Osteoporosetherapie – Update 2025, Teil 1: Antiresorptive und osteoanabole Therapieoptionen

Einführung

Die Behandlung der Osteoporose hat sich in den letzten Jahren stark verändert, insbesondere durch die Verfügbarkeit neuer osteoanaboler Substanzen (Abaloparatid, Romosozumab) und zahlreicher Generika von Teriparatid. Zudem haben neue Behandlungssequenzen, die Differenzierung der Erstlinientherapie gemäss dem Frakturrisiko (mässig, hoch oder sehr hoch) und das Konzept der therapeutischen Zielgrösse – basierend auf der Knochenmineraldichte (BMD) – Eingang in den klinischen Alltag gefunden. Die Zeiten, in denen alle Patienten routinemässig auf unbestimmte Zeit mit Bisphosphonaten behandelt wurden, sind also definitiv vorbei. Diese Änderungen haben jedoch eine Komplexität eingeführt, die für Ärzte, die nicht auf Osteoporose spezialisiert sind, manchmal entmutigend ist und zu einem Zögern, eine Osteoporosebehandlung einzuleiten, führen kann. Auch die Angst vor Nebenwirkungen bestimmter Behandlungen, wie z. B. der Osteonekrose des Kiefers, die bei der Behandlung von Osteoporose äusserst selten vorkommt (1/10 000 Behandlungsjahre), hält Patienten und Ärzte davon ab, diese Krankheit richtig zu behandeln. Das Ergebnis ist, dass trotz nachgewiesener frakturreduzierender Wirkung (1) nur etwa eine von fünf Frauen, die an Osteoporose leiden, in der Schweiz behandelt wird. Noch bedauerlicher ist, dass nur eine Minderheit der fast 100 000 Brüche, die jährlich in der Schweiz auftreten, zur Diagnose und Behandlung einer Osteoporose führt, auch wenn die Entwicklung eines nationalen Netzwerks von Fracture Liaison Services (FLS) unter der Schirmherrschaft der Schweizerischen Vereinigung gegen Osteoporose (SVGO/ASCO) hierfür langsam Abhilfe schafft.

Präventive Massnahmen wie die Beachtung einer genügenden Kalziumzufuhr bzw. eine bedarfsgerechte Kalzium-/Vitamin-D-Supplementation bilden die Grundlage jeder Osteoporosebehandlung und sind für eine optimale Wirkung medikamentöser Behandlungen wichtig.

In diesem Übersichtsartikel sollen die Wirkmechanismen und die klinische Wirksamkeit antiresorptiv und osteoanabol wirkender Präparate zusammengefasst und deren Stellenwert in der Osteoporosetherapie diskutiert werden.

Medikamentöse Therapieoptionen

Antiresorptiv-wirkende Therapien

Menopausale Hormontherapie
Zu den antiresorptiven Therapien zählen Medikamente, die die Knochenresorption, also den durch Osteoklasten vermittelten Knochenabbau, verhindern (Tab 1). Die ­postmenopausale Hormontherapie (Östrogene mit/ohne Progesteron), die oft als milde antiresorptive Therapie gewertet wird, geriet in den letzten Jahren zu Unrecht in Vergessenheit, obwohl sie auch bei Frauen einer Normalpopulation ohne erhöhtes Frakturrisiko das Risiko für Wirbel-, periphere und Hüftfrakturen signifikant um 25–35 % senkt (2). Die Hauptindikation der postmenopausalen Hormontherapie ist in erster Linie die Reduktion von klassischen klimakterischen Beschwerden wie Hitzewallungen, Schlafstörungen oder Stimmungsschwankungen, aber eine tiefe Knochendichte ist im klinischen Alltag oft ein zusätzliches Argument für deren Einsatz.

Selektive Östrogen-Rezeptor-Modulatoren (SERM)
Selektive Östrogen-Rezeptor-Modulatoren (SERM) haben sowohl agonistische (Knochen) als auch antagonistische Eigenschaften (Brust, Gebärmutter) am Östrogenrezeptor. In der Schweiz ist einzig Raloxifen (Evista©) in einer Dosis von 60 mg täglich zugelassen. Bei postmenopausalen Frauen mit Osteoporose senkt Raloxifen das Risiko vertebraler Frakturen um ca. 40 % (3). Eine Reduktion von nicht vertebralen Frakturen konnte auch in der Langzeitanwendung nicht beobachtet werden, auch wenn die BMD an der Hüfte, verglichen mit Placebo, leicht zunimmt (4). Der Effekt der Therapie hält auch 8 Jahre nach Therapiebeginn noch an und scheint insbesondere bei jüngeren postmenopausalen Frauen vorhanden zu sein (5). Als positive Nebenwirkung vermindert Raloxifen das Risiko von ER-positivem Brustkrebs und garantiert einen adäquaten Endometriumschutz, was die Anwendung insbesondere bei Frauen mit erhöhtem Brustkrebsrisiko attraktiv gestaltet. Andererseits können klimakterische Beschwerden unter Raloxifen verstärkt sein, und es besteht wie bei einer oralen postmenopausalen Hormontherapie ein erhöhtes Risiko für venöse thromboembolische Ereignisse.

Bisphosphonate
Die Bisphosphonate sind die bekanntesten und meist angewendeten Medikamente in der Prävention und Therapie der Osteoporose. Bisphosphonate werden in der Knochenoberfläche eingebaut, wodurch sie eine lange Halbwertszeit (1–10 Jahre) aufweisen. Risedronat und Alendronat werden peroral verwendet, Zoledronat intravenös appliziert, und bei Ibandronat gibt es eine orale wie auch eine intravenöse Formulierung. Bisphosphonate reduzieren das Risiko von vertebralen Frakturen um rund 50–70 % und von Hüftfrakturen um ca. 30–50 % (6). Orale Bisphosphonate können zu Reizungen im oberen Gastrointestinaltrakt (Refluxbeschwerden) führen, die mit korrekter Einnahme reduziert, aber nicht immer vollständig eliminiert werden können. Auch für die Wirksamkeit ist eine korrekte Einnahme essenziell, da die Bioverfügbarkeit mit ungefähr 0,6 % sehr tief ist.

Werden orale Bisphosphonate nicht toleriert oder ist die Therapieadhärenz nicht gegeben, hat sich der Einsatz parenteraler Bisphosphonate bewährt. Beachtenswert sind Daten zu Zoledronat mit dokumentierter frakturreduzierender Wirkung bei älteren Frauen nach Schenkelhalsfraktur und der Beobachtung der Mortalitätssenkung und Reduktion des kardiovaskulären Erkrankungsrisikos (1, 7).

Zoledronat kann einige Tage nach der Infusion zu grippe-ähnlichen Symptomen führen, die jedoch selbstlimitierend sind und symptomatisch behandelt werden (NSAID, Paracetamol). Oft wird diese Nebenwirkung nur bei der ersten Infusion beobachtet. Kieferosteonekrosen (0.2–10 pro 10 000 Patientenjahre) und atypische Femurfrakturen sind unerwünschte Ereignisse, die selten nach Bisphosphonaten auftreten. Die Häufigkeit atypischer Femurfrakturen steigt mit der Dauer der Bisphosphonattherapie (2–5 pro 10 000 Patientenjahre in den ersten 3 Jahren; 13 pro 10 000 Patientenjahre bei einer Behandlungsdauer von > 8 Jahren) (8). Das Risiko einer atypischen Femurfraktur sinkt im ersten Jahr nach Absetzen eines oralen Bisphosphonats um die Hälfte und um mehr als 80 % nach 3 Jahren, was darauf hindeutet, dass eine Medikamentenpause bei einer langfristigen Bisphosphonatbehandlung angemessen ist (1).

Denosumab
Denosumab ist ein monoklonaler Antikörper, der den RANK-Liganden reversibel bindet und dadurch die Differenzierung, die Aktivität und das Überleben der Osteoklasten hemmt. Denosumab führt klinisch zu einer schnellen und praktisch vollständigen Hemmung der Knochenresorption, einer kontinuierlichen Zunahme der Knochendichte über 10 Jahre und einer Reduktion von Wirbelfrakturen (ca. 70 %), peripheren Frakturen (ca. 20 %) und Hüftfrakturen (ca. 40 %) (9). Denosumab wird sehr gut toleriert und kann im Gegensatz zu den Bisphosphonaten auch bei eingeschränkter Nierenfunktion angewendet werden. Bei Auslassen einer Dosis bzw. bei Absetzen der Therapie ohne Folgebehandlung kommt es zu einer überschiessenden Knochenresorption mit akzeleriertem Knochenmassenverlust und erhöhtem Risiko für verte­brale Frakturen, was als Rebound-Effekt bezeichnet wird. Alternativ kann aufgrund der unter Denosumab anhaltenden frakturreduzierenden Wirkung bei geringem Risiko von Spätkomplikationen (Kiefernekrosen, atypische Femurfrakturen) eine Langzeitbehandlung insbesondere bei betagten Personen oder Patienten mit einer Niereninsuffizienz durchgeführt werden.

Osteoanabol-wirkende Therapien

Im Gegensatz zu antiresorptiv wirkenden Präparaten, die die Knochenmineraldichte und Knochenstärke durch Hemmung der Osteoklasten-vermittelten Knochenresorption verbessern, stimulieren osteoanabole Mittel direkt oder indirekt die Differenzierung und Aktivität der Osteoblasten, die neue Knochen bilden (10). Dies führt zu einer Zunahme der trabekulären und kortikalen Dicke, was erheblich zur Verbesserung der Widerstandsfähigkeit des Skeletts beiträgt. Beinahe 20 Jahre lang war das einzige verfügbare osteoanabole Mittel Teriparatid, ein PTH-Rezeptor-Agonist, der vor allem aufgrund seiner höheren Kosten nur als Zweitlinientherapie (nach Bisphosphonaten) eingesetzt werden konnte. Seitdem haben mehrere Studien zum Vergleich von Osteoanabolika zu oralen Bisphosphonaten eine bessere Wirksamkeit zur Verhinderung von Frakturen nachgewiesen, was auch in einer kürzlich veröffentlichten Metaanalyse bestätigt wurde (11). Dies hat dazu geführt, dass Teriparatid, aber auch die neuen osteoanabol-wirken den Substanzen (Romosozumab, Abaloparatid), als Erstlinientherapie bei sehr schwerer Osteoporose, insbesondere nach einer kürzlich erfolgten Fraktur, positioniert wurde (12). Es gibt jedoch erhebliche Unterschiede im Wirkmechanismus und in den klinischen Auswirkungen dieser osteoanabolen Präparate.

Parathormonrezeptor-Agonisten

Teriparatid
Teriparatid (TPT = PTH 1–34) als subkutane Injektion
(20 ug/d) hat eine kurze Wirkungsdauer, wodurch es vorwiegend die Knochenbildung stimuliert, jedoch mit einem sekundären Anstieg der Resorption assoziiert ist.

In der FPT-Studie wurde bei postmenopausalen Frauen, die an Osteoporose mit Wirbelfrakturen litten, mit TPT im Vergleich zu Placebo eine signifikante Verringerung der Wirbelfrakturen (relative Risikoreduktion [RRR] von 86 %) beobachtet (13). Weitere Analysen zeigten, dass TPT bei Patienten mit multiplen und schweren Wirbelfrakturen noch wirksamer war, was die Hauptindikation für seine Verschreibung in der klinischen Praxis darstellt. Bei nicht vertebralen Frakturen zeigte die TPT nach einer medianen Behandlungsdauer von 19 Monaten im Vergleich zu Placebo eine relative Risikoreduktion von 53 % (13). Allerdings war die Anzahl der nicht vertebralen Frakturen in der Studie begrenzt, und unter diesen war die FPT-Studie nicht aussagekräftig genug, um Unterschiede in der Inzidenz von Hüftfrakturen zu erkennen.

Eine aktuelle Metaanalyse von 23 randomisierten kon­trollierten Studien mit 8644 Patienten zeigte eine geringere Inzidenz von Hüftfrakturen, die auf die Behandlung mit Teriparatid zurückzuführen waren, im Vergleich zu den Kontrollen (14). Es ist jedoch zu beachten, dass sich diese Metaanalyse auf insgesamt nur 34 Hüftfrakturen stützt und sie nicht eins zu eins auf Frauen mit postmenopausaler Osteoporose übertragbar ist, da sie auch einige Studien bei Männern und Patienten mit steroidinduzierter Osteoporose einschliesst.

In der VERO-Studie wurden Frauen mit hohem Frakturrisiko und prävalenten Wirbelfrakturen randomisiert und erhielten entweder TPT oder Risedronat (ein orales Bisphosphonat) (15). Nach 24 Monaten wurden unter TPT im Vergleich zu Risedronat signifikante Reduktionen der Rate an Wirbelfrakturen und klinischen Frakturen beobachtet.
Die häufigsten Nebenwirkungen unter dem Einsatz von TPT sind orthostatische Hypotonie, Palpitationen, Übelkeit, Beinkrämpfe und Kopfschmerzen. Es können biochemische Veränderungen auftreten wie Hyperkalzämie (3 %), Hyperkalziurie und ein Anstieg des Serumharnsäurespiegels. Es ist zu beachten, dass eine bereits vor Beginn der TPT bestehende Hyperkalzämie oder Hyperkalziurie mit Urolithiasis eine Kontraindikation für die Verschreibung des Medikaments darstellt.

Aufgrund dieser Ergebnisse empfehlen die SVGO/ASCO-Guidelines von 2020 die Behandlung mit TPT als erste oder zweite Wahl (nach einer Bisphosphonattherapie) bei Frauen mit hohem oder sehr hohem Frakturrisiko, die an einer osteoporotischen Wirbelfraktur leiden (12). Die Entwicklung von nachfüllbaren TPT-Biosimilars und in jüngster Zeit auch von TPT-Generika hat dazu geführt, dass TPT heute viel häufiger eingesetzt und leichter erstattet wird als früher. Die Befürchtung der unter TPT sich entwickelnden Osteosarkome wurde aufgrund der langjährigen klinischen Erfahrung ausgeräumt, und es ist heute theoretisch möglich, eine zweite TPT-Sequenz zu verabreichen, wenn dies erforderlich ist.

Abaloparatid
Abaloparatid (APT) ist ein PTH-Rezeptor-Agonist der zweiten Generation. Es ist ein Derivat von PTHrP, hat jedoch auf zellulärer Ebene etwas andere Signaleigenschaften als TPT. So induziert es eine Knochenbildung, die anfänglich der von TPT entspricht, jedoch weniger die Resorption stimuliert (16). Dies ermöglicht u.a. die Verabreichung einer höheren APT-Dosis (80 ug/d) ohne das Risiko einer Hyperkalzämie und führt zu potenziell günstigeren Auswirkungen auf den kortikalen Knochen, insbesondere auf den BMD-Zuwachs an der Hüfte.

Die ACTIVE-Studie sollte nicht nur den Nutzen gegenüber Placebo aufzeigen, sondern auch einen Vergleich mit TPT hinsichtlich des BMD-Gewinns liefern (16). In dieser Studie, in der 2463 postmenopausale Frauen über 18 Monate behandelt wurden, zeigte sich eine signifikante Verringerung des Wirbelfrakturrisikos in der APT-Gruppe, die mit den Effekten von TPT vergleichbar war. Die geschätzte Ereignisrate für nicht vertebrale Frakturen war unter der APT-Behandlung im Vergleich zur Placebogruppe ebenfalls niedriger (RR 0.53 vs. PBO, 95 %-KI 0.32–1.0, p < 0.05), während die TPT das Signifikanzniveau nicht erreichte. Ausserdem wurde in der APT-Gruppe eine stärkere Zunahme der BMD im Vergleich zur TPT an der Hüfte beobachtet (16). Der unterschiedliche Grad der Stimulation der Knochenresorption versus -bildung zwischen diesen beiden Medikamenten könnte teilweise die beobachteten Unterschiede in Bezug auf den BMD-Gewinn erklären, insbesondere im kortikalen Knochenkompartiment.

Obwohl die häufigsten Nebenwirkungen von APT denen von TPT ähneln und die Kontraindikationen die gleichen sind, gibt es einige Unterschiede zwischen diesen Medikamenten. So sind die am häufigsten gemeldeten Nebenwirkungen bei APT orthostatische Hypotonie, Schwindel und Tachykardien. Dagegen war die Inzidenz von Hyperkalzämie, die in der ACTIVE-Studie berichtet wurde, in der APT-Gruppe signifikant niedriger als in der TPT-Gruppe.

Abaloparatid, das in den USA bereits seit mehreren Jahren eingesetzt wird, wurde im März 2024 von Swissmedic für die Behandlung von postmenopausalen Frauen mit Osteoporose und hohem Frakturrisiko zugelassen: Die Bedingungen für die Kostenübernahme wurden jedoch noch nicht festgelegt. Es ist daher noch nicht in den Empfehlungen der SVGO/ASCO enthalten, die 2025 überprüft werden sollen.

Sclerostin-Inhibitor

Romosozumab ist ein monoklonaler Antikörper, der gegen Sclerostin, einem starken Osteoblastenhemmer, gerichtet ist. Im Gegensatz zu PTH-Rezeptor-Agonisten zeichnet sich Romosozumab durch eine doppelte Wirkung, die sowohl osteoanabol als auch antiresorptiv ist, aus (10). Die Verabreichung ist über 12 Monate möglich, in denen ein sehr schneller und massiver Anstieg der Knochenbildung zu beobachten ist, der sich jedoch im Laufe der Behandlung allmählich abschwächt, während die antiresorptive Wirkung anhält. In einer Phase-2-Studie war im Vergleich zu Alendronat und TPT die Zunahme der BMD nach einem Jahr unter Romosozumab etwa doppelt so hoch (17).

Die Wirksamkeit von Romosozumab zur Frakturrisikoreduktion wurde im Rahmen einer 24-monatigen Phase-3-Studie (FRAME) bei postmenopausalen Frauen mit hohem Frakturrisiko untersucht (18). Der primäre Endpunkt von FRAME war eine Verringerung der Inzidenz neuer Wirbelfrakturen. Die Patienten wurden randomisiert und erhielten einmal monatlich 210 mg Romosozumab subkutan oder ein Placebo; im zweiten Jahr erhielten alle Patienten 60 mg Denosumab (6-monatlich).

Nach einem Jahr Behandlung nahm der BMD am Schenkelhals um 5 % und an der LWS um 13 % zu. Im Vergleich zu Placebo wurde eine signifikante Verringerung des Risikos neuer Wirbelfrakturen um 73 % und des Risikos klinischer Frakturen um 36 % erzielt. Es wurde keine si­gnifikante Verringerung der Anzahl nicht vertebraler Frakturen berichtet, obwohl unter Romosozumab eine Verringerung des relativen Risikos um 25 % beobachtet wurde. Sowohl die Originalstudie als auch die Post-hoc-Analysen zeigten jedoch eine signifikante Reduktion der nicht vertebralen Frakturen bereits im ersten Jahr mit Romosozumab bei Frauen mit höherem Risiko (19). Im zweiten Jahr nach der Gabe von Denosumab stieg die BMD weiter an und der bereits beobachtete Rückgang der Frakturen blieb erhalten.

In der Romosozumab-Gruppe waren die unerwünschten Ereignisse hauptsächlich auf Reaktionen an der Injektionsstelle zurückzuführen, und es gab keine Unterschiede zwischen den Gruppen hinsichtlich schwerwiegender unerwünschter Ereignisse, insbesondere kardiovaskulärer Ereignisse. In der Romosozumab-Gruppe traten nur ein Fall einer Osteonekrose des Kiefers und ein Fall einer atypischen Femurfraktur auf.

In der ARCH-Studie wurde Romosozumab 12 Monate lang mit Alendronat verglichen, und anschliessend erhielten beide Arme zwei Jahre lang Alendronat (20). Die in die ARCH-Studie aufgenommene Population wurde speziell wegen eines sehr hohen Risikos für osteoporotische Frakturen rekrutiert. Ausserdem waren 52 % der Teilnehmer über 75 Jahre alt, im Vergleich zu 32 % in der FRAME-Studie. In der Romosozumab-Gruppe wurde nach 12 und 24 Monaten eine signifikante Verringerung neuer Wirbelfrakturen (RR 0.63 und 0.52) sowie klinischer und nicht vertebraler Frakturen (RR 0.72 und 0.81) beobachtet. Der BMD-Gewinn in der Romosozumab-Gruppe war in den ersten 12 Monaten höher als unter Alendronat und reichte von 6 % am Schenkelhals bis zu 13 % an der LWS und blieb auch nach 12 und 24 Monaten Alendronat erhalten. Unerwarteterweise berichteten 2.5 % der Patienten in der Romosozumab-Gruppe und 1.9 % in der Alendronat-Gruppe während der Doppelblindphase über schwerwiegende kardiovaskuläre (CV) unerwünschte Ereignisse (HR, 1.31; 95 %-KI, 0.85 bis 2.00). Obwohl der kausale Zusammenhang zwischen Romosozumab und ischämischen Ereignissen nicht eindeutig belegt ist (21), insbesondere aufgrund des fehlenden Unterschieds vs. PBO in der FRAME-Studie, ist Romosozumab bei vorbestehendem Myokardinfarkt oder Schlaganfall kontraindiziert, und bei Patienten mit hohem CV-Risiko und/oder starker Arterienverkalkung ist weiterhin Vorsicht geboten.

Zusammenfassung

Osteoporose ist eine chronische Erkrankung, die ein lebenslanges Therapiemanagement erfordert, das sowohl nicht medikamentöse als auch medikamentöse Ansätze beinhaltet. Prinzipiell kann bei Patienten mit erniedrigtem Knochenmineralgehalt und/oder moderat erhöhtem Frakturrisiko im Sinne einer Primärprävention eine medikamentöse Behandlung mit Raloxifen oder oralen Bisphosphonaten eingeleitet werden. Bei Patienten mit hohem bzw. sehr hohem Frakturrisiko sind parenterale antiresorptive Präparate (Zolderonat, Denosumab) oder, unter Einbezug von Fachspezialisten, osteoanabole Präparate (Teriparatid, Romosozumab; in Zukunft Abaloparatid) und den daraus sich ableitenden Sequenztherapien der Vorzug zu geben.

