Familiäres Auftreten von Darmkrebs: Vorsorge, Nachsorge und humangenetische Beratung

Das kolorektale Karzinom (KRK) ist in der Schweiz hinsichtlich jährlicher Neuerkrankungen und Krebstodesfällen die dritthäufigste Karzinomart. Da die meisten Kantone ein organisiertes Vorsorgeprogramm durchführen, werden vermehrt Personen mit einer positiven Familienanamnese für das KRK erfasst. In der Mehrheit liegt die sog. familiäre Form des KRK vor, eine erbliche Form im engeren Sinne ist viel weniger häufig. Verwandte von Patienten mit einem KRK sind bezüglich Risiko, an einem KRK zu erkranken, eine heterogene Gruppe. Eine möglichst gute Einschätzung des Erkrankungsrisikos kann das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer intensivierten Vorsorge optimieren. Diese Empfehlungen («Expert Opinion Statement») sollen im klinischen Alltag als Grundlage dienen für die Planung der Vorsorge, Überwachung und humangenetischen Beratung bei Vorliegen einer für das KRK positiven Familienanamnese.

Schlüsselwörter: familiäres Kolorektalkarzinom, erbliches Kolorektalkarzinom, Lynch-Syndrom, familiäre adenomatöse Polypose, MUTYH-­assoziierte Polypose, Serratiertes Polypose-Syndrom

Einleitung

Das kolorektale Karzinom (KRK) ist in der Schweiz bei beiden Geschlechtern sowohl hinsichtlich jährlicher Neuerkrankungen wie Krebstodesfällen die dritthäufigste Karzinomart (1). Im Laufe des Lebens erkranken rund 3.7 % der Frauen und 5.2 % der Männer an einem KRK. Die Inzidenzraten blieben in der Schweiz in den letzten 30 Jahren weitgehend stabil, während die Mortalitätsraten rückläufig sind: aktuell liegt die 5-Jahres-Überlebensrate bei beiden Geschlechtern zwischen 65 und 70 %.

Ätiologisch kann zwischen dem sporadischen (sKRK), dem familiären (fKRK) und dem erblichen (eKRK) im engeren Sinne unterschieden werden mit je etwa 75 %, 20 % bzw. 5 % aller Neuerkrankungen (2). Der wichtigste Risikofaktor des sKRK ist das Alter, allerdings tritt diese Form in den letzten Dekaden immer häufiger schon vor dem 50. Lebensjahr auf, die Ursachen hierfür sind nur unvollständig verstanden (3). Zahlreiche Beobachtungsstudien dokumentieren ein erhöhtes Erkrankungsrisiko für das KRK bei einer positiven Familienanamnese (4, 5). In der Mehrheit dieser Fälle liegt die familiäre Form des KRK (fKRK) vor, bei der keine pathogene Keimbahnmutation in einem definierten Gen nachweisbar ist. Dem fKRK liegen vermutlich mono-, poly- sowie epigenetische Ursachen und Veränderungen im Mikrobiom zugrunde, deren Risiko, wie bei den anderen Formen, durch Umwelt- und Lebensstilfaktoren wie Ernährung, Rauchen, Alkoholkonsum, körperliche Aktivität und Gewicht etc. moduliert wird (6). Eine erbliche Form des KRK liegt bei einer positiven Familienanamnese nur selten vor, Angehörige betroffener Familien haben ein hohes Erkrankungsrisiko (2). Zu den erblichen (hereditären) Formen zählen insbesondere das eKRK ohne Polypose («nonpolyposis colorectal cancer», HNPCC, heute Lynch-Syndrom [LS] genannt) und verschiedene Polypose-Syndrome (siehe unten).

In der Schweiz ist die Darmkrebsvorsorge für Erwachsene zwischen dem 50. und 69. Lebensjahr mit normalem Erkrankungsrisiko mittels Koloskopie alle 10 Jahre oder durch quantitativen immunologischen Nachweis von okkultem Blut im Stuhl (FIT Test) alle zwei im Krankenversicherungsgesetz anerkannt. Die meisten Kantone führen ein organisiertes Screening-Programm durch. Dadurch werden vermehrt Personen erfasst und untersucht, welche über eine positive Familienanamnese für das KRK berichten. Diverse Fachgesellschaften empfehlen für Angehörige betroffener Familien eine intensivierte Vorsorge (7, 8, 9, 10). Für die Teilnahme an der Vorsorge müssen individuelle Vor- und Nachteile, aber auch gesellschaftliche Faktoren wie Kosten, limitierte personelle Ressourcen etc. berücksichtigt werden. Eine möglichst gute Einschätzung des Erkrankungsrisikos kann das Nutzen-Risiko-Verhältnis der ggf. intensivierten Vorsorge optimieren (11).
Es handelt sich hier um Empfehlungen im Sinne eines sog. Expert Opinion Statement. Diese ersten Schweizer Empfehlungen für das Vorgehen bei einer für das KRK positiven Familienanamnese sollen im klinischen Alltag als pragmatische Grundlage für die Planung der Vorsorge und Überwachung sowie der humangenetischen Beratung dienen. Im Rahmen eines mehrstufigen interdisziplinären Prozesses wurde dieses «Expert Opinion Statement» im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie durch die von den beteiligten Fachgesellschaften benannten Fachleute erarbeitet und repräsentiert eine schweizerische Perspektive. Deren Anwendbarkeit soll im Einzelfall geprüft und der individuellen Situation der Patientinnen und Patienten unter Berücksichtigung der gesamten klinischen Situation angepasst werden. Daten aus randomisierten kontrollierten Studien gibt es kaum, d.h., die verfügbare Evidenz für diese Empfehlungen ist von moderater, teilweise auch nur niedriger Evidenz.

Familiärer Darmkrebs

Allgemein

Rund 20–30 % aller Patienten mit einem KRK haben Verwandte mit dem gleichen Tumorleiden, wobei in rund der Hälfte ein Familienmitglied ersten Grades (Eltern, Geschwister, Kinder) betroffen ist (2). Beim fKRK finden sich oft mehrere, manchmal auch vor dem 50. Lebensjahr erkrankte Angehörige. Exom-Sequenzierungen bei mehr als 3000 Patienten mit einem fKRK konnten in ca. 16 % eine pathogene Keimbahnvariante in einem der bislang bekannten Prädispositionsgene identifizieren (12).

Das fKRK ist eine heterogene Gruppe, deren relative Risikoerhöhung durch den Verwandtschaftsgrad, die Anzahl betroffener Familienmitglieder und deren Erkrankungsalter beeinflusst wird (13, 14). Gemäss Beobachtungsstudien ist das Erkrankungsrisiko für Personen betroffener Familien etwa 2–6-fach erhöht im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (4). Beim Entscheid für das Screening soll auch das absolute Erkrankungsrisiko berücksichtigt werden (14, 15). Anhand der oben erwähnten Zahlen für die Schweiz ergibt sich ein Lebenszeitrisiko etwa zwischen 8 und 20 %. Am höchsten ist das Risiko, wenn Familienmitglieder mit Verwandtschaft im 1. Grad eine KRK-Diagnose hatten und die Erkrankung vor dem 50. Lebensjahr aufgetreten ist (13, 14).

Die möglichst gute Abschätzung der Risikoerhöhung durch eine detaillierte Erhebung der Familienanamnese ist demnach für die weitere Planung einer sinnvollen und ggf. intensivierten Vorsorgestrategie (welche Methode ab welchem Alter, Häufigkeit der Testung) der gesunden Familienmitglieder wichtig. Allerdings ist die Familienanamnese für das KRK und Polypen nur beschränkt zuverlässig, da diese den Angehörigen oft nicht oder nur unvollständig bekannt ist (16). Hinzu kommt, dass Familien heutzutage immer kleiner werden, was die Erkennung eines hereditären Syndroms erschweren kann. Die Familienanamnese verändert sich mit der Zeit, daher soll diese periodisch neu erhoben werden.

Vorsorge

Die bestehenden Richtlinien basieren auf der aktuell verfügbaren Literatur. Evidenz aus prospektiven randomisierten Studien gibt es nicht, die zugrunde liegenden Daten stammen aus Beobachtungsstudien, deren Qualität höchstens moderat ist und Spielraum für unterschiedliche Interpretationen zulässt. Grundlage für die Anwendung einer fKRK-Screening-Strategie ist, dass eine erbliche Form eines KRK weitgehend ausgeschlossen oder sehr unwahrscheinlich ist (siehe Kapitel: Erblicher Darmkrebs). Wie erwähnt, ist das Erkrankungsrisiko beim fKRK sehr variabel. Da Familienangehörige im Verwandtschaftsgrad 2 (Enkel/-in, Grosseltern, Onkel/Tante) kaum und weiter entfernte Verwandte kein erhöhtes Erkrankungsrisiko haben, empfehlen die meisten Fachgesellschaften bei dieser Konstellation keine intensivierte Vorsorge, sondern die Teilnahme an den lokalen Screening-Programmen für Personen mit Durchschnittsrisiko. Da hingegen Personen im Verwandtschaftsgrad 1 ein im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung erhöhtes Darmkrebsrisiko haben, erscheint für diese Personen eine intensivierte Vorsorge gerechtfertigt, auch wenn der protektive Effekt der Screening-Koloskopie in dieser Gruppe nur durch wenige Beobachtungsstudien untermauert ist (17, 18).

Je jünger die betroffene Person bei der Darmkrebsdiagnose war, umso höher ist das Risiko für Angehörige im Verwandtschaftsgrad 1 (14). Die Kriterien für die Klassifikation eines gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhten KRK-Risikos sind bei den verschiedenen Fachgesellschaften sehr unterschiedlich. Historisch von Bedeutung waren die Amsterdam-Kriterien I (1991) bzw. II (1999), die zur Identifikation der dem Lynch-Syndrom (LS) zugrunde liegenden Gene bzw. der Erfassung von LS-Patient/-innen entwickelt wurden, sowie die revidierten Bethesda-Guidelines (2004), die mittels Untersuchung der Mikrosatelliteninstabilität im Tumor die Sensitivität weiter erhöht haben (für eine Kriterienzusammenstellung s. a. Jasperson et al., 2010) (2). Die Guidelines der «U.S. Multi-Society Task Force on Colorectal Cancer» (USMSTF) empfehlen eine intensivierte Vorsorge generell, wenn eine Person mit Verwandtschaftsgrad 1 ein KRK hatte, d.h. unabhängig vom Erkrankungsalter (7). Die «European Society of Gastrointestinal Endoscopy» (ESGE) und die «British Society of Gastroenterology» (BSG) empfehlen eine intensivierte Vorsorge bei nur einer betroffenen Person im Verwandtschaftsgrad 1, wenn deren Erkrankung vor dem 50. Lebensjahr auftrat, das «Cancer Council Australia» (CCA) bei Manifestation des KRK vor dem 60. Lebensjahr (Tab. 1) (8, 9, 10). Sind hingegen zwei Personen im Verwandtschaftsgrad 1 an einem KRK erkrankt, dann schlagen die meisten Fachgesellschaften eine intensivierte Vorsorge unabhängig von deren Erkrankungsalter vor.

Es bestehen zwischen den verschiedenen Fachgesellschaften nicht nur verschiedene Definitionen zur Rechtfertigung der intensivierten Vorsorge, sondern auch unterschiedliche Vorgehensweisen, ab welchem Alter und mit welcher Häufigkeit die Vorsorge erfolgen soll (7, 8, 9, 10). Wie in Tab. 1 dargestellt, variiert der Beginn der Vorsorge bei fKRK je nach Fachgesellschaft zwischen 40 und 55 Jahren. Wenn eine intensivierte Vorsorge empfohlen ist, dann soll diese mittels Koloskopie erfolgen (10). Wenn die Koloskopie abgelehnt wird oder nicht durchführbar ist, dann kann alternativ die Vorsorge mit FIT Test erfolgen, vorzugsweise jährlich (19). Das weitere Vorgehen richtet sich nach der Konstellation der Familienanamnese (Tab. 1), dem Befund der Erstkoloskopie bzw. nach endoskopischer Entfernung von Polypen entsprechend den Richtlinien der verschiedenen Fachgesellschaften zur Nachsorge nach Polypektomie (20). Eine kürzlich publizierte Übersichtsarbeit fasst die Guidelines dieser und weiterer Fachgesellschaften zusammen und stellt die Divergenzen dar (21).

Nur wenige Studien haben untersucht, ob nach endoskopischer Polypektomie das Risiko für metachrone Polypen höher ist bei positiver KRK-Familienanamnese im Vergleich zu unauffälliger Familiengeschichte. Für die Entwicklung von adenomatösen Polypen (AP) konnte dies gezeigt werden, dabei war die Risikoerhöhung etwa gleich hoch für metachrone fortgeschrittene wie nicht fortgeschrittene AP. Die Risikoerhöhung war grösser für jüngere (< 50) im Vergleich mit älteren Personen und wenn mindestens zwei erstgradig Verwandte ein KRK hatten (22, 23). Die ESGE und BSG empfehlen dennoch die gleichen Überwachungsintervalle nach endoskopischer Polypenentfernung für Personen mit positiver KRK-Familienanamnese wie für Personen mit Durchschnittsrisiko.

Empfehlungen

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften empfehlen wir das intensivierte Screening mittels Koloskopie alle 5 Jahre ab Alter 40 für Personen, bei denen ein Familienangehöriger im Verwandtschaftsgrad 1 vor dem 60. Lebensjahr an einem KRK erkrankt ist, für Personen mit zwei oder mehr betroffenen Angehörigen derselben Familienseite im Verwandtschaftsgrad 1, unabhängig von deren Erkrankungsalter, sowie für Personen, bei denen ein Familienangehöriger im Verwandtschaftsgrad 1 und zusätzlich mindestens zwei Angehörige mit Verwandtschaftsgrad 2 betroffen sind. Die Nachsorge nach koloskopischer Polypektomie kann entsprechend den revidierten schweizerischen Konsensusempfehlungen erfolgen bzw. im Einzelfall, möglicherweise bei jüngeren Betroffenen, verkürzt werden (20).

Nebst dem möglichst sicheren Ausschluss einer erblichen Form eines KRK beim Indexpatienten ist die hohe Qualität der Erstkoloskopie Voraussetzung für die Anwendung dieser Empfehlungen. Die Koloskopie soll mit High-definition-Auflösung erfolgen, hingegen gibt es keine Evidenz für den Nutzen der generellen Anwendung der Chromoendoskopie (8). Letztlich sei erwähnt, dass Angehörige von Familien mit irgendeiner Form des familiären Auftretens eines KRK auf die Relevanz der Primärprävention hingewiesen werden sollen (normaler BMI, nicht rauchen, regelmässige körperliche Aktivität, moderater Konsum von rotem und prozessiertem Fleisch sowie Alkohol) (24).

Verwandte von Patienten mit ­kolorektalen Polypen

Nur wenige Fachgesellschaften haben Guidelines zur Gestaltung der Vorsorge bei Familienangehörigen von Personen mit gutartigen kolorektalen Polypen publiziert. Die verfügbare Datenlage hierzu ist kontrovers (25, 26). Die Risikoerhöhung für das Auftreten eines KRK scheint abhängig vom Alter des betroffenen Familienmitgliedes zu sein und ob bei diesem nicht fortgeschrittene oder fortgeschrittene Polypen vorgelegen haben. Eine intensivierte Vorsorge wird nur empfohlen, wenn bei einem Verwandten im Verwandtschaftsgrad 1 fortgeschrittene AP abgetragen wurden (fortgeschrittene AP: ≥ 10 mm oder Nachweis von hochgradiger Dysplasie oder ≥ 5 AP unabhängig von Grösse und Dysplasiegrad; fortgeschrittene serratierte Polypen (SP): ≥ 10 mm oder Nachweis irgendeiner Dysplasie oder ≥ 5 SP unabhängig von Grösse und Dysplasie, traditionell serratierte Adenome unabhängig von Grösse und Dysplasie). Ist die Histologie der entfernten Polypen nicht bekannt, dann wird von einem nicht fortgeschrittenen Polypen ausgegangen und keine intensivierte Vorsorge empfohlen. Weitgehend unklar ist die Datenlage nach Abtragung von fortgeschrittenen SP: hier empfiehlt die USMSTF das gleiche Vorgehen wie bei fortgeschrittenen AP, während mehrere andere Fachgesellschaften hierzu keine spezifischen Empfehlungen abgeben (7, 8, 9, 10). Demgegenüber ergab eine grosse schwedische Studie ein erhöhtes KRK-Risiko für erstgradige Verwandte von Familienmitgliedern mit kolorektalen Polypen, und zwar unabhängig von deren Histologie (27). Dabei zeigte sich vor allem ein zunehmendes Risiko für das Auftreten eines KRK vor dem 50. Lebensjahr, wenn mehrere Familienmitglieder Polypen hatten und je jünger deren Manifestationsalter war. Sollten sich diese Daten bestätigen, dann wird möglicherweise in Zukunft eine intensivierte Vorsorge bei einer positiven Familienanamnese für Polypen empfohlen, sofern mindestens zwei Familienangehörige im Verwandtschaftsgrad 1 Polypen vor dem 50. Lebensjahr hatten, unabhängig von deren Histologie, welche oft nicht verfügbar ist.

Empfehlungen

Anhand der derzeit verfügbaren Datenlage und den Guidelines anderer Fachgesellschaften empfehlen wir das Screening mittels Koloskopie alle 5–10 Jahre ab Alter 40 für Personen mit einem Familienangehörigen im Verwandtschaftsgrad 1, bei dem vor dem 50. Lebensjahr ein dokumentierter fortgeschrittener Polyp (AP oder SP) abgetragen wurde. Anhand der derzeitigen Datenlage können keine Empfehlungen gemacht werden bei einer anderweitig positiven Familienanamnese für kolorektale Polypen.

Serratiertes Polypose-Syndrom

Das serratierte Polypose-Syndrom (SPS) ist das häufigste kolorektale Polypose-Syndrom mit einer Prävalenz von etwa 1:240 (28). Eine 2022 publizierte Metaanalyse berichtete über ein KRK-Risiko für SPS-Patienten von 20 % (29). Die Mehrheit der Karzinome wurde zum Zeitpunkt der SPS-Diagnose gestellt, das Karzinomrisiko während der Überwachung lag bei knapp 3 %. Die dem SPS zugrunde liegenden molekularen Mechanismen sind weitgehend unbekannt, das SPS ist daher klinisch definiert: (i) ≥ 5 serratierte Polypen (SP) proximal des Rektums, alle ≥ 5 mm, zwei dieser Polypen müssen ≥ 10 mm sein; (ii) > 20 serratierte Polypen unabhängig von deren Grösse, ≥ 5 dieser Polypen müssen proximal des Rektums sein. Die Anzahl Polypen wird kumulativ über mehrere Koloskopien berechnet und umfasst alle SP-Subtypen (29). Auch wenn kein erbliches Syndrom im engeren Sinne vorliegt, haben erstgradige Verwandte von Patienten mit SPS ein etwa 5-fach erhöhtes KRK-Risiko (30).

Die Überwachung von SPS-Patienten mittels Koloskopie kann alle 1–2 Jahre erfolgen (9). Einige Fachgesellschaften empfehlen zunächst eine Clearing-Phase mit Entfernung aller Polypen (ausser HP < 5 mm), gefolgt von jährlicher Überwachung bei mindestens einem fortgeschrittenen Polypen (Adenom oder serratierter Polyp) oder ≥ 5 nicht fortgeschrittenen Polypen bzw. 2-jährlicher Überwachung ohne Nachweis einer solchen Konstellation (31, 32). Für Verwandte im ersten Verwandtschaftsgrad von SPS-Patienten kann eine koloskopische Überwachung alle 5 Jahre ab Alter 40–45 (oder SPS-Manifestationsalter des erstgradig Verwandten oder 10 Jahre früher als dessen Erkrankungsalter) erfolgen (9, 33).

Empfehlung

Anhand der derzeit verfügbaren Datenlage schlagen wir das genannte Phänotyp-abhängige Vorgehen mit einer Clearing-Phase gefolgt von 2-jährlichen Koloskopien vor, sofern keine fortgeschrittenen und weniger als 5 Polypen vorliegen (grössenunabhängig, alle Subtypen). Falls dies jedoch der Fall ist, dann soll die koloskopische Kontrolle jährlich erfolgen.

