Nous proposons d’ avoir à disposition de quoi poser une voie veineuse périphérique, administrer une perfusion et mettre en place une sonde vésicale en cas de rétention urinaire. Selon le contexte local, en cas de décès avec présence d’ un pacemaker, il peut être nécessaire de disposer de l’ équipe­ment pour l’ extraire et réaliser une suture.

4. Administratif

Le tableau 4 liste une proposition de matériel et contenu administratif. En cas de décès, les formulaires d’ attestation de décès sont indispensables.

5. Conclusions

Le contenu de la trousse d’ urgence devrait contenir du matériel diagnostique et thérapeutique de base, à compléter par du matériel plus complet, en fonction du contexte dans lequel se fait la pratique et de l’ expérience du médecin. Un équipement plus exhaustif permettra de répondre à davantage de situations et d’ éviter potentiellement des transferts dans des structures médicales, en particulier pour des patients âgés à domicile ou en EMS.
L’ utilisation de l’ utrasonographie portable peut permettre d’ étendre les possibilités diagnostiques et de mieux cibler le traitement. Le développement de tests Point-of-Care réalisables en quelques minutes sur des appareils portatifs est intéressant et mérite d’ être réévalué régulièrement. L’ intégration d’ un défibrillateur dans l’ équipement permet de réaliser une réanimation en cas d’ arrêt cardio-circulatoire et augmente les chances de survie avec un bon état neurologique en cas de rythme défibrillable. Ce type de dispositif peut être pertinent selon le type de pratique ou l’ éloignement des services de secours préhospitaliers.

* https://sgum-ssum.ch/faehigkeitsausweise/#FA_POCUS

Remerciements :
Nous remercions la Dre Simona Agostini-Ferrier et Mme Véronique Kälin de la pharmacie d’ Unisanté pour leur relecture et leur aide à la réalisation de la liste des médicaments.

Abréviations :
ACR arrêt cardio-respiratoire
ECG électrocardiogramme
IM intra-musculaire
INR International normalized ratio
IV intra-veineux
PO per os
POC Point Of Care
POCUS Point Of Care Ultrasound
RCP réanimation cardio-pulmonaire
SC sous-cutané
SCA syndrome coronarien aigu
VAD visite à domicile

Historie :
Manuscrit soumis: 25.01.2024
Accepté après revision: 11.03.2024

 

Olivier Thorens

GHOL – Hôpital de Nyon
Notfalldienst
Chemin Monastier 10
1260 Nyon

othorens@protonmail.com

Dr. med. Philippe Staeger

Unisanté – Département des policliniques
Rue du Bugnon 44
1011 Lausanne

Prof. Dr. med. Pierre-Nicolas Carron

CHUV – Notaufnahme
Abteilung für interdisziplinäre Zentren
Rue du Bugnon 44
1005 Lausanne

Les auteurs n’ ont pas declaré de conflits d’ interêt en relation avec cet article.

  • Les visites à domiciles peuvent permettre dans certains cas d’ éviter le recours aux services d’ urgences.
  • Le contenu de la trousse d’ urgence doit être suffisamment complet pour faire face à des situations diverses. Il est à adapter selon le type de pratique et l’ expérience de la/du médecin.
  • L’ utrasonographie est réalisable au domicile et peut permettre d’ améliorer les possibilité diagnostiques.
  • La défibrillation en cas d’ ACR permet d’ améliorer les chances de survie avec un bon status neurologique et l’ intégration d’ un défibrillateur peut être appropriée en cas de pratique dans des régions isolées ou en l’ absence de régulation des interventions par une centrale en amont.

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Möglichkeiten und Grenzen in der digitalisierten Kommunikation mit neurologischen Patienten