Ein regelmässiges Monitoring ist notwendig, bei dem der klinische Verlauf (neue Frakturen, neue Risikofaktoren für Fragilitätsfrakturen), Knochendichtemessungen alle 2–3 Jahre, die Bestimmung der Knochenumbauwerte (CTX und PINP im Serum) sowie gegebenenfalls zusätzliche Untersuchungen (z. B. Sturz-Assessments) berücksichtigt werden. Bei jeder Folgeuntersuchung wird evaluiert, ob die medikamentöse Therapie deeskaliert, weitergeführt oder ausgebaut werden sollte. Mit diesem Ansatz wird versucht, die Knochengesundheit bis ins hohe Alter zu bewahren und Frakturen zu verhindern. Auf das Konzept sequenzieller medikamentöser Osteoporosetherapien wird im zweiten Artikel dieses Osteoporose-Updates eingegangen.

Prof. Dr. med. Christian Meier

Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus
Universitätsspital Basel
Endonet Praxis und Osteologisches Universitätsforschungszentrum DVO
Aeschenvorstadt 57
4051 Basel

christian.meier@unibas.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Risiko für Kieferosteonekrosen und atypische ­Femurfrakturen: wie informieren bei ­Osteoporose?

WORUM GEHT ES?

Bei Osteonekrose des Kiefers (osteonecrosis of jaw; ONJ) und atypischen Femurschaftfrakturen (AFF) handelt es sich um seltene, aber ernsthafte Erkrankungen des Knochens. Dabei besteht eine Assoziation mit bestimmten antiresorptiv wirkenden Therapien wie Amino-Bisphosphonaten wie Zoledronat, Alendronat, Ibandronat oder Risedronat (BP) sowie den Antikörpertherapien Denosumab (DMAb) oder Romosozumab (ROMO).

Was sind die Definitionen von ONJ und AFF?

Für eine medikationsbezogene ONJ müssen 3 Voraussetzungen bestehen, welche sich aus der Anamnese und dem enoralen Befund ergeben (1):
• Acht Wochen oder länger sicht- oder sondierbarer Knochen enoral oder maxillofazial.
• Aktuelle oder vorausgegangene antiresorptive Therapie (allein bzw. in Kombination mit Immunmodulatoren oder antiangiogenen Medikamenten).
• Keine Strahlentherapie oder metastatische Erkrankung im Bereich des Kiefers.
Die Kriterien für das Vorliegen einer AFF sind eher radiologisch deskriptiv. Dabei müssen neben der diaphysären Femurfraktur (unterhalb des Trochanter minor bis suprakondylär) noch 4 der folgenden 5 Hauptmerkmale erfüllt sein (2):
• Die Frakturlinie beginnt am lateralen Kortex und ist grösstenteils quer verlaufend oder nur kurz schräg.
• Komplette Frakturen erstrecken sich radiologisch über den lateral und medialen Kortex und können mit einer medialen Spitze verbunden sein; unvollständige Frakturen betreffen nur die laterale Kortikalis.
• An der Frakturstelle liegt eine lokalisierte periostale oder endostale Auftreibung der lateralen Kortikalis vor.
• Atraumatisches oder nur gering traumatisches Auftreten.
• Die Fraktur ist nicht multifragmentär.

Was sind die Folgen von ONJ und AFF?

Direkte Folgen von ONJ oder AFF reichen in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Diagnose und dem Einleiten protektiver Massnahmen von asymptomatischen Ereignissen bis zu schmerzhaften Infekten oder Frakturen, welche mit chirurgischen Eingriffen und einem langwierigen Heilungsverlauf einhergehen können. Diese Folgen treffen für beide Entitäten gleichermassen zu. Regionspezifisch sind Zahnverlust bzw. die funktionelle Einbusse der betroffenen unteren Extremität (1, 2).

Indirekte Folgen von ONJ oder AFF können ebenfalls schwerwiegend sein, weil Osteoporose-Patient/-innen das Risiko-Nutzen-Verhältnis einer antiresorptiv wirkenden Therapie falsch einschätzen und eine entsprechende Behandlung ablehnen oder vorzeitig abbrechen. Das heisst, dass ein hohes oder sogar sehr hohes Frakturrisiko unbehandelt bleibt bzw. sich wegen des progredienten Knochenmineralverlusts in der zweiten Lebenshälfte noch weiter verschlechtert.

Was sind Zeichen oder Symptome für ONJ und AFF?

Eine ONJ zeigt sich als ausbleibende Abheilung einer enoralen Läsion (oft nach Zahnextraktion), mandibulär häufiger als maxillar mit offen sichtbarem Knochen oder einer unspezifischen Schwellung (1). Schmerzen stehen initial nicht immer im Vordergrund, weshalb Betroffene nicht umgehend eine zahnärztliche Beurteilung suchen.

Einer AFF gehen oftmals Wochen mit wechselhaften Warnzeichen voraus, sogenannte Prodromi. Diese werden als dumpf-drückende oder stechende Schmerzen in Leiste oder im Oberschenkel beschrieben. Oft treten AFF beidseitig auf, weshalb bei Verdacht auf AFF die Gegenseite auch untersucht werden sollte (2).

Was ist die Pathophysiologie von ONJ und AFF?

Die Pathophysiologie beider Ereignisse ist nicht im Detail verstanden, beinhaltet aber wahrscheinlich multifaktorielle Prozesse.

Für ONJ stehen enorale, zu einer Mukosaläsion führende Umstände (rezente Extraktion oder andere kieferchi­rurgische Eingriffe, Prothesendruckstelle) im Vordergrund, daneben sind chronische Entzündungen, verlängerte Wundheilung, antiangiogene Effekte und veränderter Knochenumbau zu nennen. Es sind Genmutationen beschrieben, welche für eine ONJ prädisponieren (1).

AFF können als Insuffizienzfrakturen verstanden werden, welche typischerweise mit der Langzeitanwendung antiresorptiver Therapie assoziiert sind. Daneben spielt die Knochengeometrie eine Rolle, welche zum Teil auch ethnizitätsspezifische Unterschiede in der Inzidenz erklärt: Patient/-innen mit asiatischer Abstammung sind häufiger betroffen. Ausserdem spielen veränderte Materialeigenschaften des Knochens unter antiresorptiver Therapie, insbesondere Kumulation feinster Risse im Knochen (micro-cracks) und das Unvermögen, diese adäquat zu reparieren, eine entscheidende Rolle (3, 4). Ausserdem konnten auch hier prädisponierende Genmutationen identifiziert werden (5, 6).

Was sind die Gemeinsamkeiten dieser Entitäten?

Erst mit dem breiten Einsatz von BP in den 2000er-Jahren sind beide Entitäten, ONJ 2003/2004 bzw. AFF 2005 (7, 8), in Erscheinung getreten. Bei völlig unterschiedlichem Wirkmechanismus haben BP, DMAb und ROMO den antiresorptiven Effekt auf den Knochen gemeinsam. Neben pathophysiologischen Gemeinsamkeiten können sowohl ONJ als auch AFF als seltene unerwünschte Ereignisse des Knochenumbaus verstanden werden, welche dosis- bzw. frequenzabhängig mit antiresorptiv wirkendender Therapie assoziiert sind. Bei beiden Entitäten scheinen Regenerationsprozesse beeinträchtigt.

Wie häufig sind ONJ und AFF?

ONJ und AFF sind so seltene unerwünschte Ereignisse, dass sie in randomisiert kontrollierten Studien nur sehr eingeschränkt beurteilt werden können. Die Inzidenz von ONJ bei Patient/-innen mit Osteoporose unter BP wird mit 1 pro 10 000 bis 100 000 Patientenjahren angegeben, diejenige für AFF noch darunter (9).

Wie häufig bzw. eben selten ONJ oder AFF bei Patient/-innen mit Osteoporose in der Schweiz auftreten, konnten Everts-Graber und Kolleg/-innen mit Beobachtungsdaten aus dem Register der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie zeigen: 17 bzw. 4 bestätigte Fälle mit ONJ bzw. AFF unter antiresorptiver Therapie bei 9956 Patient/-innen innerhalb von knapp 5 Jahren (10, 11). Beide unerwünschte Ereignisse waren dabei unter DMAb häufiger, wobei viele dieser Betroffenen unter DMAb bereits zuvor BP erhalten haben, sodass ein kumulativer Effekt nicht ausgeschlossen werden kann. Allerdings zeigen auch Beobachtungsdaten bei Patientinnen mit ossär metastasiertem Mammakarzinom eine höhere Inzidenz von ONJ unter DMAb oder DMAb nach BP im Vergleich zu solchen, die ausschliesslich BP erhalten haben (12). Patient/-innen mit maligner Knochenerkrankung, welche BP oder DMAb häufiger und/oder höher dosiert erhalten, haben ein mindestens 10-fach höheres Risiko für ONJ als Patient/-innen mit Osteoporose (1).

Was sind die Risikofaktoren für ONJ oder AFF?

Die Anwendung antiresorptiver oder antiangiogener Medikamente ist mit ONJ assoziiert, insbesondere Tyrosinkinase-Inhibitoren, wie z. B. Sunitinib, der monoklonale Antikörper Bevacizumab, mTOR-Inhibitoren, wie z. B. Everolimus, Radiopharmazeutika wie Radium-223 und Immunsuppressiva (Methotrexat und Glucocorticoide) (13, 14). Weiter ist eine langjährige antiresorptive Therapiedauer mit einem erhöhten Risiko für ONJ assoziiert.

Zahnärztliche Eingriffe, insbesondere Zahnextraktionen und Operationen, bei denen der Kieferknochen freigelegt wird, können das Risiko einer ONJ erhöhen; vor allem bei geriatrischen Patient/-innen können Prothesendruckstellen zur ONJ führen. Weiter erhöhen bestimmte Erkrankungen wie Malignome, chronische Nierenerkrankungen und Diabetes mellitus das ONJ-Risiko. Ausserdem können lokale Entzündungen und Infektionen enoral sowie Rauchen oder eine schlechte Mundhygiene das Risiko negativ beeinflussen.

Die Dauer der Anwendung von BP (oder anderen Antiresorptiva) zeigt in verschiedenen Kohorten ein ansteigendes Risiko für AFF, welches nach Absetzen relativ rasch absinkt. Im Vergleich zu einer Anwendung von BP von weniger als einem Jahr war die Anwendung über 5 bis 7 Jahre mit einem 7-fachen Anstieg von AFF verbunden (15). Ausserdem ist die Therapie mit Glukokortikoiden und Protonenpumpeninhibitoren mit einem erhöhten Risiko für AFF assoziiert (16).
Patient/-innen asiatischer Abstammung sind häufiger von AFF betroffen. In einer grosssen Fall-Kontroll-Studie aus Südkorea konnten neben Osteopenie/Osteoporose weitere unabhängige Risikofaktoren für AFF wie rheumatoide Arthritis, erhöhte anteriore und laterale Kurvaturen des Femurs und eine dickere laterale Femurkortikalis auf Schaftniveau identifiziert werden (17).

In einer rezent publizierten, niederländischen Kohortenstudie konnte ein Zusammenhang zwischen AFF und monogenen Knochenerkrankungen, insbesondere Osteogenesis imperfecta und Hypophosphatasie, gezeigt werden. Daher könnte eine humangenetische Abklärung nach AFF bei familiärer Häufung von Frakturen künftig an Bedeutung gewinnen (18).

Gibt es ONJ oder AFF auch ohne antiresorptive Therapien?

Ja, sowohl ONJ als auch AFF können ohne antiresorptive oder andere Therapien auftreten.
In einer grossen dänischen Kohortenstudie (n = 4973) hatte fast ein Drittel der Personen mit AFF keine BP oder andere Antiresorptiva (13).

Gibt es auch bestimmte Gruppen von Patient/-­innen, welche weniger von ONJ oder AFF ­betroffen sind?

Ja, bislang sind weder ONJ noch AFF bei Kindern mit schwerer Osteogenesis imperfecta trotz jahrelanger intravenöser Bisphosphonattherapie beobachtet worden. Dies weder in Fallbeschreibungen noch in Kohorten (19).

ONJ und AFF – warum ist eine adäquate ­Information so wichtig?

Es kommt zu einem Vertrauensverlust zwischen osteologisch behandelnder Fachperson und Patient/-in, wenn Patient/-innen bei Therapiebeginn unzureichend oder im Fall von ONJ von Dritten (persönliches Umfeld, Zahnärzt/-in, pseudoneutrale Quellen im Internet oder Ähnliches) einseitig informiert werden. Zweifel sind schnell gesät, aber mühsam ins rechte Licht zu rücken.

Ein solcher Vertrauensverlust kann nicht nur dazu führen, dass Betroffene mit hohem oder sehr hohem Frakturrisiko nicht behandelt werden. Schlimmer noch kann ein unkontrollierter Unterbruch einer mehrjährigen DMAb-Therapie wegen des Rebound-Phänomens das vertebrale Frakturrisiko in wenigen Monaten massiv erhöhen.
AFF sollte vor allem bei Kontrollen von Patient/-innen unter langjähriger antiresorptiver Therapie, d. h. mehr als 3 Jahren, angesprochen werden, damit Patient/-innen die Prodromi kennen und so AFF im frühen Stadium, also idealerweise vor kompletter Fraktur, erkannt und therapiert werden können.

Daher muss bei Therapiebeginn adäquat informiert werden, auch wenn das tatsächliche Risiko zur Entwicklung von ONJ oder AFF nur sehr gering ist.

Warum führt ONJ dazu, dass Patient/-innen eine hochpotente antiresorptive Therapie ablehnen?

Viele von Osteoporose Betroffene unterschätzen, wie hoch ihr Risiko ist, Frakturen zu erleiden bzw. welche Folgen Frakturen, insbesondere Wirbelkörperfrakturen, für den Alltag beinhalten. Klinische Wirbelkörperfrakturen erhöhen Morbidität und Mortalität (20). Daher sollte zunächst das individuelle Frakturrisiko und mögliche Implikationen durch Frakturen hinreichend betont werden.

Selbst Patient/-innen, die bereits Frakturen erlitten haben, unterschätzen ihr Risiko für weitere Frakturen, weil die Situation, die zur Fraktur geführt hat, überbewertet wird, anstatt die Anfälligkeit für Frakturen zu akzeptieren. Betroffene empfinden eine prävalente Fraktur eher als «bad luck» als ein Zeichen für «bad bones».

Wie können ONJ und AFF für Patient/-innen mit Osteoporose kommuniziert werden?

Osteoporose ist per se nicht heilbar, sondern nur stabilisierend beeinflussbar. Es erscheint paradox, dass eine Therapie, die darauf abzielt, den Knochen zu stärken und Frakturen zu verhindern, diesen auch schaden kann.

Bei der Therapie der Osteoporose hat das antiresorptive Wirkprinzip eine Schlüsselfunktion. Vereinfacht kann dargelegt werden, dass zum einen der postmenopausal hohe Knochenumbau auf das prämenopausale Niveau stabilisiert werden kann. Bei hohem Frakturrisiko kann so ein progredienter Knochenmineralverlust verhindert werden. Zum anderen kann nach osteoanaboler Therapie bei schwerer Osteoporose der neu gebildete Knochen mit einer antiresorptiven Therapie konsolidiert werden. BP, DMAb oder ROMO sind sehr potent, durch Anwendung dieser Wirkstoffe kann der progrediente Knochenmineralverlust nach dem 50. Lebensjahr und damit nahezu 50 % aller Osteoporose-verursachten Frakturen verhindert werden. In Anbetracht dieser Tatsache ist es einfacher zu akzeptieren, dass diese Medikationen unter bestimmten Umständen die Regenerationsfähigkeit («Selbstheilungskräfte») des Knochens stören können, was sich in seltenen Fällen als ONJ oder AFF äussert. Obwohl diese Entitäten seit Jahrzehnten bekannt sind, wird das Nutzen-Risiko-Verhältnis nach wie vor als sehr günstig eingestuft. Daher gelten die Wirkstoffe weiterhin als Therapien der ersten Wahl.

Bezogen auf den Einzelfall kann betont werden, dass regelmässige zahnärztliche Kontrollen, Verzicht auf Noxen, Fehlen von Glukokortikoiden, Diabetes mellitus in der Anamnese etc. das individuelle Risiko für ONJ oder AFF zu minimieren helfen.
Ausserdem ist bei vielen Patient/-innen mit Osteoporose das Therapiekonzept sequenziell, also mit Intervallen ohne Therapie. Nach BP-Therapie handelt es sich wegen des bis zu jahrelangen Residualeffektes eher um eine Verlängerung des Therapieintervalls als um einen echten Therapieunterbruch. Damit wird zumindest dem Risikofaktor «Therapiedauer > 3 Jahre» für die Entwicklung von ONJ oder AFF entgegnet. Wie hilfreich der prolongierte Therapieintervall sein kann, wurde in einer randomisierten Placebo-kontrollierten Studie bei postmenopausalen Frauen mit Osteopenie gezeigt, welche Zoledronat 5 mg nur alle 18 Monate intravenös erhielten. Es wurden keine Fälle von ONJ oder AFF beobachtet, weder über 6 Jahre unter Therapie noch während 4 Jahren Follow-up (21).

Vorteile und Risiken sollten offen besprochen und den Patient/-innen auch ausreichend Zeit zur Entscheidung gewährt werden. Allenfalls ist ein zusätzlicher Besprechungstermin hilfreich, auch um die Möglichkeit zur zahnärztlichen Kontrolle einzuräumen. Falls dennoch zunächst auf eine antiresorptive Therapie verzichtet wird, können Behandlungsziele mithilfe der Entwicklung von den Surrogatparametern, der Knochenmineraldichte oder weniger standardisiert laborchemischen Parameter des Knochenumbaus vereinbart werden, um eine antiresorptive Therapie später doch aufzunehmen.

Anders als Patient/-innen mit maligner Knochenerkrankung müssen Patient/-innen mit Osteoporose vor Beginn mit antiresorptiver Therapie nicht zwingend zur Zahnärzt/-in. Nichtsdestotrotz sollten alle Menschen nach dem 50. Lebensjahr regelmässig in zahnärztliche Kontrolle. Problematisch sind Patient/-innen ohne solche Kontrollen, oft gepaart mit schlechter Mundhygiene inklusive Nikotin- und hohem Alkoholkonsum.

Wenn Bedarf zur zahnärztlichen Rücksprache anzunehmen ist, empfiehlt sich, die Hauszahnärzt/-in z. B. mittels Berichtskopie über die allgemeine osteologische Situation inklusive Therapiekonzept in Kenntnis zu setzen. Primär soll der Beginn einer Osteoporosetherapie wegen der niedrigen ONJ-Ereignisrate durch die zahnärztliche Prophylaxe aber nicht hinausgezögert werden (22).

Die häufigste Frage, nämlich welche Vorsichtsmassnahmen zu treffen sind, wenn unter den oben genannten antiresorptiv wirkenden Therapien ein Zahn extrahiert werden muss, kann auf die S3-Leitlinie 007/091: Antiresorptiva-­assoziierte Kiefernekrosen (AR-ONJ) unter Koordination von Prof. K. A. Grötz verwiesen werden (22): Dort sind ausführlich die erforderlichen Kautelen bei operativen Eingriffen und Zahnentfernungen bei Patient/-innen unter und nach einer antiresorptiven Therapie beschrieben, welche vor allem den primären Wundverschluss ins Zentrum setzen, um eine möglichst rasche Abheilung der enoralen Läsion zu erzielen.

Sind bei Osteoporose-Patient/-innen unter BP, DMAb oder ROMO elektive, ossäre Eingriffe wie das Einbringen von Zahnimplantaten ­möglich?

Ja, per se können Osteoporose-Patient/-innen unter Therapie nach den gleichen Kriterien wie Patient/-innen ohne Osteoporosetherapie versorgt werden, entsprechend der S3-Leitlinie Zahnimplantate bei medikamentöser Behandlung mit Knochenantiresorptiva (inkl. Bisphosphonate) (23). In der klinischen Praxis schrecken dennoch sowohl Patient/-innen unter Therapie als auch behandelnde Zahnärzt/-innen vor diesem elektiven Eingriff zurück. Im Zweifelsfall kann dann eine second opinion in spezialisierten Zentren hilfreich sein.

Allgemein wird die Rolle eines gut funktionierten Kauapparates für eine ausgewogene Makronährstoffzufuhr zur Prävention der Sarkopenie, welche bei chronischen Erkrankungen oder prinzipiell mit dem Älterwerden droht und bei Osteoporose-Patient/-innen das Frakturrisiko unabhängig erhöhen kann, unterschätzt. Bei Zahnverlust ist die bestmögliche Wiederherstellung der Kaufunktion durch Zahnimplantate eine wichtige Investition.

PD Dr. med. Albrecht W. Popp

Leiter Osteologie
Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungs­medizin und Metabolismus (UDEM) Inselspital, Universitätsspital Bern
Julie-von-Jenner-Haus
Freiburgstrasse 15
CH-3010 Bern

albrecht.popp@insel.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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22. https://register.awmf.org: S3-Leitlinie Antiresorptiva-assoziierte Kiefernekrose (AR-ONJ); Registernummer 007 – 091
23. https://register.awmf.org: S3-Leitlinie Zahnimplantate bei medikamentöser Behandlung mit Knochenantiresorptiva (inkl. Bisphosphonate); Registernummer 083 – 026

Stellenwert der Knochenumbau-parameter im Management der Osteoporose

Einleitung

Die Messung der Knochenumbauparameter im klinischen Alltag ist eine etablierte Säule des modernen Osteoporose-managements und heute sowohl in der Diagnostik als auch im Krankheitsverlauf nicht mehr wegzudenken. Dieser Artikel soll einen Überblick über die wichtigsten Parameter und deren Relevanz und Bedeutung im klinischen Alltag geben.