Familiäres Kolorektales Karzinom Typ X

Diese Entität umfasst die rund 40 % Patienten mit klinischem Verdacht auf das Vorliegen eines LS (3 Verwandte im Verwandtschaftsgrad 1 mit KRK, 2 Generationen betroffen), ohne dass eine MMR-Defizienz oder Mutation in einem der MMR-Gene nachweisbar ist. Das Karzinomrisiko in dieser Gruppe beschränkt sich auf das Kolorektum und ist kleiner als beim LS und Lynch-like Syndrom (LLS) (34), sodass meist eine Koloskopie alle 3–5 Jahre ab Alter 40 (oder 10 Jahre früher als das jüngste Manifestationsalter innerhalb der Familie) vorgeschlagen wird (9, 35).

Empfehlung

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften schlagen wir folgendes Screening vor: Koloskopie alle 3–5 Jahre ab Alter 40 oder 10 Jahre früher als das Erkrankungsalter des jüngsten betroffenen Familienmitgliedes.

Erblicher Darmkrebs

Beim erblichen KRK kann zwischen Darmkrebs ohne vorbestehende Kolon-Polypose («nonpolyposis colorectal cancer») und den Polypose-Erkrankungen unterschieden werden (Tab. 2), bei letzteren zudem nach der vorherrschenden Polypenart. Wie aus Tab. 2 ersichtlich, beschränkt sich die erhöhte Tumoranfälligkeit meist nicht nur auf ein einzelnes Organsystem wie das Kolorektum. Oft zeigen sich sowohl inter- wie intrafamiliär phänotypische Unterschiede, denen wohl komplexe Interaktionen zwischen genspezifischen Unterschieden sowie Umwelt- und Lifestyle-Faktoren zugrunde liegen (36).

Lynch-Syndrom

Mit einer Prävalenz von ca. 1 auf 279 Personen stellt das autosomal-dominant erbliche LS die weltweit häufigste Tumorveranlagung dar (37). Rund 3 % aller KRK entstehen auf dem Boden einer LS-Veranlagung, bei der pathogene Keimbahnvarianten in den MMR-Genen MLH1, MSH2/EPCAM, MSH6 und PMS2 zugrunde liegen. Die daraus resultierende MMR-Defizienz lässt sich im Tumorgewebe indirekt in Form einer Mikrosatelliteninstabilität (MSI) bzw. dem Verlust der MMR-Proteinexpression nachweisen.

Prospektive Studien konnten ausgeprägte genspezifische Unterschiede für Tumorerkrankungen bei Personen mit nachgewiesener LS-Veranlagung aufzeigen: So beträgt das Lebenszeitrisiko für das KRK bei MLH1- und MSH2-Träger/-innen ca. 42–53 % und wird im Mittel um das 44. Lebensjahr diagnostiziert; MSH6- und PMS2-Träger/-innen entwickeln «lediglich» in ca. 3–20 % ein KRK erst mit 42–69 (MSH6) bzw. 61–66 Jahren (PMS2) (38, 39). Ähnlich verhält es sich mit anderen LS-assoziierten, extrakolonischen Tumorerkrankungen wie Endometrium- (MSH2, MSH6, MLH1: ca. 35–46 %; PMS2: ca. 13 %), Ovarial- (MSH2, MLH1, MSH6: ca. 11–17 %; PMS2: ca. 3 %) und Magen-/Dünndarmkarzinom (MSH2, MLH1: ca. 8–16 %; MSH6, PMS2: ca. 2–4 %) (40). Aufgrund dieser Unterschiede haben mehrere Fachgesellschaften ihre Empfehlungen für gynäkologische und gastroenterologische Vorsorgeuntersuchungen genspezifisch angepasst (Tab. 3) (41).

Bei Darmkrebspatienten und zur Vorsorgekoloskopie erscheinenden Personen mit positiver Familienanamnese für das KRK soll bei folgenden klinischen Konstellationen an ein LS gedacht werden: Darmkrebsdiagnose vor dem 50. Lebensjahr, syn- oder metachrone LS-assoziierte Tumoren unabhängig vom Erkrankungsalter, ein Angehöriger 1. oder 2. Grades mit vor dem 50. Lebensjahr diagnostiziertem, LS-assoziiertem Tumor bzw. 2 oder mehr Angehörige mit LS-assoziierten Tumoren unabhängig vom Erkrankungsalter. Weiter sollte eine genetische Abklärung bei Vorliegen einer auffälligen Familienanamnese, wie oben erwähnt, oder am Tumorgewebe nachgewiesener MMR-Defizienz oder somatischen MMR-Genalterationen in Betracht gezogen werden (37). Auch bei Vorliegen einer Lynch-Syndrom verdächtigen Klinik und im Tumor erhaltener MMR-Funktion sollte eine Abklärung der MMR-Gene in der Keimbahn diskutiert werden, da die diagnostische Sensitivität der erwähnten indirekten Methoden nur bei ca. 90 % liegt (42).
Immuncheckpoint-Inhibitoren werden heutzutage oft in der Behandlung von MMR-defizienten soliden Tumoren eingesetzt und daher alle neu diagnostizierten KRK (und zunehmend auch weitere Krebsarten) auf ihre MMR-Funktion überprüft. Dies ist nicht nur von grosser Bedeutung für die bessere Erfassung von LS-Patient/-innen, sondern eröffnet zudem neue Therapieoptionen bei ca. 10–15 % der Patient/-innen mit sporadischem MMR-defizientem KRK (43).

Die KRK-Vorsorge wird von verschiedenen Fachgesellschaften für Träger/-innen einer MLH1- oder MSH2-Mutation ab Alter 25 und bei MSH6- oder PMS2-Mutation ab Alter 35 empfohlen (Tab. 3). Die Vorsorge wird generell mittels Koloskopie und bei MLH1- oder MSH2-Trägerschaft alle 1–3 Jahre empfohlen, bei Mutation im MSH6-Gen alle 2–3 Jahre und bei einer Mutation im PMS2-Gen alle 5 Jahre. Prospektive erhobene Daten einer europäischen Studie zeigten hinsichtlich Inzidenz und Tumorstadium keinen Benefit bei jährlicher Koloskopie gegenüber einem weniger strikten Überwachungsprotokoll (44). Trotz Überwachung erreichte in dieser Studie die kumulative KRK-10-Jahresinzidenz bis zu 18 %. Dies bedeutet, dass durch die koloskopische Surveillance mit Polypektomie das KRK nicht immer verhindert, aber oft früher erkannt werden kann, mit entsprechend besserer Prognose. Die Gründe hierfür sind noch nicht vollständig geklärt (45). Gute Evidenz für den Nutzen einer regelmässigen Überwachung zur Senkung der Inzidenz und Mortalität von Karzinomen des Magens, Dünndarmes und Pankreas gibt es nicht.

Dementsprechend wird die Überwachung des oberen Gastrointestinaltraktes von den meisten Fachgesellschaften nicht routinemässig, sondern nur bei Vorliegen weiterer Risikofaktoren (familiäres Auftreten von Magenkarzinomen, Regionen mit hoher Inzidenz für Magenkrebs) empfohlen, meist ab Alter 30. Vorsorgeuntersuchungen für den Dünndarm und das Pankreas werden ebenso nicht generell, sondern nur auf individueller Basis empfohlen, bspw. bei (mehrfachem) familiärem Auftreten von Karzinomen in den entsprechenden Organen.

Empfehlungen

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften schlagen wir folgendes Screening vor (Tab. 3): Koloskopische Überwachung geschlechtsunabhängig alle 2 Jahre bei MLH1- oder MSH2-Mutation ab Alter 25, bei MSH6 ab Alter 35 alle 2–3 Jahre und bei PMS2-­Mutation ab Alter 35 alle 5 Jahre. Beginn der Überwachung in allen Fällen wenigstens 5 Jahre früher als das Erkrankungsalter des jüngsten betroffenen Familienmitgliedes. Anpassung der Überwachung an den kolorektalen Phänotyp (Nachweis fortgeschrittener Polypen), zudem vorzeitige Untersuchung bei Auftreten von Symptomen. Obere Panendoskopie in Abhängigkeit des familiären Phänotyps (positive Familienanamnese für das Magenkarzinom). Wir empfehlen eine Helicobacter-Pylori-Diagnostik mit ggf. Era­dikation. Den Patient/-innen soll ein gesunder Lebensstil empfohlen werden (wie die Vermeidung von Übergewicht, regelmässige Bewegung und eine ausgewogene Ernährung) (46).

Fortschritte in der Labordiagnostik und die Fortsetzung der prospektiven Datenerhebung in internationalen Konsortien wie der Prospective Lynch Syndrome Database (PLSD) (47) werden zu weiteren, klinisch relevanten Genotyp-Phänotyp-Korrelationen führen, welche Anpassungen des Screenings gastrointestinaler und anderer Organe erfordern. Daher sind in Tab. 2 diverse Webadressen aufgelistet, um sich nach den aktuellsten Vorsorgeuntersuchungen zu informieren. Der Vollständigkeit halber sei noch das autosomal-rezessiv erbliche, konstitutionelle Mismatch-Reparatur-Defizienz-Syndrom (CMMRD) erwähnt, eine seltene Krebsveranlagung des Kindesalters, die v. a. mit malignen hämatologischen, gastrointestinalen und ZNS-Tumoren einhergeht (40).

Lynch-like Syndrom

Das LLS beschreibt Personen mit MMR-defizientem KRK oder anderen LS-assoziierten Tumoren, ohne dass eine Keimbahnmutation in einem MMR-Gen nachweisbar ist (48). Da die Mehrheit aller KRK mit MSI nicht im Rahmen eines LS, sondern sporadisch als Folge einer Hypermethylierung im MLH1-Promoter auftreten, soll diese molekulare Aberration ausgeschlossen werden. Ist dies der Fall, dann ist in 50–70 % der Fälle die MMR-Defizienz durch (sporadisch aufgetretene) biallelische somatische MMR-Genmutationen erklärt. Um Betroffene und deren Verwandte nicht durch unnötige Überwachungen zu belasten, soll daher auch diese Konstellation im Labor ausgeschlossen werden (49, 50). Das KRK-Risiko in betroffenen Familien scheint kleiner als bei nachgewiesenem LS, aber höher als beim fKRK zu sein (34, 51). Die Datenlage zum wenig verstandenen LLS ist dürftig, vorgeschlagen wird beispielsweise die Überwachung mittels Koloskopie alle 2–3 Jahre für Betroffene und deren Verwandte im Verwandtschaftsgrad 1 ab Alter 25 bzw. in Abhängigkeit von der Familienanamnese (9, 52).

Empfehlung

Anhand der limitierten Evidenz können keine Empfehlungen gegeben werden. Die Überwachung soll individuell unter Berücksichtigung der Familienanamnese und des Phänotyps des/der betroffenen Patient/-in festgelegt werden.

Adenomatöse Polyposen

Die im Vergleich zum Lynch-Syndrom deutlich selteneren adenomatösen Polyposen-Syndrome sind für ca. 1 % der KRK insgesamt bzw. ca. 2 % aller vor dem 50. Lebensjahr diagnostizierten KRK verantwortlich. Diagnostisch unproblematisch ist die «klassische» Ausprägung mit Hunderten bis hin zu Tausenden von gastrointestinalen Adenomen (53). In bis zu einem Drittel liegt beim klassischen Phänotyp keine positive Familienanamnese vor, sodass von einer Neumutation ausgegangen wird. Liegen weniger als 100 Adenome vor, handelt es sich um eine attenuierte Polypose-Form, die genetisch heterogen ist und sowohl dem autosomal-dominanten (APC, POLD1, POLE) als auch dem autosomal-rezessiven Erbgang (MUTYH, NTHL1, MSH3, MBD4 u. a.) folgen kann.

Eine genetische Abklärung ist zu diskutieren, wenn bei einer Person kumulativ mindestens 10–20 Adenome nachgewiesen wurden. Wie Terlouw et al. gezeigt haben, liegt die Detektionswahrscheinlichkeit für pathogene APC- oder MUTYH-Varianten über 10 %, wenn bei einer Person vor dem 60. Lebensjahr kumulativ mehr als 10 bzw. vor dem 70. Lebensjahr mehr als 20 adenomatöse Polypen gefunden wurden (54). Weiter können das Vorliegen extrakolonischer Tumormanifestationen, wie z.B. Desmoid-Tumoren, multiple Osteome u. a., und eine auffällige Familiengeschichte (Angehöriger 1. Grades mit > 10 Adenomen) zusätzliche Hinweise auf eine hereditäre Polypose liefern. Das Risiko für die Entwicklung eines KRK nimmt bei der klassischen APC-bedingten familiären adenomatösen Polypose (FAP) bereits anfangs der zweiten Lebensdekade zu und erreicht ein Lebenszeitrisiko von beinahe 100 %. Bei Vorliegen der attenuierten Form (AFAP) treten Neoplasien etwas später und vor allem im rechten Hemikolon auf, das KRK-Risiko beträgt ca. 70 % (55, 56). Bei beiden Formen treten auch gehäuft Karzinome im oberen Gastrointestinaltrakt auf, im Bereich von Duodenum/Papilla Vateri in ca. 4–12 % und im Magen in ca. 1 %.

Die meisten Fachgesellschaften empfehlen bei nachgewiesener Trägerschaft einer autosomal-dominant erblichen APC-bedingten Kolonpolypose die 1–2-jährliche koloskopische Überwachung bei der klassischen Form ab dem Beginn und bei der attenuierten FAP (AFAP) ab dem Ende der zweiten Lebensdekade.

Bei den meisten Patienten mit APC-bedingter Polypose, besonders der klassischen Form (bis 90 %), finden sich im Magen zahlreiche Drüsenkörperzysten, Adenome sind weniger häufig, scheinen aber klinisch relevanter zu sein wegen des Risikos einer malignen Transformation. Die Strategien zur Überwachung im oberen Gastrointestinaltrakt bei FAP bzw. AFAP sind heterogen. Bei der klassischen Form wird eine obere Endoskopie mit Darstellung der Papilla Vateri ab dem 20.–25. Lebensjahr vorgeschlagen mit befundabhängiger (Spigelman-Klassifikation, Phänotyp im Magen) Wiederholung alle 6 Monate bis 5 Jahre. Da Träger/-innen einer pathogenen APC-Variante, die hinter APC-Kodon 1395 liegt, ein erhöhtes Lebenszeitrisiko (ca. 10–24 %) für Desmoid-Tumoren aufweisen, sollten bei diesen Personen mehrstufige Operationen vermieden und klinisch ein besonderes Augenmerk auf entsprechende abdominale Symptome gelegt werden, mit ggf. bildgebender Abklärung mittels MRI oder CT.

Bei der autosomal-rezessiven MUTYH-bedingten attenuierten Form der adenomatösen Polypose (MAP) liegt das Lebenszeitrisiko für ein KRK bei ca. 80 %, für ein Karzinom im Duodenum bei ca. 4 % und im Magen bei ca. 1 %. Wie bei der APC-assoziierten Form der attenuierten Polypose steigt das KRK-Risiko erst gegen Ende der zweiten Lebensdekade an, und auch die MAP manifestiert sich vor allem im rechten Hemikolon, dabei können nebst AP auch SP vorliegen. Dementsprechend empfehlen die meisten internationalen Fachgesellschaften für die Überwachung des Kolorektums bei MAP (nachgewiesene biallelische MUTYH-Träger/-innen), sofern die persönliche bzw. die Familienanamnese nicht auf einen besonderen Phänotyp hinweist, 1–2-jährliche Koloskopien ab dem 18.–20. Lebensjahr. Eine obere Endoskopie mit Darstellung der Papilla Vateri wird ab der 3. Dekade vorgeschlagen, wiederum befundabhängig alle 6 Monate bis 5 Jahre. Kontrovers wird derzeit diskutiert, ob monoallelische (heterozygote) MUTYH-Träger/-innen ein (etwa 2-fach) erhöhtes KRK-Risiko tragen. Teilweise wird empfohlen, ab dem 40. Lebensjahr etwa alle 5 Jahre eine Koloskopie durchzuführen, insbesondere wenn in der Familie ein erstgradig Verwandter an einem KRK erkrankte.

Empfehlungen

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften schlagen wir folgendes Screening vor (Tab. 3): Koloskopie alle 1–2 Jahre ab Alter 12–14 bei klassischer FAP, bei AFAP und MAP ab Alter 18–20. Gastroskopie mit Darstellung der Papilla Vateri alle 1–5 Jahre ab Alter 25. Anpassung der endoskopischen Überwachung des oberen und unteren Gastrointestinaltraktes an den Phänotyp und bei Auftreten von Symptomen. Bei Status nach Operation soll das Restrektum oder der Pouch ca. alle 6–12 Monate endoskopisch kontrolliert werden. In den letzten 20 Jahren wurden weitere, sehr seltene Non- bzw. Polypose-Formen entdeckt, die mit einem erhöhtem Risiko für das KRK und oft auch für extrakolonische Tumore einhergehen (Tab. 2). Aufgrund der Seltenheit wird in dieser Arbeit nicht näher auf diese eingegangen.

Genetische Beratung und Abklärung

Bei ca. 13 % (9 %–26 %) der KRK-Patient/-innen, deren Erkrankung vor dem 50. Lebensjahr diagnostiziert wurde, lässt sich eine pathogene Keimbahnvariante in einem der 17 bislang bekannten Gene identifizieren (57), was von klinischer Relevanz sein kann. Das frühzeitige Erkennen einer erblichen Darmkrebserkrankung hat dabei nicht nur Konsequenzen für das chirurgisch-onkologische Vorgehen und die Gestaltung der Nach- bzw. Vorsorge beim Betroffenen, sondern ist auch von essenzieller Bedeutung für dessen gesunde Familienangehörige. So ermöglicht dies in der Folge auch den Angehörigen (u. a. Eltern, Geschwister, Kinder meist erst ab 18. Lebensjahr), sich nach entsprechender genetischer Beratung und angemessener Bedenkzeit prädiktiv auf Trägerschaft testen zu lassen (Trägerwahrscheinlichkeit bei Verwandten 1. Grades: 25 % bzw. 50 %) und so für sich die Notwendigkeit regelmässiger Krebsvorsorgeuntersuchungen zu klären.

Die Kosten einer molekulargenetischen Abklärung von 1–10 Genen belaufen sich auf ca. CHF 3 000 – 4 000.– und sind als Pflichtleistungen in der Analysenliste (Anhang 3 der Krankenpflege-Leistungsverordnung) entweder spezifisch (Lynch-Syndrom, APC-bedingte Polypose) oder in genereller Form als «Seltene erbliche Tumorkrankheiten» aufgeführt. Für Letztere sollte zur Sicherung der Kostenbeteiligung vorgängig ein sog. Orphan Disease-Antrag beim vertrauensärztlichen Dienst des Krankenversicherers eingereicht werden (Antragsformular: https://sgmg.ch/de/fachthemen#fachthemen-dokumente).

Vor Veranlassung einer diagnostischen genetischen Abklärung bedarf es, wie im Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG) festgehalten, einer hinreichenden Aufklärung, die der/die auftraggebende Arzt/Ärztin entweder selbst durchführt oder eine genetische Beratung veranlasst, sowie der Zustimmung des Patienten bzw. der Patientin.
Vor und nach einer präsymptomatischen (prädiktiven) genetischen Testung ist eine fachkundige genetische Beratung gesetzlich vorgeschrieben, in der nicht nur auf Aussagekraft, Grenzen und medizinische Konsequenzen einer Tragertestung bzw. dem Verzicht darauf eingegangen wird, sondern auch psychosoziale und (versicherungs)rechtliche Aspekte diskutiert werden. Die Trägertestung beläuft sich auf ca. CHF 400.– und stellt, mit Ausnahme von Lynch-Syndrom und APC-bedingter Polypose, keine Pflichtleistung der Krankenversicherer dar.

