Praxisassistenz und Curriculum: Bedeutung für den ­Nachwuchs in der Grundversorgung im Kanton Zürich

Praxisassistenzprogramme sowie hausärztliche Curricula bieten einen niederschwelligen und attraktiven Zugang zur Weiterbildung in der Grundversorgung. Dadurch sollen mittelfristig mehr Ärztinnen und Ärzte für eine Karriere in der Grundversorgung gewonnen werden. In dieser Arbeit wurden Ehemalige aus dem Kanton Zürich zu ihrem Karriereverlauf und der inhaltlichen Gestaltung hausärztlicher Curricula befragt. Von 178 Ehemaligen haben 46.6 % (83 Ehemalige) die Umfrage vollständig ausgefüllt. Eine abgeschlossene Weiterbildung haben 79.5 %, und 84.3 % möchten mittelfristig in der Grundversorgung arbeiten. Die Mehrheit hat eine Tätigkeit im Kanton Zürich aufgenommen. Dermatologie, ORL, Rheumatologie und Psychiatrie wurden als die attraktivsten Fächer im Rahmen eines Curriculums bewertet. Die Resultate dieser Arbeit zeigen, dass die Programme ein wichtiges Instrument zur Förderung des ärztlichen Nachwuchses in der Grundversorgung sind.

Schlüsselwörter: Praxisassistenzprogramm, Praxisassistenz, Curriculum Hausarztmedizin, Schweiz, Zürich

Einleitung

Im Bereich der ambulanten medizinischen Grundversorgung, konkret in der Hausarztmedizin und der Kinder- und Jugendmedizin (KJM), fehlt es in der Schweiz an Ärztinnen und Ärzten. Aufgrund der Demografie der Ärzteschaft wird sich die Situation zunehmend verschärfen, wenn nicht mehr Ärztinnen und Ärzte eine Tätigkeit in diesem Bereich aufnehmen (1, 2). In Anbetracht des bereits spürbaren Mangels wurde in den letzten Jahren die Hausarztmedizin als auch die KJM sowohl in der universitären Ausbildung als auch in der Weiterbildung von Assistenzärztinnen und Assistenzärzten gestärkt.

Konkret ermöglichen Praxisassistenzprogramme jungen Assistenzärztinnen und Assistenzärzten, einen Teil ihrer Weiterbildung zur Fachärztin bzw. zum Facharzt für Allgemeine Innere Medizin (AIM) oder KJM in einer Grundversorgerpraxis zu absolvieren (3). Praxisassistenzen stellen für junge Ärztinnen und Ärzte eine konkrete Möglichkeit dar, eine Alternative zur klassischen Spitalmedizin kennenzulernen bzw. zu erleben und damit ein potenzielles Karriereziel zu entdecken. Gleichzeitig ermöglichen die Praxisassistenzen, sich gezielt auf die spätere Tätigkeit in der Grundversorgung vorzubereiten. Die Attraktivität einer Karriere in der Grundversorgermedizin soll durch die Praxisassistenzprogramme somit erhöht und dem Mangel an Grundversorgern mittel- und langfristig begegnet werden. Zusätzlich zu den Praxisassistenzprogrammen bieten viele Kantone hausärztliche Curricula an (4). Diese bestehen neben einer Praxisassistenz aus zusätzlichen Weiterbildungsabschnitten in für die Hausarztmedizin relevanten Fachrichtungen, wie zum Beispiel der Dermatologie oder der Rheumatologie. Neben der unmittelbaren Bedeutung dieser Programme für die Ausbildung junger Ärztinnen und Ärzte erlangen gerade die Praxisassistenzprogramme für die etablierten Arztpraxen eine zunehmende Bedeutung. Viele Fachärztinnen und Fachärzte erreichen bald das Pensionsalter, und aufgrund des Nachwuchsmangels gestalten sich die Rekrutierung von ärztlichem Personal und die Übergabe der eigenen Praxis schwierig. Daten aus den Kantonen Bern und Solothurn zeigen, dass ehemalige Praxisassistentinnen und Praxisassistenten den Einstieg in die Praxistätigkeit häufig in der ehemaligen Lehrpraxis hatten (5, 6). Praxisassistenzprogramme stellen daher auch ein gewolltes Instrument der unmittelbaren Nachwuchsrekrutierung dar. Das Praxisassistenzprogramm im Kanton Zürich wurde über die letzten Jahre kontinuierlich ausgebaut, und aktuell (Stand 2024) können jährlich 42 Praxisassistenzstellen vergeben werden, wovon mindestens 8 Stellen für die KJM reserviert werden. Die verfügbaren Stellen im zweijährigen Curriculum Hausarztmedizin, mit Rotationen in die Dermatologie, Oto-Rhino-Laryngologie (ORL) und Rheumatologie, sind auf Jahre hin ausgebucht. Kenntnisse über eine erfolgreiche Nachwuchsförderung im Rahmen der Programme sowie Kenntnisse darüber, welcher Bedarf an Rotationsstellen im Rahmen hausärztlicher Curricula besteht, sind für die Organisation und den Ausbau der Programme von grosser Bedeutung. Das Ziel dieser Arbeit war es daher zu erheben, wie viele ehemalige Assistenzärztinnen und Assistenzärzte sich für eine Grundversorgertätigkeit entschieden haben und welche Rotationsstellen im Rahmen eines hausärztlichen Curriculums als sinnvoll und damit attraktiv erachtet werden.

Methoden

Die Daten für diese Studie wurden mittels einer Online-umfrage erhoben. Ehemalige Assistenzärztinnen und Assistenzärzte aus dem Praxisassistenzprogramm (AA-PA) sowie dem Curriculum Hausarztmedizin (AA-CU), welche ab 2015 an den Programmen teilgenommen hatten, wurden eingeladen, an der Umfrage teilzunehmen. Der Umfragezeitraum war von Dezember 2023 bis Februar 2024.
Die Umfrage bestand aus insgesamt 62 Fragen. Neben allgemeinen Fragen zur Person wurden spezifische Fragen zu den Themenblöcken aktuelle und zukünftige Arbeitssituation sowie zur Ausgestaltung eines Curriculums Hausarztmedizin gestellt. Die Umfrage beinhaltete adaptive Fragestellungen. So wurden zum Beispiel die Fragen zur Ausgestaltung eines Curriculums Hausarztmedizin als Teil des Facharztes AIM nicht an ehemalige AA-PA einer pädiatrischen Praxisassistenz gestellt.

Statistik

Für die Analyse wurden nur die Ergebnisse der vollständig ausgefüllten Fragebögen verwendet (complete case analysis). Die statistische Analyse erfolgte mit der Software R (Version 4.4.0) (7). Die Ergebnisse wurden deskriptiv als absolute Zahlen und Prozentsätze, N (%), für kategoriale oder binäre Variablen und als Mittelwert (Standardabweichung [SD]) für kontinuierliche Variablen dargestellt. Das kumulative Arbeitszeitpensum wurde aus dem Produkt von Anzahl Monaten und dem Arbeitspensum ermittelt (Stellenprozent).

Ethik und Informed Consent

Die Durchführung einer anonymen Onlineumfrage fällt nicht unter das Humanforschungsgesetz, und die kantonale Ethikkommission Zürich bescheinigte die entsprechende Nichtzuständigkeit (Basec Nummer: Req-2023-01085). Alle Teilnehmenden wurden auf der ersten Seite der Umfrage über Ziel und Zweck der Umfrage, die Freiwilligkeit der Teilnahme, die wissenschaftliche Auswertung und Intention zur Publikation der aggregierten Daten informiert. Die Teilnahme an der Umfrage war freiwillig und anonym.

Resultate

Die Einladung zur Teilnahme an der Umfrage wurde an 178 ehemalige AA-PA/AA-CU versandt, und 109 (61.3 %) hatten die Onlineumfrage geöffnet. In die Auswertung einbezogen wurden die Antworten von 83 (46.6 %) vollständig ausgefüllten Fragebögen. Diese stammten mehrheitlich von ehemaligen AA-PA AIM (37, 44.6 %) und ehemaligen AA-CU (26, 31.3 %). 20 Antworten (24.1 %) stammten von ehemaligen AA-PA KJM. Das mittlere Alter betrug 36.3 Jahre (SD 4.1), und 72.3 % waren weiblich.

Aktuelle Arbeitssituation

Die Mehrheit der ehemaligen AA-PA/AA-CU (66, 79.5 %) gab an, bereits eine abgeschlossene Weiterbildung zu haben, welche ein eigenverantwortliches Arbeiten in der Grundversorgung erlaubt (Facharzt AIM/KJM oder Praktische Ärztin/Praktischer Arzt). Von diesen gaben 55 (83.3 %) an, in den zwölf Monaten vor Teilnahme an der Umfrage mindestens einen Monat in der Grundversorgung gearbeitet zu haben (Abb. 1). Durchschnittlich wurden 9.7 Monate (SD 3.3) in der Grundversorgung gearbeitet, und 18.2 % arbeiteten in mehr als einer Grundversorgerpraxis. Die Mehrheit (57, 87.7 %) der ehemaligen AA-PA/AA-CU hatte im Kanton Zürich gearbeitet (Abb. 2).
Nach Ende der Praxisassistenzzeit hatten 40 (48.2 %) der ehemaligen AA-PA/AA-CU noch einmal in ihrer alten Lehrpraxis gearbeitet. Von diesen hatten 31 (77.5 %) die Zeit in der Lehrpraxis unmittelbar an die Praxisassistenz verlängert, und 33 (82.5 % bzw. 50 % aller ehemaligen AA-PA/AA-CU mit abgeschlossener Weiterbildung) hatten ihren Praxiseinstieg in ihrer ehemaligen Lehrpraxis.

Karrierepläne der ehemaligen AA-PA/AA-CU

Unabhängig des aktuellen Weiterbildungsstands planen 70 % bzw. 84 % kurzfristig bzw. mittelfristig die Aufnahme einer Grundversorgertätigkeit (Abb. S1). Bei Ehemaligen mit abgeschlossener Weiterbildung erhöhen sich die Anteile auf 82 % bzw. 89 %. Von den ehemaligen AA-PA/AA-CU, welche mittelfristig die Aufnahme einer Grundversorgertätigkeit planen, gab die Mehrheit an, den Entscheid bereits vor (34, 48.6 %) oder während (26, 37.1 %) der Praxisassistenz getroffen zu haben. Von den neun ehemaligen AA-PA/AA-CU, welche mittelfristig keine Aufnahme einer Grundversorgertätigkeit planen, gab die Mehrheit an, den Entscheid während (4, 44.4 %) oder nach (3, 33.3 %) der Praxisassistenz getroffen zu haben. Bei acht der neun ehemaligen AA-PA/AA-CU war eine Spitalkarriere das neue Karriereziel. Eine Übersicht über die Faktoren, welche den Entscheid über die zukünftige Karriere der ehemaligen AA-PA/AA-CU mitbeeinflusst haben, ist in Abb. S2 dargestellt. Stratifiziert nach ehemaligen AA-PA/AA-CU, welche angegeben hatten, mittelfristig in der Grundversorgung zu arbeiten, zeigte sich, dass Faktoren wie der hohe Anteil an klinischer Arbeit und die Arzt-Patienten-Beziehung signifikant häufiger als wichtig bewertet wurden. Im Gegensatz wurden Karrieremöglichkeiten signifikant seltener als wichtig bewertet (Abb. S3).

Zukünftige Curricula in der Hausarztmedizin

Insgesamt haben 21 (56.8 %) der 37 ehemaligen AA-PA AIM berichtet, dass sie gerne an einem Curriculum Hausarztmedizin teilgenommen hätten. Abb. S4 zeigt die für ein Curriculum am relevantesten beurteilten Rotationsstellen. Die Dermatologie, ORL, Rheumatologie und Psychiatrie wurden dabei als am relevantesten beurteilt. Ambulante Arztpraxen wurden von 95 % der Umfrageteilnehmer als die am ehesten geeigneten Ausbildungsstätten bewertet, wohingegen nur 61 % die Universitätsspitäler als geeignet betrachteten. Grössere und kleinere Spitäler wurden von 87 % bzw. 89 % als geeignet bewertet (Abb. S5).

Diskussion

In dieser Arbeit wurden ehemalige Assistenzärztinnen und Assistenzärzte aus dem Zürcher Praxisassistenzprogramm sowie dem Curriculum Hausarztmedizin über ihre aktuelle und geplante Arbeitssituation sowie über als sinnvoll erachtete Rotationen in Bezug auf zukünftige hausärztliche Curricula befragt. Ein Grossteil der ehemaligen AA-PA/AA-CU hat die Weiterbildung bereits abgeschlossen und übt eine Grundversorgertätigkeit im Kanton Zürich aus. Im Hinblick auf hausärztliche Curricula werden die Fächer Dermatologie, ORL, Rheumatologie und Psychiatrie als die am relevantesten Fächer für eine spätere Grundversorgerkarriere bewertet, und Ausbildungsplätze in diesen Fächern in ambulanten Praxen werden als am vorteilhaftesten angesehen.

Ein Grossteil der ehemaligen AA-PA/AA-CU plant, die aktuelle Grundversorgertätigkeit auch kurz- bzw. mittelfristig auszuüben. Ein Drittel der Befragten fällte diesen Karriereentscheid sogar während der Praxisassistenz. Die Angaben zur zukünftigen Tätigkeit ähneln den Resultaten vergleichbarer Umfragen aus den Kantonen Bern, Solothurn und Luzern, in denen 81 %, 77 % bzw. 74 % der Ehemaligen angegeben hatten, bereits in der Grundversorgung zu arbeiten oder kurz davorzustehen (5, 6, 8). Ebenso zeigten sich in Bezug auf den Praxiseinstieg ähnliche Resultate. Auch in den Kantonen Bern und Solothurn berichtete etwa die Hälfte aller Befragten, den eigenen Praxiseinstieg in der ehemaligen Lehrpraxis gehabt zu haben. Diese Zahlen verdeutlichen die Rolle der Praxisassistenzprogramme für die etablierten Grundversorgerpraxen. Eine gute Praxisassistenz ist nicht nur ein wichtiger Faktor für eine gute klinische Ausbildung und die spätere Berufswahl an sich, sondern auch ein effektives Instrument, für die Lehrpraxis Nachwuchs zu rekrutieren.

Betrachtet man die Einschätzung der Faktoren, welche die spätere Karrierewahl für die Grundversorgermedizin beeinflusst haben, zeigt sich, dass die ehemaligen AA-PA/AA-CU vor allem den hohen Anteil an klinischer Tätigkeit und die Arzt-Patienten-Beziehung schätzen und die Karrieremöglichkeiten weniger im Vordergrund stehen. Insgesamt wurde jedoch die Möglichkeit der Teilzeitarbeit als der wichtigste Faktor bewertet. Schon bei Bachelor-Studierenden zeigt sich im Verlauf des Studiums die zunehmende Bedeutung von Teilzeitarbeit (9). Teilzeitarbeit ist gerade in Gruppenpraxen, wo die Mehrheit der Ehemaligen tätig ist, einfacher umsetzbar, und entsprechend überraschen die angegebenen niedrigen Stellenprozente der Befragten nicht. Die Zahlen dieser Umfrage sind damit sogar leicht tiefer als bei einer Umfrage unter jungen Hausärzten 2017, wo das gewünschte Pensum bei Männern bei 78 % und bei Frauen bei 66 % gelegen hatte (10). Auch zeigen die Daten aus den Kantonen Bern und Solothurn, dass nur etwa 40 % der Ehemaligen ein Arbeitspensum über 80 % haben (5, 6). De facto bestätigen die Zahlen zum Arbeitspensum, dass es aktuell fast zwei neue Ärztinnen und Ärzte braucht, um ein Vollzeitäquivalent eines Grundversorgers zu ersetzen.

Für die Planung und Organisation der hausärztlichen Curricula ist die Kenntnis über die von den Weiterzubildenden nachgefragten klinischen Rotationen von grosser Bedeutung. Auf der einen Seite müssen die Curricula für die Weiterzubildenden attraktiv sein, auf der anderen Seite müssen die Curricula den Anforderungen der späteren Grundversorgertätigkeit gerecht werden. Ehemalige AA-PA/AA-CU bewerteten die Fachgebiete Dermatologie, ORL, Rheumatologie und Psychiatrie als am relevantesten für eine spätere Grundversorgertätigkeit. Aber auch Chirurgie und Geriatrie wurden als weitere relevante Fachgebiete identifiziert. Es zeigt sich hier eine grosse Übereinstimmung mit einer Umfrage, welche vor einigen Jahren unter Studierenden sowie jungen Hausärztinnen und Hausärzten durchgeführt wurde (11). Die Tatsache, dass vor allem Praxen und kleinere Spitäler als optimale Weiterbildungsstätten angesehen werden, überrascht nicht, da das Patientengut in den Universitätsspitälern häufig sehr selektiert und in der Regel nicht mehr unbedingt mit einer Grundversorgerpraxis vergleichbar ist.

Limitationen

Grösste Limitation der Arbeit ist die relativ geringe Antwortrate unter den Ehemaligen. Obwohl eine Antwortrate von knapp 50 % vollständig ausgefüllter Fragebögen objektiv gut ist (12), wäre eine höhere Antwortrate einer «Alumni»-Umfrage wünschenswert gewesen. Aufgrund der Anonymität der Umfrage konnte die Antwortrate nicht durch gezieltes Kontaktieren der ehemaligen AA-PA/AA-CU erhöht werden, sondern war beschränkt auf zwei allgemeine «Reminder». Entsprechend sind auch keine Aussagen über die Charakteristika der Nichtteilnehmenden möglich.

Ebenso muss erwähnt werden, dass für die wirkliche Messung der Effektivität von Praxisassistenzprogrammen Querschnittserhebungen einen entscheidenden Nachteil haben. Gerade die Berufsabsichten derer, welche die Programme erst vor Kurzem abgeschlossen haben, unterliegen einer gewissen Unschärfe. In informellen Gesprächen berichten viele Ehemalige, dass sie zwar mittelfristig in der Grundversorgung arbeiten möchten, jedoch vorher noch Erfahrung als z. B. Oberärztin bzw. Oberarzt im Spital sammeln wollen. Ob in einigen Jahren dann wirklich der Wechsel in die Praxis stattfindet, bleibt jedoch ungewiss. Umgekehrt mag der Arbeitsalltag im Spital dazu führen, dass Ehemalige, welche heute eine Spitalkarriere anstreben, mittelfristig doch in der Grundversorgung arbeiten werden.

Schlussfolgerung

Die Studie bestätigt die vorhandene Evidenz, dass ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Praxisassistenzprogramme und hausärztlichen Curricula mittelfristig in der medizinischen Grundversorgung arbeiten. Die Stärkung dieser Programme kann dazu beitragen, den Nachwuchs zu fördern und dem Mangel an Grundversorgern entgegenzuwirken.

Abkürzungen:
AIM Allgemeine Innere Medizin
AA-CU Assistenzärztinnen und Assistenzärzte aus dem ­Curriculum Hausarztmedizin
AA-PA Assistenzärztinnen und Assistenzärzte aus dem ­Praxisassistenzprogramm
KJM Kinder- und Jugendmedizin
ORL Oto-Rhino-Laryngologie
SD Standardabweichung

PD Dr med. Andreas Plate

Institut für Hausarztmedizin
Universitätsspital Zürich
Pestalozzistrasse 24
8091 Zürich

andreas.plate@usz.ch

Die Autorin und Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

• Die Mehrheit der ehemaligen Assistenzärztinnen und Assistenzärzte strebt mittelfristig eine Karriere in der medizinischen Grundversorgung an.
• Die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit, die Arzt-Patienten- ­Beziehung und die Erfahrungen während der Praxisassistenz waren die wichtigsten Faktoren im Rahmen der Karrierewahl.
• Dermatologie, ORL, Rheumatologie und Psychiatrie sind die für eine Grundversorgertätigkeit am relevantesten empfundenen Rotationsstellen im Rahmen eines hausärztlichen Curriculums.