Die Osteoporose ist eine chronische Erkrankung des Skelettapparates, welche durch eine verringerte Knochendichte und eine Störung der Knochenarchitektur gekennzeichnet ist. Aufgrund dieser Veränderungen kommt es zu einer erhöhten Frakturgefährdung, was insbesondere bei älteren Personen mit erhöhter Morbidität und Mortalität assoziiert ist.

Der Knochen wird zeitlebens umgebaut, damit er sich an die Belastung anpassen und seine mechanische Kompetenz erhalten kann (1, 2). Der Knochenumbau erfolgt durch zwei gegensätzliche Prozesse: den Knochenabbau und den Knochenanbau. Der Knochenumbau erfolgt geordnet mit Koppelung («coupling») zwischen Knochenabbau und Knochenanbau (1, 2). Diese beschriebene Knochenstoffwechselaktivität kann durch die Messung der Knochenumbauparameter («bone turnover markers») erfasst werden und liefert wichtige Informationen sowohl in der initialen Diagnostik von metabolischen Knochenerkrankungen als auch zur Überprüfung der Wirksamkeit von spezifischen Therapien.

Funktion der Knochenumbauparameter

Die Knochenumbaumarker widerspiegeln die Aktivität der Osteoblasten und Osteoklasten. Die Osteoidbildung durch die Osteoblasten wird durch Bildung der knochenspezifischen alkalischen Phosphatase, Osteocalcin und Prokollagen N-Propeptide reflektiert (Abb. 1 und Tab. 1). Beim Knochenabbau werden Fragmente des Kollagens (N- und C-terminale Telopeptide, Pyridinoline) und Tartrat-resistente saure Phosphatase freigesetzt (2–4). Diese Marker ermöglichen eine dynamische Beurteilung des Knochenumbaus.

Prokollagen Typ 1 N-terminales Propeptid (P1NP)

Das Kollagen wird von den Osteoblasten als Prokollagen sezerniert. Durch Abspaltung der C-terminalen und N-terminalen Endigungen entstehen die C-terminalen (P1CP) und N-terminalen Propeptide (P1NP) und das Kollagenmolekül, Hauptbestandteil (90  % des Proteinanteils) der Knochenmatrix (Abb. 2) (2, 5). Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass vor allem das P1NP zur Beurteilung der Knochenformation am geeignetsten ist, und wird deshalb als Referenzmarker empfohlen (6–8).

P1NP wird in der Leber abgebaut. Es kann aber auch zur Freisetzung einer monomeren Form von P1NP kommen, das über die Niere ausgeschieden wird und damit bei der Niereninsuffizienz retiniert wird (2, 9). Es gibt also zwei Formen von P1NP im Serum: das «intakte» oder trimere Molekül und das Monomer (10, 11). Derzeit verfügbare Assays messen entweder nur die trimere Form (intaktes P1NP) oder beide Formen (Gesamt-P1NP). Der Gesamt-P1NP-Assay (automatisiert) ist auf Elecsys (Roche Diagnostics) erhältlich. Der automatisierte Assay für intaktes P1NP ist auf IDS-iSYS, Immunodiagnostic Systems, erhältlich. Ausser bei Niereninsuffizienz korrelieren diese beiden Assays gut (12).
Das PINP weist nur einen schwachen Tagesrhythmus auf (< 10  %) und wird nur wenig durch Nahrungsaufnahme beeinflusst (3–4  %) (2).

P1NP ist besonders sensitiv gegenüber der Aktivität der Osteoblasten, die für den Knochenaufbau verantwortlich sind. Ein hoher P1NP-Spiegel zeigt den vermehrten Aufbau neuer Knochensubstanz an, was z. B. beim Heilungsprozess nach Frakturen, in den Wachstumsphasen oder bei der Wirkung anaboler Osteoporosetherapien (wie z. B. Teriparatid) typisch ist (13, 14).

Osteocalcin (OC)
Osteocalcin ist ein Nichtkollagenprotein, das von Osteoblasten produziert wird. Mittels Bindung an Kalzium und die Knochenmatrix hat es eine wichtige Rolle in der Knochenneubildung inne und zeigt die Aktivität der Osteoblasten an. OC enthält Glutamatreste, die unter dem Einfluss von Vitamin K carboxyliert und durch Warfarin gehemmt werden (2, 5). Das in Osteoblasten neu gebildete OC wird in den Extrazellulärraum abgegeben und zum Teil aber auch in die Knochenmatrix eingebaut. Osteocalcin wird in vivo und in vitro rasch abgebaut, und sowohl das intakte Molekül als auch Fragmente finden sich in der Zirkulation (5). Es wird über die Niere ausgeschieden und kann bei Niereninsuffizienz akkumulieren. OC zeigt einen geringen Tagesrhythmus (< 10  %), es wird nicht durch Nahrungsaufnahme beeinflusst (5). Nach der Blutentnahme ist das Osteocalcin instabil, und die Probe muss deshalb rasch verarbeitet und analysiert werden. Damit ist dieser Parameter zur Anwendung im klinischen Alltag ungeeignet. In hämolysierten Serumproben nimmt die Immunoreaktivität bis zu 90  % ab (2).

Obwohl nur ein kleiner Anteil des neu synthetisierten OC in den Extrazellulärraum gelangt, ist es ein guter Paramater zur Beurteilung der Knochenformation. Die aus dem Knochenabbau freigesetzten Fragmente finden sich in nur sehr geringer Konzentration im Blut.

Es gibt Hinweise, dass die «untercarboxylierte» Form des OC während des Knochenabbaus freigesetzt wird und den Energie- und Glukosestoffwechsel beeinflusst (2, 15).

Assays für OC basieren hauptsächlich auf Gesamt-OC oder N-MID-OC und sind manuelle ELISA oder Immunoassays auf Autoanalyzern (2).

Knochenspezifische alkalische Phosphatase (BALP)
BALP wird von den Osteoblasten sezerniert und spielt eine Rolle bei der Knochenmineralisierung und trägt bis zur Hälfte der Gesamtaktivität der alkalischen Phosphatase im Serum von Erwachsenen bei, aber einen grösseren Anteil während des Wachstums bei Kindern. Da BALP von der Leber eliminiert wird und nicht über die Nieren ausgeschieden wird, wird seine Konzentration nicht direkt von der Nierenfunktion beeinflusst (2, 5). Damit ist die BALP auch ein wichtiger Parameter bei der Beurteilung des Knochenstoffwechsels bei Niereninsuffizienz.

Es gibt mehrere Methoden zur Messung der BALP-Masse und -Aktivität, wie z. B. Hitzeinaktivierung, Elektrophorese, Weizenkeim-Lektin-Fällung, HPLC und Immunoassays (114–118). Die Immunoassays sind am geeignetsten für den klinischen Einsatz, da sie monoklonale Antikörper verwenden, die spezifisch für die BALP sind. Die Knochen-isoform ist seit Kurzem auch auf einer automatisierten Plattform verfügbar (IDS-iSYS, Immunodiagnostic Systems) (16). Die alkalische Phosphatase der Leber zeigt eine Kreuzreaktivität von etwa 10–20 % in der Bestimmung mit der BALP.
Die Serumkonzentrationen der BALP weisen keinen zirkadianen Rhythmus auf und werden nicht durch Nahrungsaufnahme beeinflusst und können damit zu jeder Tageszeit abgenommen werden (2, 17).

C-terminales Telopeptid (ßCTX)
Im Kollagenmolekül gibt es einen N-Telopeptid- (NTX) und C-Telopeptid-Bereich (CTX) (Abb. 2) Beim Kollagenabbau werden NTX und CTX freigesetzt und können im Serum oder Urin gemessen werden. Auch bei diesen Abbaumarkern hat sich gezeigt, dass die Bestimmung des CTX am geeignetsten ist, die Knochenabbauaktivität zu beurteilen, weswegen CTX als Referenzmarker empfohlen wird (6).

Beim CTX findet nach einigen Monaten eine Beta-Isomerisierung statt. Diese Isomerisierung findet sich nicht bei NTX. Die Alpha- und Beta-Formen von CTX können beide im Urin mittels ELISA gemessen werden (18). Die Alpha-Form spiegelt die Neusynthese von Kollagen wider, wie sie bei hohem Knochenumsatz wie der Paget-Krankheit, malignen Knochenerkrankungen oder physiologischerweise bei Kindern vorkommt. Die Beta-Form spiegelt reiferes Kollagen wider und ist bei Erkrankungen wie Osteoporose oder bei gesunden Erwachsenen häufiger anzutreffen (19).
CTX wird in der Regel (in der Beta-Form: ßCTX) im Plasma (oder Serum) gemessen, da es im Urin eine sehr grosse Variabilität von Tag zu Tag aufweist. NTX wird in der Regel im Urin bestimmt. Die Bestimmung von NTX im Serum zeigt nur geringe Veränderungen unter einer antiresorptiven Therapie bei Osteoporose und hat sich daher nicht durchgesetzt.

CTX im Serum kann mit ELISA und seit Längerem mit Immunoassays auf zwei automatisierten Plattformen (Roche Diagnostics und IDS-iSYS, Immunodiagnostic Systems) gemessen werden. Beide Systeme benutzen den gleichen monoklonalen Antikörper. Es besteht aber ein Bedarf einer Standardisierung und Harmonisierung dieser beiden Assays, da bei Vergleichsstudien unterschiedliche Resultate gefunden wurden (2, 20). Eine Anpassung der beiden Assays hat vor Kurzem stattgefunden.

CTX kann entweder im Serum oder Plasma analysiert werden. Im Serum ist das CTX nur ca. 8 Stunden stabil, im EDTA über mehrere Tage. CTX unterliegt tageszeitlichen Schwankungen: die Werte sind morgens am höchsten und nehmen im Tagesverlauf ab. Aus diesem Grund wird empfohlen, die Blutproben immer zur gleichen Tageszeit morgens zu entnehmen.

Tartrat-resistente saure Phosphatase (TRACP)
Die Tartrat-resistente saure Phosphatase (TRACP) wird von verschiedenen Zellen der Monozyten-/Makrophagenlinie wie Osteoklasten, aktivierte Makrophagen oder dendritische Zellen exprimiert (21–23). Im Serum finden sich die Isoformen TRACP-5a und -5b. Diese unterscheiden sich durch eine posttranslationale Modifikation. Erhöhte TRACP-5a-Werte finden sich bei entzündlichen rheumatologischen Erkrankungen wie die Polyarthritis (22, 23). Die TRACP-5b wird hauptsächlich von Osteoklasten sezerniert, korreliert mit dem Knochenabbau sowie der Anzahl der aktiven Osteoklasten und wird im Allgemeinen als zytochemischer Marker verwendet, um Osteoklasten von anderen Knochenzellen zu unterscheiden (21, 22). Nach der Freisetzung in den Extrazellulärraum wird die TRACP-5b inaktiviert und zerfällt in Fragmente, welche von der Leber abgebaut werden. Damit ist die TRACP-5b zur Beurteilung der Osteoklastenaktivität auch bei Niereninsuffizienz geeignet.

Im Serum kann TRACP-5b entweder mit spektrophotometrischen Verfahren oder mit Immunoassays gemessen werden (22–25). Eine Adaptation eines Immunoassays an eine automatisierte Plattform wurde kürzlich vorgenommen (IDS-iSYS, Immunodiagnostic Systems).

Die Serumkonzentration von TRACP-5b weist einen nur sehr geringen Tagesrhythmus (10–12  %) auf und wird nicht durch die Nahrungsaufnahme beeinflusst (23, 26).

Nach der Blutentnahme wird die TRACP rasch abgebaut und muss deshalb innert einer Stunde zentrifugiert und eingefroren werden. Die Zugabe eines Citratpuffers ins Blutentnahmegefäss kann die Stabilität verlängern.
Insgesamt ist TRACP-5b im Serum ein Marker für die Anzahl Osteoklasten und die Knochenresorption. Sie hat den Vorteil, dass sie die Osteoklasten, d. h. die eigentliche zelluläre Aktivität, widerspiegelt und nicht nur den Kollagenabbau, der dieser Aktivität untergeordnet ist.

Pyridinium-Crosslinks
Die 3-Hydroxypyridinium-Quervernetzungen von Kollagen, Pyridinolin (PYD) und Deoxypyridinolin (DPD) werden während der extrazellulären Reifung von Kollagenen gebildet. Sie überbrücken als Querverbindungen mehrere Kollagenpeptide und stabilisieren das Kollagenmolekül (21). Sie sind nur in reifen, aber nicht in unreifen oder neu synthetisierten Kollagenen vom Typ I, II und III zu finden. Während PYD in Knorpel, Knochen, Bändern und Gefässen vorkommt, ist DPD fast ausschliesslich in Knochen und Dentin zu finden. Da Knochen einen viel höheren Umsatz haben als Knorpel, Bänder, Gefässe oder Sehnen, stammen die gemessenen Mengen an PYD und DPD im Serum oder Urin hauptsächlich aus dem Knochenumbau. Beim Kollagenabbau werden die Pyridinolin-Crosslinks freigesetzt und über die Nieren ausgeschieden.

Die Methoden für die Messung der Pyridinolin-Crosslink-Konzentration im Urin sind HPLC-Analysen mit oder ohne Hydrolyse des Urins und Immunoassays (27). Obwohl die HPLC-Analyse als Referenzmethode gilt, ist sie umständlich und arbeitsintensiv. Gleichzeitig weisen die im Urin gemessenen Knochenumbaumarker eine deutlich höhere biologische Variabilität auf als die im Serum gemessenen Marker (siehe unten), sodass heute die letzteren bevorzugt werden.

Praktische Aspekte

Beim Einsatz und dann vor allem auch bei der Interpretation der Resultate der biochemischen Marker gilt es, die verschiedenen Quellen der Variabilität dieser Marker zu berücksichtigen. Einerseits werden die Resultate durch die analytische Präzision, die bei den verschiedenen zur Verfügung stehenden Assays sehr unterschiedlich ist, beeinflusst. Andererseits wird das Resultat durch präanalytische Bedingungen wie Tagesschwankungen, Tag-zu-Tag-Schwankungen, Nahrungsaufnahme und dann auch die Stabilität des Markers nach der Blutentnahme mitbestimmt.
Die analytische Variabilität konnte durch Applikation dieser Messungen auf Autoanalyzer deutlich verringert und damit auch standardisiert werden (Tab. 1).

Die biochemischen Marker des Knochenstoffwechsels, v. a. die Knochenabbaumarker ßCTX und PYD, zeigen eine mehr oder weniger ausgeprägte zirkadiane Rhythmik mit den höchsten Werten in den frühen Morgenstunden und den tiefsten Werten während des Nachmittags und der Nacht. Der Einfluss der Nahrungsaufnahme ist ebenfalls variabel. Diese kann für ßCTX 20–40  % betragen. Die Knochenanbaumarker (BALP, PINP) weisen in der Regel einen geringeren Tagesrhythmus auf (< 10  %) und sind weniger durch Nahrungsaufnahme beeinflusst. Dies bedeutet, dass die Probenentnahme in der Regel am Morgen nüchtern zwischen 7.30 h und 10 h erfolgen sollte. Die Probe für die Knochenanbaumarker BALP und P1NP können auch im Laufe des Tages und nach Nahrungsaufnahme entnommen werden. Die Probenstabilität nach der Entnahme sollte beachtet werden (Serum versus EDTA-Plasma) (Tab. 1).

Die biochemischen Marker zeigen eine intraindividuelle Tag-zu-Tag-Variabilität, in der Regel beträgt diese Variabilität 5–10  % für die Knochenanbaumarker und 10– 15  % für die Knochenabbaumarker (Tab. 1).

Bei der Interpretation der Messresultate müssen auch die nicht kontrollierbaren Aspekte, welche zur Variabilität beitragen, berücksichtigt werden (Alter, Geschlecht, kürzlich erlittene Fraktur, bereits eingeleitete Behandlung der Osteoporose und Komorbiditäten, wie z. B. Niereninsuffizienz). Bei einer Fraktur steigen die PINP- und ßCTX-I-Spiegel im Serum in den ersten Wochen nach der Fraktur steil an (um bis zu 150  %) (2, 3, 8). ßCTX erreicht 4 Wochen nach der Fraktur und PINP 12 Wochen nach der Fraktur einen Spitzenwert; danach nehmen die Werte ab, können aber noch mehr als 1 Jahr nach der Fraktur erhöht bleiben. Eine intensive sportliche Aktivität kann die Knochenumbaumarker ebenfalls verändern (leichter Anstieg von ßCTX und leichter Abfall von PINP), damit sollte eine solche idealerweise am Tag vor und am Tag der Probenentnahme vermieden werden (8).

Klinische Bedeutung der Knochen­umbaumarker

Vorhersage des Knochensubstanzverlustes

Die Knochenumbaumarker ermöglichen eine dynamische Bewertung des Knochenumbaus, da sie die Aktivität der Knochenzellen widerspiegeln. Sie helfen, mögliche Ursachen einer sekundären Osteoporose zu ermitteln, indem Patienten mit hohem Knochenumsatz und schnellem Knochenverlust identifiziert werden.

Die hauptsächlichen Ursachen für den Knochensubstanzverlust in der zweiten Lebenshälfte, und damit für die Entstehung der postmenopausalen Osteoporose, ist der Ös­trogenmangel in der Menopause, bei beiden Geschlechtern Alterungsprozesse, Lebensstil und Umweltfaktoren sowie Krankheiten, die zu einem vermehrten Knochensubstanzverlust führen.

Der Östrogenmangel nach Beginn der Menopause führt zu einer Zunahme des Knochenumbaus und damit zu einem Anstieg der Knochenumbaumarker. Dieser Anstieg wurde in mehreren Studien mit einem schnelleren Knochenverlust in Verbindung gebracht (3, 5, 28). Höhere Werte für alle Marker korrelierten signifikant (wenn auch mässig) mit der Geschwindigkeit des Knochenverlustes. Die Vorhersage des Knochenverlustes auf individueller Basis ist jedoch schwach, da für einen gegebenen Wert eines Markers eine grosse Streuung der individuellen Werte des nachfolgenden Knochenverlustes besteht. Eine einzelne Messung eines Knochenumbaumarkers kann also das Ausmass des individuellen Knochensubstanzverlustes nicht vorhersagen. Erhöhte Knochenumbaumarker können allenfalls als Risikofaktoren für einen schnellen Knochenabbau angesehen werden.

Evaluation des Frakturrisikos

Prospektive Studien über den Zusammenhang zwischen Knochenumbaumarker und Frakturen bei postmenopausalen Frauen zeigten, dass je höher die Werte für die Umbaumarker sind, desto höher das Frakturrisiko ist (18). Die Assoziation mit dem Frakturrisiko zeigte sich v. a. mit den Knochenabbaumarkern und der alkalischen Knochenphosphatase und weniger mit anderen Knochenanbaumarkern (2, 3, 14). Eine Assoziation zwischen erhöhten Knochenumbauwerten und den Frakturen besteht vor allem für Wirbel- und Hüftfrakturen bei postmenopausalen und älteren Frauen und zum Teil auch bei Männern (2, 3, 29).

Interessanterweise sind erhöhte Knochenumbaumarker unabhängig von der gemessenen Knochendichte mit dem Frakturrisiko assoziiert. In einer Metaanalyse von sechs prospektiven Kohorten mit Frauen und Männern, bei denen ßCTX und PINP untersucht wurden, war das Risiko einer Fraktur um 23  % und 18  % pro Standard-Deviation- Erhöhung von PINP oder ßCTX erhöht (2, 3, 14, 30). Die prädiktive Wertigkeit der Knochenumbaumarker wurde vorwiegend für kürzere Zeitintervalle (bis 5–7 Jahre) gezeigt. Dies beschränkt ihren Nutzen für die langfristige Vorhersage von Frakturen in Risikorechnern wie FRAX, macht sie aber für die kurzfristige Vorhersage des Frakturrisikos in populationsbasierten Studien attraktiv (2, 3, 14).

Komorbiditäten können die Beziehung zwischen den Knochenumbaumarkern zur Vorhersage des Frakturrisikos beeinflussen. Beispielsweise zeigte sich, dass bei Patienten mit einem Diabetes mellitus Typ 2 die Knochendichtemessungen das Frakturrisiko unterschätzen (31, 32). Daher ist die Frage, wie BTMs am besten zur Abschätzung des Frakturrisikos bei Patienten mit Typ 2 Diabetes eingesetzt werden können, noch offen.

Therapiemonitoring

Kontrollen unter Therapie
Der wichtigste Bereich für den klinischen Einsatz von Knochenumbaumarkern ist das Monitoring antiresorptiver oder knochenanaboler Osteoporosetherapien. Das oberste Ziel bei der Behandlung von Patienten mit Osteoporose ist die Verringerung ihres Frakturrisikos. Die kurzfristige Inzidenz osteoporotischer Frakturen ist jedoch gering, und das Ausbleiben von Frakturen während der Behandlung bedeutet nicht zwingend, dass eine Behandlung wirksam ist. Daher werden zur Überwachung der Osteoporosetherapie serielle Messungen von Veränderungen der Knochendichte als Surrogatmarker für die therapeutische Wirksamkeit eingesetzt. Veränderungen der Knochendichte treten jedoch langsam auf, sodass therapeutische Wirkungen in der Regel erst nach mindestens 1–2 Jahren der Behandlung nachweisbar werden. Im Gegensatz dazu ändern sich die Knochenumbaumarkerwerte als Reaktion auf anabole und antiresorptive Behandlungen kurzfristig.