Zusammenfassung: Hintergrund: In der vorliegenden Arbeit geht es um die Frage, welche digitalen Touchpoints im Verlauf einer «Patient Journey» von neurologischen Patienten gewünscht, wichtig für eine effektive Behandlung und einfach umsetzbar sind.
Methodik: 100 (44 Männer, 56 Frauen) Patienten in einer neurologischen Praxis an drei unterschiedlichen Standorten wurden mithilfe eines schriftlichen Fragebogens mit geschlossenen Fragen zu Themen der Online-Buchung, Terminvergabe und Erinnerung mit SMS, Videokonsultation mit dem Arzt sowie Chat mit dem Arzt oder der medizinischen Praxisassistentin befragt.
Ergebnisse: Es konnte gezeigt werden, dass, je älter eine Person ist, sie umso weniger eine digitale Buchung und Konsultation bevorzugt und dass sie je mehr sie arbeitet, sie umso mehr die digitale Buchung und Konsultation präferiert und je länger sie in der Schweiz lebt, sie umso weniger die Chatberatung wählt. Der Datenschutz spielt eher bei älteren Patienten, insgesamt aber eine untergeordnete Rolle. Hinsichtlich des Geschlechts können keine signifikanten Unterschiede aufgezeigt werden.
Diskussion: Die Ergebnisse stehen im Einklang mit einer Befragung des Schweizer Ärzteverbands (Foederatio Medicorum Helveticorum) aus dem Jahr 2020, die zeigt, dass die Bevölkerung eine Entlastung der Ärzte in administrativen Tätigkeiten durch die Anwendung digitaler Lösungen als wünschenswert erachtet. Auch in dieser Studie sind sowohl jüngere als auch ältere Patienten sehr interessiert, die Termine online zu buchen und eine Terminerinnerung per SMS zu erhalten. Da die älteren Patienten eher die konservative Buchung und Terminvergabe präferieren, sollte ein «Hybrid-Modell» angeboten werden, so dass beide Möglichkeiten bestehen.
Schlüsselwörter: Digitalisierung, Postcovid, Patientenreise, Touchpoints

Einleitung

Ausgangslage

Neurologische Erkrankungen sind die häufigste Ursache von einschneidenden Behinderungen (1). Dabei spielen sowohl die körperlichen, aber auch kognitiven Defizite eine Rolle. Sie führen dazu, dass Patienten mit neurologischen Erkrankungen im Alltag dahingehend eingeschränkt sind, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (1). Erschwert ist dabei vor allem der Zugang zur ärztlichen Versorgung, und ein Besuch beim Hausarzt, aber vor allem auch beim Neurologen, der häufig weiter entfernt praktiziert, ist mit viel Aufwand verbunden. Das in dieser Arbeit als «digitales Postcovid»-Syndrom bezeichnete Phänomen steht für die Zunahme des telemedizinischen Einsatzes in der Medizin und vor allem in der Neurologie (2-5). Durch die COVID-19-Pandemie und dem damit verbundenen Lockdown wurden Konferenzen und Diskussionen beruflich, aber auch privat zunehmend digital und online durchgeführt (3-5). Auch wurden gehäuft Patienten telemedizinisch kontaktiert und visitiert, auch wenn dies bei der Krankenkasse nicht abgerechnet werden konnte. Vor allem immunsupprimierte oder schwer betroffene Patienten mit einer Beeinträchtigung der Atemmuskulatur, die Sorge hatten vor einer Ansteckung, konnten so beurteilt werden (2, 3, 5). Während in anderen Ländern die telemedizinische Beurteilung in die reguläre Patientenversorgung integriert wurde, steckt die Schweiz diesbezüglich noch in den Kinderschuhen. Dies könnte sich nun zunehmend verbessern, da viele Spitäler, Arztpraxen und Haushalte durch die Pandemie digital aufgerüstet wurden. Kameras, Lautsprecher und entsprechende Ausrüstungen wurden angeschafft, sodass sowohl auf Patienten-, aber auch Arztseite die Möglichkeit zur digitalen Kommunikation geschaffen wurde (4, 5). Neben dem telemedizinischen Einsatz zur digitalen Konsultation gibt es allerdings noch viele andere Möglichkeiten, wie die Kommunikation des Patienten mit dem Arzt oder dem nicht ärztlichen Personal in einer Praxis erfolgen kann. Erwähnt sei an dieser Stelle schon einmal die Möglichkeit, Termine online zu buchen, eine Bestätigung der Termine per SMS bestätigt zu bekommen sowie über einen Messenger mit dem Arzt oder der medizinischen Praxisassistentin Kontakt aufzunehmen. Des Weiteren ist die Einführung des elektronischen Patientendossiers (EPD) in der Schweiz vorgesehen, wodurch vor allem die Weitergabe von Patientendaten an weiterbehandelnde Ärzte, Therapeuten und ggf. Krankenkassen erleichtert werden soll. In diesem Zuge sind auch elektronische Rezepte geplant (6).