1. Stierli R, Rozsnyai Z, Felber R, Jörg R, Kraft E, Exadaktylos AK, Streit S. Primary Care Physician Workforce 2020 to 2025 – a cross-sectional study for the Canton of Bern. Swiss Med Wkly. 2021;151:w30024.
2. Hostettler S, Kraft E. FMH-Ärztestatistik 2023 – 40% ausländische Ärztinnen und Ärzte. Schweizerische Ärztezeitung. 2024:105(12):32–36.
3. Gerber T, Häuptle C, Denti F, Graf S, Merlo C, Pasche O, et al. Praxisassistenz in der Schweiz: eine Übersicht in den Kantonen. PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN. 2022;22(11):331–334.
4. Häuptle C, von Erlach M. Weiterbildung in Hausarztmedizin: Praxisassistenz und Curriculaweiterbildung (Rotationsstellen) in der Schweiz. Praxis (Bern 1994). 2019;108(1):63-72.
5. Rozsnyai Z, Diallo B, Floriani C, Blum M, Streit S. Nachwuchs für die Grundversorgung im Kanton Bern. Primary and Hospital Care. 2022;22(9):281–283.
6. Zimmerli L, Fluri M, Droste P, Cina C, Leupold F, Streit S, Fenner L. Erfolgreiche Nachwuchsförderung. Schweizerische Ärztezeitung. 2020;101(31–32):948–949.
7. R Core Team. R: A language and environment for statistical computing. 2020. R Foundation for Statistical Computing, Vienna, Austria. Available from https://www.R-project.org/
8. Studer C, Merlo C. Weiterbildung in Hausarztmedizin im Kanton Luzern. PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN. 2017;17(5):87–88.
9. Weiss K, Di Gangi S, Inauen M, Senn O, Markun S. Changes in the attractiveness of medical careers and career determinants during the bachelor’s program at Zurich medical schools. BMC Medical Education. 2024;24(1):693.
10. Gisler LB, Bachofner M, Moser-Bucher CN, Scherz N, Streit S. From practice employee to (co-)owner: young GPs predict their future careers: a cross-sectional survey. BMC Family Practice. 2017;18(1):12.
11. Rozsnyai Z, Tal K, Bachofner M, Maisonneuve H, Moser-Bucher C, Mueller Y, et al. Swiss students and young physicians want a flexible goal-oriented GP training curriculum. Scand J Prim Health Care. 2018;36(3):249-61.
12. Baruch Y, Holtom BC. Survey response rate levels and trends in organizational research. Human Relations. 2008;61(8):1139-60.

Optimierte ambulante interdisziplinäre Rauchstopp-Intervention

Dem Ablauf unserer Rauchstopp-Beratungssprechstunde am Universitätsspital Zürich liegt ein Konzept zugrunde mit ­diversen Elementen, die in einer längeren Erstberatung und mindestens vier Folgeberatungen innert circa 3 Monaten vermittelt werden. Je nach medizinischem Kontext, mentaler Verfassung, Motivationsstufe und Vorerfahrungen der rauchenden Person können Inhalte und Intervalle sowie die Anzahl erforderlicher Sitzungen individuell variieren. In aller Regel wird die wiederholte Beratung ergänzt durch eine medikamentöse Unterstützung, relativ oft auch durch medikamentöse Kombinationstherapien. Die Behandlungsfrequenz ist in den ersten 3 Monaten hoch, weil der Unterstützungsbedarf und die Rückfallgefahr dann am grössten sind. Anfänglich finden die Beratungen alle 2 bis 4 Wochen statt, dann werden sie individuell auf 6 bis 8 Wochen ausgedehnt. Idealerweise zieht sich die Beratung über ein halbes Jahr hin. So können der Verlauf über mehrere Monate verbindlich begleitet und bei Bedarf Anpassungen am Procedere vorgenommen werden.

Schlüsselwörter: Rauchstopp-Intervention, interdisziplinäre Beratung, Nikotinersatz, Trigger, Medikamente

Zuweisungsprozess

In der Regel erfolgt die Zuweisung von Patientinnen und Patienten zur Rauchstoppberatung spitalintern durch behandelnde Ärztinnen und Ärzte der verschiedenen Kliniken. Sie entspricht derselben Praxis wie jener anderer Spezialsprechstunden, wie z. B. der Adipositassprechstunde, der Hypertoniesprechstunde oder der Diabetesberatung. Zuweisungen können ebenso von niedergelassenen externen Arztpraxen gemacht werden. Niederschwellig können sich Patienten auch selbst anmelden. Das Konzept «Die rauchende Person muss den ersten Schritt zur Anmeldung selbst unternehmen» ist aus unserer Sicht nicht mehr zeitgemäss und nur unzureichend zielführend. Aus diesem Grund erwarten wir primär Zuweisungen von medizinischen Fachpersonen und erlauben aber auch Selbstzuweisungen.

Die Anmeldung erfolgt mehrheitlich elektronisch oder über das Sekretariat der Pneumologie des Universitätsspitals Zürich (USZ). Dieses terminiert die Rauchstoppsprechstunden und informiert Patienten mittels Brief über Termin, Kontaktmöglichkeiten sowie Konditionen.

Vorbereitung

Aufgrund des Zuweisungsschreibens und klinikinterner Berichte werden die Erst- und Folgeberatungen vorbereitet. Es finden auch Fallbesprechungen zwischen Arzt und Beraterin statt, um geeignete Behandlungsansätze zu evaluieren, eine gemeinsame Strategie festzulegen und eine Behandlungsempfehlung zu machen. Der Fokus richtet sich dabei auf medikamentöse Therapiemöglichkeiten, Klärung allfälliger Medikamentenunverträglichkeiten, Kontraindikationen für gewisse Medikamente, Therapie- und Beratungsansätze unter Berücksichtigung medizinisch relevanter Diagnosen, Therapien sowie bereits erfolgter Massnahmen. Auch soziale anamnestische Aspekte werden beleuchtet und in der Planung berücksichtigt. So können bedarfsweise etwa Bezugspersonen in den Prozess einbezogen werden (1, 2, 3).

Die Erstberatung (Zeitaufwand 45–60 Min.)

Beim ersten Treffen wird nach der Begrüssung die Patientenidentität verifiziert. Je nach Persönlichkeit und Zustand des Patienten kann eine niederschwellige Konversation als Eisbrecher dienen. Patienten werden angehalten, auf Wunsch während der Beratung eigene Notizen zu machen. Dafür liegen ein Schreibblock und Stifte bereit (4).

Als Einstieg ins Rauchstoppgespräch werden weitgehend offene Fragen gestellt. Dazu zählen zum Beispiel:

  • «Sie wurden durch die Klink X oder durch Dr. Y in die Rauchstoppsprechstunde überwiesen. Welcher ist der Grund Ihrer dortigen Behandlung?»
  • «Berichten Sie mir von Ihrem Rauchverhalten.»
  • «Haben Sie schon einmal mit dem Rauchen aufgehört? Mit welcher Methode? Wie ist es Ihnen dabei ergangen? Was führte zum Rückfall?»
  • «Sie möchten etwas an Ihrem Rauchverhalten ändern. Was möchten Sie ändern? Welche Ziele haben Sie?»
  • «Welche Folgen des Rauchens nehmen Sie wahr?» «Wo­ran spüren Sie, dass Ihnen das Rauchen nicht guttut?»
  • Situationsangepasst weitere Fragen.

Offene Fragen ermöglichen es dem Patienten, in eigenen Worten seine Intention zu formulieren, Vorstellungen und Erwartungen, aber auch Bedenken zu äussern. Durch die Art und Weise und den Inhalt seiner Formulierungen lassen sich erste Informationen und Erkenntnisse zum aktuellen Befinden, zur Rauchgeschichte, zur Sichtweise bezüglich des Rauchverhaltens, zum Kommunikationsverhalten und erste medizinische sowie verhaltenstypische Anhaltspunkte erkennen und dokumentieren. Patienten erhalten die Möglichkeit, ihnen wichtige Aspekte zu kommunizieren. Häufig sind solche frühe Aussagen für die Herangehensweise an die Thematik entscheidend. Sie werden daher oft wortwörtlich festgehalten.

Ein zentraler Anhaltspunkt ist die Ausführung der Patienten, ob sie «fremdbestimmt» zugewiesen wurden (ggf. Hinweis auf Absichtslosigkeit, geringe Motivation oder Ambivalenz) oder diesen Schritt selbst initiiert haben (ggf. Hinweis auf höhere Eigenmotivation). Die Antworten auf die Einstiegsfragen können für das weitere Vorgehen im Gespräch richtungsweisend sein.
Wird der Fokus auf das Thema konkreter Rauchstopp gerichtet, geht man darauf ein, wie die Patienten zur Beratung stehen. Kommen sie eher «fremdbestimmt», kann das Thema aufgenommen und vertieft werden. Lässt man die Patienten in eigenen Worten über ihre Intention und Motivation sprechen, erfährt man viel über ihre persönliche Haltung, ihre Erwartungen und über Erfahrungen aus der (Raucher-)Geschichte. Andere Patienten kommen hoch motiviert und erklären gleich zu Beginn, was sie erreichen möchten und welche Hilfe sie benötigen. Oder sie berichten, dass sie bereits mit dem Rauchen aufgehört hätten und den Fokus auf die Aufrechterhaltung legen wollten.

Nachdem die Patienten ein erstes Mal zu Wort gekommen sind, werden sie über das Angebot eines möglichen Standardablaufs und sonstige Aspekte der Rauchstoppberatung informiert. Zur Anamneseerhebung gehören Informationen zur Anzahl täglich gerauchter Zigaretten bzw. sonstiger Nikotinprodukte oder Suchtmittel, Alter bei Rauchbeginn, Berechnung der Anzahl Raucherjahre (py), Schweregrad der Abhängigkeit (Fagerström-Test, FTND), Auskunft zu Anzahl und Dauer früherer Rauchstoppversuche, Gründe für Rückfälle sowie Erfahrungen mit Nikotinersatzprodukten (NET/NRT).

Es gilt, situationsbedingt abzuwägen zwischen für die Beratenden relevanten Standardangaben und dem Hospital Quit Support (HQS)-Standard, wonach im ersten Gespräch nur ein minimales Datenset erhoben werden sollte. Der HQS-Standard gibt selektiv Auskunft über Abhängigkeit und Vorgeschichte mit Relevanz zur Beratungs- und Therapieplanung. Es besteht das Risiko, dass zu viele Details in Erfahrung gebracht werden, die nicht zwingend den Beratungs- und Therapieansatz beeinflussen und oft redundant sind. Andererseits können Aussagen, die auf den ersten Blick wenig bedeutend erscheinen, «zwischen den Zeilen» wichtige Hinweise enthalten. Diese gilt es abzuwägen, zu erfassen und zu dokumentieren, damit sie in den Behandlungsplan integriert und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen werden können. Hier kommen Erfahrung, Empathie und Sensibilität der beratenden Personen zum Tragen.

Grundsätzlich ist rauchenden Personen die Schädlichkeit ihres Verhaltens bewusst. Je nach Situation kann es aber notwendig sein, einzelne Punkte hervorzuheben und zu erklären (Wirkungsspektrum des Nikotins im Gehirn, Teer, Kohlenmonoxid (CO) und was dies bei jeder Zigarette für den Körper bedeutet). Solche Informationen können allgemeingültigen Charakter haben oder individuell und im Kontext der Patientendiagnosen erläutert werden.

Eine CO-Messung in der Ausatmungsluft kann den Konsum objektivieren, die Informationen rund um das Thema Kohlenmonoxid untermauern und den Patienten veranschaulichen, wie positiv sich eine Änderung ihres Rauchverhaltens zeitnah auswirken kann. Üblicherweise ist der CO-Wert bei einer ersten Beratung, wenn Patienten noch rauchen, hoch (> 10ppm bzw. > 2 % HbCO). Die Aussicht auf tiefere Werte kann motivierend sein. Wann immer möglich, sollte eine CO-Messung durchgeführt werden. In einzelnen Fällen kann sie aber auch kontraproduktiv sein und sollte daher weggelassen werden. Vereinzelt lehnen Patienten die Messung von vornherein ab, weil sie einen hohen Wert befürchten und nicht damit konfrontiert werden möchten.

Aufgrund der erhobenen Informationen/Daten zur Stärke der Abhängigkeit (FTND), Dauer und Intensität des Tabakkonsums und unter Berücksichtigung ggf. schon gemachter Rauchstopperfahrungen kann in einem nächsten Schritt eine erste Therapiestrategie empfohlen bzw. gemeinsam festgelegt werden. Dies erfolgt in der Regel unter Einbezug der ärztlichen Fachperson mit Erfahrung in der Pharmakotherapie des Rauchstopps sowie der Kompetenz der Medikamentenverschreibung, insbesondere bezüglich Polypharmazie von älteren Patienten.

Wir erklären, dass es sich bei der Nikotinsucht sowohl um eine körperliche als auch um eine psychische Abhängigkeit handelt. Die psychische Abhängigkeit hat mit Gewohnheiten, Ritualen, Assoziationen, Belohnungs- und Bewältigungsmechanismen, Trigger sowie dem Umgang mit alltäglichen Situationen und Begebenheiten zu tun. Demgegenüber steht die körperliche Abhängigkeit, bei der es sich um physiologische und z.T. biochemische Reaktionen handelt (Abb. 1, Gewohnheit und Sucht) (5).

Für eine langfristige Nikotinabstinenz ist es unerlässlich, beide Komponenten zu betrachten. Viele Patienten sind sich nur unzureichend bewusst, wie bedeutend eine intensive und vertiefte Auseinandersetzung mit Gewohnheiten ist. Sie erhält in der Beratung ein starkes Gewicht. Erst eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesen Themen und die Ableitung konkreter und individuell zugeschnittener Bewältigungspläne ermöglichen es, Hochrisikosituationen erfolgreich zu bewältigen und Rückfälle längerfristig zu vermeiden. Dieser Prozess kann anhand der hier aufgeführten Unterlagen («Werkzeuge») gemeinsam mit den Patienten erörtert und vertieft werden.

Ein eigens für die Rauchstoppberatung entwickelter persönlicher Handlungsplan enthält neben Erklärungen zur Nikotinabhängigkeit und Themen rund um die Rauchgewohnheit eine Reihe von «Werkzeugen». Mit diesen wird ein individueller Rauchstopp-Plan gemeinsam erarbeitet. Dabei werden relevante individuelle Faktoren, die den Prozess in die Rauchfreiheit wesentlich beeinflussen, betrachtet und einbezogen.

In der ersten Beratung wird der Handlungsplan vorgestellt und einzelne individuell geeignete Instrumente hervorgehoben. Patienten bekommen die Aufgabe, bis zum zweiten Beratungstermin ausgewählte Themen zu erarbeiten.
In einem ersten Schritt können folgende Instrumente dienlich sein:

Die Motivationswaage (Abb. 2) ermöglicht es, Vor- und Nachteile des Rauchens sowie des Nikotinverzichts aufgrund persönlicher Überlegungen einzuordnen und zu dokumentieren. Daraus können mögliche Ambivalenzen erkannt und beim nächsten Beratungstermin angesprochen werden. Eine konkrete Auseinandersetzung und Formulierung einzelner Punkte dienen der Visualisierung, Gewichtung und Wertung der einzelnen Pro- und Contra-Argumente und können als Diskussionsgrundlage in der Beratung dienen.

Das Rauchprotokoll (Abb. 3, Mein Protokoll) dient der Selbstbeobachtung. Es wird über einige Tage oder Wochen, idealerweise in unterschiedlichen Situationen (Freizeit, [Berufs-]Alltag, Ferien …) geführt und soll Aufschluss darüber geben, in welchen Situationen typischerweise geraucht wird (z. B. in Zusammenhang mit Stress, Routine, Rückzugsbedürfnis, Entspannung, Geselligkeit, Genuss, Langeweile, Sucht). Erhoben wird auch die Selbsteinschätzung, ob die Zigarette im jeweiligen Augenblick als «notwendig» oder «nicht notwendig» betrachtet wird. Ziel ist es, Wahrnehmungen und Bedürfnisse zu erkennen, zu benennen und Tendenzen zu isolieren. Die Ergebnisse bilden eine wichtige Grundlage im Beratungskontext.

Eine erste Auseinandersetzung mit Verknüpfungen von Gewohnheiten und Zigarettenkonsum hat zum Ziel, über mögliche Alternativhandlungen (Abb. 4) nachzudenken. Langfristig sollen neue Handlungen zu neuen Verknüpfungen führen, sich etablieren und so neue Verhaltensweisen zu neuen Gewohnheiten werden. Dieser Prozess der Abkoppelung von alten Verhaltensmustern wird sich über die Dauer der gesamten Beratung und darüber hinaus erstrecken. Patienten werden dazu angehalten, realistische, aber durchaus kreative und ansprechende Alternativen zu sammeln und Schritt für Schritt im Alltag einzuüben. Je nach Situation und Präferenzen können dies Ablenkungen für Hand, Mund, Kopf und/oder Körper sein. Daneben können auch Situationen definiert werden, die es ohne Alternative zu überwinden gilt.

Die meisten Rauchenden erwarten, dass sie mit der Erstberatung unmittelbar mit dem Rauchen aufhören müssen. Diese Erwartung wird besprochen und relativiert, weil ein Rauchstopp gut geplant und vorbereitet werden sollte. Dafür sind Tage oder sogar Wochen nötig. Manche Patienten sind erleichtert, dies zu hören. Allerdings soll die Dauer bis zum Rauchstopp als wichtige Vorbereitungszeit definiert und nicht als Aufschub betrachtet werden. Abhängig von der Bereitschaft zur Veränderung und der Motivationsstufe wird ein langsameres oder rascheres Vorgehen festgelegt.

Liegt eine niedrige Bereitschaft, Unentschlossenheit oder gar Absichtslosigkeit vor, wird der Fokus auf dem ­weiteren Gespräch liegen, mit dem Ziel, Patienten weitere Informationen zu möglichen unterstützenden Massnahmen zu vermitteln oder Ambivalenzen aufzulösen. Sie werden in ihrem Gedankenprozess unterstützt, sodass sich ihre Selbstwirksamkeit erhöht und sie mit gestärkter Zuversicht in den Prozess einsteigen. Hier kann das Motivational Interviewing (MI) als geeignetes Instrument eingesetzt werden. MI hat zum Ziel, mittels klientenzentrierter, direktiver Methode die intrinsische Motivation für eine Veränderung zu verbessern mittels Erforschung und Auflösung von Ambivalenz (Miller & Rollnick, 2002). Dabei sollen Patienten durch gezielte Fragestellungen eigene Bewältigungsschritte und Ziele definieren und formulieren. Sie sollen sich ihrer persönlichen Stärken bewusst werden und sich diese zunutze machen. Damit gewinnen sie an Selbstvertrauen und Zuversicht. Ein wichtiger Aspekt des MI ist gutes Zuhören bzw. Patienten ausreden zu lassen. So erhalten sie die Möglichkeit, eigene Gedanken zum Thema zu entwickeln, welche einen inneren Prozess (Auflösung der Ambivalenz) unterstützen können.