Chemoprävention

In diversen Labor- und klinischen Studien konnte ein protektiver Effekt diverser Substanzen (NSAR, Statine, Vitamine etc.) auf die Entstehung und Progression kolorektaler Neoplasien nachgewiesen werden (58). So zeigte sich für die am besten untersuchte Medikamentengruppe, NSAR inkl. Aspirin, dass bei FAP-Patienten die Anzahl und Grösse von Polypen und bei Patienten mit Lynch-Syndrom das KRK-Risiko gesenkt werden kann. In der CAPP-2-Studie wurde das KRK-Risiko nach rund 10 Jahren durch die Einnahme von 600 mg Aspirin täglich im Vergleich zu Placebo um rund 35 % gesenkt (59). Verschiedene Aspekte wie die optimale Dosierung und Dauer der Chemoprävention mit Aspirin sind aber noch ungenügend geklärt. Dementsprechend unterstützen einige Fachgesellschaften die prophylaktische Aspirin-Einnahme bei LS, während andere keine Stellungnahme abgeben. Risiko und Benefit müssen daher individuell abgeschätzt und auch im Rahmen allfälliger Komorbiditäten und des Alters beurteilt werden.



Abkürzungen
AFAP  Attenuierte familiäre adenomatöse Polypose
AP  Adenomatöser Polyp
BSG  British Society of Gastroenterology
CCA  Cancer Council Australia
eKRK  Erbliches kolorektales Karzinom
FAP  Familiäre adenomatöse Polypose
FDR  First-degree Relatives
FIT  Test Immunologischer Test auf okkultes Blut im Stuhl
fKRK  Familiäres kolorektales Karzinom
ESGE  European Society of Gastrointestinal Endoscopy
HNPCC  Hereditary Nonpolyposis Colorectal Cancer
HP  Hyperplastischer Polyp
KRK  Kolorektales Karzinom
LLS  Lynch-like Syndrom
LS  Lynch-Syndrom
MAP  MUTYH-assoziierte Polypose
MMR  Mismatch Repair
SP  Serratierter Polyp
SPS  Serratiertes Polypose-Syndrom
USMSTF  U. S. Multi-Society Task Force


Disclaimer
Diese Empfehlungen müssen in der Zukunft überarbeitet und angepasst werden, abhängig von neuen Studiendaten und techno­logischen Möglichkeiten sowie basierend auf Erfahrungen im klinischen Alltag. Diese Empfehlungen sollen als Orientierung in der klinischen Praxis dienen und nicht als universell gültige Regeln angewendet werden. Die klinische Situation kann eine Abweichung von den vorgeschlagenen Empfehlungen erfordern.

PD Dr. med. Kaspar Truninger

Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100, 8091 Zürich

k.truninger@hin.ch

Prof. Dr. med. Dr. phil. II Karl Heinimann

Institut für Medizinische Genetik und Pathologie Universitätsspital Basel
Schönbeinstrasse 40
4031 Basel

karl.heinimann@usb.ch

Die Autorschaft keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Der assistierte Suizid in der Schweiz (Teil 1)

Wir diskutieren anhand der Fälle, bei denen in der Schweiz ein assistierter Suizid im Kontext einer psychischen Erkrankung oder einer Demenz erfolgt ist, ob das von Gegnern der organisierten Sterbehilfe häufig in die Diskussion gebrachte Dammbruchargument gerechtfertigt ist. Langzeitdaten des Bundesamtes für Statistik zeigen, dass die Anzahl der Fälle mit diesen «Indikationen» zwar zunehmen (1999–2017: im Durchschnitt 21 Fälle/Jahr vs. 2018–2022: n = 73 Fälle/Jahr), der prozentuale Anteil dieser Erkrankungen an der Gesamtanzahl aller assistierten Suizide mit etwa 5 % aber unverändert blieb. Kritiker der Sterbehilfe sehen das Dammbruchargument schon dadurch ­erfüllt, dass diese Fälle überhaupt vorkommen. Die Tatsache, dass diese Indikationen aber konstant nur einen kleinen Anteil der Assistierten Suizide ausmachen, dürfte von progressiven Befürwortern der Freitodbegleitung als Indiz gegen das Dammbruchargument interpretiert werden.

Schlüsselwörter: Sterbehilfe, assistierter Suizid, Dammbruchargument, psychiatrische Erkrankungen, Demenz

Einleitung

Die Schweiz ist weltweit das Land mit der längsten Tradition organisierter Sterbehilfe. Nach dem 1942 in Kraft getretenen Artikel 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs ist eine Beihilfe zum Suizid nur dann rechtswidrig, wenn diese «aus selbstsüchtigen Beweggründen» erfolgt. Die sogenannte direkte aktive Sterbehilfe wird dagegen nach Artikel 114 («Tötung auf Verlangen») als Straftat verfolgt (1–5). Im Jahr 1985 erfolgte durch den damals noch jungen Verein EXIT der erste in der Schweiz offiziell dokumentierte Fall eines assistierten Suizids. Assistierter Suizid bedeutet, dass ein Arzt einem Patienten eine tödliche Substanz verschreibt oder anderweitig mit dem Ziel zur Verfügung stellt, diesem die Selbsttötung zu ermöglichen. Seit der Jahrtausendwende hat sich etwa alle 5 Jahre eine Verdoppelung der Fallzahlen entwickelt (5–6). Nach Angaben des Schweizerischen Bundesamtes für Statistik (BFS) erfolgten im Jahr 2022 in der Schweiz 1595 assistierte Suizide, der Anteil der Suizidhilfen an der Gesamtzahl aller Todesfälle betrug 2.1 %. Die Suizidhilfe in der Schweiz ist mehrheitlich ein Altersphänomen; das mediane Alter derjenigen, die sich für den assistierten Suizid entschieden haben, lag im Jahr 2022 bei 81 Jahren.

In diesem sowie dem Folgeartikel («Der assistierte Suizid in der Schweiz – Teil 2: der «unsichtbare» Alterssuizid») beleuchten wir die Langzeitentwicklung der Fälle von assistierten Suiziden in der Schweiz, in denen der Sterbewunsch nicht wegen Erkrankungen im Endstadium, die auch in absehbarer Zeit zum natürlichen Tod geführt hätten, aufgekommen war. Bei diesen anderen Fällen lagen Krankheitssymptome und/oder Funktionseinschränkungen vor, die von den Betroffenen subjektiv als so schwerwiegend beurteilt wurden («unerträgliches Leiden»), dass sie damit nicht weiterleben wollten. In unseren Ausführungen stützen wir uns auf die aktuellen sowie Langzeitdaten der Todesursachenstatistiken des BFS. Diese beziehen sich auf die in der Schweiz wohnhaft gewesenen Personen, d.h. auf die ständige Wohnbevölkerung unabhängig von Nationalität und Ort des Todes. Fälle von im Ausland wohnhaften Nichtschweizern, die in der Schweiz durch assistierten Suizid gestorben sind («Sterbetourismus»), werden in diesen Statistiken nicht miterfasst.

Auf den ersten Blick erscheint der Hinweis darauf, dass diese assistierten Suizide, die weniger als 1 % der Todesfälle in der Schweiz ausmachen, statistisch nicht eindeutig erfasst werden, lediglich eine akademische Diskussion zu sein. Dem ist aber keineswegs so, denn diese Fälle sind Gegenstand eine der wichtigsten medizinethischen Kon­troversen der letzten Jahre: Welche «Indikationen» werden von den Sterbehilfeorganisationen und der Ärzteschaft als zulässig angesehen, um Menschen den Zugang zur Sterbehilfe zu gewähren? Wie geht eine Gesellschaft, in der die Suizidhilfe seit vielen Jahren akzeptiert ist, von vielen gar als Teil der nationalen Identität angesehen wird, mit Menschen um, die um Sterbehilfe bitten, obwohl sie nicht lebensbedrohlich erkrankt sind? Oder aus Sicht der Ärzteschaft: Wie geht die Berufsgruppe, die den assistierten Suizid durch die Verschreibung eines potenziell tödlichen Medikamentes erst ermöglicht, in Ermangelung klarer rechtlicher Vorgaben mit Patienten um, die nicht sterben müssen, aber sterben wollen?

Medizinethische Auffassungen zur ­Sterbehilfe. Das Dammbruchargument.

Pro und Contra

In nahezu allen westlichen Ländern werden die unterschiedlichen Formen von und die zulässigen Indikationen zu Assisted Dying (der Begriff fasst Suizidhilfe und Tötung auf Verlangen zusammen) intensiv und kontrovers diskutiert (7–10). Dabei stehen sich dazu am jeweiligen Ende des Spektrums der medizinethischen Auffassungen praktisch unversöhnliche Einstellungen gegenüber:
Unterstützer der Sterbehilfe sehen darin eine Errungenschaft einer liberalen und säkulären Gesellschaft, welche dem Einzelnen das Recht einräumt, auch über sein Lebensende autonom zu entscheiden.

Die Gegner sehen dagegen darin ein ethisch inakzepta­bles Vorgehen. Sie verweisen unter anderem darauf, dass sich insbesondere die Ärzteschaft nicht daran beteiligen dürfe, da diese Form der Sterbehilfe gegen unverhandelbare Grundprinzipien der Medizin verstösst. Im Umgang mit Schwerkranken an ihrem Lebensende sollten deren Leiden palliativmedizinisch gelindert werden, niemals darf aber der Tod des Patienten wissentlich und mit Absicht angestrebt sein. Ein weiteres Argument: Wenn sich Ärzte an Sterbehilfe beteiligen, könnte das dazu führen, dass das Vertrauen in die moralische Integrität des ärztlichen Berufsstandes irreversibel beschädigt würde.
Die Sichtweisen stehen sich so diametral gegenüber, dass zwischen überzeugten Verfechtern der jeweiligen «Glaubensrichtung» kaum moderiert werden kann. Beide Parteien bringen fundamentale Überzeugungen und Werte für sich in Anschlag. Auf der einen Seite werden der höchstrangige Wert menschlichen Lebens, eine extensive Form des Tötungsverbots sowie eine auf diesen Werten basierende ärztliche Ethik betont. Die andere Seite geht stärker von Werten wie Respekt, Autonomie und Mitleid aus und sieht die ärztliche Ethik stärker im historischen Wandel und im gesellschaftlichen Kontext verortet. Befürworter der Sterbehilfe fragen, was daran ethisch und menschlich sei, einem Menschen, der an einer schweren Krankheit leidet und um Sterbehilfe bittet, diese vorzuenthalten (7–10).

Das Dammbruchargument

Viele suchen zwischen radikalen Gegnern und Befürwortern dieser Thesen zu vermitteln. Beim Thema Assisted Dying sind das die Vertreter einer «Praxis in streng ausgewählten Situationen». Diese unterstützen Sterbehilfe in Fällen schwerer Erkrankungen, die in absehbarer Zeit unausweichlich auch zum natürlichen Tod führen würden und deren Beschwerden häufig einen erheblichen Leidensdruck mit sich bringen. In der internationalen Literatur hat sich für dieses strenge Kriterium zur Gewährung von Sterbehilfe der Begriff terminal illness requirement etabliert (10–13). Typische Beispiele für solch schwere Erkrankungen sind Krebsleiden im Endstadium oder das Spätstadium einer Amyotrophen Lateralsklerose. Hier hat sich in den letzten Jahren in vielen westlichen Ländern eine Auffassung durchgesetzt, dass ein Patient mit solch schwerer Krankheit über den Zeitpunkt seines Todes autonom entscheiden darf und dass am Ende eines Entscheidungsprozesses auch Sterbehilfe in Anspruch genommen werden darf (14–17).

Gesellschaftlich wird mehr und mehr auch eine aktive Rolle der Ärzteschaft akzeptiert; das heisst, Ärzte können in diesem Prozess auf ausdrücklichen Wunsch eines urteilsfähigen Patienten dessen Wunsch zur Sterbehilfe aktiv unterstützen. Unterstützer einer streng indizierten Sterbehilfe weisen aber darauf hin, dass die Indikationen dazu klar definiert und eher eng gefasst werden sollten. Sie befürchten, dass sich mit der Legalisierung der Sterbehilfe auch rasch eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz dieser Praxis entwickelt, in deren Folge diese auch bei weniger schwerwiegenden Erkrankungen von Betroffenen eingefordert werden könnte. Es stünde dann zu befürchten, dass Kriterien, die mit dem Ziel eines verantwortungsbewussten Umgangs mit der Sterbehilfe definiert würden, bewusst umgangen und ausser Kraft gesetzt würden und sich diese dann weitgehend unkontrolliert als gängige Praxis in Situationen etabliere, die man vor einiger Zeit bzw. zu Beginn der Legalisierung noch als völlig inadäquat und ausgeschlossen angesehen hätte (11, 18). Diese als Dammbruchargument (in Englisch slippery slope argument) bekannte Befürchtung beschreibt das Dilemma des Zauberlehrlings aus Goethes gleichnamiger Ballade. Dieser setzt eine Entwicklung in Gang, dessen Dynamik er so nicht vorausgesehen beziehungsweise unterschätzt hat, die er letztlich auch nicht will, jetzt aber nicht mehr kontrollieren kann («Die ich rief, die Geister/Werd’ ich nun nicht los.»).

Die Frage, in welchen Fällen Sterbehilfe gewährt werden darf bzw. in welchen Fällen sie verweigert werden sollte, ist seit ca. 25 Jahren Gegenstand der medizin- und standesethischen Diskussion, auch in der Schweiz. Tab. 1 zeichnet die Geschichte dieses Diskurses nach. In der Schweiz ist der assistierte Suizid die einzig legale Form der Sterbehilfe, eine Tötung auf Verlangen (im angloamerikanischen Sprachgebrauch voluntary active euthanasia) ist verboten.

Bemerkenswert an der Entwicklung der Suizidhilfepraxis in der Schweiz ist, dass zwischen den Jahren 2004 und 2018, in denen zur Gewährung der Suizidhilfe standesrechtlich das Kriterium des «nahen Lebensendes» erfüllt sein musste, dieses terminal illness requirement in bis zu 50 % der assistierten Suizide nicht erfüllt war (11–13). So lagen bei der überwiegenden Anzahl der Fälle der vom BFS ausgewiesenen zweitgrössten und viertgrössten Indikationsgruppen, den neurodegenerativen Erkrankungen und den muskuloskelettalen Erkrankungen, zum Zeitpunkt der Suizidhilfe zweifelsohne schwer beeinträchtigende und zum Teil invalidisierende und schmerzhafte Erkrankungen ohne jede Hoffnung auf eine Besserung der Situation vor. In der Regel handelt es sich hier aber um langsam verlaufende chronische Prozesse, in deren Verlauf die Patienten häufig nicht direkt an dieser Erkrankung, sondern an anderen internistischen Begleiterkrankungen sterben würden. Im Regelfall lagen hier also keine Erkrankungen vor, die in absehbarer Zeit zum Tod geführt hätten.

Die Hälfte der Menschen, die Suizidhilfe in Anspruch genommen hat, konnte ihren Wunsch nach einem selbstbestimmten Lebensende während dieser Jahre streng genommen ausserhalb der damals geltenden standesrechtlichen Regeln verwirklichen. Dabei spielte der Einfluss der Sterbehilfeorganisationen als Sprachrohr für eine Öffnung des assistierten Suizids zu einer auch symptomorientierten Indikationsstellung eine grosse Rolle. So betont EXIT, der grösste Schweizer Verein für humanes Sterben, immer wieder, dass die SAMW-Richtlinien zwar eine gewisse Orientierung zur Indikationsstellung des assistierten Suizids bieten mögen, diese aber nicht rechtlich bindend sind (23).

Das Dammbruchargument auf dem Prüfstand: der assistierte Suizid wegen psychiatrischer Erkrankungen oder Demenz

Das Dammbruchargument beinhaltet in der Regel 1) die Annahme, dass die Anzahl der Fälle mit «zweifelhafter Berechtigung» zunehmen, und 2) dass diese mit der Zeit auch proportional deutlich zunehmen, d. h. der Prozentsatz dieser Fälle an der Gesamtzahl aller Sterbehilfefälle zunimmt.

Psychiatrische Erkrankungen und Demenz nehmen bei der Sterbehilfe einen besonderen Platz in der Diskussion ein (Tab. 2) (24–29), da sie die «typischen» Fälle darstellen, auf die sich die Gegner einer allzu liberalen Regelung der Sterbehilfe beziehen, wenn sie von einer unkritischen Ausweitung der Indikationen sprechen. Das in der Schweiz von Kritikern der Sterbehilfe angeführte Dammbruchargument wirft daher die Frage auf, ob und wie sich die Fallzahlen der assistierten Suizide aufgrund psychiatrischer Erkrankungen oder einer Demenz im Verlauf der Jahre entwickelt haben.

Langzeitdaten des Schweizer BFS zur Sterbehilfe bei Demenz und psychiatrischen Erkrankungen zeigen, dass die Anzahl der pro Jahr registrierten Fälle zwar ansteigt (1999–2017: im Durchschnitt 21 Fälle/Jahr vs. 2018–2022: n = 73 Fälle/Jahr), der prozentuale Anteil dieser Erkrankungen an der Gesamtanzahl aller assistierten Suizide über die Zeit aber in etwa unverändert niedrig blieb (1999–2017: 5.4 % vs. 2018–2022: 5.5 %) (Tab. 3). Leichtgradige Verschiebungen zeigten sich in der Verteilung von Demenz und psychiatrischen Erkrankungen im Vergleich zur Gesamtzahl aller assistierten Suizide. Während im 19-Jahres-Zeitraum von 1999–2017 der Anteil der «Gruppe mit Demenz» noch 0.4 % betrug, stieg dieser Wert im 5-Jahres-Zeitraum 2018–2022 auf 1.9 % an. Parallel dazu kam es in der Kategorie «Psychiatrische Erkrankungen» zu einem leichten Abfall der prozentualen Verteilung (5.0 % vs. 3.6 %).

Der Vergleich mit aktuellen Daten anderer europäischer Länder zeigt, dass dort eine ähnliche Verteilung dieser Krankheiten bei Sterbehilfepatienten beobachtet wurde. In den Niederlanden machten 2022 psychiatrische Erkrankungen 1.3 % der Fälle aus, in Belgien 0.9 %; Suizidhilfe bei Demenz erfolgte in den Niederlanden in 3.2 % der Fälle, in Belgien in 1.4 % der Fälle (31, 32).
Der assistierte Suizid wegen psychiatrischer Erkrankungen und Demenz ist in der Schweiz zudem kein Weg, der vermehrt von jüngeren Patientinnen und Patienten gewählt wurde. Im Zeitraum 2018–2022 betrug das mediane Alter bei beiden Indikationsgruppen 81 Jahre; dieses war damit gleich hoch wie das mediane Alter aller assistierten Suizide in diesem Zeitraum.

Ob hinsichtlich der Indikationen «Demenz» und «Psychiatrische Erkrankungen» in der Schweiz das Dammbruchargument erfüllt ist, hängt sicher vom Blickwinkel des Betrachters ab. Strenge Kritiker der Sterbehilfe sehen das Argument schon dadurch erfüllt, dass diese Fälle überhaupt vorkommen. Befürworter einer Suizidhilfe unter Beachtung des terminal illness requirement dürften den Anstieg der jährlichen Fallzahlen auch eher kritisch sehen. Anhänger einer progressiven «Indikationsstellung» zur Freitodbegleitung würden die Entwicklung eher im Sinne der gesellschaftlichen Entwicklung zu einer sinnvollen Sterbehilfe bei einem immer grösseren Anteil an der Gesamtzahl aller Todesfälle interpretieren. Die Tatsache, dass die Erkrankungsgruppen «Psychiatrische Erkrankungen» und «Demenz» aber konstant nur einen relativ kleinen Anteil der assistierten Suizide ausmachen, dürfte für sie als Indiz gegen das Dammbruchargument interpretiert werden.

Suizidhilfe bei Patienten mit psychiatrischer Erkrankung und Demenz stellen in der Schweiz allerdings nur die Spitze des Eisbergs von Fällen dar, bei denen zum Zeitpunkt der Suizidhilfe das «Lebensende nicht nahe» war. Die nach Krebserkrankungen zweitgrösste Indikationsgruppe der Sterbehilfefälle bilden nämlich seit vielen Jahren die Fälle des assistierten Alterssuizids. Die Entwicklung dieser Aspekte der Suizidhilfe werden wir im zweiten Teil unseres Diskurses näher betrachten.