Zielsetzung und Fragestellung

In der Studie geht es um die Klärung der Fragen, welche Touchpoints im Rahmen einer Patient Journey sich in welcher Form und in welcher Reihenfolge zweckmässig digitalisieren lassen. Die Zweckmässigkeit wird primär aus der Nutzer- bzw. der Patientenperspektive beurteilt und sekundär aus technischer Sicht. Es soll mit der Digitalisierung jener Berührungspunkte begonnen werden, bei denen entsprechende Lösungen auf breite Kundenakzeptanz stossen, solange der damit einhergehende Aufwand durch den zu erwarteten Nutzen gerechtfertigt wird.

Customer Journey

Der Begriff «Customer Journey» stammt aus dem Marketing. Wie der Name schon sagt, geht es um eine «Reise des Kunden», den gesamten Prozess von der Entscheidung bis zum Kauf des Kunden in verschiedenen Phasen. In diesen Phasen entstehen bestimmte Punkte, bei denen es zu einem Kontakt oder auch einer Berührung der Punkte mit einem Unternehmen kommt. Diese Punkte werden (customer) Touchpoints genannt (7). Der Begriff «Touchpoint» stammt aus dem Englischen und bedeutet Kontakt- oder auch Berührungspunkt. Er steht für die Berührung zwischen Kunden und dem Hersteller von Produkten. Die einzelnen Touchpoints bilden dann die Customer Journey. Berührungspunkte können Werbungen im Internet, in Zeitschriften, auf Plakaten oder in Rundfunk und Fernsehen sein. Punkte mit Berührungen des Kunden sind auch Werbeanrufe oder Werbungen per Mail, die häufig als «Spams» bezeichnet werden. Die Erfahrung mit ihnen kann positiv oder negativ sein (9). Die Berührungspunkte sind wie Messstationen, an denen entsprechende Daten von Kunden über Kundenerfahrungen gesammelt werden, die wichtig sind, um Möglichkeiten, aber auch kritische Punkte den Unternehmen zu verdeutlichen, was ihnen helfen kann, sich von Konkurrenten im Markt abzugrenzen und die eigene Position zu stärken (10). Die klassische Werbung in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen verliert zunehmend an Bedeutung. Wichtiger sind mittlerweile Apps wie Instagram, Youtube, Facebook oder X. Damit und mit entsprechenden Videos von Influencern wird der Kunde deutlich stärker beeinflusst (7).

Patientensegmente

Ein wichtiger Baustein im Marketing ist die Segmentierung der Kunden bzw. der Patienten (14). Wie für den Arzt die Anamnese – also die genaue Vorgeschichte über den Krankheitsverlauf – ist für das Marketing die Patientensegmentierung von grosser Relevanz. Ohne diese ist eine entsprechende Entwicklung eines Marketingkonzeptes gar nicht möglich (15). Es braucht das Wissen und das Verständnis für den einzelnen Patienten in einer gewissen Zielgruppe, um ein massgeschneidertes Marketing zu entwickeln (15). Aus wirtschaftlichen Gründen ist es nicht sinnvoll, jeden Kunden einzeln zu betrachten und für ihn ein individuelles Konzept zu erarbeiten, dennoch sollte der Ansatz verfolgt werden, den Kunden so persönlich wie möglich anzusprechen und zu erreichen. Dafür ist es wichtig, entsprechende Segmentierungskriterien festzulegen (14).

Methodik

In der Studie ging es um die Klärung der Fragen, welche Berührungspunkte sich in welcher Form und in welcher Reihenfolge zweckmässig digitalisieren lassen. Die Zweckmässigkeit wird primär aus der Nutzer- bzw. der Patientenperspektive beurteilt und sekundär aus technischer Sicht. Es soll mit der Digitalisierung jener Berührungspunkte begonnen werden, bei denen entsprechende Lösungen auf breite Kundenakzeptanz stossen, solange der damit einhergehende Aufwand durch den zu erwartenden Nutzen gerechtfertigt wird. Ziel ist es, Handlungsempfehlungen zur schrittweisen systematischen Integration von digitalen Unterstützungsansätzen in der Patient Journey herzuleiten.