Mit Patienten, die hoch motiviert und gut vorbereitet sind, können bereits konkrete nächste Schritte besprochen werden. Wann immer möglich, wird die Schlusspunktmethode (abrupter Rauchstopp) angestrebt. In Ausnahmefällen kann eine Reduktionsstrategie als erstes Zwischenziel in Erwägung gezogen werden.

Medikamente in der Erstberatung

Meist wird in der ersten Beratung der Einsatz von unterstützenden Medikamenten empfohlen (European Strategy for Smoking Cessation Policy WHO, 2004). Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Patienten, die zu unserer Rauchstoppberatung kommen, häufig schon mehrere frustrane Rauchstoppversuche hinter sich haben, und eine gewisse Eskalation der Intervention notwendig erscheint.
Empfehlungen zu Wahl und Dosierung richten sich nach dem täglichen Zigarettenkonsum, Anzahl Packyears und FTND-Score (Tab. 1). Unsere Empfehlung wird mit den Präferenzen des Patienten abgeglichen und ein Konsens angestrebt (Adhärenz!).

Als Erfolg versprechendste Vorgehensweise zur langfristigen Rauchfreiheit wird – gestützt auf der Empfehlung der WHO – eine Kombination empfohlen aus medikamentöser Therapie und wiederholten Beratungssitzungen. Als medikamentöse Therapie kommen Nikotinersatztherapie (NET/NRT) infrage oder der Einsatz von Bupropion, Vareniclin oder Cytisin. Ganz selten wird das Hilfsmittel L-Cystein-Lutschtabletten (Acetium®) eingesetzt, besonders wenn die Motivation für den Rauchstopp gering ist und eine Rauchreduktion im Vordergrund steht.

Rauchreduktion, ob mit NRT (z. B. Inhaler) oder mit Acetium®, ist aus unserer Sicht nur ein Zwischenschritt zum Rauchstopp (reduce to quit) und wird nur ausnahmsweise als primäre Strategie empfohlen. Oft kommt es vor, dass Patienten den geplanten abrupten Rauchstopp beginnen, aber nicht fortführen können. Einige erfahren einen Rückfall mit wenigen Zigaretten. Andere erzielen gar nicht erst den vollständigen Rauchstopp, schaffen am Rauchstopp-tag aber eine deutliche Reduktion (zahlenmässig > 50 % Reduktion des bisherigen Konsums an Tabak) und können diesen reduzierten Konsum beibehalten. Dies wird in der Beratung als Zwischenerfolg gewürdigt und in einem zweiten Schritt der komplette Rauchstopp erarbeitet.

Patienten werden informiert, dass die medikamentöse Unterstützung lediglich ein Hilfsmittel darstellt, welches den Rauchstopp-Prozess erleichtert und die Entzugssymptome u.a. teilweise vermindert. Wenn es Patienten schaffen, mit dem Rauchen ganz aufzuhören und diesen Zustand über längere Zeit halten können (ohne Rückfall), dann ist das ihre Eigenleistung und nicht primär das Resultat einer medikamentösen Strategie. Es gibt kein Rauchstoppmedikament, welches dazu führt, dass «es plötzlich nicht mehr raucht». Bei einem adäquat gewählten Schmerzmittel darf man erwarten, dass die Schmerzen für die Dauer der Medikamentenwirkung vollständig verschwinden. Diese «einfache» Art der Problembehandlung gibt es für Rauchende nicht. Es braucht immer eigenes Zutun, Eigeninitiative, Anwendung von (erlernten) Strategien und Verhaltensänderung, damit eine langjährige Gewohnheit und Sucht definitiv überwunden werden kann.

Je nach Begleitdiagnosen, Eignung und Einstellung der Patienten werden Wirkungsweisen und die Einnahme der oben genannten Medikamente erklärt sowie mögliche Nebenwirkungen erläutert und mögliche Kontraindikationen geprüft. Nicht selten erscheinen mögliche Nebenwirkungen den Patienten plötzlich inakzeptabel. Manchmal hilft es dann, auf die «Nebenwirkungen» oder Folgen der Tabakzigarette hinzuweisen, welche ohne langen Beipackzettel verkauft wird, obwohl die Liste der schädlichen Effekte lang ist.
Gegen Ende der ersten Beratung sollen die Patienten drei Skalen-Fragen beantworten. Er/sie soll sich festlegen, wo er/sie sich auf einer Skala von 0–10 bezüglich Wichtigkeit, Zuversicht und Bereitschaft (für den Rauchstopp) zum aktuellen Zeitpunkt einstuft. Wir besprechen die momentane Einstellung/Einstufung anhand der Antworten. Auch hier können Fragen aus dem MI-Katalog helfen, Patienten dahingehend zu motivieren, dass sie sich ihrer Stärken und Fähigkeiten bewusst werden, indem sie diese herleiten und aussprechen. Patienten erhalten zusätzlich ein doppelseitiges Handout mit Rauchstopptipps für COPD-Patienten, damit sie wichtige Informationen (3) selbst nachlesen können.

Die Beratung endet mit aktuellen Fragen. Wir wollen von den Patienten wissen, ob das weitere Vorgehen nachvollziehbar und erste Schritte umsetzbar erscheinen und/oder zu welchem ersten Schritt sie sich aktuell imstande fühlen. Damit soll vermieden werden, dass Patienten einen zu grossen «Berg» vor sich sehen, sondern erkennen, dass der Prozess aus mehreren Etappen besteht, durch die sie begleitet werden, selbst Verantwortung übernehmen und das Tempo der einzelnen Schritte mitbestimmen dürfen.

Schwerpunkte in der 1. Beratung (abhängig von der Ausgangslage des Patienten)
– Vorstellen des Rauchstopp-Programms
– Fokussierte Anamnese, inkl. Fagerström-Test
– Wo steht die rauchende Person im Prozess? (Zuordnung im Transtheoretischen Modell nach Prochaska/Di Clemente, 1982), Haltung/Erwartungen/Erfahrungen
– Erfahrungen mit NRT?
– Informationsvermittlung/Patientenedukation: Komponenten der Tabakabhängigkeit, Grundsätze der Verhaltensänderung, erfolgreiche und bewährte Strategien (Beratung, verschiedene Medikamente, Komplikationen und Rückschläge möglich, erste Zieldefinition, regelmässige Beratungen wahrnehmen)
– Individualisierte Strategie – inkl. Empfehlung bezüglich Medikament mit erwarteten Vorteilen
– Hauptmotivation/«Guter Grund» für Rauchstopp
– Motivationswaage (Pros und Cons Rauchen/Nichtrauchen)
– Rauchprotokoll
– Thematik Alternativhandlungen
– Zuversicht/Wichtigkeit/Bereitschaft
– Ziele
– CO-Messung
– Festlegung eines Folgeberatungsdatums und ggf. Rauchstopptages

Die Zweitberatung/Folgeberatung (Zeitaufwand 30–45 Min.)

Die Zweitkonsultation steht unter dem Motto: erste Schritte zur Verhaltensänderung (changing your habits). Nach der Begrüssung ist die Einstiegsfrage in der Regel «Wie ist es gegangen?» oder offener formuliert «Berichten Sie mir, was seit unserer ersten Sitzung passiert ist». Die Art und Weise der Berichterstattung sowie der Inhalt der Antworten können aufschlussreich sein. Den Patienten ist unbedingt genügend Redezeit zu geben, damit sie ihre Situation mit eigenen Worten beschreiben können. Allenfalls sind kurze Ergänzungsfragen oder konkrete Nachfragen notwendig, um die Beschreibung der ersten Erfahrungen zu komplettieren und richtig zu verstehen. Was hat sich verändert? Ist der Rauchstopp schon erfolgt, oder sind Sie noch in der Vorbereitungsphase? Wie reagiert Ihre Umgebung auf die Verhaltensänderung? Wie transparent wird der Prozess gegenüber dem Arbeitsumfeld kommuniziert? In welchen Situationen konnten Zigaretten vereinzelt oder gänzlich weggelassen werden? Werden Entzugserscheinungen wahrgenommen?

Welche Situationen wurden als schwierig empfunden? Welche Situationen konnten gut gemeistert werden? Insbesondere erfolgreich bewältigte Situationen sollen vom Patienten detailliert und repetitiv über die gesamte Beratungsdauer hinweg beschrieben werden. Es lohnt sich, den dafür notwendigen zeitlichen Raum zu geben. Mit jeder erfolgreichen Bewältigungsreaktion wird die Selbstwirksamkeit der Patienten erhöht. Sie bildet eine neue Grundlage für weitere erfolgreich zu bewältigende Situationen. Damit lässt sich das Rückfallrisiko senken (vgl. Rückfallmodell Marlatt & Gordon, 1985).

Nach einem ersten Erfahrungsbericht der Patienten wird das Rauchprotokoll (Selbstbeobachtung) gemeinsam besprochen und analysiert, und damit werden Tendenzen und Muster erkannt und isoliert betrachtet. Die Ergebnisse bilden eine wichtige Basis für den weiteren Beratungsprozess.

Die Besprechung der bearbeiteten Motivationswaage gibt ebenfalls Aufschluss über mögliche Ambivalenzen, den Motivationsstand, über Zuversicht und Bedenken und ist wegleitend für den weiteren Verlauf der Beratung.

Eine Besprechung der Alternativhandlungen (Ablenkungen) sowie «Wenn-Dann-Pläne» für konkrete Handlungen, Orte, Zeiten oder Emotionen, welche bislang mit einer Zigarette verbunden sind, zeigen ebenfalls auf, wie- weit sich Patienten bereits mit dem Prozess auseinandergesetzt haben. Bei Patienten mit eher niedriger Motivation oder gar Absichtslosigkeit finden sich in der Regel noch keine Ergebnisse, bei höherem Engagement und höherer Motivationsstufe ist die Auseinandersetzung aufgrund der bereits ausgefüllten Alternativhandlungen oder Ideen dazu erkennbar. Themen können aufgenommen und ggf. gemeinsam weiterentwickelt und konkretisiert werden. Bei vereinzelten Patienten muss zu diesem Zeitpunkt nochmals erläutert werden, was der eigentliche Sinn dieses «Werkzeugs» ist, dass es letztlich um Entkoppelung alter Verbindungen und das Erlernen und Etablieren neuer Verbindungen geht.

Die Übersicht über Tipps für Hand, Mund, Kopf und Körper kann Inspiration und Ideen liefern zu praktischen Ablenkungsmassnahmen.
Tun sich Patienten schwer damit, sich auf Veränderungen festzulegen, können als erster Schritt ein- bis zwei Situationen definiert werden, in denen die Patienten den Einsatz von Alternativhandlungen ausprobieren könnten. Darauf aufbauend, können im Verlauf weitere Schritte dazukommen.

Erfahrungsgemäss bringen nicht alle Patienten den Handlungsplan zu Folgeberatungen mit. Dies kann ein Hinweis sein auf mangelndes Interesse oder darauf, dass dieses In­strument in der Form nicht zusagt. Ggf. können alternativ andere Vorgehensweisen, jedoch im Prinzip mit gleichem Inhalt, gewählt werden.

Je nachdem müssen Patienten aber auch daran erinnert werden, die Themen zu erarbeiten und den Handlungsplan mitzubringen. Andererseits gibt es aber auch Patienten, die den Handlungsplan detailliert erarbeiten und mit vorbereiteten Fragen in die Folgeberatung kommen.

Überprüfung Medikation

Je nachdem haben Patienten zum Zeitpunkt der Folgeberatung schon mit der Einnahme begonnen und erste Erfahrungen gemacht. Wir fragen nach Verträglichkeit, Wirkung und möglichen Nebenwirkungen und überprüfen die korrekte Anwendung (insbesondere bei NRT). Ggf. muss bei NRT die Dosierung angepasst oder bei Anwendungsschwierigkeiten erneut instruiert oder auf ein anderes, gleichwertiges Produkt gewechselt werden (z. B. Inhaler statt Kaugummi).

Wenn es um den Einsatz von Medikamenten geht, muss wiederholt erwähnt werden, dass diese lediglich eine Unterstützung im Rauchstopp-Prozess bedeuten: Die Hauptarbeit liegt bei den Patienten.

Planung des Rauchstopptages

«Quit Day» mittels Notizen zum Tagesablauf (Abb. 5, Mein Rauchstopptag). Patienten bestimmen wann der Rauchstopptag stattfindet. Je nach Situation kann ein konkreter Vorschlag vereinbart werden. Es empfiehlt sich, den Rauchstopptag und die ersten Tage danach konkret und detailliert zu planen, um unerwartete und damit unvorbereitete (Hochrisiko-)Situationen möglichst zu vermeiden. Unterstützend kann das Merkblatt «Checkliste Vorbereitung für den Rauchstopp» hinzugezogen werden.

Inhaltliche Vorschläge sind: Einkaufsliste schreiben mit Produkten, die den Rauchstopp unterstützen sollen (Getränke, Obst, Gemüse, Kaugummis, Bonbons, Süssholz, evtl. Nikotinersatzprodukte, neue Laufschuhe u.v.m.).

Planung von bewussten Ablenkungsaktivitäten: Verabredung mit Familie/Freunden (gemeinsame Aktivitäten, Wellness, Kino, Theater …), Massagetermine vereinbaren u.v.m.

Spuren des Rauchens entfernen: Sämtliche Zigarettenvorräte, Feuerzeuge, Aschenbecher entfernen. Haustextilien waschen (ggf. Abgabe des Merkblatts zu Third Hand Smoke), Auto grundreinigen lassen, Termin für professionelle Zahnreinigung vereinbaren etc. Diese minutiöse Planung dient einer Risikominimierung und Vorbeugung von schwer «handelbaren» Craving-Situationen oder zur Überbrückung von Zeitfenstern, in denen man nicht weiss, was ohne Zigarette zu tun ist. Falls Patienten noch nicht so weit sind mit der Festlegung des Rauchstopptages, kann man ankündigen, das Thema bei der nächsten Beratung wiederaufzunehmen.

Erfahrungsgemäss gibt es ein ca. zweiwöchiges Zeitfenster von erhöhter Motivation für einen Rauchstopp. Anschliessend beginnt die Motivation etwas abzuflauen. Der Quit Day sollte also nicht zu weit hinausgeschoben werden. Verhandeln Patienten das Rauchstoppdatum wiederholt, kann dies ein Hinweis darauf sein, dass die Bereitschaft, den Rauchstopp konkret umzusetzen, tief ist. Ggf. müssen in solchen Fällen neue Zwischenziele definiert werden. Der Beratende sollte konkret nachfragen, wo aktuell noch Hürden oder Bedenken bestehen. Darauf folgt die Frage, welche Massnahmen oder Umstände die Motivation und Zuversicht zu steigern vermögen.

Möglicherweise zu erwartende Entzugssymptome werden besprochen. Dabei kann das Merkblatt «Entzugserscheinungen nach einem Rauchstopp» abgegeben werden. Es gibt eine Übersicht über mögliche Symptome, deren ungefähre Dauer und Bewältigungstipps.

Die Sitzung endet mit der Frage nach der aktuellen Zuversicht und nach konkreten nächsten Schritten, die realistisch umsetzbar sind.

Schwerpunkte in der 2. Beratung (zusammenfassend)
– Feedback
– Auswertung Protokoll, Motivationswaage, Alternativhandlungen
– Schwierige/gut gemeisterte Situationen/Feedback aus Umfeld
– Erste neue Gewohnheiten
– Tipps für Hände, Mund, Kopf und Körper
– Vorbereitung des Rauchstopptages, die ersten 24–48 Stunden
– CO-Messung
– Festlegung eines Folgeberatungsdatums, Notfallmassnahmen besprechen, Notfallkarte mitgeben

3. Beratung (Zeitaufwand ca. 30 Min.)

Erneut erfolgt ein Rückblick auf die Zeit seit der letzten Beratung. Fragen der Patienten werden geklärt und Erfahrungen besprochen. Falls noch nicht geschehen, wird die Festlegung des Rauchstopptages erneut besprochen und wenn möglich definiert. Falls der Rauchstopptag schon vorbei ist, fragen wir nach dem Abstinenzerfolg.Welche Situationen konnten gut gemeistert werden? Wo greifen die Ressourcen? Wo sind Hindernisse vorhanden? Wo sind Verhaltensanpassungen erforderlich? Welche Situationen bedürfen besonderer Aufmerksamkeit? Welche möglichen Entzugssymptome sind aufgetreten? Wie wurden sie wahrgenommen? Was konnte dagegen unternommen werden? Welche Situationen haben sich als weniger schlimm erwiesen als befürchtet? Gab es unerwünschte Wirkungen der Medikamente?

Besprechung des Craving-Ampelmodells: Gedanken ans Rauchen können in 3 Stufen eingeteilt werden: Grün, Gelb und Rot. Gedanken ans Rauchen sind normal. Die Frage ist, wie stark sie eine Situation dominieren. Bei «Grün» wird der Gedanke wahrgenommen, er ist aber nicht quälend und vergeht rasch wieder. Bei der Farbe «Gelb» bleibt der Gedanke ans Rauchen hartnäckig, und es muss aktiv auf Bewältigungsstrategien zurückgegriffen werden. Dies in Form von Ablenkungen oder gezielten Beschäftigungen, wie beispielsweise Atemübungen. Quälende Gedanken, die sich kaum verdrängen lassen und unüberwindbar erscheinen, werden dem «roten» Bereich zugeordnet. In solchen Situationen kommen die Notfallmassnahmen (Abb. 6) zum Tragen. Wir geben eine Notfallkarte ab. Sie enthält Kontaktdetails der beratenden Personen (Pflegefachperson und Arzt) und auf der Rückseite die Notfallmassnahmen.

Welche körperlichen Veränderungen werden wahrgenommen? Was hat sich bisher verändert? Welche sozialen Reaktionen wurden erfahren? Wie ist der Umgang mit Hochs und Tiefs? Auf welche Unterstützung kann gezählt werden? Welche sind konkrete nächste Schritte?

Schwerpunkte in der 3. Beratung (zusammenfassend)
– Feedback Abstinenzerfolge
– Positive Veränderungen
– Entzugssymptome/Gegenmassnahmen
– Ampelmodell des Suchtdrucks
– Zuversicht
– CO-Messung
– Folgeberatungsdatum fixieren

4. Beratung (Zeitaufwand 20–30 Min.)

Erneut erfolgt ein Rückblick auf die Zeit seit der letzten Beratung. Fragen werden geklärt und Erfahrungen besprochen. Die Patienten werden aufgefordert, Situationen zu beschreiben, die sie gut gemeistert haben. Rauchfreiheit wird gewürdigt und zum Abstinenzerfolg gratuliert. Die Beratenden fragen nach Veränderungen, welche seit dem Rauchstopp spürbar und wahrnehmbar sind. Ggf. führen sie den Patienten die Anzahl rauchfreier Tage vor Augen und honorieren diese. Wie viel Geld konnten sie so einsparen? Mögliche Stolpersteine werden thematisiert. Es wird zwischen einem Vorfall, einem einmaligen Ausrutscher («slip»: ohne ins alte Muster zurückzufallen) und einem Rückfall («relapse»: gleiches Verhaltensmuster wie vor dem Rauchstopp) unterschieden. Gemeinsam wird besprochen, wie sich Rückfälle vermeiden lassen, wie sie im Falle eines Eintretens zu bewältigen sind und welche Konsequenzen daraus für zukünftige Situationen abzuleiten sind. Patienten sollen eigene Strategien erarbeiten und formulieren.