Abkürzungen
BFS  Schweizerisches Bundesamt für Statistik
SAMW  Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften
FMH  Foederatio Medicorum Helveticorum; Dachverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte

Prof. Dr. med. Uwe Güth

Universität Basel
Medizinische Fakultät
Klingelbergstrasse 61
4056 Basel

uwe.gueth@unibas.ch

Prof. Dr. med. FACP Edouard Battegay

Facharzt Allgemeine Innere Medizin, ESH Specialist in Hypertension, Fellow SSPH+
Leiter International Center for Multimorbidity and Complexity in Medicine (ICMC)
Universität Zürich, Universitätsspital Basel (Klinik für Psychosomatik), Merian Iselin Klinik Basel

edouard.battegay@uzh.ch

Prof. Dr. med. Dr. phil. Ralf Jox

– Unité d’éthique clinique,
Institut des Humanités en Médecine, CHUV-UNIL

– Chaire de soins palliatifs gériatriques,
Service de soins palliatifs et de support CHUV-UNIL,

Dr. Karim Abawi

Schweizerisches Bundesamt für Statistik
Sektion Gesundheit der Bevölkerung
Neuchâtel
Schweiz

PD Dr. Rolf Weitkunat

Schweizerisches Bundesamt für Statistik
Sektion Gesundheit der Bevölkerung
Neuchâtel, Schweiz

PD Dr. med. Andres R. Schneeberger

Department for Psychiatry
University of California
San Diego, USA

Die Autoren bestätigen, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Keiner der Autoren ist Mitglied in einer der Schweizer Sterbe­hilfeorganisationen.

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29. Holmes A, Lange P, Stewart C, White B, Willmott L, Dooley M, et al. Can depressed patients make a decision to request voluntary assisted dying? Intern Med J 2021;51:1713-6.
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32. Regionale Toetsingscommissies Euthanasie. Jaarverslag 2022. (April 2023). www.euthanasiecommissie.nl; letzter Zugriff: 17.06.2024.

Die Empfehlungen der Swiss Memory Clinics für die Therapie der Demenzerkrankungen

Einleitung

Die Therapie von Menschen mit kognitiven Störungen und Demenz-Syndromen ist komplex. Neben medikamentösen Optionen steht eine Vielzahl von nicht-medikamentösen Behandlungen zur Verfügung. Die Indikation der verschiedenen Therapieoptionen unterscheidet sich stark je nach individuellen Symptomen, zugrunde liegenden Pathologien, Alter, Stadium der Erkrankung und Verfügbarkeit. So kann es gerade für Nichtspezialisten schwierig sein, die richtige Kombination von Therapien zum richtigen Zeitpunkt für den individuellen Menschen mit Demenz (MmD) festzulegen. Zunehmend empfohlen wird deshalb der Einbezug von Dementia Care Managers (1).

Der Verein Swiss Memory Clinics (SMC) veröffentlicht in Ergänzung zu den im Rahmen der Nationalen Demenzstrategie entwickelten Empfehlungen zur Demenzabklärung im vorliegenden Dokument Empfehlungen zur Therapie der Demenz in der Schweiz. Die Empfehlungen beschränken sich auf in der Schweiz zugelassene und verfügbare Therapien.
Für die aktuelle Publikation hat die Autorengruppe Leitlinien anderer Staaten und insb. die kürzlich erschienene S3-Leitlinie berücksichtigt (1). Die therapiespezifischen Abschnitte wurden in der Regel von den entsprechenden Berufsverbänden erstellt. Positiver klinischer Erfahrung wurde explizit ein Stellenwert eingeräumt.

Die nachfolgenden Empfehlungen richten sich grundsätzlich an alle Berufsgruppen und Settings. Es handelt sich um die Kurzfassung der mit Unterstützung des BAG erstellten Langversion, die frei verfügbar ist (Nationale Plattform Demenz, https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitsstrategien/demenz.html). Wie bereits bei den momentan in Aktualisierung befindlichen Empfehlungen zur Diagnostik (2) ist es uns auch hier ein Anliegen, insbesondere die Primärversorgung anzusprechen. Sofern nicht explizit anders angegeben, sind alle Geschlechter gemeint.

Allgemeine Therapieziele

Demenzen sind per Definition chronische Syndrome, denen unterschiedliche Erkrankungen zugrunde liegen. Die klinische und ätiologische Ebene sollte getrennt werden, jedoch sind Begriffe wie «Demenzerkrankungen» weiterhin verbreitet und werden deshalb auch hier verwendet. Insbesondere neurodegenerative Demenzen sind fortschreitend. Heute verfügbare Therapien der kognitiven Defizite können lediglich deren Fortschreiten verlangsamen. Die Erkrankungen bedeuten eine hohe Belastung für direkt Betroffene und deren Angehörige. Oft sind nicht die kognitiven Einschränkungen, sondern behaviorale und psychische Symptome der Demenz (BPSD) verantwortlich für den Übertritt in ein Alters- und Pflegeheim. Diese werden in separaten Empfehlungen fokussiert (3). Ebenfalls separat publiziert sind Empfehlungen für die Behandlung von MmD in Langzeitinstitutionen (BAG 2020).

Die vorliegenden Empfehlungen behandeln die Verbesserung der Lebensqualität von MmD und ihren Angehörigen sowie den bestmöglichen Erhalt der Selbstständigkeit und der Stabilisierung der kognitiven Leistung. Tab. 1 zeigt wichtige Handlungskomponenten bei einer neu diagnostizierten Demenz.

Nicht-medikamentöse Therapie

Nicht-medikamentöse Interventionen zielen grossenteils darauf ab, in den bio-psycho-sozialen und spirituellen Dimensionen Momente des Wohlbefindens zu ermöglichen sowie Funktionen und Teilhabe eines MmD so lange als möglich aufrechtzuerhalten, während die Krankheit fortschreitet. Dadurch können weitere Einschränkungen reduziert oder verlangsamt und die Lebensqualität verbessert oder stabilisiert werden (4). Damit nicht-medikamentöse Therapien gelingen, brauchen Fachpersonen u.a. aus dem Bereich Gesundheit und Soziales, aber auch betreuende Angehörige Wissen und Fähigkeiten zu unten stehenden Konzepten und Interventionen. Schulungen sind deshalb zentral. Durch den notwendigen Einsatz qualifizierten Personals ist die Durchführung nicht-medikamentöser Massnahmen abhängig vom verfügbaren Personal. Die entsprechenden Lohnkosten müssen dabei ins Verhältnis gesetzt werden zu den Belastungen durch an sich vermeidbare Komplikationen (belastetes Umfeld, freiheitsbeschränkende Massnahmen) und Kosten, welche diese oft bei Personen im Umfeld der erkrankten Person sowie der Behandlung von Komplikationen (Spitalaufenthalte) in der Folge verursachen.

Vom Umfeld verlangt insbesondere die Kommunikation mit MmD viel Einfühlungsvermögen, Geduld, Kreativität und ein echtes Interesse. Neben aktivierenden Tätigkeiten soll auch immer die Möglichkeit für einen Rückzug angeboten werden.
Nicht-medikamentöse Massnahmen kommen für alle Stadien der Demenz infrage. Im Idealfall werden sie kontinuierlich angeboten und passen sich den verändernden Fähigkeiten der MmD im Krankheitsverlauf an.

Integrative Ansätze

In den folgenden Abschnitten wird eine grosse Bandbreite von nicht-medikamentösen Therapien vorgestellt. Die Auswahl sollte primär von den Bedürfnissen der Erkrankten abhängen. Zusätzlich spielt aber auch die Verfügbarkeit im jeweiligen Setting eine Rolle.
Da die nachfolgenden Therapien zumeist einzeln untersucht wurden, ist wenig über den zusätzlichen Nutzen von Kombinationen bekannt und damit auch nicht, ob gemeinsame oder unterschiedliche Wirkfaktoren relevant sind. Gemeinsam sind den Therapien die folgenden Aspekte:
– Hohe Individualisierung
– Interdisziplinarität und Interprofessionalität
– Einbezug von Umfeld und insb. Angehörigen
– Wertschätzung, Anerkennung von Emotionen
– Nonverbale Kommunikation

Die Evidenzlage für die einzelnen Verfahren ist sehr unterschiedlich. Abgegrenzt werden muss zudem die Zielsetzung. So ist eine Verbesserung der Kognition durch nicht-medikamentöse Ansätze am ehesten im Stadium der leichten bis mittleren Demenz erreichbar. Zahlreiche Interventionen, z. B. kognitive Stimulation, Reminiszenztherapie, Ergotherapie, Musik- und Tanztherapie, werden hingegen in der S3-Leitlinie (1) für alle Demenzstadien zur Behandlung depressiver Symptome empfohlen. Der Empfehlungsgrad reicht hierbei von «stark dafür» für Bewegungstherapie und Kognitive Verhaltenstherapie bis zu «schwach» bei Reminiszenz und Ergotherapie. Trotz etlicher vorhandener Studien sieht die S3-Leitlinie (1) keine Wirksamkeitsevidenz nicht-medikamentöser Verfahren gegen Angstsymptome.

Psychotherapie

Insbesondere zur Behandlung depressiver Symptome bei leichter Demenz und mild cognitive impairment (MCI) besteht gute Evidenz für die Wirksamkeit (1). Therapieziele sind neben Psychoedukation auch Ressourcenaktivierung, Stärkung der Bewältigungsstrategien und z. B. die Förderung der Selbstwirksamkeit. Der Einbezug bzw. die Beratung der Angehörigen ist auch für dieses Setting wesentlich. Empfohlen werden Anpassungen der Therapie gegenüber dem Vorgehen bei Personen ohne kognitive Defizite. Kürzeren und dafür häufigeren Therapieeinheiten sollte der Vorzug gegeben werden. Zudem sollten kognitive Elemente dem Leistungsvermögen angepasst werden.

Spezifische Pflegekonzepte

Pflegerische Konzepte beinhalten meist eine Kombination aus unterschiedlichen Interventionen und Ansätzen. Da die Pflege an sich keine Therapie ist, werden häufig therapeutische Elemente von angrenzenden Disziplinen miteinbezogen. So werden beispielsweise Aktivitäten im Alltag mit bewegungsstimulierenden Interventionen ergänzt oder musikalische Interventionen in die Tagesstruktur aufgenommen und erzielen dadurch ihre Effekte (z. B. Erhaltung oder Reaktivierung von Ressourcen, Förderung der Lebensqualität). Entsprechend werden die hier zusammengestellten Interventionen keineswegs exklusiv von Pflegekräften angeboten.

Multisensorische Interventionen

Aromapflege und Aromatherapie

Aromapflege und Aromatherapie werden in der Literatur oftmals synonym verwendet und umfassen die äusserliche Anwendung ätherischer Öle. Hinsichtlich Aromatherapie/-pflege gibt es keinen eindeutigen Wirksamkeitsnachweis in Bezug zur Schlafqualität beziehungsweise zur Verbesserung der Lebensqualität. Ein Review über 5 Studien findet keine Wirksamkeitsnachweise für den Einsatz bei Agitiertheit (1). Die Erfahrungen mit Aromatherapie/-pflege in der Pflegepraxis sind in jedem Stadium der Demenz oftmals positiv. Melissenöl scheint insgesamt das Produkt mit den besten Ergebnissen zu sein. Es ist notwendig, die MmD während des Einsatzes von Aromapflege genau zu beobachten, um bei allfälligen negativen Reaktionen die Intervention sofort abzubrechen. Beim erstmaligen Einsatz eines Produkts ist wegen möglicher allergischer Reaktion Vorsicht geboten und ggf. ein Allergietest durchzuführen.

Basale Stimulation

Basale Stimulation fördert die Wahrnehmung, z. B. durch sensorische Stimulation mittels Massage, aber auch multimodal mittels Bewegung und Sprache (Singen/Summen). Die Studienlage in Bezug auf den Nutzen von basaler Stimulation in der Pflege und Betreuung von MmD ist dünn. Bestehende Empfehlungen für die Pflege und Betreuung von MmD führen basale Stimulation jedoch auf (3).

Snoezelen

Bei der Snoezelen-Therapie werden unterschiedliche Sinne durch visuelle, akustische, olfaktorische, taktil-haptische, vestibuläre und/oder vibratorische Angebote im Alltag angeregt. Diese multisensorische Therapie kann in einem separaten Raum (Snoezelen-Raum) stattfinden. Basierend auf der vorhandenen Evidenz und den Erfahrungen in der Praxis kann die Snoezelen-Therapie für Menschen mit moderater bis schwerer Demenz empfohlen werden (5, 6). Die Effekte der Snoezelen-Therapie sind grösser, wenn die Person, welche die Therapie anbietet (Pflegende, Angehörige), in der Anwendung von multisensorischen Interventionen geschult ist (5).

Gedächtnistraining / Kognitive ­Stimulationstherapie

Das Spektrum der kognitiven Therapieansätze reicht von relativ unspezifisch aktivierenden Verfahren (kognitive Stimulation) bis hin zu auf einzelne kognitive Domänen konzentrierte (Funktions-)Trainings. Z. T. wird auch das Realitäts-Orientierungs-Training hinzugezählt. Viele Ansätze sind mit sozialer Interaktion verbunden und dürften allein deshalb hilfreich sein. Teilnehmende Personen schätzten ihre Lebensqualität z. T. als höher ein. Die Konfrontation mit den eigenen Defiziten kann aber auch negative Auswirkungen auf die psychische Verfassung haben.
Im Stadium der leichten bis mittelschweren Demenz wird in mehreren internationalen Guidelines (1, 6) sowie im Rahmen eines Cochrane Reviews (7) kognitive Stimulation empfohlen, welche neben einer Verbesserung der Kognition auch positive Effekte auf die Lebensqualität sowie auf die Kommunikation haben können, welche vergleichbar sind mit den im Rahmen etablierter medikamentöser Therapien erzielbaren Effekte. Die S3-Leitlinie macht eine schwache Empfehlung für die kognitive Stimulation zur Behandlung depressiver Symptome im Rahmen der Demenz. Von spezifischem Gedächtnistraining mit der Vermittlung von Strategien oder von psychotherapeutischen Verfahren zur Behandlung kognitiver Defizite wird im Stadium einer Demenz zur Vermeidung von Überforderung abgeraten.

Kognitive Rehabilitation

Kognitive Rehabilitation bezieht sich auf die individuelle Identifizierung funktionaler Ziele, die für die MmD relevant sind und die in der Zusammenarbeit mit der betroffenen Person und deren Angehörigen und Betreuenden erreicht werden sollen. Ziel ist, die Auswirkungen der vorhandenen Einschränkungen zu reduzieren.
Die kognitive Rehabilitation wird für das Stadium der leichten bis mittelschweren Demenz empfohlen (6) (NICE).

Physiotherapie

Die Literatur und Studienlage zeigen deutlich die Wirksamkeit von physiotherapeutischen Massnahmen bei Schmerzen und Bewegungseinschränkungen (8). Die S3- Leitlinie spricht sich stark für körperliches Training zur Verbesserung der Aktivitäten des täglichen Lebens aus (1).

Durch gezielte physiotherapeutische Untersuchungen der körperlichen Strukturen, Funktionen und der Aktivität im Verlauf der Erkrankung werden Defizite wie Schmerz, Sturzrisiko, Dysphagie schnell erkannt, und es können individuell optimal angepasste interprofessionelle Massnahmen geplant werden (9–11) und Training Manuals optimal eingesetzt werden (12). Hierdurch können auch gezielt Verhaltensprobleme reduziert werden (13).

Insbesondere im Stadium der fortgeschrittenen Demenz sollte abhängig vom Krankheitsverlauf circa 1 x jährlich ein Assessment zur Erfassung von Struktur (Schmerz, Bewegungseinschränkung), Funktion (Stabilität, Kraft, Gleichgewicht, kardio-pulmonaler Kapazität, Dysphagie) und motorisch-kognitiven Fähigkeiten erfolgen. Das Assessment sollte ein Abklärung des Sturzrisikos beinhalten.

Ergotherapie

Ergotherapie wird verstanden als Therapie zur Verbesserung und zum Erhalt von Alltagsfunktionen und Handlungsfähigkeit mit dem Ziel der Verbesserung von Teilhabe und Lebensqualität im individuellen Alltag und Lebenskontext. Als wirksame Interventionen gelten die Beratung und Umsetzung gesundheitsfördernder Aktivitäten, welche die Lebensqualität steigern, sowie das Training von alltagsrelevanten körperlichen, kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten (14–16). Entsprechend der S3-Leitlinie wird Ergotherapie auch zur Behandlung depressiver Symptome empfohlen. Ergotherapie bezieht sich sowohl auf Betroffene als auch deren Angehörige und kann diese in den Bereichen Alltagsaktivitäten, Selbstversorgung, Mobilität, Haushaltsführung und Freizeit unterstützen (17) und dadurch eine Reduktion der physischen (16) und psychischen Belastung (18) von Angehörigen bewirken.

Aktivierungstherapie

Aktivierungstherapie findet im Einzel- oder Gruppensetting statt. In der Aktivierung kommen verschiedene Mittel (z. B. Musik, Bewegung oder Gedächtnistraining) und Methoden (z. B. Reminiszenzverfahren mit Biografiearbeit, Validation oder basale Stimulation) zum Einsatz (15), deren Wirksamkeit in Studien untersucht wurde.
Für aktivierungstherapeutische Ansätze bei MmD liegt moderate Evidenz vor (16, 17), diese jedoch für eine grosse Bandbreite von Outcomes und sowohl direkt für die MmD als auch für Angehörige. In den NICE-Guidelines wird darauf hingewiesen, dass verschiedene körperliche Aktivitäten im Alltag (Spazieren, Tanzen, Balance-Übungen etc.) einen positiven Einfluss auf die Kognition und die Ausführung von Alltagsaktivitäten haben können. Angebote im Freien scheinen sich positiv auf Stimmung, soziale Teilhabe und Schlaf auszuwirken (18).

Logopädie

Sprach-, Sprech- und Kommunikationsstörungen, die in allen Demenzformen auftreten, erschweren die soziale Teilhabe in einem hohen Mass. Insbesondere im MCI-Stadium und zu Beginn der Erkrankung ist eine logopädische Behandlung bei den sprachlich dominierten Varianten angezeigt. Es ist sinnvoll, die pflegenden Angehörigen frühzeitig in die logopädische Behandlung einzubeziehen (19).
Übungen sollten alltagsrelevant bzw. biografisch bedeutsam sein. Je nachdem, auf welcher Ebene sich die Sprachstörung hauptsächlich zeigt, liegt der Schwerpunkt der logopädischen Behandlung im Bereich der Artikulation, der Wörter, des Satzes oder der Diskursfähigkeit.

Das Lesen kann eine Ressource zur Aufrechterhaltung der Kommunikation darstellen, insbesondere für jene Personen mit einer Demenz vom Alzheimer Typ (20–22). Ebenso sind alternative Kommunikationsmittel wie Applikationen, Kommunikationsbücher oder multimodale Ansätze via Gesten und Schrift empfehlenswert. Die Prävalenz von Dysphagien bei fortgeschrittener Demenz liegt bei über 80 % (23, 24). Eine ausführliche klinisch-logopädische Schluckuntersuchung (23, 25) schliesst instrumentelle Verfahren zur Untersuchung des Schluckvorgangs ein. Bei fortgeschrittener Demenz ist dies allerdings oft nicht möglich. Man weicht dann auf eine strukturierte Essensbeobachtung aus. Methode der Wahl ist die funktionelle Dysphagietherapie. Hierbei wird das Schlucken, z. B. durch Änderungen der Kopfhaltung, aber auch Kostanpassungen, unterstützt.