Erhebungsmethode

In der hier vorliegenden Studie wurde ein Fragebogen entwickelt, der schriftlich von den Patienten ausgefüllt werden sollte. Im Fragebogen wurden insgesamt 5 Themenblöcke behandelt, die jeweils mit «stimme zu» – «stimme eher zu» – neutral –, «stimme eher nicht zu» und «stimme nicht zu» beantwortet werden konnten. Im ersten Themenblock ging es um das Onlinebuchen von Arztterminen (online buchen, Bedenken zur Datensicherheit). Beim zweiten Themenblock um «Aussagen/Fragen zu Versand von Terminen» (Bestätigung Termin per SMS). Beim dritten Themenblock ging es um die Videokonsultation mit dem Neurologen (Onlinekonsultation mit dem Neurologen oder der MPA). Bei den Themenblöcken 4 und 5 ging es um die Chatberatung durch den Arzt/Neurologen und die Chatberatung durch die medizinische Praxisassistentin (Chatberatung mit einem Messenger wie Whatsapp).

Auswertung der Daten und Ableitung eines Umsetzungsplanes

Die statistische Auswertung und deskriptive Darstellung der Daten erfolgte mithilfe von SPSS, Version 28 (17). Hier wurden zu den Skalenniveaus entsprechend statistische Kenn­werte ermittelt und grafisch dargestellt. Die erhobenen Fragen wurden im nächsten Schritt mit einer Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation untersucht. Ziel war es, Dimensionen zu identifizieren. Dabei kommen der Bartlett-Test und das KMO-Kriterium als Gütemass zum Einsatz (18). Anschliessend extrahierte Faktoren und die einzelnen Fragen wurden ebenfalls deskriptiv dargestellt und mithilfe des Shapiro-Wilk-Tests auf Normalverteilung überprüft. Im Anschluss erfolgte eine inferenzstatistische Darstellung der vorliegenden Daten. Dabei kommen im Falle von Verteilungsfreiheit und der kleinen Stichprobengrösse überwiegend nicht ­parametrische Verfahren wie Mann-Whitney-U-Tests, Friedman-Tests sowie Spearman-Rangkorrelationen zum Einsatz. Das Ziel war es, Zusammenhänge und Unterschiede identifizieren zu können. Im Falle von Mehrfachvergleichen wurde zudem die Bonferroni-Korrektur im Post-hoc-Test benutzt. Abschliessend wurden zusätzlich Effektstärken nach Cohen (19) berechnet. Aus dieser Auswertung kann dann das weitere Vorgehen bezüglich einer Umsetzung digitaler Lösungen in unserer Praxis abgeleitet werden.

Ergebnisse

In der durchgeführten Hauptkomponentenanalyse zeigt sich, dass sich die vorliegenden Daten sehr gut durch übergeordnete Faktoren erklären lassen (X²(66)=724.401, p<.001, KMO=.816). Beim Betrachten der Komponenten lassen sich drei Hauptkomponenten mit einem Eigenwert über eins darstellen, die gemeinsam 71.30 % der vorliegenden Varianz erklären können.
Die erste Hauptkomponente besteht aus den Fragen, die im Allgemeinen den Onlinekontakt mit medizinischem Personal betreffen (Konsultation, Chat). Die zweite Dimension betrifft Fragen, die sich ausschliesslich mit dem Buchungs- und Erinnerungssystem befassen. Die dritte Dimension zielt auf Fragen des Datenschutzes ab.
Dementsprechend werden an dieser Stelle die drei Dimensionen «Datenschutz», «Buchung Bestätigung» und «Konsultation Beratung» erstellt, indem die Mittelwerte der einzelnen Fragen berechnet werden.