Thematisierung Trigger
Dabei geht es um die Vergegenwärtigung potenzieller Situationen, die mit Rauchen in Verbindung gebracht werden könnten und die somit ein erhöhtes Risiko für Vor- oder Rückfälle darstellen. Mögliche Trigger können bestimmte Tageszeiten, bestimmte Orte, verschiedene Tätigkeiten oder bestimmte Emotionen sein (Abb. 7, Triggersituationen). Wir erklären, wie wichtig es ist, eigene, individuelle Auslöser zu kennen. So kann man sich im Vorfeld auf riskante Situationen vorbereiten und unangenehme Überraschungen vermeiden. Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch das Wissen um und das Vertrauen auf persönliche Bewältigungsstrategien und die Vergegenwärtigung bereits positiv bewältigter Situationen.

Patienten werden zudem auf das Risiko einer gewissen Gewichtszunahme angesprochen (nach dem Rauchstopp durchschnittlich zwischen 3 und 5 kg). Wir erklären, warum der Körper im Durchschnitt ca. 200 kcal pro Tag weniger verbraucht. Falls erwünscht, machen wir zur Ernährung Vorschläge, z. B. bevorzugt Obst und Gemüse statt Schokolade essen, viel Wasser oder ungesüssten Tee trinken, die Wahl der Kohlenhydrate beachten (eher dunkles Mehl bzw. Vollkorn bevorzugen als Weissmehlprodukte) und Bewegungseinheiten im Alltag steigern. Auf Wunsch der Patienten oder nach Ermessen des Behandlungsteams kann auch die Ernährungsberatung einbezogen werden.

Inzwischen konnte seit dem Rauchstopp ein gewisser Betrag an Geld eingespart werden. Dieses Thema kann zu Motivationszwecken individuell vertieft werden. CO-Messung und Frage nach der Zuversicht, ggf. wird auf frühere Angaben hingewiesen. Es werden nächste Schritte und Schwerpunkte definiert.

5. Beratung (Zeitaufwand 20–30 Min.)

Erneut erfolgt ein Rückblick auf die Zeit seit der letzten Beratung. Fragen werden geklärt und Erfahrungen besprochen. An diesem Punkt werden die Themen Aufrechterhaltung der Nikotinabstinenz und erneut Vermeidung von Vor- und Rückfällen besprochen. Körperliche Veränderung über den Verlauf der Beratungen werden thematisiert. Der Abstinenzerfolg wird gewürdigt. Auf den Prozess der erfolgten Rauchentwöhnung zurückzublicken kann hilfreich sein, um einzelne wichtige Themen nochmals zu erörtern sowie positive Erfahrungen zu benennen und zu verinnerlichen. Patienten erkennen ihre Leistung, die sie in diesem Prozess erbracht haben, und fühlen sich befähigt, in eine rauchfreie Zukunft zu gehen. Im Weiteren geht es um die Thematisierung der neuen Identität als nicht rauchende Person. Auf Wunsch wird erneut eine CO-Messung gemacht, insbesondere dann, wenn seit dem Quit Day schon drei Monate vergangen sind.
Das Thema finanzielle Einsparungen kann noch einmal aufgenommen werden. Man kann beispielsweise empfehlen, das eingesparte Geld bewusst zu sparen und für etwas ganz Besonderes auszugeben, das man sich sonst nicht leisten würde. Den Patienten soll die Summe des eingesparten Geldes bewusst gemacht werden.

Ziel ist es, dass Patienten zuversichtlich, mit hoher Selbstwirksamkeit und dem Wissen um die Umsetzung von Bewältigungsstrategien in diversen Lebenslagen die Rauchstoppberatung abschliessen können.

Weitere Beratungstermine

Manchmal werden weitere Beratungstermine benötigt, insbesondere wenn der effektive Rauchstopp erst verzögert umgesetzt wurde. Ziel ist es immer, die Patienten über die ersten drei Monate nach einem Rauchstopp hinaus zu begleiten, wenn sich Bewältigungsstrategien, neue AlltagsAbläufe und Rituale festigen. Für Patienten kann diese zeitlich ausgedehnte «externe Verbindlichkeit» hilfreich sein, um in Hochrisikosituationen weiterhin abstinent zu bleiben.

Abschluss

Wir bieten an, auf Wunsch weiterhin zur Verfügung zu stehen. Wir geben ggf. die Nummer der nationalen Rauchstopplinie an (https://stopsmoking.ch/) und motivieren Patienten, frühzeitig externe Hilfe in Anspruch zu nehmen, falls erneute Schwierigkeiten zur Aufrechterhaltung der Rauchfreiheit eintreten sollten. Hierzu können sich Patienten auch niederschwellig per E-Mail mit der Rauchstoppberaterin in Verbindung setzen. Wann immer möglich wird versucht, den Rauchstatus nach 3 Monaten zu objektiveren (CO-Messung). Manchmal gibt es alternative Überprüfungsmöglichkeiten im Spitalsetting, z. B. arterielle Blutgasanalysen ohne erhöhten CO-Nachweis. Dies sind Bestimmungen, die im Kontext anderer medizinischer Indiktionen vorgenommen werden und uns zur Objektivierung des Rauchstopperfolges dienlich sind.

12 Monate nach Datum des Rauchstopps erfolgt ein telefonisches Follow-up. Dabei wird der Rauchstatus erfragt und dokumentiert. Sollten Patienten noch immer oder wieder erneut rauchen, wird der Zeitpunkt genutzt, um niederschwellig eine Wiederaufnahme der Beratungen anzubieten. Sind Patienten über die 12 Monate hinweg rauchfrei geblieben, berichten sie erfahrungsgemäss gerne vom neuen Lebensgefühl als Nichtraucherin oder als Nichtraucher.

Jenseits der Standardsituation / Grenzen der Rauchstoppberatung

Schwangere

Schwangeren wird zu Recht geraten, mit dem Rauchen gänzlich aufzuhören. Fortgesetztes Rauchen ist mit erhöhten Risiken für die Schwangere und das ungeborene Kind assoziiert. Beachtlich viele Frauen hören mit dem Rauchen auf, wenn sie erfahren, dass sie schwanger sind. Frauen in der Frühschwangerschaft, die es auf Anhieb nicht schaffen, den Tabak- und Nikotinkonsum aus eigener Kraft einzustellen, sind meistens motiviert, professionelle Unterstützung anzunehmen. Die besten Resultate werden bei diesen Frauen erreicht, wenn ihnen ein finanzieller Anreiz gegeben wird. Es kann eine Prämie (Geld) ausgezahlt werden, wenn der Rauchstopp für eine längere Zeit eingehalten wird. In der Schwangerschaft ändert sich der Nikotinmetabolimus, sodass z.T. eine erhöhte Nikotinzufuhr die Folge ist. Dies gilt es zu bedenken, wenn Nikotinersatz eingesetzt wird. Nikotin aus registrierten Nikotinersatzprodukten ist gesundheitlich besser als fortgesetzter Tabakkonsum. Das Beste ist der komplette Rauch- und Nikotinstopp (5, 6, 7).

Psychische Erkrankungen

Bei instabilen psychischen Situationen, z. B. schwerer Depression oder Schizophrenie, führen wir eine orientierende Beratung durch. Wir empfehlen dann eine psychiatrische Betreuung, bevor die Rauchstoppberatung weitergeführt wird. Ggf. erfolgt die Wahl und Dosierung unterstützender Rauchstoppmedikamente in Absprache mit dem behandelnden Psychiater / der behandelnden Psychiaterin. Sozial, psychisch oder emotional sehr stark belastete Menschen bewegen sich oft in komplexen Problemkreisen, wobei das Rauchen gewissermassen symptomatisch als zentrale Bewältigungsstrategie empfunden werden kann und der Gesundheitskontext zweitrangig ist. Bei solchen Personen kann die Empfehlung zum Rauchstopp eine schier unüberwindbare Hürde darstellen.

In solchen Fällen wird nicht auf einen Rauchstopp insistiert, sondern Verständnis gezeigt. Den Patienten wird das Angebot einer weiteren Beratung unterbreitet für die Zeit, wenn sich die Lebenskrise oder die momentane Situation gebessert hat. Allein das Gespräch übers Rauchen und über die aktuelle Belastungssituation kann unterstützend wirken. Es wird vereinbart, dass eine Folgeberatung oder eine telefonische Kontaktaufnahme durch uns geschieht, und ein Zeitpunkt dafür festgelegt, z. B. in sechs Monaten. Bei motivierten Patienten, die psychisch stabil eingestellt sind, kommen die klassischen Rauchstoppmedikamente ohne signifikante Erhöhung von Komplikationen zur Anwendung (8). Sind die Voraussetzungen weniger günstig, kann auch einmal eine Schadensminderungsstrategie, z. B. Benützung des Inhalers zur Reduktion der Anzahl gerauchter Zigaretten, ausnahmsweise zur Anwendung kommen.

Terminale Patienten / palliative Situationen

Es ist verständlich, dass Patienten mit beispielsweise Krebserkrankungen z. T. einen Rauchstoppwunsch haben. Bei gewissen Tumoren ist die Ansprechrate auf die Therapie deutlich besser nach einem Rauchstopp (verbesserte Durchblutung des Tumorgewebes bei Systemtherapien) (9). Wir beraten und behandeln auch diese Patienten bei einem Rauchstoppwunsch.

Danksagung
Wir möchten Eveline Rutz für die sprachliche Durchsicht und Korrekturen danken.

PD Dr. med. Macé M. Schuurmans

Klinik für Pneumologie
Leitung Rauchstoppsprechstunde
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

mace.schuurmans@usz.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. Ärztliche Rauchstoppberatung. Die Dokumentation für die Praxis. Jacques Cornuz, Isabelle Jacot-Sadowski, Jean-Paul Humair. 3. Auflage. Frei von Tabak, 2016
2. Tabakkonsum und Tabakabhängigkeit. Christoph B. Kröger, Bettina Lohmann. 1. Auflage. Hogrefe Verlag, 2007
3. Macé M. Schuurmans, Marc Müller, Jürg Pfisterer, Carole Clair, Werner
Karrer. Rauchstopp für COPD Patienten. Schweiz Med Forum 2015;15(49):1155-1158
4. Macé M. Schuurmans, Anne-Katharina Burkhalter und Jean-Pierre Zellweger
Rauchstopp-Beratung für die Praxis Evidenz-basierte Informationen und erfahrungsmedizinische Tipps.
Psychiatrie 2•2009
5. Elisabeth Biewald, Denise Casanova, Macé Schuurmans. Individuelle Rauchstoppberatung Persönlicher Handlungsplan, Verein Lunge Zürich, The Circle 58, 8058 Zürich-Flughafen. Bildmaterial LUNGE ZÜRICH: Konzepte erarbeitet durch die Autoren dieses Aritkels.
6. Berlin I, Berlin N, Malecot M, Breton M, Jusot F, Goldzahl L. Financial incentives for smoking cessation in pregnancy: multicentre randomised controlled trial. BMJ. 2021 Dec 1;375:e065217. doi: 10.1136/bmj-2021-065217. Erratum in: BMJ. 2021 Dec 3;375:n3012. doi: 10.1136/bmj.n3012. Erratum in: BMJ. 2022 Feb 22;376:o448. doi: 10.1136/bmj.o448. PMID: 34853024; PMCID: PMC8634365.
7. Robijn AL, Tran DT, Cohen JM, Donald S, Cesta CE, Furu K, Parkin L, Pearson SA, Reutfors J, Zoega H, Zwar N, Havard A. Smoking Cessation Pharmacotherapy Use in Pregnancy. JAMA Netw Open. 2024 Jun 3;7(6):e2419245. doi: 10.1001/jamanetworkopen.2024.19245. PMID: 38941092; PMCID: PMC11214111.
8. Correa JB, Lawrence D, McKenna BS, Gaznick N, Saccone PA, Dubrava S, Doran N, Anthenelli RM. Psychiatric Comorbidity and Multimorbidity in the EAGLES Trial: Descriptive Correlates and Associations With Neuropsychiatric Adverse Events, Treatment Adherence, and Smoking Cessation. Nicotine Tob Res. 2021 Aug 29;23(10):1646-1655. doi: 10.1093/ntr/ntab056. PMID: 33788933; PMCID: PMC8521682.
9. Chellappan S. Smoking Cessation after Cancer Diagnosis and Enhanced Therapy Response: Mechanisms and Significance. Curr Oncol. 2022 Dec 17;29(12):9956-9969. doi: 10.3390/curroncol29120782. PMID: 36547196; PMCID: PMC9776692.

Das funktionelle Kompartmentsyndrom – eine Ursache belastungsabhängiger Unterschenkelschmerzen

Das funktionelle Kompartmentsyndrom – auch bekannt als chronisches Logensyndrom oder chronic exertional compartment syndrome (CECS) – ist ein oftmals lang unerkannt bleibendes Krankheitsbild, welches in erster Linie junge, sportlich aktive Menschen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren betrifft. Pathophysiologisch kommt es zu einem schmerzhaften Druckanstieg in einer oder mehreren Muskellogen, meist ausgelöst durch sportliche Aktivität wie Rennen oder Springen oder wiederholte zyklische Belastungen (z.B. Bergaufgehen). Am häufigsten sind die Unterschenkel betroffen; es sind aber auch Kompartmentsyndrome der Arme, Oberschenkel, Füsse und sogar der paravertebralen Muskulatur beschrieben. Typischerweise manifestiert sich das funktionelle Kompartmentsyndrom durch reproduzierbar unter Belastung auftretende Unterschenkelschmerzen, die nach Beendigung der Aktivität zügig zurückgehen und häufig beidseitig vorliegen. Zur eindeutigen Diagnosestellung ist eine intrakompartimentelle Druckmessung erforderlich. Differenzialdiagnostisch sind vor allem vaskuläre Entrapments, Wirbelsäulenpathologien und Myopathien zu berücksichtigen. Die konservativen Therapiemassnahmen umfassen Detonisierung der Muskulatur, Gang-/Laufschule, Belastungsmodifikation, Optimierung der Biomechanik, Kompressionsstrümpfe, Dry Needling und Botulinumtoxininjektionen. Sollten die Beschwerden persistieren, ist eine endoskopisch assistierte Fasziotomie ein komplikationsarmer chirurgischer Eingriff mit hoher Erfolgsrate.

Schlüsselwörter: Funktionelles Kompartmentsyndrom, chronisches Kompartmentsyndrom, chronisches Logensyndrom, chronic exertional compartment syndrome

Historisches

Die Erstbeschreibung des funktionellen Kompartmentsyndroms geht zurück auf den britischen Militärchi­rurgen Edward Adrian Wilson (* 23.07.1872, † 29.03. 1912).

Der Polarforscher, Arzt und Ornithologe war Teilnehmer der ersten grossen Antarktisexpeditionen, u.a. der Terra-Nova-Expedition unter Robert Falcon Scott, die am 18. Januar 1912 den Südpol erreichte. In seinem Tagebuch beschrieb er, dass er während einer der Expeditionen starke Schmerzen in den vorderen Anteilen beider Unterschenkel verspürte. Die Symptome intensivierten sich mit jedem erneuten Trip, verschwanden jedoch immer wieder im Rahmen der Ruhephase. Im Laufe der Zeit entstanden dann sogar Ruheschmerzen, ein Hinweis für den schleichenden Übergang in ein subakutes Kompartmentsyndrom.

Die erste Beschreibung in der medizinischen Fachliteratur datiert von 1945, als die Symptomatik eines Soldaten als «acute ischaemia of the anterior tibial muscle and the long extensor muscles of the ­toes» benannt wird (Horn CE JBJS Am 1945; 27:615–622). Als sportassoziiertes Krankheitsbild beschreibt Mavor 1956 erstmalig einen Fussballspieler und nennt das Krankheitsbild «The anterior tibial syndrome» (Mavor GE, JBJS Br 1956; 68:513–517).

Epidemiologie

Die Inzidenz belastungsabhängiger Unterschenkelschmerzen im Sport wird mit 12.8%–82.4% angegeben (Rajasekaran 2012), wobei ca. 27–33% davon auf das funktionelle Kompartmentsyndrom entfallen. Insbesondere Laufsportler sind betroffen, aber auch Mannschaftssportler aus Sportarten mit hohem Lauf- oder Sprunganteil wie Fussball, Handball, Hockey, Tennis oder Badminton. Gute Daten zur Häufigkeit liegen ausserdem aus dem Militär vor, da die Kohorte der Rekruten gut untersuchbar ist, standardisierte lange Märsche absolviert werden und die körperliche Belastung oftmals in kurzer Zeit stark gesteigert wird, was ein Auslöser für das CECS sein kann. Man findet Zahlen von 1/2000 Neuerkrankungen. In unserer eigenen täglichen Praxis mit Spezialisierung auf das CECS sehen wir jede Woche mehrere Athlet/-innen mit CECS, sodass eine hohe Dunkelziffer anzunehmen ist.

Anatomie und Pathophysiologie

Der Unterschenkel wird durch die Faszien und die interossäre Membran zwischen Tibia und Fibula in insgesamt vier Kompartimente unterteilt (Abb. 1). Die anteriore Loge (rot) enthält die Extensorenmuskulatur sowie die A. und V. tibialis und den Nervus Peroneus profundus. Die fibulare Loge (blau) enthält die peroneale Muskelgruppe, die oberflächliche Beugerloge, den Triceps surae mit dem M. Plantaris und die tiefe Beugerlogen, die Zehenflexoren sowie den M. Tibialis posterior. Durch letztere laufen auch N. tibialis, A./V. tibialis posterior sowie A./V. fibularis. Eine Aufstellung aller Leitstrukturen und die konsekutiven Leitsymptome beim Vorliegen eines CECS kann der Tab. 1 entnommen werden.

Vom CECS abzugrenzen ist das akute Kompartmentsyndrom, bei dem es durch eine akute Volumenzunahme zu einer akuten Schmerzhaftigkeit durch den Druckanstieg im Kompartiment kommt. Am häufigsten tritt dies im Rahmen einer Einblutung durch eine grössere Verletzung, z.B. einer Unterschenkelfraktur, auf. Das akute Kompartmentsyndrom ist ein medizinischer Notfall, dem eine sofortige operative Versorgung zugeführt werden muss, da sonst irreversible Schäden der Muskulatur und der Nerven auftreten können.

Pathophysiologie und Klinik

Das CECS tritt gehäuft im Alter von 15–25 Jahren auf mit einem zweiten Plateau um das 50. Lebensjahr. Pathophysiologisch kommt es beim CECS zu einem schmerzhaften Druckanstieg in einer oder mehreren Muskellogen, meist ausgelöst durch sportliche Aktivität oder wiederholten zyklischen Belastungen. Am häufigsten sind die Unterschenkel betroffen; es sind aber auch Kompartmentsyndrome der Arme, Oberschenkel, Füsse und sogar der paravertebralen Muskulatur beschrieben.
Der genaue Pathomechanimus ist zwar noch nicht abschliessend geklärt, aber ein Circulus vitiosus durch ein Missverhältnis der nur bedingt dehnbaren Faszien und der Muskulatur, die unter Belastung eine Volumenzunahme von 20% erfahren kann, gilt als gesichert. Konkret führt offensichtlich der gesteigerte Blutfluss unter Belastung zu einer Volumenzunahme der Muskulatur. Dies hat einen Anstieg des intrakompartimentellen Druckes zur Folge, sodass die kleinsten Gefässe (Kapillaren) abgedrückt werden. Die weitere Folge ist eine Ischämie des Muskelgewebes mit Schmerzen, Krampfgefühl und Muskelschwäche, welche wiederum die Mikrozirkulationsstörungen verstärkt und auch das Ödem.