Kunsttherapie

Musiktherapie
Nationale und internationale Leitlinien und Experten empfehlen konsistent den Einsatz von Musiktherapie (MT). Ein Cochrane Review (29) liefert Hinweise darauf, dass Stimmung, Verhaltenssymptome, Kommunikation und physische Funktionen positiv beeinflusst werden können. Die S3-Leitlinie sieht positive Effekte von Musik zur Behandlung depressiver Symptome und spricht eine starke Empfehlung für den personalisierten Einsatz bei Agitation aus. Eine Metaanalyse von Zhang et al. (2017) zeigt auf, dass musikbasierte Interventionen – kombiniert mit sozialer Interaktion – positive Auswirkungen auf Verhaltenssymptome und Ängstlichkeit haben können. Auch ein Verbesserungstrend hinsichtlich Depressionsanzeichen, kognitiver Funktion und Lebensqualität wird festgestellt. Eine Literaturübersicht stützt diese Erkenntnisse (28, 29) und zeigt in einer Metaanalyse positive Effekte auf Aufmerksamkeit, Sprache und autobiografische Erinnerung und beschreibt messbar stärkere Effekte bei durch qualifizierte Musiktherapeut/-innen durchgeführten Therapien. Depressionssymptome verbessern sich unter Gruppenmusiktherapie signifikant stärker als durch Singgruppenteilnahme (30).

Einen besonderen Stellenwert hat die Musik bei mittelgradiger und fortgeschrittener Demenz bei der Erzeugung positiver Emotionen, dem Auslösen von Erinnerungen und der Kontaktaufnahme durch Betreuungspersonen (31).

Die MT zeigt schon im MCI-Stadium positive Effekte auf die Lebensqualität, wobei aktive MT Vorrang hat vor rezeptiver MT und die Effekte im Einzelsetting grösser sind. Playlisten/Musiksammlungen zum Entspannen, Motivieren oder Unterstützen pflegerischer Massnahmen werden empfohlen (31, 32). Da häufigere MT die positiven Effekte zu verstärken scheint, wird eine kontinuierliche Behandlung mehrmals pro Woche empfohlen (33), wobei im Gruppensetting nicht mehr als 5–8 Patientinnen und Patienten teilnehmen sollten (34).

Weitere kunsttherapeutische Ansätze
Im 2018 erschienenen Cochrane Review mit Fokus auf der Maltherapie wird keine ausreichende Evidenz für die Kunsttherapie gesehen (35). In der aktualisierten S3-Leitlinie wird die Tanztherapie zur Behandlung depressiver Symptome bei MCI und Demenz empfohlen. Auf weitere kunsttherapeutische Ansätze wird dort nicht mehr explizit eingegangen, und es besteht die dringliche Notwendigkeit weiterführender Forschung.

Tiergestützte Therapie

Der Begriff «tiergestützte Interventionen» gilt als Überbegriff. Wie für die Fachperson braucht es auch für die eingesetzten Tiere eine fachgerechte, intensive Vorbereitung und für die Tiere auch eine spezielle Zertifizierung.
Generell werden tiergestützte Interventionen eingesetzt zur Förderung sozialer, emotionaler, physischer sowie kognitiver Kompetenzen (36). Zur Behandlung von Agitiertheit besteht aktuell keine Evidenz.

Beratungsangebote und Angehörigenarbeit bei Alzheimer und anderen Demenzformen

Beratung von Patient und Umfeld ist ein Kernelement der Therapie der Demenzerkrankungen und Voraussetzung für einen geeigneten Umgang mit der Erkrankung. Die einmalige Beratung, z. B. gleich bei der Übermittlung einer Dia­gnose, reicht dabei nicht aus. Oftmals kommen den Betroffenen die wesentlichen Fragen bzgl. ihrer Erkrankung und des Lebens mit der Erkrankung erst nach einer gewissen Zeit in den Sinn. Ein angeleitetes Vorgehen von Anfang an, das den Erkrankten und ihren Familienmitgliedern aufzeigt, welche Informationen relevant sind, welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt und wie sie trotz einer Demenzerkrankung ein erfülltes Leben führen können, ist entscheidend, da dies Orientierung über verfügbare Unterstützung und Hilfe bietet (37). Bestandteil von Angehörigenarbeit ist aber auch die Vermittlung von Skills im Umgang mit MmD, z. B. bei BPSD oder bzgl. der Kommunikation.

Die S3-Leitlinie empfiehlt bereits bei leichten psychischen Symptomen kognitive Verhaltenstherapie, Verhaltensaktivierung oder Multikomponenten-Intervention in Kombination mit Beratung.
Da die Beratungsansätze vielfältig und daher kaum vergleichbar sind, finden sich bis heute kaum qualifizierte Studien zur Wirkung von Beratung von MmD im engeren Sinne.

Case Management und Zugehende Beratung
Um einerseits psychologische Hindernisse aufgrund der noch immer gegebenen Stigmatisierung von Demenzerkrankungen zu vermeiden und andererseits die Erkrankten und ihre Angehörigen auch bei fortschreitender Erkrankung bedarfs- und bedürfnisgerecht begleiten zu können, bietet demenzspezifisches Case Management, z. B. auch in Form von «Zugehender Beratung», einen sinnvollen Ansatz (38, 39). In diese Richtung geht auch der international immer stärker geforderte Dementia Care Manager mit Evidenz zur Reduktion von Komplikationen und Verzögerung von Heimeintritten (40).

Beratungsstellen
In der Schweiz gibt es unterschiedliche Stellen, an die sich Angehörige wenden können: Memory Clinics, Haus- und Spezialärzte, Beratungsstellen, Bildungszentren sowie verschiedene Angebote zur Altersberatung der Gemeinden. Teilweise gehören diese zu national tätigen Organisationen wie Alzheimer Schweiz und Pro Senectute oder haben sich lokal entwickelt. Meist sind erste Beratungsgespräche kostenlos. Zudem können die zahlreich verfügbaren Online-ressourcen (z. B. www.alz.ch und https://alzguide.ch) als Ergänzung sinnvoll sein.

Peer support
Peer support durch andere pflegende Angehörige kann den psychosozialen Stress von betreuenden Angehörigen verringern und das Supportnetz eines MmD stärken.

Interventionelle Verfahren

Verschiedene interventionelle Verfahren wurden bei Demenz untersucht. Im Gegensatz zu medikamentösen Innovationen, welche im Rahmen eines Zulassungsverfahrens die Sicherheit und die Wirksamkeit beweisen müssen, sind die interventionellen Verfahren weniger stark reguliert. So sind im Schweizer Gesundheitsmarkt verschiedene Verfahren verfügbar, welche zwar CE-zertifiziert sind und damit als hinreichend sicher gelten, jedoch ihre Wirksamkeit bisher nicht in qualitativ ausreichenden und grossen Studien zeigen konnten. Dies ist besonders bedenklich, da einige Firmen bereits heute versuchen, ihre Produkte für die Behandlung von MmD zu vermarkten.

Repetitive transkranielle magnetische Stimulation (rTMS)
Die rTMS ist ein neuromodulatorisches Verfahren, welches durch Stimulation mit einer Magnetspule an der Kopfoberfläche ein elektrisches Feld in der Tiefe des Gehirns erzeugen kann. Insgesamt sind die verfügbaren Daten noch zu gering, um eine breite Anwendung bei Demenz ausserhalb von klinischen Studien empfehlen zu können.

Transkranielle Pulsstimulation
Mit der transkraniellen Pulsstimulation sollen von aussen durch die Schädeldecke tiefer liegende Hirnstrukturen erregt werden. Bisherige Studien haben zwar Effekte auf einige für die Alzheimer Demenz relevante Funktionen messen können (41), die Studien wurden aber ohne adäquate Kontrollgruppe durchgeführt. Eine Anwendung ausserhalb von klinischen Studien kann nicht empfohlen werden.

Transkranielle elektrische Stimulation
Die transkranielle elektrische Stimulation kann auf verschiedene Arten auf der Kopfoberfläche appliziert werden. Es liegen Daten aus randomisierten und sham-kontrollierten Studien vor, die eine Wirksamkeit auf Kernsymptome der Alzheimer Demenz wie die episodische Gedächtnisstörung nahelegen (42), wobei die Effekte auch über den eigentlichen Behandlungszeitraum hinaus messbar blieben (43). Doch auch bei dieser Methode sind die Studiendaten zum heutigen Zeitpunkt noch heterogen und vorläufig, so- dass ein Einsatz ausserhalb von klinischen Studien nicht empfohlen wird.

Tiefe Hirnstimulation
Die tiefe Hirnstimulation (deep brain stimulation, DBS) ist ein invasives Verfahren, bei dem Elektroden an unterschiedlichen Zielpunkten in der Tiefe des Gehirns platziert werden. Das Verfahren ist in der Behandlung von Menschen mit Parkinson-Erkrankung und anderen Bewegungsstörungen gut etabliert, kann aber zum heutigen Zeitpunkt ausserhalb von klinischen Studien für MmD nicht empfohlen werden.

Palliative Care, Advance Care Planning (ACP)

Demenz ist ein Syndrom, das meist Ausdruck einer unheilbaren, lebensverkürzenden Krankheit ist, die mit ihren Begleiterkrankungen schliesslich zum Tod führt, obgleich die Menschen jahrelang mit der Krankheit leben können. Eine adäquate Palliativversorgung hat die Verbesserung der Lebensqualität, den Funktionserhalt und die Maximierung des Wohlbefindens im ganzen Krankheitsverlauf zum Ziel und nimmt auch die Bedürfnisse der Angehörigen auf (44). Weil Kognition, Kommunikations- und Urteilsfähigkeit im Krankheitsverlauf abnehmen, ist eine frühzeitige Vorausplanung (ACP) mit dem MmD wichtig, um Präferenzen, Werte, Bedürfnisse und Vorstellungen für spätere Krankheitsphasen festzuhalten (45).

Medikamentöse und nicht-medikamentöse Behandlungsmassnahmen sind im palliativen Sinne anzuwenden.
Im Krankheitsverlauf erfordern gesundheitliche Störungen sorgfältige Entscheidungen bezüglich Behandlungsziel unter Berücksichtigung des ACP, um unnötige Hospitalisationen und Interventionen zu vermeiden (46).

Medikamentöse Therapie

Symptomatische medikamentöse Therapie

Alle bislang zugelassenen medikamentösen Therapieansätze sind symptomatisch wirksam. Sie richten sich also nicht direkt gegen die krankheitsauslösende Neurodegeneration oder die pathologischen Eiweissablagerungen bei der Alzheimer-Krankheit (Tau und Amyloid) im Gehirn. Orientierend lässt sich sagen, dass diese Medikamente die Punktzahl im Mini-Mental-Status bei MmD aufgrund einer Alzheimer-Krankheit um gut einen Punkt verbessern und es einige Wochen dauert, bis der Effekt maximal deutlich wird. Wichtiger sind oft die Verbesserungen von Alltagsfunktionen. Da die Medikamente bereits lange verfügbar sind, erfüllen die ursprünglichen Zulassungsstudien nicht mehr die heutigen Standards. Dies hat dazu geführt, dass einige Länder (z. B. Frankreich) ihre Erstattungsfähigkeit eingeschränkt haben. Für alle Substanzen wird eine langsame Eindosierung empfohlen. Insgesamt werden die Substanzen gut vertragen.

AChE-Inhibitoren

Alzheimer-Krankheit
Der Effekt der drei Acetylcholinesteraseinhibitoren (AChE-I) Donepezil, Rivastigmin und Galantamin ist moderat, bleibt aber auch bei längerem Einsatz signifikant, wie neuere Arbeiten mit Langzeitdaten zeigen (47). In dieser und weiteren Studien haben MmD unter AChE-I auch eine reduzierte Gesamtmortalität.

AChE-I stehen auf der Spezialitätenliste. Die Limitationen erfordern die wiederholte Durchführung des MMSE zur Unterstützung einer Nutzen-Risiko-Abwägung. Bei einem Wert unter 10 fordert die Limitatio zudem die Beendigung. Im Gegensatz dazu empfehlen die deutschsprachige S3- Leitlinie und die Daten der Domino-AD-Studie hingegen die Weiterführung (48), die aber begründet werden sollte (off-label). Im Stadium erheblicher Funktionseinschränkungen (z. B. Bettlägerigkeit und umfassender Pflegebedarf) sollte die Behandlung beendet werden.

Andere Formen der Demenzerkrankungen
Menschen in leichten bis mittleren Stadien einer Demenz bei Parkinson-Erkrankung oder aufgrund einer LBD sollte Donepezil oder Rivastigmin angeboten werden. Rivastigmin kann in dieser Indikation Verhaltenssymptome günstig beeinflussen (49). In der Schweiz besteht eine Zulassung von Rivastigmin-Kapseln für die Demenz bei Parkinson­Erkrankung, in den weiteren Indikationen handelt es sich um eine Off-label-Behandlung.
Bei einer rein vaskulären Demenz empfiehlt die S3-Leitlinie Donepezil oder Galantamin in hoher Dosierung, aber auch Memantin zur Verbesserung der Kognition. Zudem ist zu berücksichtigen, dass es sich bei Demenzen bei Hoch- betagten in der Mehrzahl um Mischformen handelt. Bei Demenz aufgrund einer FTLD sind AChE-I ungeeignet.

Memantin

Alzheimer-Krankheit
Memantin ist zugelassen für die mittelgradig bis schwere Demenz aufgrund einer Alzheimer-Krankheit. Bei moderater Demenz sollte bei guter Verträglichkeit jedoch den AChE-I der Vorzug gegeben werden (NICE). Auch hier sollte bei guter Verträglichkeit und langsamer Aufdosierung mit der Höchstdosis von 20 mg behandelt werden. Die Limitatio verlangt zudem die wiederholte Durchführung des MMSE und einen Punktwert zwischen 3 und 19 Punkten.

Weitere Demenzformen
Für die Behandlung einer Demenz bei LBD gilt Memantin als 2. Wahl nach den AchE-I (siehe oben). Bei FTLD wird empfohlen, beide Substanzgruppen nicht einzusetzen. Memantin wirkt eher sedierend als AChE-I.

Ginkgo biloba

Alzheimer-Demenz und vaskuläre Demenz
Die deutschsprachige S3-Guideline bewertet Ginkgo biloba in einer Dosis von 240 mg täglich positiv in Bezug auf «Aktivitäten des täglichen Lebens» sowie u.a. für die kognitiven Fähigkeiten. Empfohlen wird der Einsatz bei leichter bis mittelgradiger AD oder vaskulärer Demenz mit nicht psychotischen Verhaltenssymptomen. Der Empfehlungsgrad für die Verbesserung der Kognition ist aber niedriger als jener für z. B. die AChE-Inhibitoren. Es stehen verschiedene Präparate zur Verfügung, die sich in ihrer chemischen Zusammensetzung leicht unterscheiden. Die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen wurden mit dem Extrakt EGb 761 durchgeführt. Insgesamt kann bei leichter bis mittlerer Demenz aufgrund einer Alzheimer-Krankheit, aber auch bei einer vaskulären Demenz die Behandlung erwogen werden. Der Einsatz empfiehlt sich insbesondere für Menschen, die Phytotherapien favorisieren, oder für welche, bei denenAChE-I und Memantin nicht infrage kommen.

Subjektive kognitive Störung (SCD) und leichte kognitive Störung (MCI)
In der Schweiz ist die Zulassung dieser Substanzen breit gefasst («Einbussen in der mentalen Leistungsfähigkeit»). Damit sind Ginkgo-Präparate die einzigen Substanzen, die auch im MCI-Stadium eingesetzt werden können. Allerdings haben grosse randomisierte Studien keinen signifikanten Effekt auf die Entwicklung einer Demenz gezeigt (50, 51). Hingegen zeigen Daten aus Verschreibungsregistern, dass Menschen unter Ginkgo weniger häufig eine Demenz entwickeln (52). Die Diskrepanz könnte durch unterschiedliche Studiendesigns und Beobachtungszeiträume zu erklären sein. Zusammenfassend kann eine Behandlung mit Ginkgo in den Stadien SCD und MCI erwogen werden. Sie sollte aber immer mit einer ausführlichen Beratung zu demenzpräventiven Massnahmen (53) kombiniert werden.

Andere Demenzformen
Ein Wirksamkeitsnachweis für Parkinson-Demenz, LBD und FTLD liegt nicht vor.

Krankheitsmodifizierende Therapien

Im Zeitraum der Erstellung der vorliegenden Therapieempfehlungen wurden Zulassungsanträge für die neuen krankheitsmodifizierenden Therapien Lecanemab und Donanemab bei der Swissmedic eingereicht. Eine Entscheidung hierüber steht aus. Diese Medikamente haben in grossen Phase-III-Studien gezeigt, dass sie die Amyloidlast im Gehirn von Menschen mit frühen Stadien einer Alzheimer-Krankheit effektiv reduzieren können und auch moderate Effekte auf die Progredienz der klinischen Symp­tome aufweisen.
Da sich die vorliegenden Empfehlungen auf zugelassene bzw. in der Schweiz verfügbare Therapien beschränken,­ ­erfolgt an dieser Stelle (noch) keine weitere Bewertung dieser neuen Therapien. Wir verweisen auf separate Stellungnahmen, welche zu gegebener Zeit publiziert werden.

Kritische Überprüfung anderer ­medikamentöser Therapien

Genauso wichtig wie der Einsatz von Medikamenten zur Verbesserung der Kognition ist die Vermeidung von Medikamenten, welche die Kognition verschlechtern. PRISCUS (54) und START-STOPP (58) sind Zusammenstellungen von im Alter potenziell ungeeigneten Medikamenten (potentially inappropriate medications, PIMs).

Substanzbasierte Therapien/Nahrungsergänzungsmittel
Beim Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln bei Demenzerkrankungen gibt es verschiedene, möglicherweise wirksame Behandlungsansätze, die von einer Hirnversorgung mit spezifisch-neuroprotektiven Mikronährstoffen über energetische Verbesserung mittels Keto-Diät bis zur gezielt cerebralen Inflammationsbeeinflussung via Mikrobiomveränderung (Braunalgen) reichen. Angesichts des Pilotcharakters der dazu vorliegenden wissenschaftlichen Studien lassen sich zum heutigen Zeitpunkt keine allgemeinen Empfehlungen ableiten. Dies betrifft nicht die Behandlung von gezielt nachgewiesenen Mangelzuständen oder die allgemeinen Empfehlungen der Altersmedizin zu Vitamin D.

Ausblick

Fachkräftemangel und Kostendeckung

Trotz der neuesten Entwicklungen bei den Antikörper-­basierten Therapien wird die Versorgung und Therapie der Demenzerkrankungen eine gesellschaftliche Herausforderung bleiben. Diese Herausforderungen spitzen sich aufgrund der erwarteten Verdoppelung der Fallzahlen bis 2050 und dem Fachkräftemangel erheblich zu. Es erscheint aktuell nicht realistisch, den Demenzbetroffenen flächendeckend die optimale Therapie zukommen zu lassen. Viele der in diesem Dokument gemachten Empfehlungen müssen aufgrund fehlender lokaler Angebote und deren Finanzierung angepasst werden. Erforderlich ist insbesondere aber eine gesellschaftliche Diskussion, was die Demenzversorgung kosten darf und wie integriert beispielsweise MmD sein sollen.
Wie sich neue Technologien wie Sozialroboter oder computerbasierte kognitive Technologien im Alltag (insbesondere im Schweizer Kontext) implementieren und über längere Zeit einsetzen lassen, ist noch ungenügend untersucht worden, und somit fällt die Empfehlungsstärke gering aus. Klar ist jedoch, dass neue Technologien zukünftig eine grössere Rolle spielen werden.

Danksagungen

Mit freundlicher Unterstützung der Nationalen Demenzplattform. Wir danken senesuisse, Verband wirtschaftlich unabhängiger Alters- und Pflegeeinrichtungen Schweiz, und LangzeitSchweiz, Schweizer Fachverband für Langzeitpflege und -betreuung, für ihre Teilnahme am Vernehmlassungsverfahren. Wir danken Reto Kressig für eine ergänzende ­Kommentierung. Wir danken Sandra Habegger für die Editierung des Textes. Es handelt sich hierbei um die 1. Auflage. der Therapieempfehlungen. Gerne nimmt die Geschäftsstelle SMC Anregungen für eine Neuauflage entgegen.