Stichprobenbeschreibung

Von den teilgenommen 100 Versuchspersonen waren 44 männlich und 56 weiblich. 84 gaben eine Schweizer Nationalität an, 16 taten dies nicht. Drei Personen gaben an, einen Rollstuhl zu benutzen, vier einen Rollator und weitere vier einen Gehstock (siehe Abbildung 1a). Bezüglich der Altersverteilung ist ein Median von 4 darstellbar, was bedeutet, dass sich die oberen 50 % und die unteren 50 % in der Kategorie 50–70 Jahren trennen (Mdn=4). Sechs Personen waren unter 18, zwölf Personen zwischen 18 und 30, 22 Personen zwischen 30 und 50, 26 Personen zwischen 60 und 70 und 34 Personen über 70 Jahre alt (siehe Abbildung 1a). 16 Versuchspersonen gaben zudem an, allein zu leben, 55 zu zweit und 29 mit mehr als drei Personen im Haushalt. Der Median lag dementsprechend in der zweiten Kategorie (Mdn=2) (siehe Abbildung 1a). Bezüglich der Arbeitsbelastung ist ein Median von 1 darstellbar, was heisst, dass sich die oberen 50 % und die unteren 50 % in der Kategorie «Keinen» Beruf trennen (Mdn=1). 49 Personen arbeiten nicht, sieben weniger als 20 %, vier 20–50 %, neun 50–70 %, sieben 70–90 % und 24 zu 100 % (siehe Abbildung 1a). Eine Versuchsperson gab an, keine Deutschkenntnisse zu besitzen, zwei nur schlechte, sieben mittelmässige und sechs gute. 84 Versuchspersonen machten keine Angaben dahingehend. Der Median lag dementsprechend in der vierten Kategorie «mittelmässig» (Mdn=4) (siehe Abbildung 1b). Bezüglich der Sportverteilung ist ein Median von 3 darstellbar, was heisst, dass sich die oberen 50 % und die unteren 50 % in der Kategorie 1–2-mal pro Woche trennen (Mdn=3). 22 Personen machen keinen Sport, sieben 2–4-mal pro Monat, 28 1–2-mal pro Woche, 24 3–5-mal pro Woche und 19 Personen täglich (siehe Abbildung 1b). Eine Versuchsperson gab an, seit 2–5 Jahren in der Schweiz zu leben, zwei 5–10 Jahre, elf über 10 Jahre und 13 über 10 Jahre. 4 Versuchspersonen machten keine diesbezüglichen Angaben. Der Median lag dementsprechend in der dritten Kategorie «>10 Jahre» (Mdn=3) (siehe Abbildung 1b). Bezüglich der Unterstützung im Haushalt ist ein Median von 5 darstellbar, was heisst, dass sich die oberen 50 % und die unteren 50 % in der Kategorie «Keine» trennen (Mdn=5). Zwei Personen gaben an, im Pflegeheim zu leben, zwei mit der Spitex, 36 mit Partner/Familie und 60 ohne Unterstützung (siehe Abbildung 1b).