Als Risikofaktoren für das Auftreten eines CECS gelten eine rasche Muskelhypertrophie entweder durch intensives Training oder durch Einnahme von Anabolika oder Kreatinsupplementation, eine Faszienverdickung (z.B. nach Traumata oder durch chronifizierte Entzündungsprozesse), Mikrozirkulationsstörungen oder Ödeme bei venösem Rückstau sowie eine erhöhte Bindegewebesteifigkeit, z.B. im Rahmen einer Sklerodermie.

Klinisch manifestiert sich das funktionelle Kompartmentsyndrom einerseits durch belastungsinduzierte Schmerzen, welche bei Beendigung der Aktivität mit konsekutivem Druckabfall meist zügig zurückgehen, andererseits auch durch Krämpfe, schnellere Muskelermüdung und Funktionseinschränkungen. Viele Patienten beschreiben auch ein massives Druckgefühl («So, als würde mein Unterschenkel gleich platzen.»). Bei der auslösenden Aktivität handelt es sich zumeist um Laufen, Springen oder zügiges Bergaufgehen. Radfahren geht hingegen zumeist problemlos. Am häufigsten ist das anteriore oder das tiefe posteriore Kompartiment betroffen, und oft bestehen bilaterale Beschwerden – in der Literatur finden sich Angaben von 63–95%. Da die Symptome beim tiefen posterioren Kompartiment meist diffuser und uneindeutiger sind, kann spekuliert werden, dass hier die Dunkelziffer sogar noch höher liegt und dieses somit am häufigsten betroffen sein könnte. Bei etwa einem Drittel der Patienten verursacht nur eine Muskelloge Beschwerden, während bei den anderen zwei Dritteln zwei oder mehr Muskellogen betroffen sind. Wenn die Schmerzen intensiver provoziert werden, halten sie oft auch nach Belastungsende noch an; oder sie treten schneller wieder auf, sobald die Belastung wieder aufgenommen wird. Bei stark erhöhtem Druck kann es auch zu einer Beeinträchtigung der Blutzirkulation oder der Innervation kommen, mit konsekutiver Schwellneigung oder Parästhesien im entsprechenden Versorgungsgebiet. Insbesondere wenn die Symptomatik schon länger besteht, können die Beschwerden auch schon bei einfachen Alltagsbelastungen wie Bergaufgehen oder Treppensteigen auftreten und damit eine Claudicatio-ähnliche Symptomatik hervorrufen. Athleten sind in der Ausübung ihres Sports teils massiv eingeschränkt und geben den Sport manchmal sogar ganz auf – vor allem wenn die Symptomatik zu lange nicht diagnostiziert wird. Die mittlere Dauer bis zur Diagnosestellung wird mit 18 bis 22 Monaten angegeben.

(Differential-) Diagnostik

Der wichtigste Baustein in der Diagnostik ist bereits die Anamnese, die wie vorgängig beschrieben sehr charakteristische Informationen beinhaltet. Die Standard-Bildgebung bleibt – aufgrund der funktionellen Natur der Beschwerden – meist unauffällig. Eine Magnetresonanztomographie (MRT) direkt nach Ausübung der auslösenden Belastungen zeigt oft ein Muskelödem in der betroffenen Loge. Ausserdem dient sie dem Ausschluss von Differenzialdiagnosen wie dem medialen tibialen Stresssyndrom im Falle der anterioren Loge. Zur eindeutigen Diagnosestellung ist eine intrakompartimentelle Druckmessung unter und nach Belastung erforderlich. Hierfür wird nach örtlicher Betäubung ein Präzisionsdruckkatheter unter sonographischer Kontrolle in die entsprechende Loge implantiert und dann so fixiert, dass sportliche Belastungen möglich sind. Die Druckdifferenz vor und nach der Belastung ist entscheidend für die Diagnosestellung.

In der Differentialdiagnose sind vor allem vaskuläre Pathologien zu berücksichtigen, zu denen Einengungen der Gefässe, vor allem das arterielle popliteale Entrapment, zählen, aber auch endovaskuläre Ursachen wie Endofibrose/Artherosklerose und venöse Pathologien (Gähwiler et al. 2020). Neurale Kompressionssyndrome können zentral z. B. im Rahmen von Wirbelsäulenpathologien entstehen oder peripher durch Engstellen im Nervenverlauf. Eine bilaterale Manifestation ist dabei jedoch selten. Weiterhin zu berücksichtigen sind Muskelerkrankungen (posttraumatisch, inflammatorisch oder neoplastisch) sowie knöcherne Ursachen wie die «Shins splints» als (peri-)ossäre Stressreaktionen. Tab. 2 fasst die wichtigsten Differentialdiagnosen zusammen und zeigt die diagnostischen Möglichkeiten (aus Recktenwald Dissertation 2019).

Therapie

Da es sich um ein funktionelles Problem handelt, kann durch Reduktion der auslösenden Faktoren eine Besserung erreicht werden. Dies betrifft in erster Linie das Training aber auch trainingsrelevante Faktoren. Durch einen Wechsel des Schuhwerks kann die Belastung in bestimmten Kompartimenten beeinflusst werden. So helfen medial gestützte Schuhe bei der Entlastung des M. tibialis posterior, und eine grössere Sprengung des Schuhs entlastet das anteriore Kompartiment. Auch eine spezielle Gang-/Laufschule ist erfolgversprechend. Beim anterioren Kompartment kann eine Reduktion der Schrittlänge bei Erhöhung der Schrittfrequenz helfen. Der Fuss sollte nicht vor dem Körperschwerpunkt aufgesetzt und nicht zu sehr dorsalflektiert werden. Eine Umstellung auf Mittelfusslaufen ist ebenfalls möglich.

Die Detonisierung der Muskulatur kann erreicht werden durch Massagen, Dry Needling, Foam rolling, Dehnung sowie Thermotherapie oder Stosswellentherapie. Natürlich sind auch detonisierende Medikamente wie Sirdalud oder Mydocalm oder Injektionen denkbar. Die Extremvariante wären Botulinumtoxininjektionen. Auf Muskelwachstum induzierende Massnahmen sollte streng verzichtet werden. Dazu zählt auch die Einnahme von Kreatin und Proteinsupplementen. Kompressionsstrümpfe können etwas Linderung bringen, werden in vielen Fällen aber auch gar nicht toleriert.

Bei erfolgloser konservativer Therapie ist eine Operation indiziert. Bei dieser werden die Faszien der betroffenen Kompartimente gespalten, um der Muskulatur mehr Platz zu verschaffen. Die Operation kann minimal-invasiv erfolgen, ist sehr schonend und gut verträglich und in der Hand eines versierten Chirurgen oder einer versierten Chirurgin komplikationsarm. Die Abb. 3–7 zeigen endoskopische Aufnahmen einer solchen Operation. Bei korrekter Diagnose quillt die Muskulatur bei der Spaltung massiv hervor, teilweise direkt nach der Stichinzision mit dem Messer. 2 Wochen nach der Operation können die Patienten den Alltagsaktivitäten nachgehen und nach 4 Wochen das Lauftraining wieder aufnehmen. Rezidive kommen vor in einer Häufigkeit zwischen 10 und 20%.

Fazit

Das funktionelle Kompartmentsyndrom ist ein gut behandelbares Krankheitsbild, welches primär junge, sportlich aktive Menschen betrifft, aber auch sekundär auftreten kann, u.a. nach Traumata oder bei chronisch venöser Insuffizienz oder Reperfusion. Belastungsabhängige Unterschenkelschmerzen, Muskelkrämpfe, Pa­rästhesien oder ein Druckgefühl, welche mit Belastungsabbruch schnell sistieren, sollen hellhörig machen und weitere Abklärungen nach sich ziehen. Da die Patienten oft in ihrer Sportfähigkeit sehr beeinträchtigt sind, sollte bei typischer Klinik zeitnah eine Überweisung zum Spezialisten erfolgen. Die endoskopisch assistierte Fasziotomie ist eine komplikationsarme Operation, welche den Patienten bei frustraner konservativer Therapie Lebensqualität und Sportfähigkeit zurückgibt.

Prof. Dr. med. Anja Hirschmüller

ALTIUS Swiss Sportmed Center
Habich-Dietschy Strasse 5A
4310 Rheinfelden

anja.hirschmueller@altius.ag

Kerstin Recktenwald

Allgemeinärztliche Praxis
Östersund
Schweden

Dr. med.Roman Gähwiler

Spital Lachen
Lachen
Schweiz

Dr. med. Lukas Weisskopf

ALTIUS Swiss Sportmed Center
Rheinfelden
Schweiz

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

Historisches

Die Erstbeschreibung des funktionellen Kompartmentsyndroms geht zurück auf den britischen Militärchi­rurgen Edward Adrian Wilson (* 23.07.1872, † 29.03. 1912).

Der Polarforscher, Arzt und Ornithologe war Teilnehmer der ersten grossen Antarktisexpeditionen, u.a. der Terra-Nova-Expedition unter Robert Falcon Scott, die am 18. Januar 1912 den Südpol erreichte. In seinem Tagebuch beschrieb er, dass er während einer der Expeditionen starke Schmerzen in den vorderen Anteilen beider Unterschenkel verspürte. Die Symptome intensivierten sich mit jedem erneuten Trip, verschwanden jedoch immer wieder im Rahmen der Ruhephase. Im Laufe der Zeit entstanden dann sogar Ruheschmerzen, ein Hinweis für den schleichenden Übergang in ein subakutes Kompartmentsyndrom.
Die erste Beschreibung in der medizinischen Fachliteratur datiert von 1945, als die Symptomatik eines Soldaten als «acute ischaemia of the anterior tibial muscle and the long extensor muscles of the ­toes» benannt wird (Horn CE JBJS Am 1945; 27:615–622). Als sportassoziiertes Krankheitsbild beschreibt Mavor 1956 erstmalig einen Fussballspieler und nennt das Krankheitsbild «The anterior tibial syndrome» (Mavor GE, JBJS Br 1956; 68:513–517).

Epidemiologie

Die Inzidenz belastungsabhängiger Unterschenkelschmerzen im Sport wird mit 12.8%–82.4% angegeben (Rajasekaran 2012), wobei ca. 27–33% davon auf das funktionelle Kompartmentsyndrom entfallen. Insbesondere Laufsportler sind betroffen, aber auch Mannschaftssportler aus Sportarten mit hohem Lauf- oder Sprunganteil wie Fussball, Handball, Hockey, Tennis oder Badminton. Gute Daten zur Häufigkeit liegen ausserdem aus dem Militär vor, da die Kohorte der Rekruten gut untersuchbar ist, standardisierte lange Märsche absolviert werden und die körperliche Belastung oftmals in kurzer Zeit stark gesteigert wird, was ein Auslöser für das CECS sein kann. Man findet Zahlen von 1/2000 Neuerkrankungen. In unserer eigenen täglichen Praxis mit Spezialisierung auf das CECS sehen wir jede Woche mehrere Athlet/-innen mit CECS, sodass eine hohe Dunkelziffer anzunehmen ist.

Anatomie und Pathophysiologie

Der Unterschenkel wird durch die Faszien und die interossäre Membran zwischen Tibia und Fibula in insgesamt vier Kompartimente unterteilt (Abb. 1). Die anteriore Loge (rot) enthält die Extensorenmuskulatur sowie die A. und V. tibialis und den Nervus Peroneus profundus. Die fibulare Loge (blau) enthält die peroneale Muskelgruppe, die oberflächliche Beugerloge, den Triceps surae mit dem M. Plantaris und die tiefe Beugerlogen, die Zehenflexoren sowie den M. Tibialis posterior. Durch letztere laufen auch N. tibialis, A./V. tibialis posterior sowie A./V. fibularis. Eine Aufstellung aller Leitstrukturen und die konsekutiven Leitsymptome beim Vorliegen eines CECS kann der Tab. 1 entnommen werden.

Vom CECS abzugrenzen ist das akute Kompartmentsyndrom, bei dem es durch eine akute Volumenzunahme zu einer akuten Schmerzhaftigkeit durch den Druckanstieg im Kompartiment kommt. Am häufigsten tritt dies im Rahmen einer Einblutung durch eine grössere Verletzung, z. B. einer Unterschenkelfraktur, auf. Das akute Kompartmentsyndrom ist ein medizinischer Notfall, dem eine sofortige operative Versorgung zugeführt werden muss, da sonst irreversible Schäden der Muskulatur und der Nerven auftreten können.

Pathophysiologie und Klinik

Das CECS tritt gehäuft im Alter von 15–25 Jahren auf mit einem zweiten Plateau um das 50. Lebensjahr. Pathophysiologisch kommt es beim CECS zu einem schmerzhaften Druckanstieg in einer oder mehreren Muskellogen, meist ausgelöst durch sportliche Aktivität oder wiederholten zyklischen Belastungen. Am häufigsten sind die Unterschenkel betroffen; es sind aber auch Kompartmentsyndrome der Arme, Oberschenkel, Füsse und sogar der paravertebralen Muskulatur beschrieben.

Der genaue Pathomechanimus ist zwar noch nicht abschliessend geklärt, aber ein Circulus vitiosus durch ein Missverhältnis der nur bedingt dehnbaren Faszien und der Muskulatur, die unter Belastung eine Volumenzunahme von 20% erfahren kann, gilt als gesichert. Konkret führt offensichtlich der gesteigerte Blutfluss unter Belastung zu einer Volumenzunahme der Muskulatur. Dies hat einen Anstieg des intrakompartimentellen Druckes zur Folge, sodass die kleinsten Gefässe (Kapillaren) abgedrückt werden. Die weitere Folge ist eine Ischämie des Muskelgewebes mit Schmerzen, Krampfgefühl und Muskelschwäche, welche wiederum die Mikrozirkulationsstörungen verstärkt und auch das Ödem.

Als Risikofaktoren für das Auftreten eines CECS gelten eine rasche Muskelhypertrophie entweder durch intensives Training oder durch Einnahme von Anabolika oder Kreatinsupplementation, eine Faszienverdickung (z.B. nach Traumata oder durch chronifizierte Entzündungsprozesse), Mikrozirkulationsstörungen oder Ödeme bei venösem Rückstau sowie eine erhöhte Bindegewebesteifigkeit, z.B. im Rahmen einer Sklerodermie.
Klinisch manifestiert sich das funktionelle Kompartmentsyndrom einerseits durch belastungsinduzierte Schmerzen, welche bei Beendigung der Aktivität mit konsekutivem Druckabfall meist zügig zurückgehen, andererseits auch durch Krämpfe, schnellere Muskelermüdung und Funktionseinschränkungen. Viele Patienten beschreiben auch ein massives Druckgefühl («So, als würde mein Unterschenkel gleich platzen.»). Bei der auslösenden Aktivität handelt es sich zumeist um Laufen, Springen oder zügiges Bergaufgehen. Radfahren geht hingegen zumeist problemlos. Am häufigsten ist das anteriore oder das tiefe posteriore Kompartiment betroffen, und oft bestehen bilaterale Beschwerden – in der Literatur finden sich Angaben von 63–95%. Da die Symptome beim tiefen posterioren Kompartiment meist diffuser und uneindeutiger sind, kann spekuliert werden, dass hier die Dunkelziffer sogar noch höher liegt und dieses somit am häufigsten betroffen sein könnte. Bei etwa einem Drittel der Patienten verursacht nur eine Muskelloge Beschwerden, während bei den anderen zwei Dritteln zwei oder mehr Muskellogen betroffen sind. Wenn die Schmerzen intensiver provoziert werden, halten sie oft auch nach Belastungsende noch an; oder sie treten schneller wieder auf, sobald die Belastung wieder aufgenommen wird. Bei stark erhöhtem Druck kann es auch zu einer Beeinträchtigung der Blutzirkulation oder der Innervation kommen, mit konsekutiver Schwellneigung oder Parästhesien im entsprechenden Versorgungsgebiet. Insbesondere wenn die Symptomatik schon länger besteht, können die Beschwerden auch schon bei einfachen Alltagsbelastungen wie Bergaufgehen oder Treppensteigen auftreten und damit eine Claudicatio-ähnliche Symptomatik hervorrufen. Athleten sind in der Ausübung ihres Sports teils massiv eingeschränkt und geben den Sport manchmal sogar ganz auf – vor allem wenn die Symptomatik zu lange nicht diagnostiziert wird. Die mittlere Dauer bis zur Diagnosestellung wird mit 18 bis 22 Monaten angegeben.

(Differential-) Diagnostik

Der wichtigste Baustein in der Diagnostik ist bereits die Anamnese, die wie vorgängig beschrieben sehr charakteristische Informationen beinhaltet. Die Standard-Bildgebung bleibt – aufgrund der funktionellen Natur der Beschwerden – meist unauffällig. Eine Magnetresonanztomographie (MRT) direkt nach Ausübung der auslösenden Belastungen zeigt oft ein Muskelödem in der betroffenen Loge. Ausserdem dient sie dem Ausschluss von Differenzialdiagnosen wie dem medialen tibialen Stresssyndrom im Falle der anterioren Loge. Zur eindeutigen Diagnosestellung ist eine intrakompartimentelle Druckmessung unter und nach Belastung erforderlich. Hierfür wird nach örtlicher Betäubung ein Präzisionsdruckkatheter unter sonographischer Kontrolle in die entsprechende Loge implantiert und dann so fixiert, dass sportliche Belastungen möglich sind. Die Druckdifferenz vor und nach der Belastung ist entscheidend für die Diagnosestellung.
In der Differentialdiagnose sind vor allem vaskuläre Pathologien zu berücksichtigen, zu denen Einengungen der Gefässe, vor allem das arterielle popliteale Entrapment, zählen, aber auch endovaskuläre Ursachen wie Endofibrose/Artherosklerose und venöse Pathologien (Gähwiler et al. 2020). Neurale Kompressionssyndrome können zentral z. B. im Rahmen von Wirbelsäulenpathologien entstehen oder peripher durch Engstellen im Nervenverlauf. Eine bilaterale Manifestation ist dabei jedoch selten. Weiterhin zu berücksichtigen sind Muskelerkrankungen (posttraumatisch, inflammatorisch oder neoplastisch) sowie knöcherne Ursachen wie die «Shins splints» als (peri-)ossäre Stressreaktionen. Tab. 2 fasst die wichtigsten Differentialdiagnosen zusammen und zeigt die diagnostischen Möglichkeiten (aus Recktenwald Dissertation 2019).

Therapie

Da es sich um ein funktionelles Problem handelt, kann durch Reduktion der auslösenden Faktoren eine Besserung erreicht werden. Dies betrifft in erster Linie das Training aber auch trainingsrelevante Faktoren. Durch einen Wechsel des Schuhwerks kann die Belastung in bestimmten Kompartimenten beeinflusst werden. So helfen medial gestützte Schuhe bei der Entlastung des M. tibialis posterior, und eine grössere Sprengung des Schuhs entlastet das anteriore Kompartiment. Auch eine spezielle Gang-/Laufschule ist erfolgversprechend. Beim anterioren Kompartment kann eine Reduktion der Schrittlänge bei Erhöhung der Schrittfrequenz helfen. Der Fuss sollte nicht vor dem Körperschwerpunkt aufgesetzt und nicht zu sehr dorsalflektiert werden. Eine Umstellung auf Mittelfusslaufen ist ebenfalls möglich.