Die Änderung der Knochenumbaumarker unter Therapie können einerseits mit dem «least significant change» (kleinste signifikante Änderung, LSC; neuerdings auch «reference change value», RCV, genannt) oder andererseits gemäss dem «Referenzmittelwert»-Ansatz beurteilt werden. Der LSC wird unter Berücksichtigung der analytischen Variabilität und der intraindividuellen Variabiltät (LSC = 2.77 x intraindividelle Variabilität für eine 95  %- Wahrscheinlichkeit einer signifikanten Änderung) berechnet. Das Problem mit dem LSC-Ansatz ist, dass zwei Messungen erforderlich sind, was in der klinischen Praxis nicht immer möglich ist. Aus diesem Grund wird ein zweiter Ansatz vorgeschlagen, der den Durchschnittswert für junge prämenopausale Frauen verwendet («Referenzmittelwert»-Ansatz). Bei diesem Ansatz wird die individuelle Veränderung im Vergleich zu den prämenopausalen Referenzbereichen festgelegt. Unter einer antiresorptiven Therapie sollte als Therapieerfolg eine Abnahme erhöhter Resorptionsmarker wie ßCTX in die mittlere bis untere Hälfte des Referenzbereiches erreicht werden (13, 14).

Die Veränderung der Marker hängt vom eingesetzten Therapeutikum und dem gemessenen Marker ab (Tab. 2). Findet eine zu geringe Veränderung statt, kann dies ein Hinweis auf eine schlechte Compliance des Patienten oder eine unsachgemässe Verabreichung des Medikaments sein.

Antiresorptive Therapie
Eine antiresorptive Behandlung bewirkt eine rasche Abnahme der Knochenresorptionsmarker nach bereits 2–4 Wochen und mit einem Nadir nach 3–6 Monaten. Die Abnahme der Knochenanbaumarker, infolge der physiologischen Kopplung von Anbau und Abbau, ist verzögert und erreicht nach 6–12 Monaten ein Plateau. Mehrere Studien haben gezeigt, dass eine kurzfristige Abnahme des Knochenumbaus bei Frauen, die mit Hormonersatztherapie Raloxifen, Risedronat und Alendronat behandelt wurden, mit der Zunahme der Knochendichte nach 1–2 Jahren und einer Abnahme des Risikos von Wirbelkörper- und/oder anderen Frakturen einhergeht (7, 13, 14).

Es wird empfohlen, bei einer oralen Bisphosphonattherapie die Knochenumbaumarker zur Beurteilung der Compliance und der Behandlung einzusetzen unter Verwendung von ßCTX und PINP. Eine Messung vor Beginn der Behandlung und eine Wiederholung nach 3 Monaten erlaubt eine Beurteilung mit gewünschter Abnahme der Knochenumbaumarker über den «least significant change»-Wert (LSC) hinaus (siehe oben und Tab. 2).

Bei einer parenteralen Behandlung mit Zoledronat kommt es bereits nach 2 Wochen zu einer deutlichen Abnahme von ßCTX, und bei kontinuierlicher Therapie bleibt die Suppression von ßCTX und PINP bestehen. Es gibt Hinweise, dass zur Beurteilung der klinischen Wirksamkeit (Frakturen) und «Responders» PINP geeigneter ist als ßCTX (oder die Knochendichte). Ähnlich wie bei einer oralen Bisphosphonattherapie zeigt sich auch bei der Zoledronat-Therapie eine positive Korrelation zwischen einer Abnahme von PINP und der Verringerung des Risikos vertebraler Frakturen (13).
Denosumab ist ein monoklonaler Antikörper gegen RANKL, der subkutan verabreicht wird und den Knochenabbau rasch hemmt, was sich in einem sehr schnellen ­Abfall der Knochenresorptionswerte auf nahezu nicht nachweisbare Werte des Markers ßCTX innerhalb weniger Tage nach der Verabreichung äussert. Auch das Serum-PINP wird durch die Denosumab-Behandlung supprimiert, aber die Abnahme ist nicht so ausgeprägt wie bei ßCTX und kommt mit einer Verzögerung von 3–6 Monaten zustande.

Beim Absetzen der Denosumab-Behandlung kommt es, im Gegensatz zu den Bisphosphonaten, zu einem ausgeprägten Wiederanstieg der Knochenumbaumarker, und zwar über die Werte vor der Behandlung. Dieser sog. Rebound-Effekt ist mit einem beschleunigten Knochenmassenverlust und einem erhöhten Risiko für vertebrale Frakturen assoziiert. Das Monitoring mithilfe der Knochenumbaumarker hilft bei der Beurteilung des Zeitpunktes einer sequenziellen Bisphosphonattherapie (14, 33).

Anabole Therapie
Die Behandlung mit dem Parathormon-Analogon Teriparatid bewirkt einen schnellen, innerhalb von Tagen eintretenden Anstieg des Knochenanbaumarkers PINP mit einem Maximum nach 3–4 Monaten. Die Knochenabbaumarker zeigen einen verzögerten und weniger ausgeprägten Anstieg als die Knochenanbaumarker. Die Knochenanbaumarker, insbesondere PINP, korrelieren mit dem Anstieg der Knochenmineralgehaltswerten. Die Frakturrisikoreduktion unter der Teriparatid-Therapie ist unabhängig vom Ausgangswert von P1NP (3). Es gibt keine Studien, die den Zusammenhang zwischen Veränderung der Knochenanbaumarker und der Frakturrisikoreduktion untersucht haben.

Für die Überwachung von Patienten, welche mit Teriparatid behandelt werden, wurde ein Algorithmus mit Knochenumbaumarkern vorgeschlagen. Das PINP sollte vor der Behandlung und dann 1 und 3 Monate nach Beginn der Behandlung überprüft werden. Ein Anstieg des PINP um mehr als den LSC von 10 μg/l und ein Anstieg über den Referenzbereich gilt als gutes Ansprechen auf die Behandlung (2, 3, 14). Nach zweijähriger Behandlung und vor einer sequenziellen antiresorptiven Behandlung sind Messungen von PINP und der Knochendichte zu empfehlen (2, 13).
Romosozumab ist ein monoklonaler Antikörper, der Sklerostin bindet und dessen Wirkung blockiert. Die einzigartige Wirkungsweise besteht darin, dass der Knochenanbau angeregt und gleichzeitig der Knochenabbau gehemmt wird (34). Unter der Behandlung kommt es zu einem vo­rübergehenden Anstieg von PINP mit einem Peak nach ca. 2 Wochen und einer Abnahme auf den Ausgangswert nach ca. 9 Monaten (2). OC und BALP verhalten sich ähnlich. Die Werte für ßCTX nehmen rasch ab (Nadir nach ca. 2 Wochen) und kehren 3–6 Wochen nach der letzten Dosis zum Ausgangswert zurück (2, 34). Romosozumab wurde vor Kurzem in einigen Ländern zugelassen, doch gibt es noch keine offiziellen Empfehlungen für den Einsatz von Knochenumbaumarkern für das Therapiemonitoring.

Kontrollen bei Therapiepause («drug holiday»)

Die Knochenumbaumarker können auch zur Beurteilung des Nachlassens des Therapieeffektes und Notwendigkeit einer Wiederaufnahme der Therapie eingesetzt werden.

Im Allgemeinen wird empfohlen, bei moderat erhöhtem Frakturrisiko eine Bisphosphonattherapie nach 3–5 Jahren zu pausieren, um das Risiko für die seltenen unerwünschten Wirkungen einer Langzeittherapie wie atypische Femurfrakturen zu minimieren. Bisphosphonate binden sich an den Knochen und verbleiben über längere Zeit im Skelett (2, 5, 13, 35). Damit persistiert auch nach dem Absetzen der Bisphosphonate eine residuelle Wirkung, im Gegensatz zu anderen antiresorptiven Therapien, bei denen die Wirkung nach Absetzen schnell nachlässt (d. h. bei Denosumab, Östrogenen oder Raloxifen). Eine generelle Empfehlung, in welchen Abständen eine Bestimmung der Knochenumbaumarker angezeigt ist, gibt es nicht. Es scheint sinnvoll, eine Bestimmung in ein- bis zweijährlichen Intervallen vorzunehmen. Bei der Beurteilung, ob eine Wiederaufnahme der Behandlung zu erwägen ist, kann, wie bei der Verlaufskontrolle unter Therapie, der LSC-Ansatz oder ein Anstieg der Werte über den Mittelwert prämenopausaler Frauen herangezogen werden.

Die Beendigung der Denosumab-Therapie führt zu einem erneuten ausgeprägten Anstieg des Knochenumbaus etwa 8–9 Monate nach der letzten Dosis. Die Knochenumbau­marker können bei der Identifikation von Patienten mit einem erhöhten Risiko für diese Komplikation und um die Bisphosphonatbehandlung in Dosierung und Applikationsfrequenz zu leiten, eingesetzt werden. Die European Calcified Tissue Society (ECTS) hat eine Leitlinie veröffentlicht: Darin wird empfohlen, die Knochenumbaumarker nach 3 und 6 Monaten nach Absetzen von Denosumab zu bestimmen. Steigen die Werte über den prämenopausalen Referenzwert an, ist der Einsatz bzw. eine Wiederholung einer Bisphosphonattherapie (idealerweise mit Zoledronat) angezeigt (2, 14, 33).

Prof. em. Dr. med. Marius Kränzlin

Speziallabor Hormone und Knochenstoffwechsel
Aeschenvorstadt 57
4051 Basel

marius.kraenzlin@unibas.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Praxisassistenz und Curriculum: Bedeutung für den ­Nachwuchs in der Grundversorgung im Kanton Zürich

Praxisassistenzprogramme sowie hausärztliche Curricula bieten einen niederschwelligen und attraktiven Zugang zur Weiterbildung in der Grundversorgung. Dadurch sollen mittelfristig mehr Ärztinnen und Ärzte für eine Karriere in der Grundversorgung gewonnen werden. In dieser Arbeit wurden Ehemalige aus dem Kanton Zürich zu ihrem Karriereverlauf und der inhaltlichen Gestaltung hausärztlicher Curricula befragt. Von 178 Ehemaligen haben 46.6 % (83 Ehemalige) die Umfrage vollständig ausgefüllt. Eine abgeschlossene Weiterbildung haben 79.5 %, und 84.3 % möchten mittelfristig in der Grundversorgung arbeiten. Die Mehrheit hat eine Tätigkeit im Kanton Zürich aufgenommen. Dermatologie, ORL, Rheumatologie und Psychiatrie wurden als die attraktivsten Fächer im Rahmen eines Curriculums bewertet. Die Resultate dieser Arbeit zeigen, dass die Programme ein wichtiges Instrument zur Förderung des ärztlichen Nachwuchses in der Grundversorgung sind.

Schlüsselwörter: Praxisassistenzprogramm, Praxisassistenz, Curriculum Hausarztmedizin, Schweiz, Zürich

Einleitung

Im Bereich der ambulanten medizinischen Grundversorgung, konkret in der Hausarztmedizin und der Kinder- und Jugendmedizin (KJM), fehlt es in der Schweiz an Ärztinnen und Ärzten. Aufgrund der Demografie der Ärzteschaft wird sich die Situation zunehmend verschärfen, wenn nicht mehr Ärztinnen und Ärzte eine Tätigkeit in diesem Bereich aufnehmen (1, 2). In Anbetracht des bereits spürbaren Mangels wurde in den letzten Jahren die Hausarztmedizin als auch die KJM sowohl in der universitären Ausbildung als auch in der Weiterbildung von Assistenzärztinnen und Assistenzärzten gestärkt.

Konkret ermöglichen Praxisassistenzprogramme jungen Assistenzärztinnen und Assistenzärzten, einen Teil ihrer Weiterbildung zur Fachärztin bzw. zum Facharzt für Allgemeine Innere Medizin (AIM) oder KJM in einer Grundversorgerpraxis zu absolvieren (3). Praxisassistenzen stellen für junge Ärztinnen und Ärzte eine konkrete Möglichkeit dar, eine Alternative zur klassischen Spitalmedizin kennenzulernen bzw. zu erleben und damit ein potenzielles Karriereziel zu entdecken. Gleichzeitig ermöglichen die Praxisassistenzen, sich gezielt auf die spätere Tätigkeit in der Grundversorgung vorzubereiten. Die Attraktivität einer Karriere in der Grundversorgermedizin soll durch die Praxisassistenzprogramme somit erhöht und dem Mangel an Grundversorgern mittel- und langfristig begegnet werden. Zusätzlich zu den Praxisassistenzprogrammen bieten viele Kantone hausärztliche Curricula an (4). Diese bestehen neben einer Praxisassistenz aus zusätzlichen Weiterbildungsabschnitten in für die Hausarztmedizin relevanten Fachrichtungen, wie zum Beispiel der Dermatologie oder der Rheumatologie. Neben der unmittelbaren Bedeutung dieser Programme für die Ausbildung junger Ärztinnen und Ärzte erlangen gerade die Praxisassistenzprogramme für die etablierten Arztpraxen eine zunehmende Bedeutung. Viele Fachärztinnen und Fachärzte erreichen bald das Pensionsalter, und aufgrund des Nachwuchsmangels gestalten sich die Rekrutierung von ärztlichem Personal und die Übergabe der eigenen Praxis schwierig. Daten aus den Kantonen Bern und Solothurn zeigen, dass ehemalige Praxisassistentinnen und Praxisassistenten den Einstieg in die Praxistätigkeit häufig in der ehemaligen Lehrpraxis hatten (5, 6). Praxisassistenzprogramme stellen daher auch ein gewolltes Instrument der unmittelbaren Nachwuchsrekrutierung dar. Das Praxisassistenzprogramm im Kanton Zürich wurde über die letzten Jahre kontinuierlich ausgebaut, und aktuell (Stand 2024) können jährlich 42 Praxisassistenzstellen vergeben werden, wovon mindestens 8 Stellen für die KJM reserviert werden. Die verfügbaren Stellen im zweijährigen Curriculum Hausarztmedizin, mit Rotationen in die Dermatologie, Oto-Rhino-Laryngologie (ORL) und Rheumatologie, sind auf Jahre hin ausgebucht. Kenntnisse über eine erfolgreiche Nachwuchsförderung im Rahmen der Programme sowie Kenntnisse darüber, welcher Bedarf an Rotationsstellen im Rahmen hausärztlicher Curricula besteht, sind für die Organisation und den Ausbau der Programme von grosser Bedeutung. Das Ziel dieser Arbeit war es daher zu erheben, wie viele ehemalige Assistenzärztinnen und Assistenzärzte sich für eine Grundversorgertätigkeit entschieden haben und welche Rotationsstellen im Rahmen eines hausärztlichen Curriculums als sinnvoll und damit attraktiv erachtet werden.

Methoden

Die Daten für diese Studie wurden mittels einer Online-umfrage erhoben. Ehemalige Assistenzärztinnen und Assistenzärzte aus dem Praxisassistenzprogramm (AA-PA) sowie dem Curriculum Hausarztmedizin (AA-CU), welche ab 2015 an den Programmen teilgenommen hatten, wurden eingeladen, an der Umfrage teilzunehmen. Der Umfragezeitraum war von Dezember 2023 bis Februar 2024.
Die Umfrage bestand aus insgesamt 62 Fragen. Neben allgemeinen Fragen zur Person wurden spezifische Fragen zu den Themenblöcken aktuelle und zukünftige Arbeitssituation sowie zur Ausgestaltung eines Curriculums Hausarztmedizin gestellt. Die Umfrage beinhaltete adaptive Fragestellungen. So wurden zum Beispiel die Fragen zur Ausgestaltung eines Curriculums Hausarztmedizin als Teil des Facharztes AIM nicht an ehemalige AA-PA einer pädiatrischen Praxisassistenz gestellt.

Statistik

Für die Analyse wurden nur die Ergebnisse der vollständig ausgefüllten Fragebögen verwendet (complete case analysis). Die statistische Analyse erfolgte mit der Software R (Version 4.4.0) (7). Die Ergebnisse wurden deskriptiv als absolute Zahlen und Prozentsätze, N (%), für kategoriale oder binäre Variablen und als Mittelwert (Standardabweichung [SD]) für kontinuierliche Variablen dargestellt. Das kumulative Arbeitszeitpensum wurde aus dem Produkt von Anzahl Monaten und dem Arbeitspensum ermittelt (Stellenprozent).

Ethik und Informed Consent

Die Durchführung einer anonymen Onlineumfrage fällt nicht unter das Humanforschungsgesetz, und die kantonale Ethikkommission Zürich bescheinigte die entsprechende Nichtzuständigkeit (Basec Nummer: Req-2023-01085). Alle Teilnehmenden wurden auf der ersten Seite der Umfrage über Ziel und Zweck der Umfrage, die Freiwilligkeit der Teilnahme, die wissenschaftliche Auswertung und Intention zur Publikation der aggregierten Daten informiert. Die Teilnahme an der Umfrage war freiwillig und anonym.

Resultate

Die Einladung zur Teilnahme an der Umfrage wurde an 178 ehemalige AA-PA/AA-CU versandt, und 109 (61.3 %) hatten die Onlineumfrage geöffnet. In die Auswertung einbezogen wurden die Antworten von 83 (46.6 %) vollständig ausgefüllten Fragebögen. Diese stammten mehrheitlich von ehemaligen AA-PA AIM (37, 44.6 %) und ehemaligen AA-CU (26, 31.3 %). 20 Antworten (24.1 %) stammten von ehemaligen AA-PA KJM. Das mittlere Alter betrug 36.3 Jahre (SD 4.1), und 72.3 % waren weiblich.

Aktuelle Arbeitssituation

Die Mehrheit der ehemaligen AA-PA/AA-CU (66, 79.5 %) gab an, bereits eine abgeschlossene Weiterbildung zu haben, welche ein eigenverantwortliches Arbeiten in der Grundversorgung erlaubt (Facharzt AIM/KJM oder Praktische Ärztin/Praktischer Arzt). Von diesen gaben 55 (83.3 %) an, in den zwölf Monaten vor Teilnahme an der Umfrage mindestens einen Monat in der Grundversorgung gearbeitet zu haben (Abb. 1). Durchschnittlich wurden 9.7 Monate (SD 3.3) in der Grundversorgung gearbeitet, und 18.2 % arbeiteten in mehr als einer Grundversorgerpraxis. Die Mehrheit (57, 87.7 %) der ehemaligen AA-PA/AA-CU hatte im Kanton Zürich gearbeitet (Abb. 2).
Nach Ende der Praxisassistenzzeit hatten 40 (48.2 %) der ehemaligen AA-PA/AA-CU noch einmal in ihrer alten Lehrpraxis gearbeitet. Von diesen hatten 31 (77.5 %) die Zeit in der Lehrpraxis unmittelbar an die Praxisassistenz verlängert, und 33 (82.5 % bzw. 50 % aller ehemaligen AA-PA/AA-CU mit abgeschlossener Weiterbildung) hatten ihren Praxiseinstieg in ihrer ehemaligen Lehrpraxis.

Karrierepläne der ehemaligen AA-PA/AA-CU

Unabhängig des aktuellen Weiterbildungsstands planen 70 % bzw. 84 % kurzfristig bzw. mittelfristig die Aufnahme einer Grundversorgertätigkeit (Abb. S1). Bei Ehemaligen mit abgeschlossener Weiterbildung erhöhen sich die Anteile auf 82 % bzw. 89 %. Von den ehemaligen AA-PA/AA-CU, welche mittelfristig die Aufnahme einer Grundversorgertätigkeit planen, gab die Mehrheit an, den Entscheid bereits vor (34, 48.6 %) oder während (26, 37.1 %) der Praxisassistenz getroffen zu haben. Von den neun ehemaligen AA-PA/AA-CU, welche mittelfristig keine Aufnahme einer Grundversorgertätigkeit planen, gab die Mehrheit an, den Entscheid während (4, 44.4 %) oder nach (3, 33.3 %) der Praxisassistenz getroffen zu haben. Bei acht der neun ehemaligen AA-PA/AA-CU war eine Spitalkarriere das neue Karriereziel. Eine Übersicht über die Faktoren, welche den Entscheid über die zukünftige Karriere der ehemaligen AA-PA/AA-CU mitbeeinflusst haben, ist in Abb. S2 dargestellt. Stratifiziert nach ehemaligen AA-PA/AA-CU, welche angegeben hatten, mittelfristig in der Grundversorgung zu arbeiten, zeigte sich, dass Faktoren wie der hohe Anteil an klinischer Arbeit und die Arzt-Patienten-Beziehung signifikant häufiger als wichtig bewertet wurden. Im Gegensatz wurden Karrieremöglichkeiten signifikant seltener als wichtig bewertet (Abb. S3).

Zukünftige Curricula in der Hausarztmedizin

Insgesamt haben 21 (56.8 %) der 37 ehemaligen AA-PA AIM berichtet, dass sie gerne an einem Curriculum Hausarztmedizin teilgenommen hätten. Abb. S4 zeigt die für ein Curriculum am relevantesten beurteilten Rotationsstellen. Die Dermatologie, ORL, Rheumatologie und Psychiatrie wurden dabei als am relevantesten beurteilt. Ambulante Arztpraxen wurden von 95 % der Umfrageteilnehmer als die am ehesten geeigneten Ausbildungsstätten bewertet, wohingegen nur 61 % die Universitätsspitäler als geeignet betrachteten. Grössere und kleinere Spitäler wurden von 87 % bzw. 89 % als geeignet bewertet (Abb. S5).