Abkürzungen
ACP Advance Care Planning
BPSD behaviorale und psychische Symptome der Demenz
FTLD Frontotemporale Lobärdegenerationen
LBD/LBK Demenz/Krankheit mit Lewy-Körperchen
MCI mild cognitive impairment (leichte kognitive Störung)
MmD Menschen mit Demenz
MT Musiktherapie
PIM potentially inappropriate medication
SCD subjective cognitive decline
(subjektive kognitive Beeinträchtigung)
SMC Swiss Memory Clinics

Historie
Manuskript eingereicht: 30.05.2024
Manuskript angenommen: 10.06.2024



Recommandations de Swiss Memory Clinics pour le traitement des troubles cognitifs

Introduction

Le traitement des personnes atteintes de troubles cognitifs et de syndromes démentiels est complexe. Outre les options médicamenteuses, il existe une multitude de traitements non médicamenteux. L’ indication des différentes options thérapeutiques varie fortement en fonction des symptômes individuels, des pathologies sous-jacentes, de l’ âge, du stade de la maladie et de la disponibilité. Il peut donc être difficile, surtout pour les non-spécialistes, de déterminer, pour chaque personne atteinte de démence (PAD), la bonne combinaison de thérapies au bon moment. C’ est pourquoi il est de plus en plus recommandé de faire appel à des Dementia Care Managers (1). L’ association Swiss Memory Clinics (SMC) publie dans le présent document des recommandations sur le traitement de la démence en Suisse, en complément des recommandations sur le diagnostic de la démence développées dans le cadre de la stratégie nationale en matière de démence. Les recommandations se limitent aux thérapies autorisées et disponibles en Suisse.

Pour la publication actuelle, le groupe d’ auteurs a également pris en compte les lignes directrices publiées dans d’ autres pays, en particulier la ligne directrice S3 (1). Généralement, les sections sur les thérapies spécifiques ont été rédigées par les associations professionnelles correspondantes. Une place a été explicitement accordée à l’ expérience clinique.

Les recommandations suivantes s’ adressent en principe à tous les groupes professionnels et à tous les settings. Il s’ agit d’ une version abrégée de la version longue élaborée avec le soutien de l’ OFSP, disponible gratuitement (Plateforme nationale démence (https://www.bag.admin.ch/bag/fr/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitsstrategien/demenz.html). Comme pour les recommandations en cours d’ actualisation concernant le diagnostic (2) nous tenons à souligner l’importance des soins primaires. Sauf indication contraire explicite, tous les sexes sont concernés.

Objectifs thérapeutiques généraux

Les démences sont par définition des syndromes chroniques sous-tendus par diverses maladies. Les niveaux cliniques et étiologiques doivent être distingués, mais des termes comme «pathologies démentielles» restent courants et seront donc utilisés ici. Par ailleurs, les démences neurodégénératives sont évolutives. Les traitements des déficits cognitifs actuellement disponibles ne peuvent que ralentir leur progression. Ces maladies représentent une lourde charge pour les personnes directement concernées et leurs proches. Souvent, ce ne sont pas les déficits cognitifs, mais les symptômes comportementaux et psychiques de la démence (SCPD) qui sont à l’ origine du passage en maison de retraite ou en établissement médico-social. Ceux-ci font l’ objet de recommandations séparées (3).
Les présentes recommandations traitent de l’ amélioration de la qualité de vie des PAD et de leurs proches, du maintien de l’ autonomie et de la stabilisation des performances cognitives (BAG 2020). Le Tab. 1 présente les principales composantes de la démarche dans le cas d’ une démence nouvellement diagnostiquée.

Thérapie non médicamenteuse

Les interventions non médicamenteuses visent en grande partie à permettre des moments de bien-être dans les dimensions bio-psycho-sociales et spirituelles, ainsi qu’ à maintenir, alors que la maladie progresse, les fonctions et la participation des PAD aussi longtemps que possible. Cela permet de réduire ou de ralentir les restrictions supplémentaires et d’ améliorer ou de stabiliser la qualité de vie (4). Pour que les thérapies non médicamenteuses soient efficaces, les professionnels de la santé et du travail social, entre autres, mais aussi les proches aidants ont besoin de connaissances et de compétences concernant les concepts et les interventions mentionnés ci-dessous. Les formations sont donc essentielles. En raison de la nécessité de recourir à du personnel qualifié, les mesures non médicamenteuses dépendent de la disponibilité de ce dernier. Les coûts salariaux correspondants doivent être mis en relation avec les charges liées aux complications évitables en soi (entourage chargé, mesures de restriction de la liberté) et les coûts du traitement des complications (séjours hospitaliers).

L’ entourage doit faire preuve d’ empathie, de patience, de créativité et d’ un réel intérêt pour communiquer avec les PAD. Outre les activités d’ activation, il faut toujours offrir la possibilité de se retirer.
Les mesures non médicamenteuses sont envisageables à tous les stades de la démence. Dans l’ idéal, elles sont proposées en continu et s’ adaptent à l’ évolution des capacités des PAD au cours de la maladie.

Approches intégratives

Les paragraphes suivants présentent un large éventail de thérapies non médicamenteuses. Le choix devrait dépendre en premier lieu des besoins des personnes concernées. De plus, la disponibilité dans le milieu concerné joue également un rôle.
Étant donné que la plupart des thérapies suivantes ont été étudiées séparément, on sait peu de choses sur les avantages supplémentaires des combinaisons et, par conséquent, sur la pertinence des facteurs communs ou distincts. Les aspects suivants sont communs aux thérapies :
– Haute personnalisation
– Interdisciplinarité et interprofessionnalité
– Implication de l’ entourage et des proches en particulier
– Valorisation, reconnaissance des émotions
– Communication non verbale

Le niveau de preuve pour chaque procédure est très différent. Il convient en outre de délimiter l’ objectif. Ainsi, l’ amélioration de la cognition par des approches non médicamenteuses est plus facilement réalisable au stade de démence légère à modérée. De nombreuses interventions, telles que la stimulation cognitive, la thérapie par réminiscence, l’ ergothérapie, la thérapie par la musique et la danse, sont en revanche décrites dans la lignes directrice S3 (1) pour tous les stades de la démence pour le traitement des symptômes dépressifs. Le degré de recommandation va de «élevé» pour la thérapie par le mouvement et la psychothérapie à «faible» pour la réminiscence et l’ ergothérapie. Malgré les nombreuses études existantes, la ligne directrice S3 (1) n’ apporte aucune preuve d’ efficacité des méthodes non médicamenteuses contre les symptômes d’ anxiété.

Psychothérapie

Il existe de bonnes preuves d’ efficacité de la psychothérapie, notamment pour le traitement des symptômes dépressifs dans les cas de démence légère et de Mild cognitive impairment (MCI). Les objectifs thérapeutiques sont la psychoéducation, l’ activation des ressources, le renforcement des stratégies d’ adaptation et la promotion de l’ efficacité personnelle. Il est également essentiel d’impliquer et conseiller les proches. Il est recommandé d’ adapter le traitement par rapport aux personnes sans déficit cognitif. La préférence devrait être donnée à des séances de thérapie plus courtes mais plus fréquentes. De plus, les éléments cognitifs devraient être adaptés aux capacités de la personne.

Concepts de soins spécifiques

Les concepts de soins infirmiers impliquent généralement une combinaison d’ interventions et d’ approches différentes. Les soins n’ étant pas une thérapie en soi, ils intègrent souvent des éléments thérapeutiques de disciplines voisines. Par exemple, les activités quotidiennes sont complétées par des interventions stimulant le mouvement, ou bien des interventions musicales sont intégrées dans la structure de la journée et produisent ainsi leurs effets (p. ex. maintien ou réactivation des ressources, promotion de la qualité de vie). Les interventions présentées ici ne sont donc pas exclusivement proposées par le personnel soignant.

Interventions multisensorielles

Soins aromatiques et aromathérapie

Les soins aromatiques et l’ aromathérapie sont souvent utilisés comme synonymes dans la littérature et comprennent l’ utilisation externe d’ huiles essentielles. Il n’ y a pas de preuve claire d’ efficacité en ce qui concerne la qualité du sommeil ou l’ amélioration de la qualité de vie. Une revue de 5 études ne trouve aucune preuve d’ efficacité de leur utilisation en cas d’ agitation (1). Les expériences en matière d’ aromathérapie / soins aromatiques dans la pratique des soins sont souvent positives, quel que soit le stade de la démence. L’ huile de mélisse semble être le produit qui donne globalement les meilleurs résultats. Il est nécessaire d’ observer attentivement les personnes atteintes de démence pendant l’ utilisation de l’ aromathérapie afin d’ interrompre immédiatement l’ intervention en cas d’ éventuelles réactions négatives. Lors de la première utilisation d’ un produit, la prudence est de mise en raison d’ une possible réaction allergique et un test d’ allergie doit être effectué si nécessaire.

Stimulation basale

La stimulation basale favorise la perception, par exemple par la stimulation sensorielle au moyen de massages, mais aussi de manière multimodale par le mouvement et la parole (chanter / fredonner). Les études sur l’ utilité de la stimulation basale dans les soins et l’ accompagnement des personnes atteintes de démence sont peu nombreuses. Les recommandations existantes pour les soins et l’ accompagnement des personnes atteintes de démence mentionnent la stimulation basale (3).

Snoezelen

La thérapie Snoezelen consiste à stimuler différents sens par des offres visuelles, acoustiques, olfactives, tactilo-haptiques, vestibulaires et / ou vibratoires au quotidien. Cette thérapie multisensorielle peut se dérouler dans un espace clos (salle Snoezelen), dans le cadre d’ un plan de traitement axé sur les tâches ou encore dans le cadre d’ une prise en charge 24h/24. Sur la base des preuves existantes et de l’ expérience pratique, la thérapie Snoezelen peut être recommandée pour les personnes atteintes de démence modérée à sévère (5, 6). Les effets de la thérapie Snoezelen sont plus importants lorsque la personne qui propose la thérapie (soignant, proche aidant) est formée à l’ utilisation d’ interventions multisensorielles (5).

Entraînement de la mémoire / Thérapie de stimulation cognitive

L’ éventail des approches de thérapie cognitive va de procédés d’ activation relativement peu spécifiques (stimulation cognitive) à des entraînements (fonctionnels) concentrés sur certains domaines cognitifs. De nombreuses approches sont liées à l’ interaction sociale et devraient être utiles pour cette seule raison. Les participants ont parfois estimé que leur qualité de vie était meilleure. Mais la confrontation avec ses propres déficits peut aussi avoir des effets négatifs sur l’ état psychique.
Au stade de démence légère à modérée, plusieurs lignes directrices internationales (1, 6) ainsi qu’une revue Cochrane (7) recommandent une stimulation cognitive qui, outre une amélioration de la cognition, peut également avoir des effets positifs sur la qualité de vie et la communication, comparables à ceux pouvant être obtenus dans le cadre de thérapies médicamenteuses établies. La ligne directrice S3 émet une recommandation faible pour la stimulation cognitive dans le traitement des symptômes dépressifs dans le cadre de la démence. L’ entraînement spécifique de la mémoire avec l’ enseignement de stratégies ou les méthodes psychothérapeutiques pour le traitement des déficits cognitifs sont déconseillés au stade de démence afin d’éviter une surcharge.

Réhabilitation cognitive

La réadaptation cognitive se réfère à l’ identification individuelle d’ objectifs fonctionnels pertinents pour la personne atteinte de démence et qui doivent être atteints en collaboration avec la personne concernée, ses proches et ses soignants. L’ objectif est de réduire les impacts des limitations existantes.
La réadaptation cognitive est recommandée pour les stades de démence légère à modérée (6) (NICE).

Physiothérapie

La littérature et les études montrent clairement l’ efficacité des mesures physiothérapeutiques en cas de douleurs et de limitations de mouvement (8). La ligne directrice S3 se prononce fortement en faveur de l’ entraînement physique pour améliorer les activités de la vie quotidienne (1).
Grâce à des examens physiothérapeutiques ciblés des structures corporelles, des fonctions et de l’ activité tout au long de l’ évolution de la maladie, les déficits tels que la douleur, le risque de chute, la dysphagie sont rapidement identifiés, permettant la planification de mesures interprofessionnelles individuellement adaptées (9–11) et une utilisation optimale des manuels d’ entraînement (12). Cela permet également de réduire de manière ciblée les problèmes de comportement (13).

Au stade de démence avancée, en fonction de l’ évolution de la maladie, il convient de procéder environ une fois par an à une évaluation structurelle (douleur, limitation des mouvements), fonctionnelle (stabilité, force, équilibre, capacité cardio-pulmonaire, dysphagie), des capacités cognitives et motrices, et du risque de chute.

Ergothérapie

L’ ergothérapie est considérée comme une thérapie visant à améliorer et à maintenir les fonctions quotidiennes et la capacité d’ action dans le but d’ améliorer la participation et la qualité de vie dans le quotidien et le cadre de vie individuel. Les interventions efficaces comprennent le conseil et la mise en œuvre d’ activités de promotion de la santé qui améliorent la qualité de vie, ainsi que l’ entraînement des capacités physiques, cognitives, émotionnelles et sociales pertinentes pour la vie quotidienne (14–16). La ligne directrice S3 recommande également l’ ergothérapie pour traiter les symptômes dépressifs. L’ ergothérapie s’ adresse à la fois aux personnes concernées et à leurs proches, et peut les soutenir dans les domaines des activités quotidiennes, des soins personnels, de la mobilité, des tâches ménagères et des loisirs (17), permettant ainsi de réduire la charge physique (16) et psychologiques (18) des proches.

Thérapie d’activation

La thérapie d’ activation se déroule en individuel ou en groupe. Divers moyens (p. ex. musique, mouvement ou entraînement de la mémoire) et méthodes (p. ex. processus de réminiscence avec travail biographique, validation ou stimulation basale) sont utilisés (19). Ces méthodes ont fait l’ objet d’ études sur leur efficacité.

Il existe des preuves modérées concernant les approches de thérapie d’ activation chez les PAD (15, 20), mais celles-ci couvrent un large éventail de résultats et s’ appliquent aussi bien directement pour les PAD que pour leurs proches. Les lignes directrices NICE indiquent que diverses activités physiques quotidiennes (marche, danse, exercices d’ équilibre, etc.) peuvent avoir une influence positive sur la cognition et l’ exécution des activités quotidiennes. Les activités en plein air semblent avoir un effet positif sur l’ humeur, la participation sociale et le sommeil (21).

Logopédie

Les troubles du langage et/ou de la parole ainsi que de la communication, qui peuvent apparaître dans différentes formes de démence, entravent la participation sociale dans une large mesure. En particulier au stade MCI et en début de maladie, un traitement logopédique est indiqué pour les variantes à dominante linguistique. Il est essentiel d’intégrer les proches-aidants dès le début de la prise en charge logopédique (22).
Les exercices doivent être pertinents pour la vie quotidienne ou avoir une signification pour le patient. Dépendant d’où se situe le trouble langagier, nous pouvons travailler au niveau de l’ articulation, des mots, de la phrase ou du discours.

La lecture peut être une ressource pour maintenir la communication, en particulier pour ceux qui souffrent d’ une démence de type Alzheimer (23–25). Il existe également des moyens de communication alternatifs tels que des carnets de communication, des applications ou encore la communication multimodale via le geste ou l’ écriture.

La prévalence des dysphagies dans la démence avancée est de plus de 80 % (26, 27). Un examen clinique et logopédique détaillé de la déglutition (26, 28) inclut des procédures instrumentales pour examiner le processus de déglutition. En cas de démence avancée, cela n’ est souvent pas possible. On se rabat alors sur une observation structurée de l’ alimentation. Sur le plan thérapeutique, la méthode de choix est la thérapie fonctionnelle de la dysphagie. La déglutition est soutenue, par exemple, par des modifications de la position de la tête, mais aussi par des adaptations de la nourriture.

Art-thérapie

Musicothérapie
Les lignes directrices nationales et internationales ainsi que les experts recommandent l’ utilisation de la musicothérapie (MT). Une revue Cochrane (29) fournit des indications selon lesquelles l’ humeur, les symptômes comportementaux, la communication et les fonctions physiques peuvent être influencés positivement.
La ligne directrice S3 considère que la musique a des effets positifs sur le traitement des symptômes dépressifs et recommandent fortement son utilisation personnalisée en cas d’ agitation. Une méta-analyse de Zhang et al. 2017 (30) montre que les interventions basées sur la musique – combinées à l’ interaction sociale – peuvent avoir des effets positifs sur les symptômes comportementaux et l’ anxiété. Une tendance à l’ amélioration des signes de dépression, de la fonction cognitive et de la qualité de vie est également constatée. Une revue de la littérature soutient ces conclusions (31, 32), démontrant dans une méta-analyse des effets positifs sur l’ attention, le langage et la mémoire autobiographique, et décrit des effets mesurables plus importants lors de thérapies menées par des musicothérapeutes qualifiés.
Les symptômes dépressifs diminuent de manière significativement plus importante avec la musicothérapie de groupe qu’ avec la participation à un groupe de chant (33).
Dans les cas de démence modérée et avancée, la musique joue un rôle particulier dans la génération d’ émotions positives, le déclenchement de souvenirs et la prise de contact par les soignants (Huber et al., 2021).

La MT montre des effets positifs sur la qualité de vie dès le stade MCI, avec une préférence pour la MT active par rapport à la MT réceptive, et des effets étant plus importants en individuel.
Des playlists/collections musicales pour se détendre, motiver ou soutenir les mesures de soins sont recommandées (34, 35). Comme une MT plus fréquente semble renforcer les effets positifs, un traitement continu plusieurs fois par semaine est recommandé (36), sachant qu’ en setting de groupe le nombre des participants devrait se limiter à un maximum de 5–8 patients (37).

Autres approches d’art-thérapie
Dans la revue Cochrane parue en 2018 et portant sur la thérapie par la peinture, aucune preuve suffisante de l’ efficacité de l’ art-thérapie n’ a été trouvée (38). Dans la ligne directrice S3 actualisée, la thérapie par la danse est recommandée pour le traitement des symptômes dépressifs en cas de MCI et de démence. Les autres approches d’ art-thérapie n’ y sont plus explicitement abordées et il est urgent de poursuivre la recherche dans ce domaine.

Thérapie assistée par l’ animal

Le terme «interventions assistées par l’ animal» est considéré comme un terme générique.
Comme pour le professionnel, les animaux utilisés nécessitent une préparation professionnelle et intensive, ainsi qu’ une certification spéciale.
En général, les interventions assistées par l’ animal sont utilisées pour promouvoir les compétences sociales, émotionnelles, physiques et cognitives (39).
Il n’ y a actuellement pas de preuve d’efficacité concernant le traitement de l’ agitation.

Offres de conseil et travail avec les proches en cas de maladie d’ Alzheimer et d’autres formes de démence

Le conseil au patient et à son entourage est un élément clé du traitement de la démence et une condition préalable à une gestion appropriée de la maladie. Un conseil unique, par exemple au moment de l’ annonce du diagnostic, n’ est pas suffisant. Souvent, les questions essentielles concernant la maladie et la vie avec la maladie ne viennent à l’ esprit des personnes concernées qu’ après un certain temps. Une approche guidée dès le début, qui montre aux personnes malades et à leur famille quelles sont les informations pertinentes, quelles sont les possibilités de soutien et comment mener une vie épanouie malgré la démence, est essentielle, car elle permet de s’ orienter vers le soutien et l’ aide disponibles (40). Le travail avec les proches comprend également l’ enseignement des compétences nécessaires pour l’interaction avec les PAD, comme p.ex. concernant la communication et les SCPD.

La ligne directrice S3 recommande dès la présence de symptômes psychologiques légers, une thérapie cognitive-comportementale, ou une activation comportementale, ou une intervention multimodale en combinaison avec du conseil.Étant donné que les approches de conseil sont variées et donc difficilement comparables, il existe à ce jour peu d’ études portant sur l’ effet du conseil aux PAD au sens strict.

Case management et suivi personnalisé
Afin d’ éviter d’ une part les obstacles psychologiques dus à la stigmatisation encore présente des pathologies démentielles, et d’ autre part d’ accompagner les malades et leurs proches de manière adaptée à leurs besoins et à l’ évolution de la maladie, la gestion de cas spécifique à la démence, par exemple sous la forme d’un «suivi personnalisé», offre une approche judicieuse (41, 42). Dans ce sens, le Dementia Care Manager est de plus en plus demandé au niveau international, avec des preuves d’une réduction des complications et du retard des entrées en institution (43).