Inferenzstatistik

In den Korrelationsanalysen zeigen sich beinahe überall signifikante mittelstarke bis starke inverse Korrelationen bezüglich der Fragen und Faktoren zur Buchbarkeit und Konsultation und des Alters. Je älter eine Person ist, umso weniger präferiert sie die digitale Buchung und Konsultation/Beratung (rS=(-.405 -.542)). Beim Datenschutz fallen diese Zusammenhänge hingegen schwächer aus (rS=(-.068 -.292)). Des Weiteren zeigen sich signifikante schwache bis mittelstarke positive Korrelationen bezüglich der Fragen und Faktoren zur Buchbarkeit und Konsultation und des Berufes. Je mehr eine Person arbeitet, umso mehr präferiert sie die digitale Buchung und Konsultation/Beratung (rS=(.275 .447)). Beim Datenschutz ist nur ein schwacher Zusammenhang mit der Chatberatung durch den Arzt darstellbar (rS=202). Weitere signifikante Zusammenhänge zeigen sich nur noch stark negativ bei der Aufenthaltsdauer und Chatberatung durch den Arzt und die MPA (rS=-521, rS=-.498). Je länger eine Person also in der Schweiz lebt, umso weniger präferiert sie die Chatberatung. In den Gruppenunterschieden zeigen sich in den durchgeführten Mann-Whitney-U-Tests signifikante Unterschiede zwischen den Nationalitäten bezüglich der Faktoren Konsultation/Beratung (Z=2.121, p=.034), Datenschutz (Z=2.310, p=.021) und bei den Fragen zu Bedenken hinsichtlich Onlinebuchen (Z=2.060, p=.039), SMS-Buchbarkeit (Z=2.024, p=.043), Videokonsultation (Z=2.680, p=.007), Begrüssung Chatberatung Arzt (Z=2.118, p=.034) und Bedenken Chatberatung Arzt (Z=2.236, p=.025). Nach Cohen (1992) handelt es sich dabei um schwache Effekte (r=(.21 .27)). In der deskriptiven Darstellung zeigt sich dabei, dass die Versuchspersonen mit Schweizer Nationalität bei allen signifikanten Unterschieden niedrigere Werte aufweisen. Hinsichtlich des Geschlechts können keine signifikanten Unterschiede aufgezeigt werden.
Abschliessend werden die Fragen und Faktoren auf mögliche Unterschiede hin untereinander überprüft, um Präferenzen bezüglich der Digitalisierung feststellen zu können. Im durchgeführten Friedman-Test für die Faktoren ergeben sich signifikante Unterschiede (X²(2)=60.762, p<.001). Im Post-hoc-Vergleich zeigt sich dabei, dass die Buchung signifikant stärker präferiert wird als der Datenschutz (Z=6.965, p<.001) und die Konsultation (Z=5.763, p<.001). Nach Cohen (1992) kann hier von starken Effekten gesprochen werden (r=(.58 .70)). Datenschutz und Konsultation unterschieden sich hingegen nicht signifikant (Z=.229, p=.688).
Ein ähnliches Ergebnis zeigt sich bezüglich der einzelnen Fragen (X²(11)=229.663, p<.001, s. Abb. 4, 6). Unterschiede bezüglich der Präferenzen folgen dem Profil der Faktoren. Die Fragen, die sich mit der Terminbuchung und -erinnerung befassen, werden signifikant höher bewertet als jene, die von Datenschutz und Beratung/Konsultation handeln. Diese wiederum unterschieden sich nicht signifikant. Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass je älter eine Person ist, sie umso weniger eine digitale Buchung und Konsultation bevorzugt, und dass sie, je mehr sie arbeitet, sie umso mehr die digitale Buchung und Konsultation präferier, und je länger sie in der Schweiz lebt, sie umso weniger die Chatberatung wählt. Der Datenschutz spielt eher bei älteren Patienten, insgesamt aber eine untergeordnete Rolle. Hinsichtlich des Geschlechts können keine signifikanten Unterschiede aufgezeigt werden.