Die Detonisierung der Muskulatur kann erreicht werden durch Massagen, Dry Needling, Foam rolling, Dehnung sowie Thermotherapie oder Stosswellentherapie. Natürlich sind auch detonisierende Medikamente wie Sirdalud oder Mydocalm oder Injektionen denkbar. Die Extremvariante wären Botulinumtoxininjektionen. Auf Muskelwachstum induzierende Massnahmen sollte streng verzichtet werden. Dazu zählt auch die Einnahme von Kreatin und Proteinsupplementen. Kompressionsstrümpfe können etwas Linderung bringen, werden in vielen Fällen aber auch gar nicht toleriert.

Bei erfolgloser konservativer Therapie ist eine Operation indiziert. Bei dieser werden die Faszien der betroffenen Kompartimente gespalten, um der Muskulatur mehr Platz zu verschaffen. Die Operation kann minimal-invasiv erfolgen, ist sehr schonend und gut verträglich und in der Hand eines versierten Chirurgen oder einer versierten Chirurgin komplikationsarm. Die Abb. 3–7 zeigen endoskopische Aufnahmen einer solchen Operation. Bei korrekter Diagnose quillt die Muskulatur bei der Spaltung massiv hervor, teilweise direkt nach der Stichinzision mit dem Messer. 2 Wochen nach der Operation können die Patienten den Alltagsaktivitäten nachgehen und nach 4 Wochen das Lauftraining wieder aufnehmen. Rezidive kommen vor in einer Häufigkeit zwischen 10 und 20%.

Fazit

Das funktionelle Kompartmentsyndrom ist ein gut behandelbares Krankheitsbild, welches primär junge, sportlich aktive Menschen betrifft, aber auch sekundär auftreten kann, u.a. nach Traumata oder bei chronisch venöser Insuffizienz oder Reperfusion. Belastungsabhängige Unterschenkelschmerzen, Muskelkrämpfe, Pa­rästhesien oder ein Druckgefühl, welche mit Belastungsabbruch schnell sistieren, sollen hellhörig machen und weitere Abklärungen nach sich ziehen. Da die Patienten oft in ihrer Sportfähigkeit sehr beeinträchtigt sind, sollte bei typischer Klinik zeitnah eine Überweisung zum Spezialisten erfolgen. Die endoskopisch assistierte Fasziotomie ist eine komplikationsarme Operation, welche den Patienten bei frustraner konservativer Therapie Lebensqualität und Sportfähigkeit zurückgibt.

Fussulcera in der Orthopädie

Fussulcera sind am häufigsten vaskulär, druck- oder diabetesbedingt. Für die diabetischen Fussulcera ist das Vorliegen einer Polyneuropathie mit Verlust der Schutzsensibilität und/oder einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit ein wesentlicher Risikofaktor. Die Prävention zielt auf Identifizierung des gefährdeten Fusses, regelmässige Kontrollen des gefährdeten Fusses, Aufklärung von Patienten, Angehörigen und medizinischem Fachpersonal, Sicherstellung des routinemässigen Tragens von geeignetem Schuhwerk sowie die Behandlung von Risikofaktoren für eine Ulceration ab. Bei Vorliegen eines diabetischen Fussulcus besteht die Therapie aus einer Kombination von mechanischer Entlastung (Goldstandard während der Ulcusphase: Vollkontaktgips), Behandlung von Durchblutungsstörungen, Infektbehandlung, Stoffwechselkontrolle und Behandlung von Komorbiditäten, lokaler Ulcuskontrolle und Aufklärung von Patienten und Angehörigen. Bei infizierten Ulcera muss nach dem Vorliegen einer Osteomyelitis gesucht werden. Ohne Osteomyelitis besteht die Therapie aus lokalem Debridement und einer 1–2-wöchigen Antibiotikatherapie. Bei Vorliegen einer Osteomyelitis besteht die Therapie entweder aus der Kombination einer chirurgischen Therapie (Amputation vs. innere Resektion) mit begleitender kurzer Antibiotikatherapie oder aber aus einer rein konservativen Therapie mit 6 Wochen Antibiotika. Nach Ausheilen des Ulcus ist zur Rezidivprophylaxe eine orthopädische Schuhversorgung angezeigt.

Schlüsselwörter: Diabetischer Fuss, Polyneuropathie, periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK), Prävention, Therapie

Chronische Ulcera der Füsse treten häufig auf. 2012 wurden in Deutschland rund 1% der Versicherten wegen eines Fussulcus behandelt, Tendenz steigend (1). Dabei sind insbesondere die diabetischen Fussulcera zu nennen: Weltweit entsteht alle 1.2 Sekunden ein neues diabetisches Fussulcus (DFU) (2). Nach Armstrong et al. entwickelt rund ein Drittel aller Diabetiker ein DFU (3). Unabhängig von der Wundursache sind Prävalenz bzw. Inzidenz von chronischen Wunden mit zunehmendem Alter erhöht (1). Ausser der gesundheitlichen Einschränkung für den Patienten belasten Fussulcera das Gesundheitssystem finanziell enorm. In den USA wurden 2014 knapp 15% der Medicare-Versicherten wegen einer Fusswunde und Folgezuständen behandelt: geschätzte Kosten 28 Milliarden US-Dollar (4). Armstrong berichtete 2017, dass die Kosten, die durch den diabetischen Fuss in den USA verursacht werden, mit rund 80 Milliarden Dollar vergleichbar mit den Kosten von malignen Tumorerkrankungen seien (3).

Unterscheidung «akutes» versus «chronisches» Ulcus

Eine einheitliche Definition für «akute» oder «chronische»Ulcera generell existiert leider nicht (5). Manche Autoren bezeichnen eine Wunde bereits nach drei Wochen fehlender Abheilung als chronisch (6), während andere Autoren diesen Begriff erst nach vier (7) oder sechs Wochen (8) ausbleibender Wundheilung verwenden. Für DFU wurde der Begriff «chronisches Ulcus» für den Fall ausbleibender Heilung nach vier Wochen definiert (9).

Ulcusformen

Diabetische Fussulcera, Druckulcera und vaskuläre Ulcera sind die häufigsten Formen von Fussulcera (10). Eine Studie aus Deutschland demonstrierte, dass vaskuläre Ulcera (64%) gefolgt von Druckulcera und DFU am häufigsten sind (1). Die vaskulären Ulcera haben mit chronisch-venösen Ulcera (CVU), arteriellen Ulcera sowie gemischt venös-arteriellen Ulcera drei Unterformen (10). In der Praxis der Autoren in der Orthopädie ist das diabetische Fussulcus mit Abstand die häufigste auftretende Ulcusform, weswegen in der Folge im Besonderen auf die DFU eingegangen wird.

Epidemiologie der DFU

Die Inzidenzrate für diabetische Fussulcera beträgt rund 2% pro Jahr, die Lebenszeitinzidenz liegt zwischen 19 und 34% (2). Prädisponierende Faktoren für die Ulcusentwicklung sind Polyneuropathie, periphere arterielle Verschlusskrankheit und Fussdeformitäten (11). Ohne das Vorliegen einer dieser Faktoren zählen Personen mit Diabetes nicht zur Risikogruppe (11). Die Hälfte der Personen mit einem DFU durchläuft eine diabetische Fussinfektion (DFI), aus dieser Gruppe benötigen wiederum letztlich rund 20% eine Amputation (2). Entsprechend ist auch das Lebenszeitrisiko, eine Amputation an der unteren Extremität zu benötigen, bei Diabetikern zehn- bis vierzigfach erhöht (12). Oftmals muss am gleichen Fuss sogar erneut amputiert werden (13). Rund zwei Drittel der Majoramputationen respektive der Amputationen an den unteren Extremitäten werden im deutschsprachigen Raum bei Diabetikern durchgeführt (14, 15). Schliesslich weisen Patienten mit einem DFU mit 30.5% eine sehr ähnliche 5-Jahres-Mortalität wie Krebspatienten auf (3).

Pathogenese der DFU

Schlüsselfaktoren für die Entwicklung eines DFU sind die diabetische Polyneuropathie (PNP) und die periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK). Die drei Komponenten der PNP erhöhen das Ulcusrisiko (2, 16):

  • Die motorische PNP löst eine muskuläre Dysbalance durch den Verlust der intrinsischen Fussmuskulatur aus, was eine Krallenzehendeformität und Distalisierung des plantaren Fettpolsters zur Folge hat. Dies prädisponiert zu Ulcera dorsal am proximalen Interphalangealgelenk und plantar unter den Metatarsophalangealgelenken und den Zehenkuppen.
  • Die sensorische PNP reduziert die Schutzsensibilität oder führt zu deren vollständigem Verlust.
  • Die autonome PNP verringert zum einen die Schweisssekretion. Zum anderen löst sie einen AV-Shunt Mechanismus aus. Beide Konsequenzen der autonomen PNP trocknen die Haut aus, mit dem Resultat einer Neigung zu Rhagaden, und führen zur Ödembildung.

Wiederholte Mikrotraumata bewirken zuerst die Hyperkeratosenbildung und führen unbehandelt zum Fussulcus (2, 17). Die bei Diabetikern in ca. 50% vorhandene, vor allem crural gelegene pAVK können sowohl die Entstehung als auch das fehlende Abheilen von Fussulcera zusätzlich begünstigen (16, 18). Auch eine eingeschränkte Gelenkbeweglichkeit, wie z.B. bei verkürzter Wadenmuskulatur oder bei einer Grosszehengrundgelenksarthrose, begünstigt die DFU Bildung (16, 19–21).

Grundsätzliche Prophylaxestrategie bei DFU

Wie bei allen anderen Krankheitsbildern ist auch bei DFU eine gezielte Prophylaxe die beste Strategie, um DFU und die Folgeschäden zu verhindern. In der Literatur wurden Risikofaktoren-basierte Systeme zur Risikostratifizierung beschrieben (16, 22). Das Ziel dieser Arbeiten war es, in Abhängigkeit vom Vorhandensein bekannter DFU-Risikofaktoren prophylaktische Massnahmen möglichst gezielt zur DFU-Verhinderung einzusetzen. Das IWGDF-Risikostratifizierungssystem wird in der täglichen Praxis der Autoren verwendet (11) (Tab. 1) und orientiert sich am Vorhandensein von

  • Verlust der Schutzsensibilität/Polyneuropathie?
  • periphere arterielle Verschlusskrankheit?
  • Fussdeformität/eingeschränkte Beweglichkeit?
  • sonstige Risikofaktoren: früheres Ulcus oder frühere Amputation? Terminale Niereninsuffizienz?

Die IWGDF hat relativ breite Intervalle formuliert. In unserer Erfahrung hat es sich bewährt, zum einen eher die kurzfristigeren Zeitabstände zu verwenden und zum anderen Podolog/-innen und/oder Wundexpert/-innen in diese Kontrollen aktiv mit einzubinden. Wir halten es nur dann für opportun, die längeren vorgeschlagenen Zeitabstände zu verwenden, wenn die Patient/-innen über einen längeren Zeitraum ein hohes Mass an Eigenverantwortung resp. eine gute Adhärenz zu den Prophylaxe- und allfälligen Therapiemassnahmen demonstriert haben.

Präventionsmassnahmen bei DFU

Fünf Punkte wurden von der IWGDF als Schlüsselelemente zur Prävention von DFU definiert und auch in der neuesten Version von 2023 aufrechterhalten (11):
1. Identifizierung des gefährdeten Fusses
2. Regelmässige Kontrolle und Untersuchung des gefährdeten Fusses
3. Aufklärung von Patienten, Angehörigen und medizinischem Fachpersonal
4. Sicherstellung des routinemässigen Tragens geeigneten Schuhwerks
5. Behandlung von Risikofaktoren für eine Ulceration

Identifizierung des gefährdeten Fusses

Grundsätzlich wird bei jedem Diabetiker mit bisher fehlenden Risikofaktoren für ein DFU (IWGDF-Risiko 0) ein jährliches Screening empfohlen (11). Neben einer gezielten Anamnese zählen dazu das Tasten der Fusspulse sowie die Überprüfung der Schutzsensibilität mittels Prüfung der Vibrationswahrnehmung oder Monofilament-Test. Ferner soll auf allfällige neue Fussdeformitäten gescreent werden. Auffällige oder unklare Befunde sollten spezialärztliche Beurteilungen nach sich ziehen und die Kontrollintervalle im Bedarfsfall nach neuer Risikostufe festgelegt werden (vergleiche Tab. 1).

Regelmässige Kontrolle des gefährdeten Fusses

Bei Vorliegen von Risikofaktoren für das Auftreten der DFU sollten die Screening-Untersuchungen häufiger und detaillierter erfolgen (vergleiche Tab. 1) (11). Auffälligkeiten wie ein DFU respektive eine präulceröse eingeblutete Hyperkeratose sollten umgehend der entsprechenden Therapie zugeführt werden. Wie eingangs erwähnt, ist es aus unserer Sicht opportun, die Kontrollen auf die Schultern mehrerer interprofessioneller Fachpersonen wie Wundexpert/-innen oder Podolog/­-in­­nen zu verteilen. Wichtig ist die klare Definition, welche ärztliche Person oder Institution den Lead in der Prävention hat.

Schulung von Patienten, Angehörigen und ­medizinischem Fachpersonal

Die Schulung von Patienten und Angehörigen ist ein weiterer wichtiger Punkt in der Prävention der DFU (11). Der Patient soll dabei in der täglichen Fusskontrolle, im Vermeiden des Barfussgangs und in einer korrekten Fusshygiene instruiert werden. Tägliches Füssewaschen, Abtrocknen der Interspatien sowie eine rückfettende Hautpflege sind wichtige Hygieneaspekte. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Kenntnis über die nächste Anlaufstelle für den Fall von Auffälligkeiten. Nicht zuletzt ist auch die Schulung des Gesundheitspersonals von wichtiger Bedeutung.

Sicherstellung des Tragens von geeignetem Schuhwerk

Angepasstes Schuhwerk soll Verletzungen und wiederholte Mikrotraumata im Bereich der Füsse verhindern. Generell sind eine regelrechte Passform der Schuhe und das Vermeiden von prominenten Nähten und Materialübergängen Grundelemente für die Minimierung des Verletzungsrisikos durch das Schuhwerk. Je nach Risikostufe werden zusätzliche orthopädieschuhtechnische Massnahmen eingesetzt (orthopädische Einlagen, orthopädische Schuhzurichtungen inkl. Fussbettungen, orthopädische Serienschuhe oder orthopädische Massschuhe) (23). Die Versorgungsstufe richtet sich nach dem Ausmass der Fussdeformität (23). Eine interprofessionelle Beurteilung gemeinsam mit Orthopädieschuhmachermeistern ist daher wichtig.

Finanzierung in der Schweiz
Durch die fallführende ärztliche Person sollte auch darauf geachtet werden, dass eine Anmeldung der orthopädischen Schuhversorgung an die IV (Erstversorgung im Alter < 65 Jahren bei Männern und < 64 Jahren bei Frauen) respektive an die AHV (sofern die Patienten älter als oben angegeben sind) erfolgt. Die IV bezahlt zwei Paar Schuhe pro Jahr mit einem Selbstbehalt von 120 CHF pro Jahr (egal ob orthopädische Serienschuhe oder orthopädische Massschuhe), die AHV neu seit 2024 immerhin ein Paar Schuhe pro Jahr mit einem Selbstbehalt von 25% (Anmerkung: Orthopädische Serienschuhe kosten ungefähr 1200 CHF, orthopädische Massschuhe zwischen 5000 und 8000 CHF pro Paar.). Bei Übertritt vom IV- ins AHV-Alter besteht Besitzstandsrecht. Orthopädische Einlagen als alleinige Versorgung werden aus der Grundversicherung nicht übernommen. Leider gibt es in der Branche vereinzelt schwarze Schafe, die den Patienten in Ermangelung einer Abrechnungsberechtigung gegenüber IV/AHV die orthopädischen Schuhe zum vollen Preis verkaufen, ohne auf die genannten Leistungen von IV/AHV hinzuweisen.

Biomechanik

Der plantare Druck beeinflusst die Entstehung eines DFU substanziell. Der Reduktion des plantaren Spitzendruckes sowie der Umverteilung der Druckdosis zwischen den verschiedenen Fussregionen kommt in der DFU-Prävention daher eine besondere Bedeutung zu. Gemäss Drerup et al. kann im Ballenbereich (wo das plantare Fettpolster nach seiner Distalisierung nicht mehr vorhanden ist) durch eine Kombination einer Fussbettung nach Mass mit einer Schuhzurichtung mit Mittelfussrolle und Sohlenversteifung der plantare Spitzendruck um fast die Hälfte reduziert werden (24).

Auch Scherkräfte tragen zu DFU bei. Die plantaren Scherkräfte sind bei Patienten mit diabetischer PNP und Kallusformation in der Push-off-Phase signifikant erhöht (25). Eine Schuhzurichtung mit Sohlenversteifung und Abrollhilfe reduziert die Bewegung in den Metatarsophalangealgelenken und die Bewegung zwischen dem Fuss selbst und der Innensohle. Dies vermindert Scherkräfte und senkt wiederum das DFU-Risiko.
Wie oben erwähnt, sollte die orthopädieschuhtechnische Versorgung auf die individuelle Patientenanatomie ausgerichtet werden, um eine grösstmögliche Adhärenz zu erreichen (26). Eine Versorgung kann in der DFU-Prophylaxe nur wirken, wenn sie auch getragen wird.

Behandlung von Risikofaktoren für ­Ulcerationen

Lokale Risikofaktoren für ein DFU sollen behandelt werden (17). Neben dem Abtragen von Hyperkeratosen und Anpassung des vorhandenen orthopädischen Schuhwerks zur lokalen Druckentlastung gehört dazu auch die Behandlung von Mykosen oder eines Unguis incarnatus. Der Effekt der plantaren Druckreduktion durch Hyperkeratosenabtragung wurde in der Literatur beschrieben (27).

Behandlung der DFU

Ein DFU sollte rasch und interprofessionell behandelt werden. Die sechs Säulen der Therapie des DFU beinhalten (28):
– Mechanische Entlastung
– Erkennen und Verbesserung von Durchblutungsstörungen
– Infektbehandlung
– Stoffwechselkontrolle und Behandlung von Komorbiditäten
– Lokale Ulcuskontrolle
– Aufklärung von Patienten und Angehörigen

Mechanische Entlastung

Schlüsselelement der DFU-Behandlung ist die mechanische Entlastung. Ohne mechanischer Entlastung kann man trotz optimaler Wundpflege oder Infektbehandlung nicht mit einer Ulcusheilung rechnen.
Die mechanische Entlastung ist stets individuell zu gestalten: Die Ursache für das Auftreten des DFU muss erörtert werden. Neben einer Beurteilung der Fussform gehören hierzu auch eine Analyse der Gelenkbeweglichkeit, eine Abfrage der Angewohnheiten des Patienten (Laufen im angepassten Schuhwerk versus Barfussgang) sowie eine Beurteilung des getragenen Schuhwerks.