Centres de consultation
En Suisse, il existe différentes structures vers lesquelles les proches peuvent se tourner : les memory clinics, les médecins généralistes et spécialistes, les centres de consultation, les centres de formation ainsi que divers services de conseil pour les personnes âgées offerts par les communes. Certains d’ entre eux appartiennent à des organisations actives au niveau national comme Alzheimer Suisse et Pro Senectute ou se sont développés au niveau local. La plupart du temps, les premières consultations sont gratuites. En outre, les nombreuses ressources en ligne disponibles (p. ex. Alzheimer Berne: Alzheimer Berne (alzheimer-schweiz.ch) et (https://alzguide.ch/fr) peuvent être utiles en complément.

Soutien par les pairs
Le soutien par les pairs d’ autres aidants familiaux peut réduire le stress psychosocial des aidants familiaux et renforcer le réseau de soutien des personnes atteintes de démence.

Procédures interventionnelles

Différentes procédures interventionnelles ont été étudiées dans le cadre de la démence. Contrairement aux innovations médicamenteuses, dont la sécurité et l’ efficacité doivent être prouvées dans le cadre d’ une procédure d’ autorisation, les méthodes interventionnelles sont moins réglementées. Ainsi, il existe sur le marché de la santé en Suisse différentes procédures qui sont, certes certifiées CE et donc considérées comme suffisamment sûres, mais qui n’ ont pas encore pu démontrer leur efficacité dans des études de qualité suffisante et de grande envergure. Cette situation est particulièrement préoccupante, car certaines entreprises tentent déjà de commercialiser leurs produits pour le traitement des PAD.

Stimulation magnétique transcrânienne répétitive (SMTr)
La SMTr est une méthode neuromodulatrice qui peut générer un champ électrique en profondeur dans le cerveau par stimulation avec une bobine magnétique à la surface de la tête. Dans l’ ensemble, les données disponibles sont encore trop limitées pour pouvoir recommander une large utilisation dans la démence en dehors des études cliniques.

Stimulation transcrânienne par impulsions
La stimulation transcrânienne par impulsions doit permettre d’ exciter des structures cérébrales profondes depuis l’ extérieur à travers la boîte crânienne. Jusqu’ à présent, des études ont certes pu mesurer des effets sur certaines fonctions importantes pour la démence de type Alzheimer (44) mais elles ont été menées sans groupe contrôle. Dans l’ ensemble, les données disponibles sont encore insuffisantes et l’ utilisation en dehors des études cliniques ne peut pas être recommandée.

Stimulation électrique transcrânienne
La stimulation électrique transcrânienne peut être appliquée de différentes manières à la surface de la tête. Des données issues d’ études randomisées et contrôlées par placebo suggèrent une efficacité sur les symptômes principaux de la démence de type Alzheimer, comme les troubles de la mémoire épisodique (45). Les effets sont restés mesurables au-delà de la période de traitement proprement dite (46). Cependant, les données des études sont encore hétérogènes et préliminaires, de sorte qu’une utilisation en dehors des études cliniques n’ est pas recommandée.

Stimulation cérébrale profonde
La stimulation cérébrale profonde (deep brain stimulation, DBS) est une procédure invasive au cours de laquelle des électrodes sont placées en différents points cibles en profondeur dans le cerveau. Cette méthode est bien établie dans le traitement des personnes atteintes de la maladie de Parkinson et d’ autres troubles du mouvement. Cependant, cette méthode ne peut pas être recommandée à l’ heure actuelle pour les PAD, en dehors des études cliniques.

Soins palliatifs, Advance Care Planning (ACP)

La démence est un syndrome qui est le plus souvent l’ expression d’ une maladie incurable, qui raccourcit la vie et qui, avec les maladies qui l’ accompagnent, conduit finalement au décès, bien que les personnes puissent vivre avec la maladie pendant des années. Des soins palliatifs adéquats visent à améliorer la qualité de vie, à préserver les fonctions et à maximiser le bien-être tout au long de la maladie, et prennent également en compte les besoins des proches (47). Étant donné que la cognition, la capacité de communication et de jugement diminuent au cours de la maladie, une planification anticipée précoce (ACP) avec la personne atteinte de démence est importante, afin de consigner les préférences, les valeurs, les besoins et les attentes pour les phases ultérieures de la maladie (48).

Les mesures de traitement médicamenteuses et non médicamenteuses doivent être appliquées dans un esprit palliatif.
Au cours de la maladie, les troubles de santé nécessitent des décisions minutieuses concernant l’ objectif du traitement en tenant compte de l’ ACP, afin d’ éviter des hospitalisations et des interventions inutiles (49)

Thérapie médicamenteuse

Traitements médicamenteux symptomatiques

Toutes les approches thérapeutiques médicamenteuses autorisées jusqu’ à présent ont un effet symptomatique. Ils ne ciblent donc pas directement la neurodégénérescence à l’ origine de la maladie ou les dépôts de protéines pathologiques de la maladie d’ Alzheimer (tau et amyloïde) dans le cerveau. En général, ces médicaments améliorent d’ un point le score du Mini-Mental Status chez les personnes atteintes de la maladie d’ Alzheimer et il faut plusieurs semaines pour que l’ effet maximal soit observé. L’ amélioration des fonctions quotidiennes est souvent plus importante. Comme les médicaments sont disponibles depuis longtemps, les études d’ autorisation initiales ne répondent plus aux normes actuelles. Cela a conduit certains pays (p. ex. la France) à restreindre leur remboursement.
Pour toutes les substances, il est recommandé de procéder à une titration lente. Dans l’ ensemble, les substances sont bien tolérées.

Inhibiteurs de l’ AChE

Maladie d’ Alzheimer
L’ effet des trois inhibiteurs de l’ acétylcholinestérase (AChE-I), Donepezil, Rivastigmine et Galantamine, est modéré, mais reste significatif même en cas d’ utilisation prolongée, comme le montrent des travaux récents avec des données à long terme (50). Dans cette étude et dans d’ autres, les personnes atteintes de démence sous AChE-I ont également une mortalité globale réduite.
Les AChE-I figurent sur la liste des spécialités. Les limitations exigent la réalisation répétée du MMSE pour une évaluation du rapport bénéfice/risque. En cas de valeur inférieure à 10, les limitations exigent ainsi leur arrêt. En revanche, la ligne directrice S3 allemande et les données de l’ étude Domino-AD recommandent leur poursuite (51), mais celle-ci doit être justifiée (off-label). Au stade de limitations fonctionnelles importantes (p. ex. alitement et besoin de soins importants), le traitement devrait être arrêté.

Autres formes de démence
Le Donépézil ou la Rivastigmine devraient être proposés aux personnes atteintes d’ une démence légère à modérée liée à la maladie de Parkinson ou à une DCL. Dans cette indication, la Rivastigmine peut avoir un effet favorable sur les symptômes comportementaux (52). En Suisse, la Rivastigmine en capsules est autorisée pour la démence liée à la maladie de Parkinson ; dans les autres indications, il s’ agit d’ un traitement off-label.
Dans le cas d’ une démence purement vasculaire, la ligne directrice S3 recommande le Donepezil ou la Galantamine à haute dose, ainsi que la Mémantine pour le traitement de la cognition. Il convient également de prendre en compte que les démences chez les personnes très âgées sont majoritairement des formes mixtes. Les AChE-I ne sont pas indiqués en cas de démence due à une Dégénérescence lobaire fronto-temporale (DLFT).

Mémantine

Maladie d’ Alzheimer
La mémantine est autorisée pour la démence modérée à sévère due à la maladie d’ Alzheimer. En cas de démence modérée, il convient toutefois de donner la préférence aux AChE-I s’ils sont bien tolérés (NICE). Ici aussi, en cas de bonne tolérance, le traitement doit être administré avec une augmentation progressive jusqu’ à la dose maximale de 20 mg. Les limitations exigent en outre la réalisation répétée du MMSE et un score compris entre 3 et 19 points.

Autres formes de démence
Pour le traitement de la DCL, la mémantine est considérée comme un traitement de 2e choix après les AchE-I (voir ci-dessus). En cas de DLFT, il est recommandé de ne pas utiliser les deux groupes de substances. La mémantine a un effet sédatif plus marqué que les AchE-I.

Ginkgo biloba

Démence de type Alzheimer et démence vasculaire
La ligne directrice S3 allemande évalue positivement le ginkgo biloba à une dose de 240 mg par jour en ce qui concerne les «activités de la vie quotidienne» ainsi que les capacités cognitives. Son utilisation est recommandée en cas de maladie d’Alzheimer légère à modérée ou de démence vasculaire avec des symptômes comportementaux non psychotiques. Le degré de recommandation pour l’ amélioration de la cognition est toutefois inférieur à celui des inhibiteurs de l’ AChE. Plusieurs préparations sont disponibles, dont la composition chimique diffère légèrement. La plupart des études scientifiques ont été menées avec l’ extrait Egb 761. Dans l’ ensemble, le traitement peut être envisagé en cas de démence légère à modérée due à une maladie d’ Alzheimer, mais aussi à une démence vasculaire. Ceci est particulièrement vrai pour les personnes qui favorisent les phytothérapies ou pour lesquelles les autres AChE-I et la mémantine ne sont pas envisageables.

Trouble cognitif subjectif (SCD) et trouble cognitif léger (MCI)
En Suisse, l’ autorisation de ces substances est large («pertes de capacités mentales»). Ainsi, les préparations à base de ginkgo sont les seules substances qui peuvent également être utilisées au stade MCI. Toutefois, de grandes études randomisées n’ ont pas montré d’ effet significatif sur le développement d’ une démence (53, 54). En revanche, les données des registres de prescription montrent que les personnes sous ginkgo sont moins susceptibles de développer une démence (55). Cette divergence s’ explique probablement par des différences méthodologiques et la durée d’ observation. En résumé, un traitement au ginkgo peut être envisagé au stade SCD et MCI. Il devrait cependant toujours être accompagné de conseils détaillés sur les mesures de prévention de la démence (56).

Autres formes de démence
Il n’ existe aucune preuve d’ efficacité pour la démence parkinsonienne, la DCL et la DLFT.

Thérapies modifiant la maladie

Au moment de l’ élaboration des présentes recommandations thérapeutiques, des demandes d’ autorisation de mise sur le marché ont été déposées auprès de Swissmedic pour de nouveaux traitements modifiant la maladie, le Lecanemab et le Donanemab. Une décision à ce sujet est en attente. Ces médicaments ont montré dans de grandes études de phase III qu’ ils pouvaient réduire efficacement la charge amyloïde dans le cerveau des personnes aux stades cliniques précoces de la maladie d’ Alzheimer et qu’ ils avaient également des effets modérés sur la progression des symptômes cliniques.
Comme les présentes recommandations se limitent aux thérapies autorisées ou disponibles en Suisse, nous ne procédons pas (encore) à une évaluation plus approfondie de ces nouvelles thérapies. Nous vous renvoyons à des prises de position séparées qui seront publiées en temps voulu.

Révision critique d’autres thérapies ­médicamenteuses

Il est tout aussi important d’ utiliser des médicaments pour améliorer la cognition que d’ éviter ceux qui la détériorent. PRISCUS (57) et START-STOPP (58) sont des compilations de médicaments potentiellement inappropriés pour les personnes âgées (PIM).

Thérapies à base de substances / Compléments alimentaires
L’ utilisation de compléments alimentaires dans le cadre de la démence fait l’ objet de différentes approches thérapeutiques potentiellement efficaces, qui vont de l’ approvisionnement du cerveau en micronutriments neuroprotecteurs spécifiques, à l’ influence ciblée sur l’ inflammation cérébrale via la modification du microbiome (algues brunes), en passant par l’ amélioration énergétique au moyen d’ un régime cétogène. Compte tenu du caractère préliminaire des études scientifiques disponibles, aucune recommandation générale ne peut être formulée à l’ heure actuelle. Cela ne concerne pas le traitement de carences avérées ni les recommandations générales de la médecine gériatrique concernant la vitamine D.

Perspectives

Pénurie de personnel qualifié et couverture des coûts

Malgré les derniers développements de thérapies à base d’anticorps, la prise en charge et le traitement des pathologies démentielles resteront un défi sociétal. Ces défis s’ intensifient considérablement en raison du doublement attendu du nombre de cas d’ ici 2050 et de la pénurie de personnel spécialisé. Il ne semble actuellement pas réaliste d’ offrir aux personnes atteintes de démence un traitement optimal de manière uniforme. Bon nombre des recommandations formulées dans ce document doivent être adaptées en raison du manque d’ offres locales et de leur financement. Il est notamment nécessaire d’ engager une discussion sociétale sur le coût de la prise en charge de la démence et sur le niveau d’ intégration souhaité pour les PAD. La manière dont les nouvelles technologies telles que les robots sociaux ou les technologies cognitives informatisées peuvent être mises en œuvre au quotidien et utilisées à long terme (en particulier dans le contexte suisse) n’ a pas encore été suffisamment étudiée, ce qui explique le faible niveau de recommandation. Il est toutefois clair que les nouvelles technologies joueront un rôle plus important à l’ avenir.

Remerciements

Nous remercions senesuisse, association suisse d’établissements économiquement indépendante pour personnes âgées, et Soins de longue durée Suisse, association suisse des professionnels de l’ accueil et des soins de longue durée, pour leur participation à la procédure de consultation. Nous remercions Reto Kressig pour ses commentaires complémentaires. Nous remercions Nadège Barro-Belaygues pour ses commentaires sur la version française des recommandations. Nous remercions Sandra Habegger pour l’ édition du texte. Il s’ agit de la 1ère édition des recommandations thérapeutiques. Le secrétariat de SMC reçoit volontiers des suggestions pour une nouvelle édition.

Abkürzungen
ACP Advance Care Planning
DCL/MCL Démence/maladie à corps de Lewy,
Démence/maladie à corps de Lewy
DLFT Dégénérescence lobaire fronto-temporale
MCI Mild cognitive impairment
MT Musicotherapie
PAD Personnes atteintes de démence
PIM Potentially inappropriate medication
SCD Subjective cognitive impairment
SCPD Symptômes comportementaux et psychiques de la démence
SMC Swiss Memory Clinics

Histoire
Manuscrit soumis: 30.05.2024
Manuscrit accepté: 10.06.2024

Prof. Dr. med. Stefan Klöppel

Universitätsklinik für Alterspsychiatrie und Psychotherapie
Murtenstrasse 21
3008 Bern
Schweiz

Dr. med. Tatjana Meyer-Heim

Société Professionnelle Suisse de Gériatrie (SPSG)
Swiss Memory Clinics (SMC)

Dr. phil. Michael Ehrensperger

Association Suisse des Neuropsychologues (ASNP)
Swiss Memory Clinics (SMC)

RN, MScN Angelika Rüttimann 

Centre de compétence en soins et santé

Dr. phil. Isabelle Weibel 

Genossenschaft Alterszentrum Kreuzlingen
Leitung Pflegeentwicklung

Angela Schnelli 

Genossenschaft Alterszentrum Kreuzlingen
Leitung Pflegeentwicklung

Daniela Frehner

Physioswiss
GERONTOLOGIE CH Fachbereich Physiotherapie

Prof. HES-SOAnne-Gabrielle Mittaz Hager 

Physioswiss
GERONTOLOGIE CH Fachbereich Physiotherapie

MSc, MASFabienne Hasler

Ergotherapie-Verband Schweiz (EVS)

Ylena Fuchsberger

Ergotherapie-Verband Schweiz (EVS)

Fiona Haag

Konferenz der Schweizerischen Berufsverbände der Logopädinnen und Logopäden (K/SBL)

Rahel Roth-Sutter 

Zentrum für medizinische Bildung Bern (medi)

Manuela Röker 

Schweizerischer Verband der Aktivierungsfachpersonen (SVAT)

Franziska Wirz

Schweizerischer Verband der Aktivierungsfachpersonen (SVAT)
Zentrum für medizinische Bildung Bern (medi)

Prof. Dr. med. Julius Popp

Swiss Memory Clinics (SMC)
Schweizerische Gesellschaft für Alterspsychiatrie (SGAP)

Department of Adult Psychiatry and Psychotherapy
University of Zürich
Lenggstrasse 31
CH-8032 Zürich

Dr. med. Stefanie Becker

Alzheimer Schweiz

Dr. Elisa Choudery 

Konferenz der Schweizerischen Berufsverbände der Logopädinnen und Logopäden (K/SBL)
Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Logopädie

Dr. med. Ansgar Felbecker 

Swiss Memory Clinics (SMC)
Schweizerische Neurologische Gesellschaft (SNG)

Die Autorinnen und Autoren dieser Publikation haben alle relevanten Informationen über mögliche Interessenskonflikte offengelegt. Sollten Sie weitere Informationen zu diesem Thema wünschen, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle unter: info@swissmemoryclinics.ch.

Les auteurs de cette publication ont déclaré toutes les informations pertinentes concernant d‘éventuels conflits d‘intérêts. Si vous souhaitez obtenir de plus amples informations sur ce sujet, veuillez contacter le secrétariat à l‘adresse suivante: info@swissmemoryclinics.ch

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Gicht im klinischen Spektrum

Akuter Gichtanfall

Die häufigste klinische Manifestation der Gicht ist eine perakut auftretende und sehr schmerzhafte Monarthritis, bevorzugt an den unteren Extremitäten, klassisch und am häufigsten (in 50 %) am Grosszehengrundgelenk (Podagra) (Abb. 1), am zweithäufigsten ist das Kniegelenk befallen. Weitere typische Gelenke sind Sprunggelenk, Mittelfuss, die anderen Zehengrundgelenke sowie Hand- und Fingergelenke. Bei älteren Patienten und Frauen ist ein oligoartikulärer Befall der (degenerativ veränderten) Fingergelenke häufiger (aber auch hier natürlich in Form einer akuten Arthritis mit Rötung und Schwellung – bei von den Patienten oft rapportierten «Gichthänden der Grossmutter» handelt es sich meist um eine deformierende Fingerpolyarthrose). Andere Gelenke, wie z. B. Schulter, Hüftgelenk oder auch ISG oder Wirbelsäule, sind selten betroffen. Weitere typische Manifestationen sind akute Tenovaginitiden (vor allem der grossen Rückfusssehnen) oder Bursitiden (z. B. am Olecranon oder Kniegelenk).

Ein akuter Gichtanfall beginnt oft nachts bzw. in den frühen Morgenstunden, wenn sich sowohl die Körpertemperatur wie auch die endogene Cortisolproduktion auf dem zirkadianen Minimum befinden; auch Dehydratation und gesteigerter Purinmetabolismus bei Hypoxie (z. B. Schlafapnoesyndrom) werden verantwortlich gemacht. Anfall­auslösend oder -begünstigend sein können: Trauma, Ope­ration, Stress und Schwankung des Serumharnsäurespiegels sowohl nach oben (z. B. übermässiger Bierkonsum, purinreiche Mahlzeit wie Fleisch, Meeresfrüchte) wie auch nach unten (etwa Fasten oder auch bei Beginn einer harnsäuresenkenden Medikation) (Tab. 1).

Klinisch charakteristisch ist das perakute Auftreten der ausgeprägten Entzündung innert weniger Stunden mit begleitender, deutlicher Schwellung, Rötung und Überwärmung (oft über das betroffene Gelenk hinaus) und mit sehr starken Schmerzen, extremer Druckdolenz und Berührungsempfindlichkeit, was gelegentlich sogar von Fieber begleitet sein kann. Eisapplikation führt zur Schmerzlinderung. Unbehandelt dauert eine solche akute Arthritis mehrere Tage bis ein oder zwei Wochen und klingt dann meist wieder vollständig ab (Tab. 2).