Diskussion

In dieser Arbeit wurden ehemalige Assistenzärztinnen und Assistenzärzte aus dem Zürcher Praxisassistenzprogramm sowie dem Curriculum Hausarztmedizin über ihre aktuelle und geplante Arbeitssituation sowie über als sinnvoll erachtete Rotationen in Bezug auf zukünftige hausärztliche Curricula befragt. Ein Grossteil der ehemaligen AA-PA/AA-CU hat die Weiterbildung bereits abgeschlossen und übt eine Grundversorgertätigkeit im Kanton Zürich aus. Im Hinblick auf hausärztliche Curricula werden die Fächer Dermatologie, ORL, Rheumatologie und Psychiatrie als die am relevantesten Fächer für eine spätere Grundversorgerkarriere bewertet, und Ausbildungsplätze in diesen Fächern in ambulanten Praxen werden als am vorteilhaftesten angesehen.

Ein Grossteil der ehemaligen AA-PA/AA-CU plant, die aktuelle Grundversorgertätigkeit auch kurz- bzw. mittelfristig auszuüben. Ein Drittel der Befragten fällte diesen Karriereentscheid sogar während der Praxisassistenz. Die Angaben zur zukünftigen Tätigkeit ähneln den Resultaten vergleichbarer Umfragen aus den Kantonen Bern, Solothurn und Luzern, in denen 81 %, 77 % bzw. 74 % der Ehemaligen angegeben hatten, bereits in der Grundversorgung zu arbeiten oder kurz davorzustehen (5, 6, 8). Ebenso zeigten sich in Bezug auf den Praxiseinstieg ähnliche Resultate. Auch in den Kantonen Bern und Solothurn berichtete etwa die Hälfte aller Befragten, den eigenen Praxiseinstieg in der ehemaligen Lehrpraxis gehabt zu haben. Diese Zahlen verdeutlichen die Rolle der Praxisassistenzprogramme für die etablierten Grundversorgerpraxen. Eine gute Praxisassistenz ist nicht nur ein wichtiger Faktor für eine gute klinische Ausbildung und die spätere Berufswahl an sich, sondern auch ein effektives Instrument, für die Lehrpraxis Nachwuchs zu rekrutieren.

Betrachtet man die Einschätzung der Faktoren, welche die spätere Karrierewahl für die Grundversorgermedizin beeinflusst haben, zeigt sich, dass die ehemaligen AA-PA/AA-CU vor allem den hohen Anteil an klinischer Tätigkeit und die Arzt-Patienten-Beziehung schätzen und die Karrieremöglichkeiten weniger im Vordergrund stehen. Insgesamt wurde jedoch die Möglichkeit der Teilzeitarbeit als der wichtigste Faktor bewertet. Schon bei Bachelor-Studierenden zeigt sich im Verlauf des Studiums die zunehmende Bedeutung von Teilzeitarbeit (9). Teilzeitarbeit ist gerade in Gruppenpraxen, wo die Mehrheit der Ehemaligen tätig ist, einfacher umsetzbar, und entsprechend überraschen die angegebenen niedrigen Stellenprozente der Befragten nicht. Die Zahlen dieser Umfrage sind damit sogar leicht tiefer als bei einer Umfrage unter jungen Hausärzten 2017, wo das gewünschte Pensum bei Männern bei 78 % und bei Frauen bei 66 % gelegen hatte (10). Auch zeigen die Daten aus den Kantonen Bern und Solothurn, dass nur etwa 40 % der Ehemaligen ein Arbeitspensum über 80 % haben (5, 6). De facto bestätigen die Zahlen zum Arbeitspensum, dass es aktuell fast zwei neue Ärztinnen und Ärzte braucht, um ein Vollzeitäquivalent eines Grundversorgers zu ersetzen.

Für die Planung und Organisation der hausärztlichen Curricula ist die Kenntnis über die von den Weiterzubildenden nachgefragten klinischen Rotationen von grosser Bedeutung. Auf der einen Seite müssen die Curricula für die Weiterzubildenden attraktiv sein, auf der anderen Seite müssen die Curricula den Anforderungen der späteren Grundversorgertätigkeit gerecht werden. Ehemalige AA-PA/AA-CU bewerteten die Fachgebiete Dermatologie, ORL, Rheumatologie und Psychiatrie als am relevantesten für eine spätere Grundversorgertätigkeit. Aber auch Chirurgie und Geriatrie wurden als weitere relevante Fachgebiete identifiziert. Es zeigt sich hier eine grosse Übereinstimmung mit einer Umfrage, welche vor einigen Jahren unter Studierenden sowie jungen Hausärztinnen und Hausärzten durchgeführt wurde (11). Die Tatsache, dass vor allem Praxen und kleinere Spitäler als optimale Weiterbildungsstätten angesehen werden, überrascht nicht, da das Patientengut in den Universitätsspitälern häufig sehr selektiert und in der Regel nicht mehr unbedingt mit einer Grundversorgerpraxis vergleichbar ist.

Limitationen

Grösste Limitation der Arbeit ist die relativ geringe Antwortrate unter den Ehemaligen. Obwohl eine Antwortrate von knapp 50 % vollständig ausgefüllter Fragebögen objektiv gut ist (12), wäre eine höhere Antwortrate einer «Alumni»-Umfrage wünschenswert gewesen. Aufgrund der Anonymität der Umfrage konnte die Antwortrate nicht durch gezieltes Kontaktieren der ehemaligen AA-PA/AA-CU erhöht werden, sondern war beschränkt auf zwei allgemeine «Reminder». Entsprechend sind auch keine Aussagen über die Charakteristika der Nichtteilnehmenden möglich.

Ebenso muss erwähnt werden, dass für die wirkliche Messung der Effektivität von Praxisassistenzprogrammen Querschnittserhebungen einen entscheidenden Nachteil haben. Gerade die Berufsabsichten derer, welche die Programme erst vor Kurzem abgeschlossen haben, unterliegen einer gewissen Unschärfe. In informellen Gesprächen berichten viele Ehemalige, dass sie zwar mittelfristig in der Grundversorgung arbeiten möchten, jedoch vorher noch Erfahrung als z. B. Oberärztin bzw. Oberarzt im Spital sammeln wollen. Ob in einigen Jahren dann wirklich der Wechsel in die Praxis stattfindet, bleibt jedoch ungewiss. Umgekehrt mag der Arbeitsalltag im Spital dazu führen, dass Ehemalige, welche heute eine Spitalkarriere anstreben, mittelfristig doch in der Grundversorgung arbeiten werden.

Schlussfolgerung

Die Studie bestätigt die vorhandene Evidenz, dass ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Praxisassistenzprogramme und hausärztlichen Curricula mittelfristig in der medizinischen Grundversorgung arbeiten. Die Stärkung dieser Programme kann dazu beitragen, den Nachwuchs zu fördern und dem Mangel an Grundversorgern entgegenzuwirken.

Abkürzungen:
AIM Allgemeine Innere Medizin
AA-CU Assistenzärztinnen und Assistenzärzte aus dem ­Curriculum Hausarztmedizin
AA-PA Assistenzärztinnen und Assistenzärzte aus dem ­Praxisassistenzprogramm
KJM Kinder- und Jugendmedizin
ORL Oto-Rhino-Laryngologie
SD Standardabweichung

PD Dr med. Andreas Plate

Institut für Hausarztmedizin
Universitätsspital Zürich
Pestalozzistrasse 24
8091 Zürich

andreas.plate@usz.ch

Die Autorin und Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

• Die Mehrheit der ehemaligen Assistenzärztinnen und Assistenzärzte strebt mittelfristig eine Karriere in der medizinischen Grundversorgung an.
• Die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit, die Arzt-Patienten- ­Beziehung und die Erfahrungen während der Praxisassistenz waren die wichtigsten Faktoren im Rahmen der Karrierewahl.
• Dermatologie, ORL, Rheumatologie und Psychiatrie sind die für eine Grundversorgertätigkeit am relevantesten empfundenen Rotationsstellen im Rahmen eines hausärztlichen Curriculums.

1. Stierli R, Rozsnyai Z, Felber R, Jörg R, Kraft E, Exadaktylos AK, Streit S. Primary Care Physician Workforce 2020 to 2025 – a cross-sectional study for the Canton of Bern. Swiss Med Wkly. 2021;151:w30024.
2. Hostettler S, Kraft E. FMH-Ärztestatistik 2023 – 40% ausländische Ärztinnen und Ärzte. Schweizerische Ärztezeitung. 2024:105(12):32–36.
3. Gerber T, Häuptle C, Denti F, Graf S, Merlo C, Pasche O, et al. Praxisassistenz in der Schweiz: eine Übersicht in den Kantonen. PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN. 2022;22(11):331–334.
4. Häuptle C, von Erlach M. Weiterbildung in Hausarztmedizin: Praxisassistenz und Curriculaweiterbildung (Rotationsstellen) in der Schweiz. Praxis (Bern 1994). 2019;108(1):63-72.
5. Rozsnyai Z, Diallo B, Floriani C, Blum M, Streit S. Nachwuchs für die Grundversorgung im Kanton Bern. Primary and Hospital Care. 2022;22(9):281–283.
6. Zimmerli L, Fluri M, Droste P, Cina C, Leupold F, Streit S, Fenner L. Erfolgreiche Nachwuchsförderung. Schweizerische Ärztezeitung. 2020;101(31–32):948–949.
7. R Core Team. R: A language and environment for statistical computing. 2020. R Foundation for Statistical Computing, Vienna, Austria. Available from https://www.R-project.org/
8. Studer C, Merlo C. Weiterbildung in Hausarztmedizin im Kanton Luzern. PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN. 2017;17(5):87–88.
9. Weiss K, Di Gangi S, Inauen M, Senn O, Markun S. Changes in the attractiveness of medical careers and career determinants during the bachelor’s program at Zurich medical schools. BMC Medical Education. 2024;24(1):693.
10. Gisler LB, Bachofner M, Moser-Bucher CN, Scherz N, Streit S. From practice employee to (co-)owner: young GPs predict their future careers: a cross-sectional survey. BMC Family Practice. 2017;18(1):12.
11. Rozsnyai Z, Tal K, Bachofner M, Maisonneuve H, Moser-Bucher C, Mueller Y, et al. Swiss students and young physicians want a flexible goal-oriented GP training curriculum. Scand J Prim Health Care. 2018;36(3):249-61.
12. Baruch Y, Holtom BC. Survey response rate levels and trends in organizational research. Human Relations. 2008;61(8):1139-60.

Optimierte ambulante interdisziplinäre Rauchstopp-Intervention

Dem Ablauf unserer Rauchstopp-Beratungssprechstunde am Universitätsspital Zürich liegt ein Konzept zugrunde mit ­diversen Elementen, die in einer längeren Erstberatung und mindestens vier Folgeberatungen innert circa 3 Monaten vermittelt werden. Je nach medizinischem Kontext, mentaler Verfassung, Motivationsstufe und Vorerfahrungen der rauchenden Person können Inhalte und Intervalle sowie die Anzahl erforderlicher Sitzungen individuell variieren. In aller Regel wird die wiederholte Beratung ergänzt durch eine medikamentöse Unterstützung, relativ oft auch durch medikamentöse Kombinationstherapien. Die Behandlungsfrequenz ist in den ersten 3 Monaten hoch, weil der Unterstützungsbedarf und die Rückfallgefahr dann am grössten sind. Anfänglich finden die Beratungen alle 2 bis 4 Wochen statt, dann werden sie individuell auf 6 bis 8 Wochen ausgedehnt. Idealerweise zieht sich die Beratung über ein halbes Jahr hin. So können der Verlauf über mehrere Monate verbindlich begleitet und bei Bedarf Anpassungen am Procedere vorgenommen werden.

Schlüsselwörter: Rauchstopp-Intervention, interdisziplinäre Beratung, Nikotinersatz, Trigger, Medikamente

Zuweisungsprozess

In der Regel erfolgt die Zuweisung von Patientinnen und Patienten zur Rauchstoppberatung spitalintern durch behandelnde Ärztinnen und Ärzte der verschiedenen Kliniken. Sie entspricht derselben Praxis wie jener anderer Spezialsprechstunden, wie z. B. der Adipositassprechstunde, der Hypertoniesprechstunde oder der Diabetesberatung. Zuweisungen können ebenso von niedergelassenen externen Arztpraxen gemacht werden. Niederschwellig können sich Patienten auch selbst anmelden. Das Konzept «Die rauchende Person muss den ersten Schritt zur Anmeldung selbst unternehmen» ist aus unserer Sicht nicht mehr zeitgemäss und nur unzureichend zielführend. Aus diesem Grund erwarten wir primär Zuweisungen von medizinischen Fachpersonen und erlauben aber auch Selbstzuweisungen.

Die Anmeldung erfolgt mehrheitlich elektronisch oder über das Sekretariat der Pneumologie des Universitätsspitals Zürich (USZ). Dieses terminiert die Rauchstoppsprechstunden und informiert Patienten mittels Brief über Termin, Kontaktmöglichkeiten sowie Konditionen.

Vorbereitung

Aufgrund des Zuweisungsschreibens und klinikinterner Berichte werden die Erst- und Folgeberatungen vorbereitet. Es finden auch Fallbesprechungen zwischen Arzt und Beraterin statt, um geeignete Behandlungsansätze zu evaluieren, eine gemeinsame Strategie festzulegen und eine Behandlungsempfehlung zu machen. Der Fokus richtet sich dabei auf medikamentöse Therapiemöglichkeiten, Klärung allfälliger Medikamentenunverträglichkeiten, Kontraindikationen für gewisse Medikamente, Therapie- und Beratungsansätze unter Berücksichtigung medizinisch relevanter Diagnosen, Therapien sowie bereits erfolgter Massnahmen. Auch soziale anamnestische Aspekte werden beleuchtet und in der Planung berücksichtigt. So können bedarfsweise etwa Bezugspersonen in den Prozess einbezogen werden (1, 2, 3).

Die Erstberatung (Zeitaufwand 45–60 Min.)

Beim ersten Treffen wird nach der Begrüssung die Patientenidentität verifiziert. Je nach Persönlichkeit und Zustand des Patienten kann eine niederschwellige Konversation als Eisbrecher dienen. Patienten werden angehalten, auf Wunsch während der Beratung eigene Notizen zu machen. Dafür liegen ein Schreibblock und Stifte bereit (4).

Als Einstieg ins Rauchstoppgespräch werden weitgehend offene Fragen gestellt. Dazu zählen zum Beispiel:

  • «Sie wurden durch die Klink X oder durch Dr. Y in die Rauchstoppsprechstunde überwiesen. Welcher ist der Grund Ihrer dortigen Behandlung?»
  • «Berichten Sie mir von Ihrem Rauchverhalten.»
  • «Haben Sie schon einmal mit dem Rauchen aufgehört? Mit welcher Methode? Wie ist es Ihnen dabei ergangen? Was führte zum Rückfall?»
  • «Sie möchten etwas an Ihrem Rauchverhalten ändern. Was möchten Sie ändern? Welche Ziele haben Sie?»
  • «Welche Folgen des Rauchens nehmen Sie wahr?» «Wo­ran spüren Sie, dass Ihnen das Rauchen nicht guttut?»
  • Situationsangepasst weitere Fragen.

Offene Fragen ermöglichen es dem Patienten, in eigenen Worten seine Intention zu formulieren, Vorstellungen und Erwartungen, aber auch Bedenken zu äussern. Durch die Art und Weise und den Inhalt seiner Formulierungen lassen sich erste Informationen und Erkenntnisse zum aktuellen Befinden, zur Rauchgeschichte, zur Sichtweise bezüglich des Rauchverhaltens, zum Kommunikationsverhalten und erste medizinische sowie verhaltenstypische Anhaltspunkte erkennen und dokumentieren. Patienten erhalten die Möglichkeit, ihnen wichtige Aspekte zu kommunizieren. Häufig sind solche frühe Aussagen für die Herangehensweise an die Thematik entscheidend. Sie werden daher oft wortwörtlich festgehalten.

Ein zentraler Anhaltspunkt ist die Ausführung der Patienten, ob sie «fremdbestimmt» zugewiesen wurden (ggf. Hinweis auf Absichtslosigkeit, geringe Motivation oder Ambivalenz) oder diesen Schritt selbst initiiert haben (ggf. Hinweis auf höhere Eigenmotivation). Die Antworten auf die Einstiegsfragen können für das weitere Vorgehen im Gespräch richtungsweisend sein.
Wird der Fokus auf das Thema konkreter Rauchstopp gerichtet, geht man darauf ein, wie die Patienten zur Beratung stehen. Kommen sie eher «fremdbestimmt», kann das Thema aufgenommen und vertieft werden. Lässt man die Patienten in eigenen Worten über ihre Intention und Motivation sprechen, erfährt man viel über ihre persönliche Haltung, ihre Erwartungen und über Erfahrungen aus der (Raucher-)Geschichte. Andere Patienten kommen hoch motiviert und erklären gleich zu Beginn, was sie erreichen möchten und welche Hilfe sie benötigen. Oder sie berichten, dass sie bereits mit dem Rauchen aufgehört hätten und den Fokus auf die Aufrechterhaltung legen wollten.

Nachdem die Patienten ein erstes Mal zu Wort gekommen sind, werden sie über das Angebot eines möglichen Standardablaufs und sonstige Aspekte der Rauchstoppberatung informiert. Zur Anamneseerhebung gehören Informationen zur Anzahl täglich gerauchter Zigaretten bzw. sonstiger Nikotinprodukte oder Suchtmittel, Alter bei Rauchbeginn, Berechnung der Anzahl Raucherjahre (py), Schweregrad der Abhängigkeit (Fagerström-Test, FTND), Auskunft zu Anzahl und Dauer früherer Rauchstoppversuche, Gründe für Rückfälle sowie Erfahrungen mit Nikotinersatzprodukten (NET/NRT).

Es gilt, situationsbedingt abzuwägen zwischen für die Beratenden relevanten Standardangaben und dem Hospital Quit Support (HQS)-Standard, wonach im ersten Gespräch nur ein minimales Datenset erhoben werden sollte. Der HQS-Standard gibt selektiv Auskunft über Abhängigkeit und Vorgeschichte mit Relevanz zur Beratungs- und Therapieplanung. Es besteht das Risiko, dass zu viele Details in Erfahrung gebracht werden, die nicht zwingend den Beratungs- und Therapieansatz beeinflussen und oft redundant sind. Andererseits können Aussagen, die auf den ersten Blick wenig bedeutend erscheinen, «zwischen den Zeilen» wichtige Hinweise enthalten. Diese gilt es abzuwägen, zu erfassen und zu dokumentieren, damit sie in den Behandlungsplan integriert und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen werden können. Hier kommen Erfahrung, Empathie und Sensibilität der beratenden Personen zum Tragen.

Grundsätzlich ist rauchenden Personen die Schädlichkeit ihres Verhaltens bewusst. Je nach Situation kann es aber notwendig sein, einzelne Punkte hervorzuheben und zu erklären (Wirkungsspektrum des Nikotins im Gehirn, Teer, Kohlenmonoxid (CO) und was dies bei jeder Zigarette für den Körper bedeutet). Solche Informationen können allgemeingültigen Charakter haben oder individuell und im Kontext der Patientendiagnosen erläutert werden.

Eine CO-Messung in der Ausatmungsluft kann den Konsum objektivieren, die Informationen rund um das Thema Kohlenmonoxid untermauern und den Patienten veranschaulichen, wie positiv sich eine Änderung ihres Rauchverhaltens zeitnah auswirken kann. Üblicherweise ist der CO-Wert bei einer ersten Beratung, wenn Patienten noch rauchen, hoch (> 10ppm bzw. > 2 % HbCO). Die Aussicht auf tiefere Werte kann motivierend sein. Wann immer möglich, sollte eine CO-Messung durchgeführt werden. In einzelnen Fällen kann sie aber auch kontraproduktiv sein und sollte daher weggelassen werden. Vereinzelt lehnen Patienten die Messung von vornherein ab, weil sie einen hohen Wert befürchten und nicht damit konfrontiert werden möchten.

Aufgrund der erhobenen Informationen/Daten zur Stärke der Abhängigkeit (FTND), Dauer und Intensität des Tabakkonsums und unter Berücksichtigung ggf. schon gemachter Rauchstopperfahrungen kann in einem nächsten Schritt eine erste Therapiestrategie empfohlen bzw. gemeinsam festgelegt werden. Dies erfolgt in der Regel unter Einbezug der ärztlichen Fachperson mit Erfahrung in der Pharmakotherapie des Rauchstopps sowie der Kompetenz der Medikamentenverschreibung, insbesondere bezüglich Polypharmazie von älteren Patienten.

Wir erklären, dass es sich bei der Nikotinsucht sowohl um eine körperliche als auch um eine psychische Abhängigkeit handelt. Die psychische Abhängigkeit hat mit Gewohnheiten, Ritualen, Assoziationen, Belohnungs- und Bewältigungsmechanismen, Trigger sowie dem Umgang mit alltäglichen Situationen und Begebenheiten zu tun. Demgegenüber steht die körperliche Abhängigkeit, bei der es sich um physiologische und z.T. biochemische Reaktionen handelt (Abb. 1, Gewohnheit und Sucht) (5).

Für eine langfristige Nikotinabstinenz ist es unerlässlich, beide Komponenten zu betrachten. Viele Patienten sind sich nur unzureichend bewusst, wie bedeutend eine intensive und vertiefte Auseinandersetzung mit Gewohnheiten ist. Sie erhält in der Beratung ein starkes Gewicht. Erst eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesen Themen und die Ableitung konkreter und individuell zugeschnittener Bewältigungspläne ermöglichen es, Hochrisikosituationen erfolgreich zu bewältigen und Rückfälle längerfristig zu vermeiden. Dieser Prozess kann anhand der hier aufgeführten Unterlagen («Werkzeuge») gemeinsam mit den Patienten erörtert und vertieft werden.

Ein eigens für die Rauchstoppberatung entwickelter persönlicher Handlungsplan enthält neben Erklärungen zur Nikotinabhängigkeit und Themen rund um die Rauchgewohnheit eine Reihe von «Werkzeugen». Mit diesen wird ein individueller Rauchstopp-Plan gemeinsam erarbeitet. Dabei werden relevante individuelle Faktoren, die den Prozess in die Rauchfreiheit wesentlich beeinflussen, betrachtet und einbezogen.