Diskussion

In der Studie ging es um die Klärung der Frage, welche Berührungspunkte sich in welcher Form und in welcher Reihenfolge zweckmässig digitalisieren lassen. Es zeigte sich, dass je älter eine Person ist, sie umso weniger eine digitale Buchung und Konsultation präferiert. Dies muss vor allem bei der Umsetzung der Touchpoints der Patient Journey berücksichtigt werden, da die Hauptklientel in einer neurologischen Praxis Patienten über 60 Jahre alt ist (23). Ältere Menschen haben jetzt schon in anderen Bereichen Mühe bei digitalen Lösungen, wie zum Beispiel hinsichtlich des Kaufes von Zugtickets. Die SBB kann es sich aber leisten, das System so umzustellen, da sie damit eher weniger Kunden verliert (24). In einer Arztpraxis wird aber wohl eher der entsprechende Arzt gewechselt, wenn die Kommunikation mit ihm und der Arztpraxis nicht funktioniert. Auch in einer Studie der FMH zeigte sich, dass je älter eine Person in der Befragung ist, sie eher nicht digitale Lösungen präferiert (22). Es zeigte sich auch, dass eine signifikant (schwache bis mittelstarke) positive Korrelationen bezüglich der Fragen und Faktoren zur Buchbarkeit und Konsultation und des Berufes. Das bedeutet, dass je mehr eine Person arbeitet, sie umso stärker die digitale Buchung und Konsultation präferiert. Dies ist auch über das oben erwähnte Alter erklärbar, da fast alle «Patienten ohne Beruf» Rentner waren und somit in einem Alter, in dem sie nicht gerne auf digitale Medien zurückgreifen (23, 24). Weitere signifikante Zusammenhänge zeigen sich nur noch stark negativ bei der Aufenthaltsdauer in der Schweiz und Chatberatung durch den Arzt und die MPA. Je länger eine Person also in der Schweiz lebt, umso weniger präferiert sie die Chatberatung. Diese Aussage ist nur eingeschränkt beurteilbar, da der Anteil der ausländischen Patienten in dieser Umfrage eher gering war, entspricht aber sehr wahrscheinlich den Anteil der Grundgesamtheit, dass heisst, der zu unseren Praxen kommenden Patienten. Von den ausländischen Patienten nahmen in der Zeit der Umfrage fast alle teil, sodass der Anteil repräsentativ ist. Um aber eine bessere Aussage zu dem Zusammenhang ausländischer Patienten und die Präferenz zur Chatberatung durch den Arzt oder die MPA treffen zu können, müssten spezifisch hierfür eine weitere Befragung mit einem höheren Anteil ausländischer Patienten zur Bekräftigung oder Widerlegung stattfinden. Sollte es zutreffen, wäre dies verständlich, da es bei mangelnden Sprachkenntnissen für einen Patienten einfacher ist, schriftlich via Chat zu kommunizieren. Er könnte bei Bedarf im Wörterbuch nachschlagen. Schwieriger ist es dann, das gesprochene Wort zu verstehen und Sätze selbst mündlich zu produzieren (25).
In den verschiedenen Gruppen zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen den Nationalitäten bezüglich der Faktoren Konsultation/Beratung, Datenschutz und bei den Fragen zu Bedenken Onlinebuchen/SMS-Buchbarkeit, Videokonsultation, Begrüssung/Chatberatung Arzt und Bedenken/Chatberatung Arzt. Der Datenschutz spielt eher bei älteren Patienten, aber insgesamt eine untergeordnete Rolle. In der deskriptiven Darstellung zeigt sich dabei, dass die Versuchspersonen mit Schweizer Nationalität bei allen hervorstechenden Unterschieden niedrigere Werte aufweisen. Hinsichtlich des Geschlechts können keine bemerkenswerten Unterschiede aufgezeigt werden. Im Post-hoc-Vergleich zeigt sich dabei, dass die Buchung signifikant mehr bedeutet als der Datenschutz und die Konsultation. Datenschutz und Konsultation unterschieden sich hingegen nicht deutlich. Ein ähnliches Ergebnis zeigt sich bezüglich der einzelnen Fragen. Unterschiede hinsichtlich der Präferenzen folgen dem Profil der Faktoren. Die Fragen, die sich mit der Terminbuchung und -erinnerung befassen, werden bedeutend höher bewertet als jene, die sich mit Datenschutz und Beratung/Konsultation befassen. Diese wiederum unterschieden sich nicht signifikant voneinander. Das Thema Datenschutz lässt sich nicht so gut mit anderen Studien vergleichen. In der Onlinebefragung der FMH spielte es keine Rolle (22). Es gibt aber Untersuchungen zu diesem Thema, die vor allem auf die Schwierigkeiten zur Umsetzung des Datenschutzes in digitalen Medien hinweisen, auf die in Zukunft geachtet werden müsste (26, 27).
Als Handlungsempfehlungen ergeben sich als erste Priorität die Einführung der Benachrichtigung und Erinnerung der Patienten via SMS, gefolgt von der Möglichkeit, Termine online zu buchen, und der Einrichtung eines Chats mit der MPA. Die Einführung einer Videokonsultation sollte ggf. für kurze Folgekonsultationen angeboten werden oder als Angebot für Patienten mit grösserem Handicap, für die die Anfahrt zur persönlichen Konsultation sehr beschwerlich ist. Eine Generalisierbarkeit – also Übertragung der Ergebnisse auf alle Arztpraxen – ist, da die Studie in neurologischen Praxen durchgeführt wurde, sicherlich nicht gegeben, könnte aber einen ««Denkanstoss» geben. Grundsätzlich konnte sich in Studien in anderen Ländern, in denen die Digitalisierung weiter vorangeschritten ist, ein Nutzen für die Patienten aber auch ökonomischer Natur zeigen (28). Aus unserer Befragung lässt sich nicht ableiten, ob die Präferenz bei körperlich eingeschränkten Patienten ggf. grösser ist, da zu wenig Patienten mit Handicap und grösseren Einschränkungen daran teilgenommen haben. Auch hierfür müsste ggf. eine neue Befragung speziell dieser Patienten durchgeführt werden, um die Präferenz beurteilen zu können. Sicherlich könnte aber die Videokonsultation als Möglichkeit in der Praxis angeboten werden, da die technischen Voraussetzungen vorhanden sind und dies eine gute Werbung und Abgrenzung zu anderen Praxen sein könnte. Technisch sollte sowohl die Erinnerung via SMS als auch das Onlinebuchen kein grosses Problem sein, da mehrere Softwareanbieter für Arztpraxen dies anbieten und wir demnächst auf eine dieser Softwares wechseln. Bei der Umsetzung dieser Lösung sollte aber ein «Hybrid-Modell» bestehen bleiben, sodass zwar ein Angebot für SMS-Benachrichtigung und -erinnerung sowie Onlinebuchen grundsätzlich vorhanden ist, dass aber allen Patienten – vor allem auch den älteren – die Möglichkeit bleibt, «konservativ» telefonisch oder persönlich die Termine mit Terminkärtchen zu erhalten. Schliesslich werden nicht alle Patienten dem digitalen Fortschritt folgen können (24).