Der Goldstandard in der mechanischen Entlastung ist der Vollkontaktgips mit gezielter Ulcusentlastung (29). Nach IWGDF-Leitlinien sollte dieser Vollkontaktgips geschlossen angelegt werden, was sich in der Praxis wegen der Notwendigkeit von Verbandswechseln oftmals schwierig gestaltet. Im Infektfall ist ein geschlossener Gips ohnehin obsolet. Alternativ können Verbandsschuhe verwendet werden, welche auch individuell auf die Bedürfnisse des Patienten angepasst werden können.
Für den Beginn der Entlastung mit Gips oder einer temporären Alternative sprechen der Volumenbedarf von Verbandsmaterial, fluktuierende Schwellungszustände sowie die benötigte rasche Verfügbarkeit der Versorgung (Anmerkung: Produktionsdauer orthopädischer Serienschuh: ca. 3 Wochen; orthopädischer Massschuh: ca. 10–12 Wochen). Individuelle Faktoren, wie beispielsweise ein erhöhtes Sturzrisiko, werden bei der Auswahl des Entlastungstools miteinbezogen (26). Eine operative Entlastung zur Druckreduktion kann bei ausbleibender Heilung erwogen werden. Als Beispiele sind die Achillessehnenverlängerung (30) zur Reduktion des plantaren Druckes im Vorfussbereich, eine Flexoren-Tenotomie bei Krallenzehen (31) oder Resektion des entsprechenden Mittelfussköpfchens (32) bei therapierefraktären plantaren Ulcerationen zu nennen.
Aufgrund der oben genannten Zeitspannen, die für die Fertigung der orthopädischen Schuhversorgung benötigt werden, muss rechtzeitig mit der Planung einer definitiven Lösung begonnen werden.

pAVK bei DFU

Wie eingangs erwähnt, sind ca. 50% der Patienten mit einem DFU gleichzeitig von einer oftmals asymptomatischen pAVK betroffen (18, 33). Daher sollte bei jedem DFU aktiv nach einer pAVK gesucht werden (mindestens: Anamnese und Palpieren der Fusspulse, möglichst zusätzlich mittels ABI, TBI und akustischer Doppleruntersuchung) (18, 34). Bei Verdachtsmomenten für eine pAVK soll obligat eine angiologische Beurteilung erfolgen und eine Revaskularisation in Erwägung gezogen werden (18, 35). Bei fehlender Ulcusheilung trotz regelrechter Behandlung innert 4–6 Wochen sollen bei jedem DFU eine Angiographie und gegebenenfalls Revaskularisierung in Betracht gezogen werden (18).

Das infizierte DFU

Ein Weichteilinfekt sollte anhand definierter klinischer Kriterien diagnostiziert werden (36). Bei Fehlen dieser klinischen Kriterien für eine Weichteilinfektion und bei Fehlen einer Osteomyelitis sollte auf die Gabe von Antibiotika verzichtet werden (37, 38). Der Verdachtsmoment einer Osteomyelitis kann durch die Kombination eines positiven «Probe-to-Bone-Test» (d.h. direkter Knochenkontakt einer durch die Wunde eingeführten sterilen Metallsonde), erhöhter laborchemischer Entzündungswerte sowie typischer Veränderungen in konventionellen Röntgenaufnahmen gestellt werden (36). Die Magnetresonanztomographie hat eine hohe Sensitivität in der Diagnostik einer Osteomyelitis (39) und dient bei der chirurgischen Planung in der präoperativen Bestimmung der Ausdehnung der Knochenbeteiligung (40). Zur Bestimmung des Schweregrades der Infektion wird die IWGDF/IDSA-DFI-Klassifikation empfohlen (36). Schwere Infektionen (d.h. alle Infektionen, die mit dem Vorhandensein von zwei oder mehr SIRS-Zeichen einhergehen) und moderate Infektionen (d.h. mehr als 2 cm Erythem um das DFU herum und/oder Gewebe tiefer als Haut und Subkutangewebe betroffen) mit relevanten Begleiterkrankungen wie schwere pAVK, Immunsuppression oder terminale Niereninsuffizienz sollten stationär behandelt werden (36). Ohne Knochenbeteiligung besteht die Therapie aus einem lokalen Debridement des infizierten Gewebes und einer Antibiotikatherapie von 1–2 Wochen nach Probenentnahme (36). Bei Nachweis einer Osteomyelitis kann zwischen einer konservativen Therapie (Antibiotika über 6 Wochen) und einer Entfernung des befallenen Knochens (was oftmals eine Amputation nach sich zieht, seltener eine innere Resektion nur des befallenen Knochens, bei der nur der infizierte Knochen entfernt wird [41]) abgewogen werden. Gasbildende Infekte, ausgedehnte Weichteilschäden, stark kompromittierte periphere Durchblutungsverhältnisse und Patientenfaktoren, die gegen eine 6 Wochen andauernde Antibiotikatherapie sprechen, lassen die Amputation bevorzugen. Insbesondere akrale Osteomyelitiden können erfolgreich konservativ therapiert werden (42). In naher Zukunft werden die Ergebnisse einer schweizerischen monozentrischen prospektiv-randomisierten Studie erwartet, im Rahmen derer die Antibiotikatherapiedauer bei diabetischen Fussinfektionen drastisch reduziert wurde (43). Das unter Abbildung 1–4 gezeigte Fallbeispiel zeigt einen 47 Jahre alten Patienten mit schlechter Adhärenz zur Entlastungstherapie mit dem Vollbild einer gasbildenden diabetischen Fussosteomyelitis, der septisch während der Nacht auf unserer Notfallstation vorstellig wurde. Die Therapie bestand in einer sofortigen Grosszehenamputation.

Stoffwechselkontrolle und Behandlung von Komorbiditäten

Komorbiditäten wie Ödeme oder Mangelernährung sollten therapiert werden, um die Abheilung eines DFU zu begünstigen (44). Natürlich ist auch eine gute Blutzuckereinstellung für das Abheilen des DFU anzustreben (45).

Lokale Ulcusversorgung

Ein DFU sollte regelmässig durch medizinisches Fachpersonal debridiert werden (mindestens wöchentlich) (46) und unter der Anwendung des «Standard of care» der Wundversorgung behandelt werden (47). Bei fehlendem Abheilen einer DFU-Wunde innert 4 bis 6 Wochen unter adäquater Therapie muss das DFU anhand der oben genannten Punkte reevaluiert und auch eine sogenannte Advanced Wound Therapy in Betracht gezogen werden (28).

Weiterführende Informationen für Patient

Während der Patient natürlich in der Selbstbehandlung des DFU instruiert werden sollte, müssen er und gegebenenfalls die Angehörigen auch über sogenannte Red Flags für Infekte instruiert werden: Fieber, Schüttelfrost, Verschlechterung des DFU und Hyperglykämie sind besonders zu nennen (44). Bei fehlender Mobilisationsfähigkeit sollte auf den Schutz der nicht betroffenen Gegenseite (z.B. durch ein Fersenentlastungskissen) hingewiesen werden (44).

PD Dr. med. Felix Waibel

Leitender Arzt
Technische und Neuro-Orthopädie
Universitätsklinik Balgrist
Forchstrasse 340
8008 Zürich

felix.waibel@balgrist.ch

Dr. med., M.Sc. Madlaina Schöni

Universitätsklinik Balgrist
Zürich

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Osteochondrale Läsionen am Talus

Der Talus weist eine vergleichsweise hohe Inzidenz von osteochondralen Läsionen (OCL) auf, was unter anderem auf spezifische anatomische Gegebenheiten zurückzuführen ist. Eine OCL des Talus kann posttraumatisch oder ohne erkennbare Ursache (primär) auftreten. Die Beschwerden der Patienten sind oft unspezifisch, umso wichtiger ist eine exakte klinische Untersuchung. Diese beinhaltet unter anderem die Beurteilung des Rückfuss-Alignements, die antero-laterale und antero-mediale Palpation bei leicht plantar flektiertem Sprunggelenk sowie die Beurteilung der Stabilität. Neben der standardisierten Röntgenuntersuchung stehen weiterführende bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomographie (MRI) und die Arthro-Computertomographie (CT) des Sprunggelenkes zur Verfügung. Operative Therapien sind insbesondere bei symptomatischen Patienten mit instabiler OCL zu überdenkenden. Neben Knorpel-rekonstruktiven Interventionen sind z.B. bei wiederkehrenden Schmerzen auch Versteifungen oder die prothetische Versorgung möglich.

Schlüsselwörter: Talus, osteochondrale Läsionen (OCL), posttraumatisch, Bildgebung, Therapie

Ätiologie und Pathogenese – was muss man wissen?

Osteochondrale Läsionen (OCL) sind Defekte, welche den subchondralen Knochen und den darüberliegenden Knorpel betreffen (1). Der Talus ist neben dem Knie und dem Ellenbogen vergleichsweise häufig von einer OCL betroffen. Dieser Umstand lässt sich unter anderem auf spezifische anatomische Gegebenheiten zurückführen. So sind bis zu 60% des Talus von Knorpel bedeckt, wobei die chondrale Blutversorgung generell für Störungen prädestiniert ist. Dazu kommt, dass die Makroperfusion des Talus komplex und die Dicke des Knorpels vergleichsweise dünn ist. Obwohl die Genese einer OCL am Talus vielfältig ist, findet sich bei vielen Patienten ein traumatischer Ursprung (z.B. Distorsionen oder Frakturen des Sprunggelenkes) (1). Allerdings kann eine OCL auch «primär» und daher ohne erkennbare Ursache auftreten. Eine primäre OCL des Talus betrifft vorzugsweise Patienten in der zweiten Lebensdekade, wobei keine geschlechtliche Prädisposition besteht. Die am häufigsten von einer OCL betroffenen Zonen am Talus sind der centro-laterale und der centro-mediale Anteil des Domes. Interessanterweise findet sich bei lateralen Läsionen häufiger ein traumatischer Ursprung als bei medialen Läsionen (1).

Klinische Untersuchung und Bildgebung – was ist relevant?

Ausgenommen von akuten traumatischen Läsionen sind die von Patienten geschilderten Beschwerden bei symp­tomatischer OCL oft unspezifisch. Meistens werden Schmerzen, rezidivierende Schwellzustände sowie ein Steifigkeitsgefühl angegeben. Additiv kann es zu einem Einklemmphänomen kommen, welches z.B. durch instabile Knorpelanteile verursacht wird. In der Anamnese sollte nach stattgehabten Distorsionen gefragt werden, was gegebenenfalls versicherungstechnisch relevant ist. Der klinische Untersuch beinhaltet die Beurteilung des Rückfuss-Alignements im Stehen (typischerweise leicht valgisch) sowie beim Zehenspitzenstand auf dem betroffenen Bein (typischerweise leicht varisch). Eine Palpation sollte im Bereich des Sprunggelenkes anterolateral und anteromedial erfolgen, wobei der Fuss vorzugsweise in leichter Plantarflexion gehalten wird (bessere Exposition einer möglichen OCL). Die Beweglichkeit und die Stabilität des Sprunggelenkes müssen im Seitenvergleich beurteilt werden; zudem sollte die Funktion/Kraft der periartikulären Sehnen (Tibialis-posterior-Sehne und Peronealsehnen) getestet werden. Abschliessend ist die Beurteilung der peripheren Sensibilität und Durchblutung empfohlen.

Sollte der Verdacht auf eine OCL gestellt werden, ist eine Bildgebung via standardisierter Röntgenuntersuchung empfohlen. Oft reicht eine belastende antero-posteriore (AP) Aufnahme des Sprunggelenkes sowie eine belastende laterale Aufnahme des Fusses (Abb. 1). Soll eine Deformität des Fusses weiter abgeklärt werden, kann zusätzlich eine belastende dorso-plantare (DP) Aufnahme des Fusses erfolgen (Abb. 1). Bei Vorliegen einer OCL können in der AP-Aufnahme des Sprunggelenks oft Zysten im medialen oder lateralen Aspekt des Talusdomes gesehen werden (Abb. 1). Allerdings zeigen bis 50% der Patienten mit einer symptomatischen OCL ein unauffälliges Röntgenbild (1). Die weiterführende Bildgebung besteht je nach Beschwerden aus einer Magnetresonanztomographie (MRI) oder einer Arthro-Computertomographie (CT mit vorgängiger Injektion von Kontrastmittel in das Sprunggelenk). Während das MRI eine bessere Beurteilung des subchondralen Knochens sowie der periartikulären Strukturen (Sehnen und Bänder) zulässt, kann im Arthro-CT die Integrität des Knorpels besser beurteilt werden (Abb. 2). Die Durchführung einer der zwei genannten Untersuchungen reicht meistens für eine Beurteilung aus.

Anlaufstelle Hausarztpraxis – und nun?

Sollte nach sorgfältiger Anamnese und klinischer Untersuchung der Verdacht auf eine OCL gestellt werden, ist die Durchführung einer Röntgenuntersuchung in der Hausarztpraxis sinnvoll. Es sollte darauf geachtet werden, dass die Röntgenbilder von guter Qualität sind, daher standardisiert und unter Belastung (bessere Beurteilung der Achsen) durchgeführt werden. Eine Röntgenuntersuchung ist insbesondere bei vorangegangen Traumata sinnhaft, um allfällige Begleitverletzungen wie ossäre Avulsion zu diagnostizieren. Sollte eine zystische Läsion im Bereich des Talus festgestellt werden, ist die Zuweisung an einen Spezialisten empfohlen. Nicht zum Spezialisten müssen Patienten geschickt werden, bei denen eine mögliche OCL als Zufallsbefund (daher asymptomatisch) entdeckt wird.

Zuweisung zum Spezialisten – wann und weshalb?

Die Zuweisung zum Spezialisten sollte, wie bereits erwähnt, bei sichtbaren Zysten im Röntgen und dazu passenden Symptomen erfolgen. Da ein erheblicher Teil der symptomatischen Patienten keine Auffälligkeiten im Röntgenbild zeigt, sollte die Zuweisung bei entsprechender Klinik jedoch grosszügig erfolgen. Bei der Zuweisung ist darauf zu achten, dass vorhandene Röntgenbilder zur Verfügung gestellt werden. Dadurch können Kosten sowie eine vermehrte Strahlenbelastung des Patienten vermieden werden. Grundsätzlich kann eine weiterführende Diagnostik bereits angemeldet/durchgeführt werden. Da beide Optionen, MRI und Arthro-CT, zur Verfügung stehen, lohnt sich eine Anfrage beim Spezialisten bezüglich der Präferenz. Die Besprechung und Etablierung der Therapie sollten nach erfolgter weiterführender Bilddiagnostik vom Spezialisten übernommen werden.

Konservative oder operative Therapie – was ist sinnvoll?

Ob eine konservative Therapie zu empfehlen ist, hängt von diversen Faktoren ab. Bei Erstauftreten von verhältnismässig geringen Beschwerden ohne Unterspülung des Knorpels in der erweiternden Bildgebung kann oft eine konservative Therapie durchgeführt werden. Diese kann, neben der Physiotherapie, zur Verbesserung der Sprunggelenkstabilität via Kräftigung der periartikulären Muskeln/Sehnen ebenfalls eine Schuheinlage nach Mass zum Ausgleich von subtilen Deformitäten (z.B. Pes cavovarus oder Pes planovalgus) beinhalten. Auch Infiltrationen zum Beispiel mit Cortison können vorübergehend eine Verbesserung bringen, mit dem Ziel der Etablierung einer suffizienten Physiotherapie. Die Option einer Ruhigstellung im Unterschenkelgips mit Entlastung kann situativ ebenfalls erwogen werden, zum Beispiel bei einer frischen posttraumatischen OCL (1).

Die operativen Therapien lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen: Interventionen mit dem Ziel der Knorpelregeneration und Eingriffe, die auf den Ersatz abzielen. Zu den regenerativen Optionen zählen Operationen zur Stimulierung des Knochenmarkes mit konsekutiver Bildung von Bindegewebe, das als Knorpelersatz dient (2). Dazu gehören neben der oft arthroskopisch durchgeführten Mikrofrakturierung (Abb. 3) auch speziellere Techniken wie die Minced-Cartilage-Rekonstruktion (Abb. 3). Je nach Lokalisation und Grösse des Befundes muss zur Durchführung der Rekonstruktion ein offener Zugang oder die Osteotomie des medialen/lateralen Malleolus erfolgen (3). Ebenfalls weitverbreitet ist die autologe matrixinduzierte Chondrogenese (AMIC-Plastik), wo eine Membran auf den debridierten Befund aufgetragen wird (4). Diese simple Methode hat komplexere Verfahren wie die autologe Chondrozytenimplantation (ACI) oder matrixinduzierte autologe Chondrozytenimplantation (MACI) teilweise abgelöst.

Der komplette Ersatz des Knorpels und subchondralen Knochens kann zum Beispiel via Implantation eines vaskularisierten autologen Femurspanes erfolgen (Abb. 3) (5). Der Eingriff ist technisch anspruchsvoll und ressourcenintensiv. Angewendet wird diese Rekonstruktion in erster Linie bei Revisionen oder ausgedehnten Befunden. Letztlich sind Eingriffe zur Entlastung eines Gelenkkompartimentes oder Korrektur einer relevanten Deformität via Osteotomien (supra- oder inframalleolär) wie auch gelenkdestruktive Eingriffe (OSG-Arthrodese oder-Prothese) zu nennen (Abb. 4). Auch diese Optionen werden eher bei Revisionen oder bei weit fortgeschrittenen Befunden und partiell endgradiger Arthrose angewendet (Abb. 4).

Additiv zu den einzelnen Verfahren müssen situativ Zusatzeingriffe wie eine Bandplastik erfolgen, um zum Beispiel eine relevante Instabilität des Sprunggelenkes zu beheben. Grundsätzlich sind die verhältnismässig kleineren regenerativen Eingriffe mit einer akzeptablen Komplikationsrate behaftet, während grössere Rekonstruktionen und gelenksdestruierende Eingriffe anfälliger für Komplikationen sind (Tab. 1).

Dr. Doria Juric

Klinik für Orthopädie und Traumatologie
Universitätsspital Basel

PD Dr. med. Nicola Krähenbühl

Teamleitung Fuss- und Sprunggelenkorthopädie
Universitätsspital Basel
Klinik für Orthopädie und Traumatologie
Spitalstrasse 21
CH-4031 Basel

nicola.kraehenbuehl@usb.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Der Knicksenkfuss bei Kindern – ein Blick auf Mythen und deren Evidenz

Im Zusammenhang mit dem kindlichen Knicksenkfuss begegnen uns im medizinischen Alltag regelmässig allgemeine Aussagen, deren Wahrheitsgehalt nicht bekannt ist. Einige dieser Mythen, welche die Epidemiologie, den natürlichen Verlauf, die Langzeitpro­gnose sowie nicht chirurgische Interventionen betreffen, werden in diesem Artikel mit Blick auf deren Evidenz näher betrachtet.

Schlüsselwörter: Knicksenkfuss, Evidenz, Epidemiologie, Langzeitprognose, Interventionen

Einführung

Die Sorge um die Füsse ihrer Kinder ist einer der häufigsten Gründe, weswegen Eltern mit ihren Kindern für eine kinderorthopädische Beurteilung vorstellig werden (1). Der Wunsch nach fachärztlicher Beurteilung besteht einerseits aus der Unsicherheit heraus, nichts verpassen zu wollen, und andererseits, da teilweise Beschwerden vorliegen, wegen denen Familien Rat suchen.

Die Definition, was ein Knicksenkfuss eigentlich ist, bleibt überraschenderweise nach wie vor auch unter Experten umstritten. Der Knicksenkfuss imponiert klinisch durch eine Abflachung der Fusslängswölbung, oft in Kombination mit einer Valgusstellung der Ferse (Abb. 1).