In der ersten Beratung wird der Handlungsplan vorgestellt und einzelne individuell geeignete Instrumente hervorgehoben. Patienten bekommen die Aufgabe, bis zum zweiten Beratungstermin ausgewählte Themen zu erarbeiten.
In einem ersten Schritt können folgende Instrumente dienlich sein:

Die Motivationswaage (Abb. 2) ermöglicht es, Vor- und Nachteile des Rauchens sowie des Nikotinverzichts aufgrund persönlicher Überlegungen einzuordnen und zu dokumentieren. Daraus können mögliche Ambivalenzen erkannt und beim nächsten Beratungstermin angesprochen werden. Eine konkrete Auseinandersetzung und Formulierung einzelner Punkte dienen der Visualisierung, Gewichtung und Wertung der einzelnen Pro- und Contra-Argumente und können als Diskussionsgrundlage in der Beratung dienen.

Das Rauchprotokoll (Abb. 3, Mein Protokoll) dient der Selbstbeobachtung. Es wird über einige Tage oder Wochen, idealerweise in unterschiedlichen Situationen (Freizeit, [Berufs-]Alltag, Ferien …) geführt und soll Aufschluss darüber geben, in welchen Situationen typischerweise geraucht wird (z. B. in Zusammenhang mit Stress, Routine, Rückzugsbedürfnis, Entspannung, Geselligkeit, Genuss, Langeweile, Sucht). Erhoben wird auch die Selbsteinschätzung, ob die Zigarette im jeweiligen Augenblick als «notwendig» oder «nicht notwendig» betrachtet wird. Ziel ist es, Wahrnehmungen und Bedürfnisse zu erkennen, zu benennen und Tendenzen zu isolieren. Die Ergebnisse bilden eine wichtige Grundlage im Beratungskontext.

Eine erste Auseinandersetzung mit Verknüpfungen von Gewohnheiten und Zigarettenkonsum hat zum Ziel, über mögliche Alternativhandlungen (Abb. 4) nachzudenken. Langfristig sollen neue Handlungen zu neuen Verknüpfungen führen, sich etablieren und so neue Verhaltensweisen zu neuen Gewohnheiten werden. Dieser Prozess der Abkoppelung von alten Verhaltensmustern wird sich über die Dauer der gesamten Beratung und darüber hinaus erstrecken. Patienten werden dazu angehalten, realistische, aber durchaus kreative und ansprechende Alternativen zu sammeln und Schritt für Schritt im Alltag einzuüben. Je nach Situation und Präferenzen können dies Ablenkungen für Hand, Mund, Kopf und/oder Körper sein. Daneben können auch Situationen definiert werden, die es ohne Alternative zu überwinden gilt.

Die meisten Rauchenden erwarten, dass sie mit der Erstberatung unmittelbar mit dem Rauchen aufhören müssen. Diese Erwartung wird besprochen und relativiert, weil ein Rauchstopp gut geplant und vorbereitet werden sollte. Dafür sind Tage oder sogar Wochen nötig. Manche Patienten sind erleichtert, dies zu hören. Allerdings soll die Dauer bis zum Rauchstopp als wichtige Vorbereitungszeit definiert und nicht als Aufschub betrachtet werden. Abhängig von der Bereitschaft zur Veränderung und der Motivationsstufe wird ein langsameres oder rascheres Vorgehen festgelegt.

Liegt eine niedrige Bereitschaft, Unentschlossenheit oder gar Absichtslosigkeit vor, wird der Fokus auf dem ­weiteren Gespräch liegen, mit dem Ziel, Patienten weitere Informationen zu möglichen unterstützenden Massnahmen zu vermitteln oder Ambivalenzen aufzulösen. Sie werden in ihrem Gedankenprozess unterstützt, sodass sich ihre Selbstwirksamkeit erhöht und sie mit gestärkter Zuversicht in den Prozess einsteigen. Hier kann das Motivational Interviewing (MI) als geeignetes Instrument eingesetzt werden. MI hat zum Ziel, mittels klientenzentrierter, direktiver Methode die intrinsische Motivation für eine Veränderung zu verbessern mittels Erforschung und Auflösung von Ambivalenz (Miller & Rollnick, 2002). Dabei sollen Patienten durch gezielte Fragestellungen eigene Bewältigungsschritte und Ziele definieren und formulieren. Sie sollen sich ihrer persönlichen Stärken bewusst werden und sich diese zunutze machen. Damit gewinnen sie an Selbstvertrauen und Zuversicht. Ein wichtiger Aspekt des MI ist gutes Zuhören bzw. Patienten ausreden zu lassen. So erhalten sie die Möglichkeit, eigene Gedanken zum Thema zu entwickeln, welche einen inneren Prozess (Auflösung der Ambivalenz) unterstützen können.

Mit Patienten, die hoch motiviert und gut vorbereitet sind, können bereits konkrete nächste Schritte besprochen werden. Wann immer möglich, wird die Schlusspunktmethode (abrupter Rauchstopp) angestrebt. In Ausnahmefällen kann eine Reduktionsstrategie als erstes Zwischenziel in Erwägung gezogen werden.

Medikamente in der Erstberatung

Meist wird in der ersten Beratung der Einsatz von unterstützenden Medikamenten empfohlen (European Strategy for Smoking Cessation Policy WHO, 2004). Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Patienten, die zu unserer Rauchstoppberatung kommen, häufig schon mehrere frustrane Rauchstoppversuche hinter sich haben, und eine gewisse Eskalation der Intervention notwendig erscheint.
Empfehlungen zu Wahl und Dosierung richten sich nach dem täglichen Zigarettenkonsum, Anzahl Packyears und FTND-Score (Tab. 1). Unsere Empfehlung wird mit den Präferenzen des Patienten abgeglichen und ein Konsens angestrebt (Adhärenz!).

Als Erfolg versprechendste Vorgehensweise zur langfristigen Rauchfreiheit wird – gestützt auf der Empfehlung der WHO – eine Kombination empfohlen aus medikamentöser Therapie und wiederholten Beratungssitzungen. Als medikamentöse Therapie kommen Nikotinersatztherapie (NET/NRT) infrage oder der Einsatz von Bupropion, Vareniclin oder Cytisin. Ganz selten wird das Hilfsmittel L-Cystein-Lutschtabletten (Acetium®) eingesetzt, besonders wenn die Motivation für den Rauchstopp gering ist und eine Rauchreduktion im Vordergrund steht.

Rauchreduktion, ob mit NRT (z. B. Inhaler) oder mit Acetium®, ist aus unserer Sicht nur ein Zwischenschritt zum Rauchstopp (reduce to quit) und wird nur ausnahmsweise als primäre Strategie empfohlen. Oft kommt es vor, dass Patienten den geplanten abrupten Rauchstopp beginnen, aber nicht fortführen können. Einige erfahren einen Rückfall mit wenigen Zigaretten. Andere erzielen gar nicht erst den vollständigen Rauchstopp, schaffen am Rauchstopp-tag aber eine deutliche Reduktion (zahlenmässig > 50 % Reduktion des bisherigen Konsums an Tabak) und können diesen reduzierten Konsum beibehalten. Dies wird in der Beratung als Zwischenerfolg gewürdigt und in einem zweiten Schritt der komplette Rauchstopp erarbeitet.

Patienten werden informiert, dass die medikamentöse Unterstützung lediglich ein Hilfsmittel darstellt, welches den Rauchstopp-Prozess erleichtert und die Entzugssymptome u.a. teilweise vermindert. Wenn es Patienten schaffen, mit dem Rauchen ganz aufzuhören und diesen Zustand über längere Zeit halten können (ohne Rückfall), dann ist das ihre Eigenleistung und nicht primär das Resultat einer medikamentösen Strategie. Es gibt kein Rauchstoppmedikament, welches dazu führt, dass «es plötzlich nicht mehr raucht». Bei einem adäquat gewählten Schmerzmittel darf man erwarten, dass die Schmerzen für die Dauer der Medikamentenwirkung vollständig verschwinden. Diese «einfache» Art der Problembehandlung gibt es für Rauchende nicht. Es braucht immer eigenes Zutun, Eigeninitiative, Anwendung von (erlernten) Strategien und Verhaltensänderung, damit eine langjährige Gewohnheit und Sucht definitiv überwunden werden kann.

Je nach Begleitdiagnosen, Eignung und Einstellung der Patienten werden Wirkungsweisen und die Einnahme der oben genannten Medikamente erklärt sowie mögliche Nebenwirkungen erläutert und mögliche Kontraindikationen geprüft. Nicht selten erscheinen mögliche Nebenwirkungen den Patienten plötzlich inakzeptabel. Manchmal hilft es dann, auf die «Nebenwirkungen» oder Folgen der Tabakzigarette hinzuweisen, welche ohne langen Beipackzettel verkauft wird, obwohl die Liste der schädlichen Effekte lang ist.
Gegen Ende der ersten Beratung sollen die Patienten drei Skalen-Fragen beantworten. Er/sie soll sich festlegen, wo er/sie sich auf einer Skala von 0–10 bezüglich Wichtigkeit, Zuversicht und Bereitschaft (für den Rauchstopp) zum aktuellen Zeitpunkt einstuft. Wir besprechen die momentane Einstellung/Einstufung anhand der Antworten. Auch hier können Fragen aus dem MI-Katalog helfen, Patienten dahingehend zu motivieren, dass sie sich ihrer Stärken und Fähigkeiten bewusst werden, indem sie diese herleiten und aussprechen. Patienten erhalten zusätzlich ein doppelseitiges Handout mit Rauchstopptipps für COPD-Patienten, damit sie wichtige Informationen (3) selbst nachlesen können.

Die Beratung endet mit aktuellen Fragen. Wir wollen von den Patienten wissen, ob das weitere Vorgehen nachvollziehbar und erste Schritte umsetzbar erscheinen und/oder zu welchem ersten Schritt sie sich aktuell imstande fühlen. Damit soll vermieden werden, dass Patienten einen zu grossen «Berg» vor sich sehen, sondern erkennen, dass der Prozess aus mehreren Etappen besteht, durch die sie begleitet werden, selbst Verantwortung übernehmen und das Tempo der einzelnen Schritte mitbestimmen dürfen.

Schwerpunkte in der 1. Beratung (abhängig von der Ausgangslage des Patienten)
– Vorstellen des Rauchstopp-Programms
– Fokussierte Anamnese, inkl. Fagerström-Test
– Wo steht die rauchende Person im Prozess? (Zuordnung im Transtheoretischen Modell nach Prochaska/Di Clemente, 1982), Haltung/Erwartungen/Erfahrungen
– Erfahrungen mit NRT?
– Informationsvermittlung/Patientenedukation: Komponenten der Tabakabhängigkeit, Grundsätze der Verhaltensänderung, erfolgreiche und bewährte Strategien (Beratung, verschiedene Medikamente, Komplikationen und Rückschläge möglich, erste Zieldefinition, regelmässige Beratungen wahrnehmen)
– Individualisierte Strategie – inkl. Empfehlung bezüglich Medikament mit erwarteten Vorteilen
– Hauptmotivation/«Guter Grund» für Rauchstopp
– Motivationswaage (Pros und Cons Rauchen/Nichtrauchen)
– Rauchprotokoll
– Thematik Alternativhandlungen
– Zuversicht/Wichtigkeit/Bereitschaft
– Ziele
– CO-Messung
– Festlegung eines Folgeberatungsdatums und ggf. Rauchstopptages

Die Zweitberatung/Folgeberatung (Zeitaufwand 30–45 Min.)

Die Zweitkonsultation steht unter dem Motto: erste Schritte zur Verhaltensänderung (changing your habits). Nach der Begrüssung ist die Einstiegsfrage in der Regel «Wie ist es gegangen?» oder offener formuliert «Berichten Sie mir, was seit unserer ersten Sitzung passiert ist». Die Art und Weise der Berichterstattung sowie der Inhalt der Antworten können aufschlussreich sein. Den Patienten ist unbedingt genügend Redezeit zu geben, damit sie ihre Situation mit eigenen Worten beschreiben können. Allenfalls sind kurze Ergänzungsfragen oder konkrete Nachfragen notwendig, um die Beschreibung der ersten Erfahrungen zu komplettieren und richtig zu verstehen. Was hat sich verändert? Ist der Rauchstopp schon erfolgt, oder sind Sie noch in der Vorbereitungsphase? Wie reagiert Ihre Umgebung auf die Verhaltensänderung? Wie transparent wird der Prozess gegenüber dem Arbeitsumfeld kommuniziert? In welchen Situationen konnten Zigaretten vereinzelt oder gänzlich weggelassen werden? Werden Entzugserscheinungen wahrgenommen?

Welche Situationen wurden als schwierig empfunden? Welche Situationen konnten gut gemeistert werden? Insbesondere erfolgreich bewältigte Situationen sollen vom Patienten detailliert und repetitiv über die gesamte Beratungsdauer hinweg beschrieben werden. Es lohnt sich, den dafür notwendigen zeitlichen Raum zu geben. Mit jeder erfolgreichen Bewältigungsreaktion wird die Selbstwirksamkeit der Patienten erhöht. Sie bildet eine neue Grundlage für weitere erfolgreich zu bewältigende Situationen. Damit lässt sich das Rückfallrisiko senken (vgl. Rückfallmodell Marlatt & Gordon, 1985).

Nach einem ersten Erfahrungsbericht der Patienten wird das Rauchprotokoll (Selbstbeobachtung) gemeinsam besprochen und analysiert, und damit werden Tendenzen und Muster erkannt und isoliert betrachtet. Die Ergebnisse bilden eine wichtige Basis für den weiteren Beratungsprozess.

Die Besprechung der bearbeiteten Motivationswaage gibt ebenfalls Aufschluss über mögliche Ambivalenzen, den Motivationsstand, über Zuversicht und Bedenken und ist wegleitend für den weiteren Verlauf der Beratung.

Eine Besprechung der Alternativhandlungen (Ablenkungen) sowie «Wenn-Dann-Pläne» für konkrete Handlungen, Orte, Zeiten oder Emotionen, welche bislang mit einer Zigarette verbunden sind, zeigen ebenfalls auf, wie- weit sich Patienten bereits mit dem Prozess auseinandergesetzt haben. Bei Patienten mit eher niedriger Motivation oder gar Absichtslosigkeit finden sich in der Regel noch keine Ergebnisse, bei höherem Engagement und höherer Motivationsstufe ist die Auseinandersetzung aufgrund der bereits ausgefüllten Alternativhandlungen oder Ideen dazu erkennbar. Themen können aufgenommen und ggf. gemeinsam weiterentwickelt und konkretisiert werden. Bei vereinzelten Patienten muss zu diesem Zeitpunkt nochmals erläutert werden, was der eigentliche Sinn dieses «Werkzeugs» ist, dass es letztlich um Entkoppelung alter Verbindungen und das Erlernen und Etablieren neuer Verbindungen geht.

Die Übersicht über Tipps für Hand, Mund, Kopf und Körper kann Inspiration und Ideen liefern zu praktischen Ablenkungsmassnahmen.
Tun sich Patienten schwer damit, sich auf Veränderungen festzulegen, können als erster Schritt ein- bis zwei Situationen definiert werden, in denen die Patienten den Einsatz von Alternativhandlungen ausprobieren könnten. Darauf aufbauend, können im Verlauf weitere Schritte dazukommen.

Erfahrungsgemäss bringen nicht alle Patienten den Handlungsplan zu Folgeberatungen mit. Dies kann ein Hinweis sein auf mangelndes Interesse oder darauf, dass dieses In­strument in der Form nicht zusagt. Ggf. können alternativ andere Vorgehensweisen, jedoch im Prinzip mit gleichem Inhalt, gewählt werden.

Je nachdem müssen Patienten aber auch daran erinnert werden, die Themen zu erarbeiten und den Handlungsplan mitzubringen. Andererseits gibt es aber auch Patienten, die den Handlungsplan detailliert erarbeiten und mit vorbereiteten Fragen in die Folgeberatung kommen.

Überprüfung Medikation

Je nachdem haben Patienten zum Zeitpunkt der Folgeberatung schon mit der Einnahme begonnen und erste Erfahrungen gemacht. Wir fragen nach Verträglichkeit, Wirkung und möglichen Nebenwirkungen und überprüfen die korrekte Anwendung (insbesondere bei NRT). Ggf. muss bei NRT die Dosierung angepasst oder bei Anwendungsschwierigkeiten erneut instruiert oder auf ein anderes, gleichwertiges Produkt gewechselt werden (z. B. Inhaler statt Kaugummi).

Wenn es um den Einsatz von Medikamenten geht, muss wiederholt erwähnt werden, dass diese lediglich eine Unterstützung im Rauchstopp-Prozess bedeuten: Die Hauptarbeit liegt bei den Patienten.

Planung des Rauchstopptages

«Quit Day» mittels Notizen zum Tagesablauf (Abb. 5, Mein Rauchstopptag). Patienten bestimmen wann der Rauchstopptag stattfindet. Je nach Situation kann ein konkreter Vorschlag vereinbart werden. Es empfiehlt sich, den Rauchstopptag und die ersten Tage danach konkret und detailliert zu planen, um unerwartete und damit unvorbereitete (Hochrisiko-)Situationen möglichst zu vermeiden. Unterstützend kann das Merkblatt «Checkliste Vorbereitung für den Rauchstopp» hinzugezogen werden.

Inhaltliche Vorschläge sind: Einkaufsliste schreiben mit Produkten, die den Rauchstopp unterstützen sollen (Getränke, Obst, Gemüse, Kaugummis, Bonbons, Süssholz, evtl. Nikotinersatzprodukte, neue Laufschuhe u.v.m.).

Planung von bewussten Ablenkungsaktivitäten: Verabredung mit Familie/Freunden (gemeinsame Aktivitäten, Wellness, Kino, Theater …), Massagetermine vereinbaren u.v.m.

Spuren des Rauchens entfernen: Sämtliche Zigarettenvorräte, Feuerzeuge, Aschenbecher entfernen. Haustextilien waschen (ggf. Abgabe des Merkblatts zu Third Hand Smoke), Auto grundreinigen lassen, Termin für professionelle Zahnreinigung vereinbaren etc. Diese minutiöse Planung dient einer Risikominimierung und Vorbeugung von schwer «handelbaren» Craving-Situationen oder zur Überbrückung von Zeitfenstern, in denen man nicht weiss, was ohne Zigarette zu tun ist. Falls Patienten noch nicht so weit sind mit der Festlegung des Rauchstopptages, kann man ankündigen, das Thema bei der nächsten Beratung wiederaufzunehmen.

Erfahrungsgemäss gibt es ein ca. zweiwöchiges Zeitfenster von erhöhter Motivation für einen Rauchstopp. Anschliessend beginnt die Motivation etwas abzuflauen. Der Quit Day sollte also nicht zu weit hinausgeschoben werden. Verhandeln Patienten das Rauchstoppdatum wiederholt, kann dies ein Hinweis darauf sein, dass die Bereitschaft, den Rauchstopp konkret umzusetzen, tief ist. Ggf. müssen in solchen Fällen neue Zwischenziele definiert werden. Der Beratende sollte konkret nachfragen, wo aktuell noch Hürden oder Bedenken bestehen. Darauf folgt die Frage, welche Massnahmen oder Umstände die Motivation und Zuversicht zu steigern vermögen.

Möglicherweise zu erwartende Entzugssymptome werden besprochen. Dabei kann das Merkblatt «Entzugserscheinungen nach einem Rauchstopp» abgegeben werden. Es gibt eine Übersicht über mögliche Symptome, deren ungefähre Dauer und Bewältigungstipps.

Die Sitzung endet mit der Frage nach der aktuellen Zuversicht und nach konkreten nächsten Schritten, die realistisch umsetzbar sind.

Schwerpunkte in der 2. Beratung (zusammenfassend)
– Feedback
– Auswertung Protokoll, Motivationswaage, Alternativhandlungen
– Schwierige/gut gemeisterte Situationen/Feedback aus Umfeld
– Erste neue Gewohnheiten
– Tipps für Hände, Mund, Kopf und Körper
– Vorbereitung des Rauchstopptages, die ersten 24–48 Stunden
– CO-Messung
– Festlegung eines Folgeberatungsdatums, Notfallmassnahmen besprechen, Notfallkarte mitgeben

3. Beratung (Zeitaufwand ca. 30 Min.)

Erneut erfolgt ein Rückblick auf die Zeit seit der letzten Beratung. Fragen der Patienten werden geklärt und Erfahrungen besprochen. Falls noch nicht geschehen, wird die Festlegung des Rauchstopptages erneut besprochen und wenn möglich definiert. Falls der Rauchstopptag schon vorbei ist, fragen wir nach dem Abstinenzerfolg.Welche Situationen konnten gut gemeistert werden? Wo greifen die Ressourcen? Wo sind Hindernisse vorhanden? Wo sind Verhaltensanpassungen erforderlich? Welche Situationen bedürfen besonderer Aufmerksamkeit? Welche möglichen Entzugssymptome sind aufgetreten? Wie wurden sie wahrgenommen? Was konnte dagegen unternommen werden? Welche Situationen haben sich als weniger schlimm erwiesen als befürchtet? Gab es unerwünschte Wirkungen der Medikamente?