Fazit

Die Digitalisierung setzt sich in vielen Bereichen auch im Gesundheitswesen immer mehr durch. Durch die Pandemie wurde der Prozess der Digitalisierung katalysiert, da sowohl bei Konferenzen und Fortbildungen von ärztlichem Personal und Ärzten, aber auch bei der Kommunikation mit Patienten der persönliche Kontakt mehr und mehr vermieden und auf digitale Lösungen zurückgegriffen wurden. Zum einen ist es wichtig, Voraussetzungen zu schaffen, dass die Einführung und der Zugang der allgemeinen Bevölkerung, aber auch der Personen des Gesundheitssystems zu digitalen Lösungen erleichtert wird. Dafür gibt es in verschiedenen Ländern bereits gute Ansätze. Wichtig wäre es daher, in weiteren Forschungsfeldern herauszufinden, wie man diese verbessern kann und welche Faktoren es sind, die auf möglichst einfache Art und Weise die Digitalisierung vorantreiben oder auch wie vor allem der älteren Generation der Zugang zu digitalen Medien erleichtert werden kann. Dieses Patientensegment wäre vor allem zum aktuellen Zeitpunkt am stärksten von einer Digitalisierung an verschiedenen Touchpoints im Gesundheitssystem betroffen, weshalb die Forschung darauf ihren Schwerpunkt legen sollte. Ein sicherlich neuartiger und spannender Ansatz ist Generative pre-trained transformer (GPT), der unter anderen auch das amerikanische Medizinexamen (United States Medical Licensing Examination, USMLE) bestanden hat (29). Die Möglichkeiten für seinen Einsatz sind sehr interessant. Er könnte das Personal vor allem bei administrativen Aufgaben wie Datenabfragung, Anamneseerhebung, Arztbriefen und sogar zur Diagnosestellung und Therapieentwicklung unterstützen. Wichtig ist aber, dass die Haupt- und Endentscheidung beim verantwortlichen Arzt liegt (29, 30).

Der Link zum Fragebogen lautet:

https://acrobat.adobe.com/id/urn:aaid:sc:EU:94ed737f-3267-4361-abd9-afea55affa57

Historie
Manuskript eingereicht: 02.12.2023
Nach Revision angenommen: 25.03.2024

PD Dr. med.David Czell

NeuroMedics Uster, Schweiz
Praxis Neurologie Uster
Loren-Allee 22
8610 Uster

neuromedics.uster@hin.ch

Es bestehen keine Interessenkonflikte.

  • je älter eine Person ist, umso weniger wird eine digitale Buchung und Konsultation bevorzugt
  • je mehr eine Person arbeitet, umso mehr präferiert sie eine digitale Buchung und Konsultation
  • je länger eine Person in der Schweiz lebt, umso weniger bevorzugt sie eine Chatberatung
  • Datenschutz spielt eher bei älteren Patienten, insgesamt aber eine untergeordnete Rolle
  • Hinsichtlich des Geschlechts können keine signifikanten Unterschiede aufgezeigt werden.
  • Da ältere Patienten eher die konservative Buchung und Terminvergabe präferieren, sollte ein «Hybrid-Modell» in der Praxis angeboten werden, sodass beide Möglichkeiten bestehen.

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