Ausgeprägtere Formen weisen zusätzlich eine Abduktion des Vorfusses gegenüber dem Rückfuss und eine Verkürzung der Wadenmuskulatur auf (2, 3). Hinsichtlich der Funktion und Beweglichkeit unterscheiden wir grundsätzlich eine flexible Form von einer rigiden Form. Letztere ist bei der passiven Untersuchung oder bei der Untersuchung des Zehenstandes («Jack-Test») nicht reversibel (Abb. 2). Die extreme Ausprägung stellt der klassische rigide kongenitale Plattfuss dar, der in der Regel frühzeitig behandelt werden sollte.
Ein Knicksenkfuss kann entweder als isoliert oder als Teil eines umfassenderen Syndroms auftreten, insbesondere bei Personen mit vermindertem Muskeltonus, Hyperlaxität oder beeinträchtigter neuromuskulärer Kontrolle. Die Fussform allein sagt jedoch nichts darüber aus, ob eine behandlungsbedürftige Situation vorliegt.

In der Erwachsenenorthopädie konzentrieren wir uns fast ausschliesslich auf die Behandlung von Problemen, die bereits manifest sind und Beschwerden verursachen. Erwachsene Patienten suchen typischerweise medizinische Hilfe auf, wenn sie bereits Schmerzen oder funktionelle Einschränkungen haben. Bei Kindern stellt sich jedoch eine zusätzliche, oft schwierigere Frage: Welche asymptomatischen Befunde müssen behandelt werden, um spätere Probleme zu vermeiden?
Mythen spielen eine bedeutende Rolle, wenn wir nach Erklärungen für Phänomene suchen, die wir nicht vollständig verstehen. Wir sind geneigt, Ursprünge und Ursachen bestimmter Probleme zu erklären, um Ungewissheiten und Ängste abzubauen sowie das eigene ärztliche Handeln zu rechtfertigen. Eine wesentliche Herausforderung besteht darin, traditionelles, mythologisch begründetes Wissen mit wissenschaftlich fundierter Medizin abzugleichen und dabei Sensibilität gegenüber den Sorgen der Eltern zu zeigen. Einige dieser Mythen, die uns im medizinischen Alltag im Zusammenhang mit dem kindlichen Knicksenkfuss häufig begegnen und die die Epidemiologie, den natürlichen Verlauf sowie nicht chirurgische Interventionen wie orthopädische Einlagen und Orthesen sowie Physiotherapie betreffen, sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

Epidemiologie, natürlicher Verlauf und Langzeitprognose

Mythos: «Kinder mit Knicksenkfüssen sollten frühzeitig behandelt werden, um langfristig Probleme zu vermeiden»

Bei der Beurteilung kindlicher Knicksenkfüsse ist die Berücksichtigung des Alters essenziell wichtig. Epidemiologische Querschnittstudien legen nahe, dass der Knicksenkfuss in den ersten Lebensjahren die normale Erscheinungsform des Fusses darstellt (4). Die Angaben über die Prävalenzen von Knicksenkfüssen bei Kindern im Alter von 2–6 Jahren differieren in den verschiedenen Studien zwischen 37 und 97 % (Durchschnitt 46 %) (2, 4–7).

Obwohl die Schätzungen zur Häufigkeit des kindlichen Knicksenkfusses sehr unterschiedlich sind, besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Häufigkeit dieser Fussfehlstellung mit zunehmendem Alter der Kinder abnimmt (5, 8, 9). So durchläuft der Fuss eines Kindes eine Entwicklung, während er kontinuierlich ausreift. Staheli et al. dokumentierten in ihrer Beobachtungsstudie, dass 54 % der 3-jährigen und nur noch 26 % der 6-jährigen Kinder Knick­senkfüsse aufwiesen (8).

Bordin et al. berichteten, dass im Durchschnitt 16,4 % der Kinder im Alter von 10 Jahren Knicksenkfüsse hatten (10). Jungen sowie übergewichtige oder adipöse Kinder haben eine stärkere Tendenz zur Entwicklung eines Knicksenkfusses im Vergleich zu Mädchen und Kindern mit normalem Gewicht (6, 10). Schliesslich weisen etwa 15–20 % der Erwachsenen Knicksenkfüsse auf. Einer amerikanischen Studie zufolge seien ca. 1–2 % der Kinder mit Knicksenkfüssen symptomatisch (11).

Der flexible Knicksenkfuss stellt im Kindesalter in den meisten Fällen eine altersphysiologische Durchgangsform dar. Bei der Geburt ist ein plantares Fettpolster vorhanden, das den Raum entlang des medialen Längsgewölbes des Fusses ausfüllt und dessen flacheres Erscheinungsbild weiter betont. Dieses bildet sich im Laufe der Zeit zurück. Die altersbedingte, initial noch erhöhte femorale Antetorsion und das im Kleinkindalter alterstypisch auftretende X-Bein mit Valgusstellung am oberen Sprunggelenk führen zu entsprechenden Kompensationen im Fuss.

Da mit zunehmendem Alter die Häufigkeit der Knicksenkfüsse abnimmt, ist bei älteren Kindern eine differenzierte Betrachtung zunehmend wichtig. Füsse, die regelmässig symptomatisch sind, sollten genauer abgeklärt werden. Beschwerden können sich als Schmerzen im Bereich des Fussinnenrandes der Fusssohle, am Sprunggelenk oder als Druckstellen und Hautirritationen sonst unbelasteter Areale äussern. Auch eine vorzeitige Ermüdung mit reduzierter Ausdauer kann ein mögliches Symptom im Zusammenhang mit einem Knicksenkfuss sein.

Bei einer gering ausgeprägten Form des flexiblen Knick-senkfusses ist keine zusätzliche bildgebende Diagnostik notwendig. Bei ausgeprägten Befunden oder therapieresistenten Beschwerden ist eine radiologische Objektivierung zu empfehlen.

Key Point: Viele Kinder haben Knicksenkfüsse. Der Grossteil korrigiert sich im Verlauf. Nicht alle Knicksenkfüsse, die im Erwachsenenalter fortbestehen, sind symptomatisch. Viele Kinder wachsen aus dem Knicksenkfuss heraus, und in den meisten Fällen ist keine Behandlung notwendig. Langfristige negative Spätfolgen sind selten, wenn keine anderen zugrunde liegenden Probleme vorliegen.

Mythos: «Unbehandelte Knicksenkfüsse ­können später Knie-, Hüft- und Rücken­schmerzen verursachen»

Es wird oft befürchtet, dass Knicksenkfüsse später im Leben zwangsläufig zu Knie-, Hüft- und Rückenschmerzen führen. Während bekannt ist, dass schwere und unbehandelte Knicksenkfussdeformitäten das Risiko für muskuläre und skelettale Beschwerden erhöhen können, gibt es keine eindeutigen Beweise dafür, dass ein asymptomatischer Knicksenkfuss im Erwachsenenalter ernsthafte Spätschäden an anderen Körpersegmenten zur Folge hat.

Hingegen können bei Kindern mit Beeinträchtigungen der neuromuskulären Kontrolle, wie z.B. Zerebralparese, Muskeldystrophie oder Trisomie 21, Knicksenkfüsse sehr stark ausgeprägt sein, sodass sie durch die eingeschränkte Hebelwirkung zu einer Instabilität beim Laufen führen können (12, 13) (Abb. 3).
Diese Instabilität kann sich biomechanisch auf die darüberliegenden Segmente auswirken. Infolge Fehlbelastung von Knie, Hüfte und auch Rücken sind in diesen Fällen Überlastungen und damit negative Langzeitfolgen möglich (13, 14). Aus einer rein statischen Betrachtungsweise wird sich bei diesen Patienten keine sinnvolle Therapie ableiten lassen. Besonders in solchen Fällen ist die Betrachtung der funktionellen Auswirkungen essenziell wichtig. Diese erfolgt zum Beispiel durch eine funktionelle Bewegungsanalyse mittels instrumentierter Ganganalyse.

Knicksenkfüsse sind beim bewegungskompetenten Kind wahrscheinlich nicht alleiniger auslösender Faktor von Knie, Hüft- oder Rückenschmerzen im späteren Erwachsenenalter. Um funktionelle Zusammenhänge zu erfassen, reicht es nicht aus, den Knicksenkfuss statisch zu betrachten. Eine funktionelle Betrachtung mittels Bewegungs- bzw. Ganganalyse kann zusätzliche Informationen liefern. Die bisherigen Studien reichen bislang nicht aus, um einen kausalen Zusammenhang zwischen Fussfehlstellung und Gelenkschmerzen sicher zu klären (15).

Key Point: Es gibt keine ausreichenden Beweise dafür, dass unbehandelte Knicksenkfüsse bei den meisten Kindern zu Problemen an anderen Gelenken führen. In jedem Fall sollte darauf geachtet werden, ob Begleiterkrankungen vorliegen, die die neuromuskuläre Kontrolle beeinträchtigen und im Gesamtkontext behandlungsbedürftig wären.

Nicht chirurgische Interventionen

Mythos: «Knicksenkfüsse können durch das Tragen von ­Einlagen korrigiert werden»

Es gibt keine stichhaltigen Beweise dafür, dass die langfristige Verwendung von Einlagen oder Orthesen den flexi­blen Knicksenkfuss verbessern (16). Eine Reihe kritischer Untersuchungen dieser Behandlungsmethoden haben keine positiven Effekte auf die Fussform nachweisen können (17–20).
In einer prospektiven Studie mit einem Beobachtungszeitraum zwischen 3 und 5 Jahren wurde untersucht, ob die Aufrichtung flexibler Knicksenkfüsse bei Kindern durch Einlagen, Orthesen oder orthopädische Schuhanpassungen beeinflusst werden kann. Die Analyse der Röntgenbilder zeigte eine signifikante Verbesserung in den einzelnen Gruppen, einschliesslich der Kontrollgruppe. Es gab jedoch keinen signifikanten Unterschied zwischen den behandelten und unbehandelten Kindern (17). Eine weitere radiologische Studie von Penneau et al. (18) ergab ebenfalls keinen signifikanten radiologischen Unterschied zwischen barfüssigen Füssen und denselben Füssen mit vier verschiedenen Einlagen und Schuhmodifikationen.

Camurcu et al. (19) untersuchten den Einfluss von Einlagen auf die Lebensqualität von Kindern mit flexiblem Knick-­senkfuss und deren Eltern mithilfe des Oxford Ankle Foot Questionnaire (OxAFQ). Die Ergebnisse zeigten keine signifikanten Unterschiede in den OxAFQ-Scores der Kinder mit und ohne Einlagen. Interessanterweise hatten die Eltern von Kindern mit Einlagen signifikant niedrigere Scores bei den emotionalen Items als ihre Kinder. Dies zeigt, dass durch die Einlagenversorgung auch die Ängste der Eltern mitbehandelt wurden.

Obwohl 10 % der amerikanischen Kinder mit Knicksenkfüssen mit Einlagen behandelt werden, sind nur 1–2 % symptomatisch (11). Dies veranlasste die Autoren zu der Aussage, dass mehr als 90 % der Behandlungen unnötig waren. Angesichts der Kosten und der oft langjährigen Anwendung ist dies eine unnötig hohe Investition für Füsse, die sich ohnehin meist positiv entwickeln. Die Behandlung mit Einlagen sollte sich auf diejenigen konzentrieren, die symptomatisch sind oder bei denen Knicksenkfüsse zu funktionellen Problemen führen.

Key Point: Orthopädische Einlagen oder spezielle Schuhe haben keinen nachgewiesenen Einfluss auf die langfristige Aufrichtung des Fusses. Einlagen sollten nicht einfach verordnet werden, um dem Druck der Eltern nachzugeben.

Mythos: «Barfusslaufen fördert die positive Entwicklung von kindlichen Knicksenkfüssen»

Viele Eltern und auch Behandler glauben, dass Barfusslaufen die Fussgesundheit ihrer Kinder fördere und die Füsse stärke. Es gibt nur wenige wissenschaftliche Studien, die versucht haben, dieser Frage systematisch auf den Grund zu gehen. In einer indischen Studie analysierten Rao und Joseph (21) Fussabdrücke von 2300 Kindern im Alter von 4 bis 13 Jahren. Sie stellten fest, dass die Inzidenz von Knick­senkfüssen bei Kindern, die Schuhe trugen, höher war als bei barfuss laufenden Kindern. Sie leiteten daraus ab, dass das Tragen von Schuhen in der frühen Kindheit die Entwicklung eines normalen Längsgewölbes beeinträchtigen könnte.
Eccharri et al. (9) untersuchten Fussparameter von 1851 kongolesischen Kinder im Alter zwischen 3 und 12 Jahren und verglichen Stadtkinder, die Schuhe trugen, mit Kindern aus ländlichen Gebieten, die überwiegend barfuss liefen. Im Alter von 3 und 4 Jahren waren die meisten Füsse morphologisch flach. Der Anteil an Knicksenkfüssen nahm ähnlich wie in anderen Studien mit dem Alter bei beiden Geschlechtern ab. Jungen hatten eine grössere Neigung zu Knicksenkfüssen mit einem höheren Anteil an Knicksenkfüssen in städtischen Gebieten. Das Alter war jedoch der wichtigste Prädiktor für Knicksenkfüsse.

In einer pedobarografischen Studie verglichen Gimunova et al. (22) einzelne Fuss- und Gangparameter bei Kleinkindern, die entweder regelmässig Barfussschuhe oder herkömmliche Schuhe trugen. Sie beobachteten, dass Kinder, die Barfussschuhe trugen, einen höheren Fussgewölbeindex und einen kleineren Fussprogressionswinkel hatten, und folgerten unter Anerkennung methodischer Schwächen ihrer Studie, dass Barfussschuhe oder regelmässiges Barfusslaufen für die Aufrichtung der Füsse förderlich sein könnten.
Die vorliegenden Studien ergeben Hinweise, dass das Barfusslaufen möglicherweise vorteilhaft ist. Es gibt jedoch methodische Schwierigkeiten, diese Fragestellung wissenschaftlich zu untersuchen. Zudem sind longitudinale Studien, die die langfristigen Auswirkungen des Schuhtragens gegenüber dem Barfusslaufen untersuchen, aufgrund der heutigen Lebensbedingungen mit vorwiegend beschuhten Kindern wohl kaum durchführbar.

Key Point: Es gibt Hinweise, dass Barfusslaufen für die Fussentwicklung förderlich sein kann. Daher sollte Kindern dieses Bewegungserlebnis regelmässig ermöglicht werden.

Mythos: «Durch richtiges Schuhwerk kann die Entwicklung eines Knicksenkfusses positiv beeinflusst werden»

Es ist eine weitverbreitete Annahme, dass die Wahl des adäquaten Schuhwerks die Entwicklung von Knicksenkfüssen verhindern oder positiv beeinflussen kann. Die Frage, welche Schuhe für Kinder mit Knicksenkfüssen am besten geeignet sind, ist nach wie vor umstritten. Die Diskussion reicht von Barfusslaufen ohne jegliche Stabilisation bis hin zu festen Schuhen mit starker Unterstützung. Wie oben ausgeführt, gibt es Hinweise, dass das Barfusslaufen zu einer gesunden Fussentwicklung beitragen kann (21, 9, 22). Ähnlich wie bei den orthopädischen Schuheinlagen konnte kein signifikanter Einfluss verschiedener Schuhmodifikationen auf die Entwicklung der Fusswölbung nachgewiesen werden (17).

Andererseits gibt es Füsse, die ausreichend passive Stabilität benötigen. Insbesondere bei älteren und schwereren Kindern kann flexibles Schuhwerk mit weichem Sohlenmaterial und fehlender Fersenkappe zu Symptomen wie Schmerzen an Füssen und Knien führen (Abb. 4). In diesen Fällen kann der Wechsel zu stabilerem Schuhwerk oft ausreichen, um die Symptome zu beheben. Schuhe mit stabiler Sohle und guter Fersenstütze bieten in diesen Fällen die notwendige Unterstützung und können helfen, die Füsse in einen kompensierten Zustand zu überführen.

Stellt man die Indikation einer Einlagenversorgung, ist es in jedem Fall wichtig, dass das Schuhwerk ausreichend stabil ist, damit die Einlagen ihre korrigierende Wirkung entfalten können. Ohne stabile Schuhe können die Einlagen nicht richtig funktionieren, und die gewünschten Effekte bleiben aus.

Key Point: Die Frage nach dem «richtigen» Schuhwerk für Kinder mit Knicksenkfüssen ist nicht eindeutig zu beantworten. Ein gesunder Fuss ohne Beschwerden verträgt eine grosse Bandbreite unterschiedlicher Schuharten, sei es in fester oder flexibler Ausführung. Im Falle von Symp­tomen ist in jedem Fall das Schuhwerk zu überprüfen. Eine Einlagenversorgung sollte mit ausreichend stabilem Schuhwerk kombiniert werden.

Mythos: «Physiotherapie kann die Aufrichtung von ­Knicksenkfüssen verbessern»

Oft besteht seitens der Eltern der Wunsch, die Füsse ihrer Kinder physiotherapeutisch behandeln zu lassen. Vor allem im Internet gibt es zahlreiche Empfehlungen für fussgymnastische Übungen, die die Füsse kräftigen und aufrichten sollen. Auch wenn die gezielte Beübung der Muskelkraft insbesondere des M. tibialis posterior, des M. peroneus longus und der intrinsischen Muskulatur ein plausibles Behandlungskonzept darstellt, fehlt bislang der Nachweis der Wirksamkeit einer solchen Behandlung. Die meisten Studien wurden vor allem mit erwachsenen Probanden durchgeführt. Es gibt keine gesicherte Evidenz, die den Nutzen von Physiotherapie bei Kindern mit asymptomatischen Knicksenkfüssen nachweist. Die oben erwähnte Tendenz zur Spontankorrektur in den ersten Lebensjahren erschwert zudem den Wirkungsnachweis dieser Therapien. Wird bei Kindern eine allgemeine Muskelschwäche festgestellt oder besteht ein Zusammenhang mit einer neurologischen Grundproblematik, kann Physiotherapie zur Funktionsverbesserung oder zum Funktionserhalt sinnvoll sein.

Auch bei symptomatischen Kindern kann Physiotherapie sinnvoll sein. Im Vordergrund der Behandlung steht dabei die Behebung der Symptome und nicht die Verbesserung der Fussform. Die beim Knicksenkfuss oftmals verkürzte Wadenmuskulatur kann aufgedehnt bzw. Heimübungen dazu instruiert werden. Nach Operationen ist insbesondere nach längeren Phasen der Ruhigstellung Physiotherapie zur Kräftigung der Unterschenkel- und Fussmuskulatur zu empfehlen. Jedoch wird auch hier der klare Nachweis des Nutzens dieser Therapieform wohl aufgrund der zahllosen Nachbehandlungsprotokolle ­methodisch nicht möglich sein.

Key Point: In den meisten Fällen ist Physiotherapie nicht erforderlich, da viele Kinder ohne Intervention eine normale Fussentwicklung durchlaufen. Physiotherapie kann in symptomatischen Fällen hilfreich sein und insbesondere auch, wenn eine Muskelschwäche oder zusätzliche Erkrankungen vorliegen.

Dr. med. Bernhard Speth

Kinder- und Jugendorthopädie Speth
KSA am Bahnhof
Bahnhofplatz 3c
5000 Aarau

bernhard.speth@hin.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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