Besprechung des Craving-Ampelmodells: Gedanken ans Rauchen können in 3 Stufen eingeteilt werden: Grün, Gelb und Rot. Gedanken ans Rauchen sind normal. Die Frage ist, wie stark sie eine Situation dominieren. Bei «Grün» wird der Gedanke wahrgenommen, er ist aber nicht quälend und vergeht rasch wieder. Bei der Farbe «Gelb» bleibt der Gedanke ans Rauchen hartnäckig, und es muss aktiv auf Bewältigungsstrategien zurückgegriffen werden. Dies in Form von Ablenkungen oder gezielten Beschäftigungen, wie beispielsweise Atemübungen. Quälende Gedanken, die sich kaum verdrängen lassen und unüberwindbar erscheinen, werden dem «roten» Bereich zugeordnet. In solchen Situationen kommen die Notfallmassnahmen (Abb. 6) zum Tragen. Wir geben eine Notfallkarte ab. Sie enthält Kontaktdetails der beratenden Personen (Pflegefachperson und Arzt) und auf der Rückseite die Notfallmassnahmen.

Welche körperlichen Veränderungen werden wahrgenommen? Was hat sich bisher verändert? Welche sozialen Reaktionen wurden erfahren? Wie ist der Umgang mit Hochs und Tiefs? Auf welche Unterstützung kann gezählt werden? Welche sind konkrete nächste Schritte?

Schwerpunkte in der 3. Beratung (zusammenfassend)
– Feedback Abstinenzerfolge
– Positive Veränderungen
– Entzugssymptome/Gegenmassnahmen
– Ampelmodell des Suchtdrucks
– Zuversicht
– CO-Messung
– Folgeberatungsdatum fixieren

4. Beratung (Zeitaufwand 20–30 Min.)

Erneut erfolgt ein Rückblick auf die Zeit seit der letzten Beratung. Fragen werden geklärt und Erfahrungen besprochen. Die Patienten werden aufgefordert, Situationen zu beschreiben, die sie gut gemeistert haben. Rauchfreiheit wird gewürdigt und zum Abstinenzerfolg gratuliert. Die Beratenden fragen nach Veränderungen, welche seit dem Rauchstopp spürbar und wahrnehmbar sind. Ggf. führen sie den Patienten die Anzahl rauchfreier Tage vor Augen und honorieren diese. Wie viel Geld konnten sie so einsparen? Mögliche Stolpersteine werden thematisiert. Es wird zwischen einem Vorfall, einem einmaligen Ausrutscher («slip»: ohne ins alte Muster zurückzufallen) und einem Rückfall («relapse»: gleiches Verhaltensmuster wie vor dem Rauchstopp) unterschieden. Gemeinsam wird besprochen, wie sich Rückfälle vermeiden lassen, wie sie im Falle eines Eintretens zu bewältigen sind und welche Konsequenzen daraus für zukünftige Situationen abzuleiten sind. Patienten sollen eigene Strategien erarbeiten und formulieren.

Thematisierung Trigger
Dabei geht es um die Vergegenwärtigung potenzieller Situationen, die mit Rauchen in Verbindung gebracht werden könnten und die somit ein erhöhtes Risiko für Vor- oder Rückfälle darstellen. Mögliche Trigger können bestimmte Tageszeiten, bestimmte Orte, verschiedene Tätigkeiten oder bestimmte Emotionen sein (Abb. 7, Triggersituationen). Wir erklären, wie wichtig es ist, eigene, individuelle Auslöser zu kennen. So kann man sich im Vorfeld auf riskante Situationen vorbereiten und unangenehme Überraschungen vermeiden. Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch das Wissen um und das Vertrauen auf persönliche Bewältigungsstrategien und die Vergegenwärtigung bereits positiv bewältigter Situationen.

Patienten werden zudem auf das Risiko einer gewissen Gewichtszunahme angesprochen (nach dem Rauchstopp durchschnittlich zwischen 3 und 5 kg). Wir erklären, warum der Körper im Durchschnitt ca. 200 kcal pro Tag weniger verbraucht. Falls erwünscht, machen wir zur Ernährung Vorschläge, z. B. bevorzugt Obst und Gemüse statt Schokolade essen, viel Wasser oder ungesüssten Tee trinken, die Wahl der Kohlenhydrate beachten (eher dunkles Mehl bzw. Vollkorn bevorzugen als Weissmehlprodukte) und Bewegungseinheiten im Alltag steigern. Auf Wunsch der Patienten oder nach Ermessen des Behandlungsteams kann auch die Ernährungsberatung einbezogen werden.

Inzwischen konnte seit dem Rauchstopp ein gewisser Betrag an Geld eingespart werden. Dieses Thema kann zu Motivationszwecken individuell vertieft werden. CO-Messung und Frage nach der Zuversicht, ggf. wird auf frühere Angaben hingewiesen. Es werden nächste Schritte und Schwerpunkte definiert.

5. Beratung (Zeitaufwand 20–30 Min.)

Erneut erfolgt ein Rückblick auf die Zeit seit der letzten Beratung. Fragen werden geklärt und Erfahrungen besprochen. An diesem Punkt werden die Themen Aufrechterhaltung der Nikotinabstinenz und erneut Vermeidung von Vor- und Rückfällen besprochen. Körperliche Veränderung über den Verlauf der Beratungen werden thematisiert. Der Abstinenzerfolg wird gewürdigt. Auf den Prozess der erfolgten Rauchentwöhnung zurückzublicken kann hilfreich sein, um einzelne wichtige Themen nochmals zu erörtern sowie positive Erfahrungen zu benennen und zu verinnerlichen. Patienten erkennen ihre Leistung, die sie in diesem Prozess erbracht haben, und fühlen sich befähigt, in eine rauchfreie Zukunft zu gehen. Im Weiteren geht es um die Thematisierung der neuen Identität als nicht rauchende Person. Auf Wunsch wird erneut eine CO-Messung gemacht, insbesondere dann, wenn seit dem Quit Day schon drei Monate vergangen sind.
Das Thema finanzielle Einsparungen kann noch einmal aufgenommen werden. Man kann beispielsweise empfehlen, das eingesparte Geld bewusst zu sparen und für etwas ganz Besonderes auszugeben, das man sich sonst nicht leisten würde. Den Patienten soll die Summe des eingesparten Geldes bewusst gemacht werden.

Ziel ist es, dass Patienten zuversichtlich, mit hoher Selbstwirksamkeit und dem Wissen um die Umsetzung von Bewältigungsstrategien in diversen Lebenslagen die Rauchstoppberatung abschliessen können.

Weitere Beratungstermine

Manchmal werden weitere Beratungstermine benötigt, insbesondere wenn der effektive Rauchstopp erst verzögert umgesetzt wurde. Ziel ist es immer, die Patienten über die ersten drei Monate nach einem Rauchstopp hinaus zu begleiten, wenn sich Bewältigungsstrategien, neue AlltagsAbläufe und Rituale festigen. Für Patienten kann diese zeitlich ausgedehnte «externe Verbindlichkeit» hilfreich sein, um in Hochrisikosituationen weiterhin abstinent zu bleiben.

Abschluss

Wir bieten an, auf Wunsch weiterhin zur Verfügung zu stehen. Wir geben ggf. die Nummer der nationalen Rauchstopplinie an (https://stopsmoking.ch/) und motivieren Patienten, frühzeitig externe Hilfe in Anspruch zu nehmen, falls erneute Schwierigkeiten zur Aufrechterhaltung der Rauchfreiheit eintreten sollten. Hierzu können sich Patienten auch niederschwellig per E-Mail mit der Rauchstoppberaterin in Verbindung setzen. Wann immer möglich wird versucht, den Rauchstatus nach 3 Monaten zu objektiveren (CO-Messung). Manchmal gibt es alternative Überprüfungsmöglichkeiten im Spitalsetting, z. B. arterielle Blutgasanalysen ohne erhöhten CO-Nachweis. Dies sind Bestimmungen, die im Kontext anderer medizinischer Indiktionen vorgenommen werden und uns zur Objektivierung des Rauchstopperfolges dienlich sind.

12 Monate nach Datum des Rauchstopps erfolgt ein telefonisches Follow-up. Dabei wird der Rauchstatus erfragt und dokumentiert. Sollten Patienten noch immer oder wieder erneut rauchen, wird der Zeitpunkt genutzt, um niederschwellig eine Wiederaufnahme der Beratungen anzubieten. Sind Patienten über die 12 Monate hinweg rauchfrei geblieben, berichten sie erfahrungsgemäss gerne vom neuen Lebensgefühl als Nichtraucherin oder als Nichtraucher.

Jenseits der Standardsituation / Grenzen der Rauchstoppberatung

Schwangere

Schwangeren wird zu Recht geraten, mit dem Rauchen gänzlich aufzuhören. Fortgesetztes Rauchen ist mit erhöhten Risiken für die Schwangere und das ungeborene Kind assoziiert. Beachtlich viele Frauen hören mit dem Rauchen auf, wenn sie erfahren, dass sie schwanger sind. Frauen in der Frühschwangerschaft, die es auf Anhieb nicht schaffen, den Tabak- und Nikotinkonsum aus eigener Kraft einzustellen, sind meistens motiviert, professionelle Unterstützung anzunehmen. Die besten Resultate werden bei diesen Frauen erreicht, wenn ihnen ein finanzieller Anreiz gegeben wird. Es kann eine Prämie (Geld) ausgezahlt werden, wenn der Rauchstopp für eine längere Zeit eingehalten wird. In der Schwangerschaft ändert sich der Nikotinmetabolimus, sodass z.T. eine erhöhte Nikotinzufuhr die Folge ist. Dies gilt es zu bedenken, wenn Nikotinersatz eingesetzt wird. Nikotin aus registrierten Nikotinersatzprodukten ist gesundheitlich besser als fortgesetzter Tabakkonsum. Das Beste ist der komplette Rauch- und Nikotinstopp (5, 6, 7).

Psychische Erkrankungen

Bei instabilen psychischen Situationen, z. B. schwerer Depression oder Schizophrenie, führen wir eine orientierende Beratung durch. Wir empfehlen dann eine psychiatrische Betreuung, bevor die Rauchstoppberatung weitergeführt wird. Ggf. erfolgt die Wahl und Dosierung unterstützender Rauchstoppmedikamente in Absprache mit dem behandelnden Psychiater / der behandelnden Psychiaterin. Sozial, psychisch oder emotional sehr stark belastete Menschen bewegen sich oft in komplexen Problemkreisen, wobei das Rauchen gewissermassen symptomatisch als zentrale Bewältigungsstrategie empfunden werden kann und der Gesundheitskontext zweitrangig ist. Bei solchen Personen kann die Empfehlung zum Rauchstopp eine schier unüberwindbare Hürde darstellen.

In solchen Fällen wird nicht auf einen Rauchstopp insistiert, sondern Verständnis gezeigt. Den Patienten wird das Angebot einer weiteren Beratung unterbreitet für die Zeit, wenn sich die Lebenskrise oder die momentane Situation gebessert hat. Allein das Gespräch übers Rauchen und über die aktuelle Belastungssituation kann unterstützend wirken. Es wird vereinbart, dass eine Folgeberatung oder eine telefonische Kontaktaufnahme durch uns geschieht, und ein Zeitpunkt dafür festgelegt, z. B. in sechs Monaten. Bei motivierten Patienten, die psychisch stabil eingestellt sind, kommen die klassischen Rauchstoppmedikamente ohne signifikante Erhöhung von Komplikationen zur Anwendung (8). Sind die Voraussetzungen weniger günstig, kann auch einmal eine Schadensminderungsstrategie, z. B. Benützung des Inhalers zur Reduktion der Anzahl gerauchter Zigaretten, ausnahmsweise zur Anwendung kommen.

Terminale Patienten / palliative Situationen

Es ist verständlich, dass Patienten mit beispielsweise Krebserkrankungen z. T. einen Rauchstoppwunsch haben. Bei gewissen Tumoren ist die Ansprechrate auf die Therapie deutlich besser nach einem Rauchstopp (verbesserte Durchblutung des Tumorgewebes bei Systemtherapien) (9). Wir beraten und behandeln auch diese Patienten bei einem Rauchstoppwunsch.

Danksagung
Wir möchten Eveline Rutz für die sprachliche Durchsicht und Korrekturen danken.

PD Dr. med. Macé M. Schuurmans

Klinik für Pneumologie
Leitung Rauchstoppsprechstunde
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

mace.schuurmans@usz.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. Ärztliche Rauchstoppberatung. Die Dokumentation für die Praxis. Jacques Cornuz, Isabelle Jacot-Sadowski, Jean-Paul Humair. 3. Auflage. Frei von Tabak, 2016
2. Tabakkonsum und Tabakabhängigkeit. Christoph B. Kröger, Bettina Lohmann. 1. Auflage. Hogrefe Verlag, 2007
3. Macé M. Schuurmans, Marc Müller, Jürg Pfisterer, Carole Clair, Werner
Karrer. Rauchstopp für COPD Patienten. Schweiz Med Forum 2015;15(49):1155-1158
4. Macé M. Schuurmans, Anne-Katharina Burkhalter und Jean-Pierre Zellweger
Rauchstopp-Beratung für die Praxis Evidenz-basierte Informationen und erfahrungsmedizinische Tipps.
Psychiatrie 2•2009
5. Elisabeth Biewald, Denise Casanova, Macé Schuurmans. Individuelle Rauchstoppberatung Persönlicher Handlungsplan, Verein Lunge Zürich, The Circle 58, 8058 Zürich-Flughafen. Bildmaterial LUNGE ZÜRICH: Konzepte erarbeitet durch die Autoren dieses Aritkels.
6. Berlin I, Berlin N, Malecot M, Breton M, Jusot F, Goldzahl L. Financial incentives for smoking cessation in pregnancy: multicentre randomised controlled trial. BMJ. 2021 Dec 1;375:e065217. doi: 10.1136/bmj-2021-065217. Erratum in: BMJ. 2021 Dec 3;375:n3012. doi: 10.1136/bmj.n3012. Erratum in: BMJ. 2022 Feb 22;376:o448. doi: 10.1136/bmj.o448. PMID: 34853024; PMCID: PMC8634365.
7. Robijn AL, Tran DT, Cohen JM, Donald S, Cesta CE, Furu K, Parkin L, Pearson SA, Reutfors J, Zoega H, Zwar N, Havard A. Smoking Cessation Pharmacotherapy Use in Pregnancy. JAMA Netw Open. 2024 Jun 3;7(6):e2419245. doi: 10.1001/jamanetworkopen.2024.19245. PMID: 38941092; PMCID: PMC11214111.
8. Correa JB, Lawrence D, McKenna BS, Gaznick N, Saccone PA, Dubrava S, Doran N, Anthenelli RM. Psychiatric Comorbidity and Multimorbidity in the EAGLES Trial: Descriptive Correlates and Associations With Neuropsychiatric Adverse Events, Treatment Adherence, and Smoking Cessation. Nicotine Tob Res. 2021 Aug 29;23(10):1646-1655. doi: 10.1093/ntr/ntab056. PMID: 33788933; PMCID: PMC8521682.
9. Chellappan S. Smoking Cessation after Cancer Diagnosis and Enhanced Therapy Response: Mechanisms and Significance. Curr Oncol. 2022 Dec 17;29(12):9956-9969. doi: 10.3390/curroncol29120782. PMID: 36547196; PMCID: PMC9776692.

Das funktionelle Kompartmentsyndrom – eine Ursache belastungsabhängiger Unterschenkelschmerzen

Das funktionelle Kompartmentsyndrom – auch bekannt als chronisches Logensyndrom oder chronic exertional compartment syndrome (CECS) – ist ein oftmals lang unerkannt bleibendes Krankheitsbild, welches in erster Linie junge, sportlich aktive Menschen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren betrifft. Pathophysiologisch kommt es zu einem schmerzhaften Druckanstieg in einer oder mehreren Muskellogen, meist ausgelöst durch sportliche Aktivität wie Rennen oder Springen oder wiederholte zyklische Belastungen (z.B. Bergaufgehen). Am häufigsten sind die Unterschenkel betroffen; es sind aber auch Kompartmentsyndrome der Arme, Oberschenkel, Füsse und sogar der paravertebralen Muskulatur beschrieben. Typischerweise manifestiert sich das funktionelle Kompartmentsyndrom durch reproduzierbar unter Belastung auftretende Unterschenkelschmerzen, die nach Beendigung der Aktivität zügig zurückgehen und häufig beidseitig vorliegen. Zur eindeutigen Diagnosestellung ist eine intrakompartimentelle Druckmessung erforderlich. Differenzialdiagnostisch sind vor allem vaskuläre Entrapments, Wirbelsäulenpathologien und Myopathien zu berücksichtigen. Die konservativen Therapiemassnahmen umfassen Detonisierung der Muskulatur, Gang-/Laufschule, Belastungsmodifikation, Optimierung der Biomechanik, Kompressionsstrümpfe, Dry Needling und Botulinumtoxininjektionen. Sollten die Beschwerden persistieren, ist eine endoskopisch assistierte Fasziotomie ein komplikationsarmer chirurgischer Eingriff mit hoher Erfolgsrate.

Schlüsselwörter: Funktionelles Kompartmentsyndrom, chronisches Kompartmentsyndrom, chronisches Logensyndrom, chronic exertional compartment syndrome

Historisches

Die Erstbeschreibung des funktionellen Kompartmentsyndroms geht zurück auf den britischen Militärchi­rurgen Edward Adrian Wilson (* 23.07.1872, † 29.03. 1912).

Der Polarforscher, Arzt und Ornithologe war Teilnehmer der ersten grossen Antarktisexpeditionen, u.a. der Terra-Nova-Expedition unter Robert Falcon Scott, die am 18. Januar 1912 den Südpol erreichte. In seinem Tagebuch beschrieb er, dass er während einer der Expeditionen starke Schmerzen in den vorderen Anteilen beider Unterschenkel verspürte. Die Symptome intensivierten sich mit jedem erneuten Trip, verschwanden jedoch immer wieder im Rahmen der Ruhephase. Im Laufe der Zeit entstanden dann sogar Ruheschmerzen, ein Hinweis für den schleichenden Übergang in ein subakutes Kompartmentsyndrom.

Die erste Beschreibung in der medizinischen Fachliteratur datiert von 1945, als die Symptomatik eines Soldaten als «acute ischaemia of the anterior tibial muscle and the long extensor muscles of the ­toes» benannt wird (Horn CE JBJS Am 1945; 27:615–622). Als sportassoziiertes Krankheitsbild beschreibt Mavor 1956 erstmalig einen Fussballspieler und nennt das Krankheitsbild «The anterior tibial syndrome» (Mavor GE, JBJS Br 1956; 68:513–517).

Epidemiologie

Die Inzidenz belastungsabhängiger Unterschenkelschmerzen im Sport wird mit 12.8%–82.4% angegeben (Rajasekaran 2012), wobei ca. 27–33% davon auf das funktionelle Kompartmentsyndrom entfallen. Insbesondere Laufsportler sind betroffen, aber auch Mannschaftssportler aus Sportarten mit hohem Lauf- oder Sprunganteil wie Fussball, Handball, Hockey, Tennis oder Badminton. Gute Daten zur Häufigkeit liegen ausserdem aus dem Militär vor, da die Kohorte der Rekruten gut untersuchbar ist, standardisierte lange Märsche absolviert werden und die körperliche Belastung oftmals in kurzer Zeit stark gesteigert wird, was ein Auslöser für das CECS sein kann. Man findet Zahlen von 1/2000 Neuerkrankungen. In unserer eigenen täglichen Praxis mit Spezialisierung auf das CECS sehen wir jede Woche mehrere Athlet/-innen mit CECS, sodass eine hohe Dunkelziffer anzunehmen ist.

Anatomie und Pathophysiologie

Der Unterschenkel wird durch die Faszien und die interossäre Membran zwischen Tibia und Fibula in insgesamt vier Kompartimente unterteilt (Abb. 1). Die anteriore Loge (rot) enthält die Extensorenmuskulatur sowie die A. und V. tibialis und den Nervus Peroneus profundus. Die fibulare Loge (blau) enthält die peroneale Muskelgruppe, die oberflächliche Beugerloge, den Triceps surae mit dem M. Plantaris und die tiefe Beugerlogen, die Zehenflexoren sowie den M. Tibialis posterior. Durch letztere laufen auch N. tibialis, A./V. tibialis posterior sowie A./V. fibularis. Eine Aufstellung aller Leitstrukturen und die konsekutiven Leitsymptome beim Vorliegen eines CECS kann der Tab. 1 entnommen werden.

Vom CECS abzugrenzen ist das akute Kompartmentsyndrom, bei dem es durch eine akute Volumenzunahme zu einer akuten Schmerzhaftigkeit durch den Druckanstieg im Kompartiment kommt. Am häufigsten tritt dies im Rahmen einer Einblutung durch eine grössere Verletzung, z.B. einer Unterschenkelfraktur, auf. Das akute Kompartmentsyndrom ist ein medizinischer Notfall, dem eine sofortige operative Versorgung zugeführt werden muss, da sonst irreversible Schäden der Muskulatur und der Nerven auftreten können.

Pathophysiologie und Klinik

Das CECS tritt gehäuft im Alter von 15–25 Jahren auf mit einem zweiten Plateau um das 50. Lebensjahr. Pathophysiologisch kommt es beim CECS zu einem schmerzhaften Druckanstieg in einer oder mehreren Muskellogen, meist ausgelöst durch sportliche Aktivität oder wiederholten zyklischen Belastungen. Am häufigsten sind die Unterschenkel betroffen; es sind aber auch Kompartmentsyndrome der Arme, Oberschenkel, Füsse und sogar der paravertebralen Muskulatur beschrieben.
Der genaue Pathomechanimus ist zwar noch nicht abschliessend geklärt, aber ein Circulus vitiosus durch ein Missverhältnis der nur bedingt dehnbaren Faszien und der Muskulatur, die unter Belastung eine Volumenzunahme von 20% erfahren kann, gilt als gesichert. Konkret führt offensichtlich der gesteigerte Blutfluss unter Belastung zu einer Volumenzunahme der Muskulatur. Dies hat einen Anstieg des intrakompartimentellen Druckes zur Folge, sodass die kleinsten Gefässe (Kapillaren) abgedrückt werden. Die weitere Folge ist eine Ischämie des Muskelgewebes mit Schmerzen, Krampfgefühl und Muskelschwäche, welche wiederum die Mikrozirkulationsstörungen verstärkt und auch das Ödem.

Als Risikofaktoren für das Auftreten eines CECS gelten eine rasche Muskelhypertrophie entweder durch intensives Training oder durch Einnahme von Anabolika oder Kreatinsupplementation, eine Faszienverdickung (z.B. nach Traumata oder durch chronifizierte Entzündungsprozesse), Mikrozirkulationsstörungen oder Ödeme bei venösem Rückstau sowie eine erhöhte Bindegewebesteifigkeit, z.B. im Rahmen einer Sklerodermie.

Klinisch manifestiert sich das funktionelle Kompartmentsyndrom einerseits durch belastungsinduzierte Schmerzen, welche bei Beendigung der Aktivität mit konsekutivem Druckabfall meist zügig zurückgehen, andererseits auch durch Krämpfe, schnellere Muskelermüdung und Funktionseinschränkungen. Viele Patienten beschreiben auch ein massives Druckgefühl («So, als würde mein Unterschenkel gleich platzen.»). Bei der auslösenden Aktivität handelt es sich zumeist um Laufen, Springen oder zügiges Bergaufgehen. Radfahren geht hingegen zumeist problemlos. Am häufigsten ist das anteriore oder das tiefe posteriore Kompartiment betroffen, und oft bestehen bilaterale Beschwerden – in der Literatur finden sich Angaben von 63–95%. Da die Symptome beim tiefen posterioren Kompartiment meist diffuser und uneindeutiger sind, kann spekuliert werden, dass hier die Dunkelziffer sogar noch höher liegt und dieses somit am häufigsten betroffen sein könnte. Bei etwa einem Drittel der Patienten verursacht nur eine Muskelloge Beschwerden, während bei den anderen zwei Dritteln zwei oder mehr Muskellogen betroffen sind. Wenn die Schmerzen intensiver provoziert werden, halten sie oft auch nach Belastungsende noch an; oder sie treten schneller wieder auf, sobald die Belastung wieder aufgenommen wird. Bei stark erhöhtem Druck kann es auch zu einer Beeinträchtigung der Blutzirkulation oder der Innervation kommen, mit konsekutiver Schwellneigung oder Parästhesien im entsprechenden Versorgungsgebiet. Insbesondere wenn die Symptomatik schon länger besteht, können die Beschwerden auch schon bei einfachen Alltagsbelastungen wie Bergaufgehen oder Treppensteigen auftreten und damit eine Claudicatio-ähnliche Symptomatik hervorrufen. Athleten sind in der Ausübung ihres Sports teils massiv eingeschränkt und geben den Sport manchmal sogar ganz auf – vor allem wenn die Symptomatik zu lange nicht diagnostiziert wird. Die mittlere Dauer bis zur Diagnosestellung wird mit 18 bis 22 Monaten angegeben.

(Differential-) Diagnostik

Der wichtigste Baustein in der Diagnostik ist bereits die Anamnese, die wie vorgängig beschrieben sehr charakteristische Informationen beinhaltet. Die Standard-Bildgebung bleibt – aufgrund der funktionellen Natur der Beschwerden – meist unauffällig. Eine Magnetresonanztomographie (MRT) direkt nach Ausübung der auslösenden Belastungen zeigt oft ein Muskelödem in der betroffenen Loge. Ausserdem dient sie dem Ausschluss von Differenzialdiagnosen wie dem medialen tibialen Stresssyndrom im Falle der anterioren Loge. Zur eindeutigen Diagnosestellung ist eine intrakompartimentelle Druckmessung unter und nach Belastung erforderlich. Hierfür wird nach örtlicher Betäubung ein Präzisionsdruckkatheter unter sonographischer Kontrolle in die entsprechende Loge implantiert und dann so fixiert, dass sportliche Belastungen möglich sind. Die Druckdifferenz vor und nach der Belastung ist entscheidend für die Diagnosestellung.

In der Differentialdiagnose sind vor allem vaskuläre Pathologien zu berücksichtigen, zu denen Einengungen der Gefässe, vor allem das arterielle popliteale Entrapment, zählen, aber auch endovaskuläre Ursachen wie Endofibrose/Artherosklerose und venöse Pathologien (Gähwiler et al. 2020). Neurale Kompressionssyndrome können zentral z. B. im Rahmen von Wirbelsäulenpathologien entstehen oder peripher durch Engstellen im Nervenverlauf. Eine bilaterale Manifestation ist dabei jedoch selten. Weiterhin zu berücksichtigen sind Muskelerkrankungen (posttraumatisch, inflammatorisch oder neoplastisch) sowie knöcherne Ursachen wie die «Shins splints» als (peri-)ossäre Stressreaktionen. Tab. 2 fasst die wichtigsten Differentialdiagnosen zusammen und zeigt die diagnostischen Möglichkeiten (aus Recktenwald Dissertation 2019).

Therapie

Da es sich um ein funktionelles Problem handelt, kann durch Reduktion der auslösenden Faktoren eine Besserung erreicht werden. Dies betrifft in erster Linie das Training aber auch trainingsrelevante Faktoren. Durch einen Wechsel des Schuhwerks kann die Belastung in bestimmten Kompartimenten beeinflusst werden. So helfen medial gestützte Schuhe bei der Entlastung des M. tibialis posterior, und eine grössere Sprengung des Schuhs entlastet das anteriore Kompartiment. Auch eine spezielle Gang-/Laufschule ist erfolgversprechend. Beim anterioren Kompartment kann eine Reduktion der Schrittlänge bei Erhöhung der Schrittfrequenz helfen. Der Fuss sollte nicht vor dem Körperschwerpunkt aufgesetzt und nicht zu sehr dorsalflektiert werden. Eine Umstellung auf Mittelfusslaufen ist ebenfalls möglich.

Die Detonisierung der Muskulatur kann erreicht werden durch Massagen, Dry Needling, Foam rolling, Dehnung sowie Thermotherapie oder Stosswellentherapie. Natürlich sind auch detonisierende Medikamente wie Sirdalud oder Mydocalm oder Injektionen denkbar. Die Extremvariante wären Botulinumtoxininjektionen. Auf Muskelwachstum induzierende Massnahmen sollte streng verzichtet werden. Dazu zählt auch die Einnahme von Kreatin und Proteinsupplementen. Kompressionsstrümpfe können etwas Linderung bringen, werden in vielen Fällen aber auch gar nicht toleriert.

Bei erfolgloser konservativer Therapie ist eine Operation indiziert. Bei dieser werden die Faszien der betroffenen Kompartimente gespalten, um der Muskulatur mehr Platz zu verschaffen. Die Operation kann minimal-invasiv erfolgen, ist sehr schonend und gut verträglich und in der Hand eines versierten Chirurgen oder einer versierten Chirurgin komplikationsarm. Die Abb. 3–7 zeigen endoskopische Aufnahmen einer solchen Operation. Bei korrekter Diagnose quillt die Muskulatur bei der Spaltung massiv hervor, teilweise direkt nach der Stichinzision mit dem Messer. 2 Wochen nach der Operation können die Patienten den Alltagsaktivitäten nachgehen und nach 4 Wochen das Lauftraining wieder aufnehmen. Rezidive kommen vor in einer Häufigkeit zwischen 10 und 20%.

Fazit

Das funktionelle Kompartmentsyndrom ist ein gut behandelbares Krankheitsbild, welches primär junge, sportlich aktive Menschen betrifft, aber auch sekundär auftreten kann, u.a. nach Traumata oder bei chronisch venöser Insuffizienz oder Reperfusion. Belastungsabhängige Unterschenkelschmerzen, Muskelkrämpfe, Pa­rästhesien oder ein Druckgefühl, welche mit Belastungsabbruch schnell sistieren, sollen hellhörig machen und weitere Abklärungen nach sich ziehen. Da die Patienten oft in ihrer Sportfähigkeit sehr beeinträchtigt sind, sollte bei typischer Klinik zeitnah eine Überweisung zum Spezialisten erfolgen. Die endoskopisch assistierte Fasziotomie ist eine komplikationsarme Operation, welche den Patienten bei frustraner konservativer Therapie Lebensqualität und Sportfähigkeit zurückgibt.

Prof. Dr. med. Anja Hirschmüller

ALTIUS Swiss Sportmed Center
Habich-Dietschy Strasse 5A
4310 Rheinfelden

anja.hirschmueller@altius.ag

Kerstin Recktenwald

Allgemeinärztliche Praxis
Östersund
Schweden

Dr. med.Roman Gähwiler

Spital Lachen
Lachen
Schweiz

Dr. med. Lukas Weisskopf

ALTIUS Swiss Sportmed Center
Rheinfelden
Schweiz

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

Historisches

Die Erstbeschreibung des funktionellen Kompartmentsyndroms geht zurück auf den britischen Militärchi­rurgen Edward Adrian Wilson (* 23.07.1872, † 29.03. 1912).

Der Polarforscher, Arzt und Ornithologe war Teilnehmer der ersten grossen Antarktisexpeditionen, u.a. der Terra-Nova-Expedition unter Robert Falcon Scott, die am 18. Januar 1912 den Südpol erreichte. In seinem Tagebuch beschrieb er, dass er während einer der Expeditionen starke Schmerzen in den vorderen Anteilen beider Unterschenkel verspürte. Die Symptome intensivierten sich mit jedem erneuten Trip, verschwanden jedoch immer wieder im Rahmen der Ruhephase. Im Laufe der Zeit entstanden dann sogar Ruheschmerzen, ein Hinweis für den schleichenden Übergang in ein subakutes Kompartmentsyndrom.
Die erste Beschreibung in der medizinischen Fachliteratur datiert von 1945, als die Symptomatik eines Soldaten als «acute ischaemia of the anterior tibial muscle and the long extensor muscles of the ­toes» benannt wird (Horn CE JBJS Am 1945; 27:615–622). Als sportassoziiertes Krankheitsbild beschreibt Mavor 1956 erstmalig einen Fussballspieler und nennt das Krankheitsbild «The anterior tibial syndrome» (Mavor GE, JBJS Br 1956; 68:513–517).

Epidemiologie

Die Inzidenz belastungsabhängiger Unterschenkelschmerzen im Sport wird mit 12.8%–82.4% angegeben (Rajasekaran 2012), wobei ca. 27–33% davon auf das funktionelle Kompartmentsyndrom entfallen. Insbesondere Laufsportler sind betroffen, aber auch Mannschaftssportler aus Sportarten mit hohem Lauf- oder Sprunganteil wie Fussball, Handball, Hockey, Tennis oder Badminton. Gute Daten zur Häufigkeit liegen ausserdem aus dem Militär vor, da die Kohorte der Rekruten gut untersuchbar ist, standardisierte lange Märsche absolviert werden und die körperliche Belastung oftmals in kurzer Zeit stark gesteigert wird, was ein Auslöser für das CECS sein kann. Man findet Zahlen von 1/2000 Neuerkrankungen. In unserer eigenen täglichen Praxis mit Spezialisierung auf das CECS sehen wir jede Woche mehrere Athlet/-innen mit CECS, sodass eine hohe Dunkelziffer anzunehmen ist.

Anatomie und Pathophysiologie

Der Unterschenkel wird durch die Faszien und die interossäre Membran zwischen Tibia und Fibula in insgesamt vier Kompartimente unterteilt (Abb. 1). Die anteriore Loge (rot) enthält die Extensorenmuskulatur sowie die A. und V. tibialis und den Nervus Peroneus profundus. Die fibulare Loge (blau) enthält die peroneale Muskelgruppe, die oberflächliche Beugerloge, den Triceps surae mit dem M. Plantaris und die tiefe Beugerlogen, die Zehenflexoren sowie den M. Tibialis posterior. Durch letztere laufen auch N. tibialis, A./V. tibialis posterior sowie A./V. fibularis. Eine Aufstellung aller Leitstrukturen und die konsekutiven Leitsymptome beim Vorliegen eines CECS kann der Tab. 1 entnommen werden.

Vom CECS abzugrenzen ist das akute Kompartmentsyndrom, bei dem es durch eine akute Volumenzunahme zu einer akuten Schmerzhaftigkeit durch den Druckanstieg im Kompartiment kommt. Am häufigsten tritt dies im Rahmen einer Einblutung durch eine grössere Verletzung, z. B. einer Unterschenkelfraktur, auf. Das akute Kompartmentsyndrom ist ein medizinischer Notfall, dem eine sofortige operative Versorgung zugeführt werden muss, da sonst irreversible Schäden der Muskulatur und der Nerven auftreten können.

Pathophysiologie und Klinik

Das CECS tritt gehäuft im Alter von 15–25 Jahren auf mit einem zweiten Plateau um das 50. Lebensjahr. Pathophysiologisch kommt es beim CECS zu einem schmerzhaften Druckanstieg in einer oder mehreren Muskellogen, meist ausgelöst durch sportliche Aktivität oder wiederholten zyklischen Belastungen. Am häufigsten sind die Unterschenkel betroffen; es sind aber auch Kompartmentsyndrome der Arme, Oberschenkel, Füsse und sogar der paravertebralen Muskulatur beschrieben.

Der genaue Pathomechanimus ist zwar noch nicht abschliessend geklärt, aber ein Circulus vitiosus durch ein Missverhältnis der nur bedingt dehnbaren Faszien und der Muskulatur, die unter Belastung eine Volumenzunahme von 20% erfahren kann, gilt als gesichert. Konkret führt offensichtlich der gesteigerte Blutfluss unter Belastung zu einer Volumenzunahme der Muskulatur. Dies hat einen Anstieg des intrakompartimentellen Druckes zur Folge, sodass die kleinsten Gefässe (Kapillaren) abgedrückt werden. Die weitere Folge ist eine Ischämie des Muskelgewebes mit Schmerzen, Krampfgefühl und Muskelschwäche, welche wiederum die Mikrozirkulationsstörungen verstärkt und auch das Ödem.

Als Risikofaktoren für das Auftreten eines CECS gelten eine rasche Muskelhypertrophie entweder durch intensives Training oder durch Einnahme von Anabolika oder Kreatinsupplementation, eine Faszienverdickung (z.B. nach Traumata oder durch chronifizierte Entzündungsprozesse), Mikrozirkulationsstörungen oder Ödeme bei venösem Rückstau sowie eine erhöhte Bindegewebesteifigkeit, z.B. im Rahmen einer Sklerodermie.
Klinisch manifestiert sich das funktionelle Kompartmentsyndrom einerseits durch belastungsinduzierte Schmerzen, welche bei Beendigung der Aktivität mit konsekutivem Druckabfall meist zügig zurückgehen, andererseits auch durch Krämpfe, schnellere Muskelermüdung und Funktionseinschränkungen. Viele Patienten beschreiben auch ein massives Druckgefühl («So, als würde mein Unterschenkel gleich platzen.»). Bei der auslösenden Aktivität handelt es sich zumeist um Laufen, Springen oder zügiges Bergaufgehen. Radfahren geht hingegen zumeist problemlos. Am häufigsten ist das anteriore oder das tiefe posteriore Kompartiment betroffen, und oft bestehen bilaterale Beschwerden – in der Literatur finden sich Angaben von 63–95%. Da die Symptome beim tiefen posterioren Kompartiment meist diffuser und uneindeutiger sind, kann spekuliert werden, dass hier die Dunkelziffer sogar noch höher liegt und dieses somit am häufigsten betroffen sein könnte. Bei etwa einem Drittel der Patienten verursacht nur eine Muskelloge Beschwerden, während bei den anderen zwei Dritteln zwei oder mehr Muskellogen betroffen sind. Wenn die Schmerzen intensiver provoziert werden, halten sie oft auch nach Belastungsende noch an; oder sie treten schneller wieder auf, sobald die Belastung wieder aufgenommen wird. Bei stark erhöhtem Druck kann es auch zu einer Beeinträchtigung der Blutzirkulation oder der Innervation kommen, mit konsekutiver Schwellneigung oder Parästhesien im entsprechenden Versorgungsgebiet. Insbesondere wenn die Symptomatik schon länger besteht, können die Beschwerden auch schon bei einfachen Alltagsbelastungen wie Bergaufgehen oder Treppensteigen auftreten und damit eine Claudicatio-ähnliche Symptomatik hervorrufen. Athleten sind in der Ausübung ihres Sports teils massiv eingeschränkt und geben den Sport manchmal sogar ganz auf – vor allem wenn die Symptomatik zu lange nicht diagnostiziert wird. Die mittlere Dauer bis zur Diagnosestellung wird mit 18 bis 22 Monaten angegeben.

(Differential-) Diagnostik

Der wichtigste Baustein in der Diagnostik ist bereits die Anamnese, die wie vorgängig beschrieben sehr charakteristische Informationen beinhaltet. Die Standard-Bildgebung bleibt – aufgrund der funktionellen Natur der Beschwerden – meist unauffällig. Eine Magnetresonanztomographie (MRT) direkt nach Ausübung der auslösenden Belastungen zeigt oft ein Muskelödem in der betroffenen Loge. Ausserdem dient sie dem Ausschluss von Differenzialdiagnosen wie dem medialen tibialen Stresssyndrom im Falle der anterioren Loge. Zur eindeutigen Diagnosestellung ist eine intrakompartimentelle Druckmessung unter und nach Belastung erforderlich. Hierfür wird nach örtlicher Betäubung ein Präzisionsdruckkatheter unter sonographischer Kontrolle in die entsprechende Loge implantiert und dann so fixiert, dass sportliche Belastungen möglich sind. Die Druckdifferenz vor und nach der Belastung ist entscheidend für die Diagnosestellung.
In der Differentialdiagnose sind vor allem vaskuläre Pathologien zu berücksichtigen, zu denen Einengungen der Gefässe, vor allem das arterielle popliteale Entrapment, zählen, aber auch endovaskuläre Ursachen wie Endofibrose/Artherosklerose und venöse Pathologien (Gähwiler et al. 2020). Neurale Kompressionssyndrome können zentral z. B. im Rahmen von Wirbelsäulenpathologien entstehen oder peripher durch Engstellen im Nervenverlauf. Eine bilaterale Manifestation ist dabei jedoch selten. Weiterhin zu berücksichtigen sind Muskelerkrankungen (posttraumatisch, inflammatorisch oder neoplastisch) sowie knöcherne Ursachen wie die «Shins splints» als (peri-)ossäre Stressreaktionen. Tab. 2 fasst die wichtigsten Differentialdiagnosen zusammen und zeigt die diagnostischen Möglichkeiten (aus Recktenwald Dissertation 2019).

Therapie

Da es sich um ein funktionelles Problem handelt, kann durch Reduktion der auslösenden Faktoren eine Besserung erreicht werden. Dies betrifft in erster Linie das Training aber auch trainingsrelevante Faktoren. Durch einen Wechsel des Schuhwerks kann die Belastung in bestimmten Kompartimenten beeinflusst werden. So helfen medial gestützte Schuhe bei der Entlastung des M. tibialis posterior, und eine grössere Sprengung des Schuhs entlastet das anteriore Kompartiment. Auch eine spezielle Gang-/Laufschule ist erfolgversprechend. Beim anterioren Kompartment kann eine Reduktion der Schrittlänge bei Erhöhung der Schrittfrequenz helfen. Der Fuss sollte nicht vor dem Körperschwerpunkt aufgesetzt und nicht zu sehr dorsalflektiert werden. Eine Umstellung auf Mittelfusslaufen ist ebenfalls möglich.

Die Detonisierung der Muskulatur kann erreicht werden durch Massagen, Dry Needling, Foam rolling, Dehnung sowie Thermotherapie oder Stosswellentherapie. Natürlich sind auch detonisierende Medikamente wie Sirdalud oder Mydocalm oder Injektionen denkbar. Die Extremvariante wären Botulinumtoxininjektionen. Auf Muskelwachstum induzierende Massnahmen sollte streng verzichtet werden. Dazu zählt auch die Einnahme von Kreatin und Proteinsupplementen. Kompressionsstrümpfe können etwas Linderung bringen, werden in vielen Fällen aber auch gar nicht toleriert.

Bei erfolgloser konservativer Therapie ist eine Operation indiziert. Bei dieser werden die Faszien der betroffenen Kompartimente gespalten, um der Muskulatur mehr Platz zu verschaffen. Die Operation kann minimal-invasiv erfolgen, ist sehr schonend und gut verträglich und in der Hand eines versierten Chirurgen oder einer versierten Chirurgin komplikationsarm. Die Abb. 3–7 zeigen endoskopische Aufnahmen einer solchen Operation. Bei korrekter Diagnose quillt die Muskulatur bei der Spaltung massiv hervor, teilweise direkt nach der Stichinzision mit dem Messer. 2 Wochen nach der Operation können die Patienten den Alltagsaktivitäten nachgehen und nach 4 Wochen das Lauftraining wieder aufnehmen. Rezidive kommen vor in einer Häufigkeit zwischen 10 und 20%.

Fazit

Das funktionelle Kompartmentsyndrom ist ein gut behandelbares Krankheitsbild, welches primär junge, sportlich aktive Menschen betrifft, aber auch sekundär auftreten kann, u.a. nach Traumata oder bei chronisch venöser Insuffizienz oder Reperfusion. Belastungsabhängige Unterschenkelschmerzen, Muskelkrämpfe, Pa­rästhesien oder ein Druckgefühl, welche mit Belastungsabbruch schnell sistieren, sollen hellhörig machen und weitere Abklärungen nach sich ziehen. Da die Patienten oft in ihrer Sportfähigkeit sehr beeinträchtigt sind, sollte bei typischer Klinik zeitnah eine Überweisung zum Spezialisten erfolgen. Die endoskopisch assistierte Fasziotomie ist eine komplikationsarme Operation, welche den Patienten bei frustraner konservativer Therapie Lebensqualität und Sportfähigkeit zurückgibt.