Chronische Gichtarthropathie

Bei jahrelang bestehender oder ungenügend behandelter Hyperurikämie kann auch eine chronische (tophöse) Gichtarthropathie auftreten. Sie ist gekennzeichnet durch häufigere, auch oligoartikuläre, migratorische bis chronisch verlaufende Entzündungen. So können sich dann auch gichtspezifische erosive Gelenkveränderungen bilden (Abb. 2). Im Verlauf einer unbehandelten Hyperurikämie kommt es oft zu grösseren knotenförmigen Harnsäureablagerungen in Form von sogenannter Tophi, sei es in der Synovia oder auch extraartikulär, z. B. in Knochen, Sehnen, aber auch im Subkutangewebe (bevorzugt an den Ex­tremitäten streckseitig, z. B. Olecranon, oft auch an den Extremitäten akral) (Abb. 3), selten auch in inneren Organen. Unübliche Lokalisationen können auch die Herzklappen, der Carpaltunnel oder die Wirbelsäule (gemäss neueren Untersuchungen möglicherweise doch häufiger als bisher angenommen) sein. Tophi können reizlos und indolent bleiben, können sich aber auch entzünden oder exulzerieren (sodass sich dann weissliche, kreidige Harnsäuremassen entleeren) oder selten superinfizieren.

Nierenbefall bei chronischer ­Hyperurikämie

Nephrolithiasis: Bei Patienten mit Gicht bzw. einer Hyperurikämie besteht ein erhöhtes Risiko für Harnsäure-Nierensteine (reine Uratsteine machen 5–10 % aller Nierensteine aus). Die wichtigsten Risikofaktoren für die Bildung von Uratsteinen sind eine erhöhte Harnsäure-Ausscheidung, ein vermindertes Urinvolumen und ein tiefer Urin-pH.

Chronische Uratnephropathie: Niereninsuffizienz und Hyperurikämie sind sehr häufig miteinander vergesellschaftet – meistens wegen Erkrankungen, die beides begünstigen (arterielle Hypertonie, metabolisches Syndrom etc.). Zusätzlich kann es aber durch eine chronische Hyperurikämie und die konsekutive Ablagerung von Harnsäure im Interstitium auch zu einer interstitiellen Nephropathie (Uratnephropathie) kommen. Diese ist durch eine Niereninsuffizienz bei unauffälligem Urinsediment und eine Hyperurikämie, deren Ausmass durch die Niereninsuffizienz allein nicht erklärt werden kann, definiert.

Diagnose

Eine typische Anamnese und ein klassischer klinischer Befund machen die Diagnose zwar wahrscheinlich, die zweifelsfreie Diagnose erfordert aber den Nachweis von Uratkristallen – klassischerweise im Gelenkpunktat (Abb. 4). Gelegentlich kann dies an Punktionsschwierigkeiten oder der manchmal ungenügenden Sensitivität der kommerziellen Labors scheitern. Ebenso hilfreich, weil sehr spezifisch, ist heutzutage der eindeutige sonographische Nachweis von Harnsäureablagerungen auf dem hyalinen Knorpel (sogenanntes Doppelkonturzeichen – erfordert aber die entsprechende Erfahrung und eine hochauflösende Ul­traschallsonde!) (Abb. 5). In diagnostisch unklaren Situationen kann auch das Dual-Energy-CT (DECT) Klärung bringen, welches eine hohe Spezifität für den Nachweis von Harnsäuredepots hat (ein negatives DECT schliesst aber eine akute Gicht nicht aus, gerade im frühen Stadium einer Gicht, da kleine Harnsäuredepots dem Nachweis entgehen können). Konventionelle Röntgenbilder zeigen dagegen erst bei lang dauernder Erkrankung typische Veränderungen. Die Bestimmung der Serumharnsäure ist im akuten Anfall oft wenig nützlich, da sie dann sogar tief bis vielleicht normal sein kann! Allerdings ist bei anhaltend deutlich erhöhter Harnsäure die Wahrscheinlichkeit gross, dass es früher oder später zu Gichtanfällen kommt.

Differenzialdiagnose

Die wichtigste (und gefürchtetste) akute Entzündung, die von der akuten Gicht abgegrenzt werden muss, ist der Infekt. Eine Gelenk- oder Bursapunktion sollte deshalb nach Möglichkeit nicht nur zur Bestätigung der Verdachtsdia­gnose Gicht, sondern auch zum Ausschluss einer bakteriellen Infektion angestrebt werden. Eine septische Arthritis kann sich auch relativ rasch entwickeln (allerdings üblicherweise nicht derart akut wie eine Gichtarthritis) und sich ebenfalls mit starker, über das Gelenk hinausreichender Schwellung, Überwärmung und Schmerzen äussern.

Ein ähnliches Bild zeigen andere Kristallerkrankungen, insbesondere die akute Calciumpyrophosphat-Arthritis (CPPD), für die deshalb auch die Bezeichnung «Pseudogicht» verwendet wird. Klinisch kann eine akute CPPD-Arthritis kaum von einer Gichtarthritis unterschieden werden, sie hat allerdings ein etwas anderes Gelenkbefallsmuster. So sind bei der CPPD am häufigsten das Kniegelenk, die Handgelenke und die MCP-Gelenke II und III betroffen. Die Differenzierung erfolgt auch hier mit der Synovia-Analyse, in welcher die positiv doppelbrechenden, rhombenförmigen CPPD-Kristalle nachgewiesen werden können, oder mit dem Nachweis von typischen Verkalkungen im hyalinen oder faserigen Knorpel im hochauflösenden Ultraschall. Röntgenuntersuchungen mit Nachweis von typischen Knorpelverkalkungen können ebenfalls wegweisend für eine CPPD sein (schliessen aber eine gleichzeitig bestehende Gicht nicht aus).

Insbesondere bei einer Oligoarthritis an den unteren Extremitäten (speziell an den Zehengrundgelenken), kommen differenzialdiagnostisch auch akute Arthritiden aus dem Formenkreis der Spondyloarthritiden in Betracht, namentlich die Psoriasisarthritis oder allenfalls eine reaktive (Oligo-)Arthritis. Diese Arthritiden entwickeln sich aber meist langsamer, in der Regel über 2–3 Tage, und nicht innert 24 Stunden wie bei einem Gichtanfall.

Dr. med. Andreas Krebs

Rheuma- und Osteoporose-Zentrum Kloten
Kalchengasse 7
8302 Kloten

andreaskrebs@hin.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

Auf Anfrage beim Verfasser.

Calcium Pyrophosphate Deposition (CPPD) Disease – mehr als nur «Pseudogicht»

Einleitung

Die Ablagerung von Calciumpyrophosphatkristallen in hyalinen oder Faserknorpel wird als Chondrocalcinose bezeichnet. Es ist weitgehender Konsens, dass eine Chondrocalcinose asymptomatisch ist und keinen Krankheitswert aufweist. Sie bildet aber die Vorstufe zur sogenannten Calcium Pyrophosphate Deposition (CPPD) Disease. Diese umfasst im Wesentlichen drei Entitäten: erstens die akute Calciumpyrophosphat (CPP)-Arthritis («Pseudogicht»), zweitens die chronische CPP-Arthritis («Pseudo-RA») und drittens die Arthrose mit Calciumpyrophosphatablagerungen (1).

Die Prävalenz der Chondrocalcinose wird bis auf 7 % geschätzt (2) und steigt im Alter über 60 Jahre mit jeder Dekade an. In einer Studie unter 191 CPPD-Patientinnen und -Patienten zeigten 59.5 % Zeichen eines Crowned-Dens- Syndroms, wobei das mediane Alter bei 78.5 Jahren lag (3). Es zeigte sich auch, dass die Mehrzahl vor Durchführung der Studie nicht bekannt war, was vermuten lässt, dass das Ausmass des spinalen CPPD-Befalls eher unterschätzt wird. Die Chondrocalcinose kann mit bildgebenden Verfahren wie Röntgen (bis 60 %), Ultraschall (bis 88 %) und CT bzw. Dual-Energy-CT (DECT, bis 100 %) mit zunehmend hoher Sensitivität nachgewiesen werden; die Spezifizität war in diesen Studien meist über 90 % (1). Trotzdem können mit den bildgebenden Verfahren weiterhin Calciumpyrophosphatkristalle nicht definitiv von Hydroxy­lapatitkristallen oder anderen calciumhaltigen Kristallen unterschieden werden; es gibt Hinweise, dass dies mittels DECT oder Multi-engergy spectral photon-counting-CT möglich sein könnte (4).

Pathophysiologie

Im Gegensatz zur Chondrocalcinose hat die CPP-Arthritis (akut oder chronisch) einen sehr hohen Krankheitswert. Die absolute Prävalenz der CPP-Arthritis ist aktuell unklar, im rheumatologischen Alltag stellt sie jedoch ein häufiges Problem dar.

Es bleibt unklar, welche Mechanismen letztlich dazu führen, dass intracartilaginäre CPP-Kristalle in den Gelenkraum gelangen und dort dann zur Entzündung führen. Infrage kommen neben funktionell wirksamer Mutationen des ANKH- und ENPP1-Gens (involviert im cartilaginären Phosphatmetabolismus) auch genetische (Hypophospha­tasie) oder metabolische (Hypomagnesiämie, Hyperferritinämie) Gründe einer Aktivitätsminderung der alkalischen Phosphatase (5). Ein Hyperparathyreodismus stellt ebenfalls einen Risikofaktor dar. Letztlich kommt es zu einem verminderten Abbau von Calciumpyrophosphat zu Phosphat, gefolgt von einer Kristallisation von CPP-Kristallen im Gelenk. Der frustrane Versuch von Neutrophilen und Makrophagen, diese Kristalle zu phagozytieren und zu lysieren, führt zu einer Aktivierung des NLRP3-Inflammasoms (5).

In der Akutphase führt dies zur Ausschüttung proinflammatorischer Zytokine wie IL-1-Beta und IL-18 sowie in der Folge zur IL-6-Stimulation und bisweilen stark erhöhten CRP-Werten. Lange wurden für die Diagnose einer CPPD die McCarty-Kriterien aus den 60er-Jahren verwendet, welche jedoch nie klinisch validiert wurden. Sie bestehen aus einer Trias aus Chondrocalcinose (z. B. Menisci des Kniegelenks), klinische Synovitis und Nachweis von positiv doppelbrechenden CPP-Kristallen. Da sich häufig keine Punktion des betroffenen Gelenks durchführen lässt (z. B. beim Crowned-Dens-Syndrom), sind diese Diagnosekriterien jedoch wenig praktikabel. Insbesondere eignen sie sich nicht als Klassifikationskriterien zur Durchführung von klinischen Studien. Vor diesem Hintergrund wurden im 2023 die ACR/EULAR-Klassifikationskriterien etabliert (6), welche sich aus vier klinischen, einem laborchemischen sowie drei radiologischen Domänen zusammensetzen. Hiermit kann, mittels Erreichen eines Punktescores, eine Erkrankung mit hinreichender Sicherheit als CPPD klassifiziert werden. Obwohl sich die Klassifikation als CPPD hiermit grösstenteils auf radiologische Kriterien stützen lässt, ist es wichtig, das Eintrittskriterium eines schmerzhaften bzw. geschwollenen Gelenks zu beachten (Abb. 1).

Klinische Bedeutung der CPP-Arthritis

Ähnlich wie bei der Gichtarthritis ist auch die CPP-Arthritis durch plötzliches Auftreten («wie angeworfen») im betroffenen Gelenk gekennzeichnet. Die Präsentation reicht von einer Monarthritis (Knie > Handgelenk) über polymyalgiforme Symptome bis zu einem Crowned-Dens- Syndrom. Der axiale Befall wird einigen Studien zufolge bis auf 24.3 % geschätzt (7) und sollte bei älteren Patienten als Differenzialdiagnose einer axialen Spondylarthritis gesehen werden. Gerade in hohem Alter finden sich im Akutstadium bisweilen CRP-Werte um 300 mg/l in Assoziation mit einer Minderung des Allgemeinzustands, Fieber und Delirium. Aufgrund dieser breiten und bisweilen dramatischen klinischen Präsentation sind die primären Differenzialdiagnosen beträchtlich (z. B. septische Arthritis, Riesenzellarteriitis, Meningitis).

Ein weiterer interessanter Aspekt ist die chronische CPP-Arthritis als «confounding factor» einer Rheumatoiden Arthritis (RA), da sowohl die radiocarpalen Gelenke, MCP-Gelenke, aber auch Flexoren- und Strecksehnen betroffen sein können. Anders als bei der RA findet sich jedoch meist kein schubförmiger, sondern eher ein chronischer Verlauf. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass in einer neueren Studie bei 32.3 % der als seronegative RA-klassifizierten Patienten eine Chondrocalcinose bestand, während dies nur bei rund der Hälfte der seropositiven RA-Patienten der Fall war (8). Auch in der Studie von Codes-Mendez et al. erfüllten 18.9 % aller seronegativen RA-Patientinnen und -Patienten die 2023 ACR/EULAR-Kriterien für eine CPPD (9). Diese waren bei Symptombeginn mit 69.5 Jahren signifikant älter als die Vergleichsgruppe.

Dieser Aspekt scheint also sowohl numerisch als auch klinisch hoch relevant. Eine chronische CPP-Arthritis bzw. ein overlap zwichen RA und CPPD mit selbiger vermag das fehlende Ansprechen auf DMARD-Therapien und entsprechend häufige Therapiewechsel erklären. Bei RA-Patientinnen und -Patienten im höheren Alter und primärem Nichtansprechen auf DMARD mit verschiedenen «mode of action» sollte eine CPP-Arthritis also stets eine differenzialdiagnostische Überlegung sein und eine Punktion (zum Nachweis oder Ausschluss von CPP-Kristallen) angestrebt werden. Weitere und grössere Studien sind nötig, um das Ausmass und die Differenzierungsfaktoren dieses Problems bei Patientinnen und Patienten mit seronegativer RA noch besser zu erfassen.

Bedeutung jenseits der Arthritis

Darüber hinaus gab es in den letzten Jahren zahlreiche Veröffentlichungen, die auf eine erhöhte, nicht fatale kardiovaskuläre Morbidität bei einer durchgemachten CPP-Arthritis hinweisen (10, 11). Konkret wiesen Patientinnen und Patienten mit mindestens einer CPP-Arthritis-Attacke in einer Follow-up-Untersuchung über 10 Jahre ein deutlich erhöhtes kardiovaskuläres Risiko auf (11). Die Kon­trollgruppe (3810 Patienten) zeigte zwar teilweise Hinweise für eine Chondrocalcinose, hatte aber keine dokumentierte CPP-Arthritis. Auch nach Adjustierung für klassische kardiovaskuläre Risikofaktoren war das Risiko in der CPP-Arthritis-Gruppe für MACE (major adverse cardiovascular events) innerhalb der ersten zwei Jahre nach einer CPP-Arthritis um 32 % erhöht. Nicht fatale kardiovaskuläre Ereignisse traten sogar bis zu 10 Jahren nach einer CPP-Arthritis mehr als doppelt so häufig auf.

Eine weitere Studie konnte zeigen, dass Patienten mit einer CPP-Arthritis ein deutlich erhöhtes Risiko für eine progrediente Arthrose und Totalendoprothesen in Knie und Hüftgelenk haben (12). Die reine Präsenz einer Chondrocalcinose hatte hingegen keinen signifikanten Einfluss auf die Progression einer Knie- oder Hüftarthrose (13) oder der Dauerhaftigkeit von Kniegelenkprothesen (14). Interessanterweise hatten dokumentierte CPP-Arthritis-Attacken langfristig auch anderweitige Auswirkungen auf die Knochengesundheit. Tedeschi et al. zeigte vor Kurzem, dass Patientinnen und Patienten mit mindestens einer Episode einer CPP-Arthritis auch über 15 Jahre ein deutlich gesteigertes Osteoporoserisiko haben verglichen mit Patientinnen und Patienten ohne CPP-Arthritis (15).

Therapie

Aus den oben genannten Beobachtungen lässt sich ableiten, dass die CPP-Arthritis nicht nur eine immobilisierende und mit hohem Leidensdruck verbundene Arthritis form darstellt, sondern – ähnlich wie die Gicht und andere rheumatologisch-entzündliche Erkrankungen – zunehmend als Systemerkrankung mit weitreichenden Folgen für das kardiovaskuläre Risiko und den Knochenmetabolismus gesehen werden muss. Konsequenterweise sollte sich eine Therapie entsprechend nicht nur auf die Behandlung der CPP-Arthritis beschränken, sondern auch die optimale Einstellung kardiovaskulärer Risikofaktoren sowie einer allfällig gesteigerten Knochenresorption beinhalten. Im Gegensatz zur klassischen Gicht existiert für die CPP-Arthritis/Pseudogicht jedoch keine ursächliche oder gar kurative Therapie, weswegen im Folgenden nur auf symptomatische Therapieansätze eingegangen werden kann.

Therapie der akuten CPP-Arthritis

Die Therapie einer akuten CPP-Arthritis unterscheidet sich nicht von der einer akuten Gichtarthritis. Infrage kommen in erster Linie eine intraartikuläre Glukokortikoidinfil­tration (mit gleichzeitiger Möglichkeit einer ausgeweiteten Diagnostik sowie Entlastung des betroffenen Gelenks), systemische Glukokortikoide, NSAR, Colchicin sowie andere IL-1-Beta-antagonisierende Therapien (16).
Colchicin stellt einen starken Entzündungshemmer dar, der auch eine regulierende Funktion auf das NLPR-3-Inflammasom und die Ausschüttung von IL-1-Beta und IL-18 hat. Ausserdem werden durch Hemmung der Mitose die Teilungsraten infiltrierender Neutrophiler stark reduziert. Colchicin kann, wie bei der akuten Gichtattacke, zunächst in der Dosis von 1 mg, gefolgt von 0.5 mg 1 Stunde später sowie im Anschluss 0.5 mg 2 x täglich bis zur Regredienz der Symptomatik gegeben werden. In einer neuen Studie konnte gezeigt werden, dass Colchicin in der Akutbehandlung vergleichbar effektiv zu Prednison ist (17).

Es ist angeraten, vor der Verschreibung einen Interaktionscheck mit anderen Medikamenten durchzuführen, da es insbesondere bei Medikamenten, welche durch Cytochrom P3A4 (z. B. Clarithromycin, Ketoconazol, Ritonavir) oder P-Glycoprotein (z. B. Ciclosporin) metabolisiert werden, zu schwerwiegenden Nebenwirkungen kommen kann. Mögliche Interaktionen sind in Tab. 1 aufgeführt.

Bei Unverträglichkeiten (in der Regel Nausea oder Diarrhö), welche insbesondere bei Niereninsuffizienz vorkommen, sollte auf 0.5 mg täglich oder 2-täglich gewechselt werden. Im Verlauf sind Nebenwirkungen wie Rhabdomyolyse, Neurotoxizität und Myelotoxizität zu beachten. Hervorzuheben ist, dass für Colchicin, unabhängig von Kristallarthropathien, zahlreiche kardiovaskulär protektive Effekte beschrieben sind (siehe COLCOT-Studien) (18, 19). Aber auch bei Gicht gibt es mehrere Studien (20, 21), die in die gleiche Richtung deuten, weswegen im Analogieschluss ein kardioprotektiver Effekt bei Colchicin bei der Behandlung der CPP-Arthritis angenommen werden kann.

NSAR können bei fehlender Kontraindikation (z. B. Niereninsuffizienz, kardiovaskuläre Erkrankungen) ausdosiert ebenfalls zur Symptomminderung beitragen. Infrage kommt z. B. Naproxen 500 mg 12-stündlich oder in der Kombination mit Esomeprazol 500/20 mg 12-stündlich.
Systemische Glukokortikoide sollten jeweils im Kontext mit Komorbiditäten (z. B. Osteoporose, Glaukom, psychotische Erkrankungen, Diabetes mellitus etc.) evaluiert werden. Eine Dosierung von 0.5 mg/kg in der Akutphase mit schnellem Ausschleichen scheint hier vertretbar. Bei einer Monarthritis ist die intraartikuläre Glukokortikoidinfil­tration häufig vorzuziehen.

Der IL-1-Antagonist Anakinra hat in der Praxis häufig einen schnellen Effekt und nur wenig Nebenwirkungen. In einer Schweizer Studie war der Effekt von Anakinra während einer akuten CPP-Arthritis dem von systemischen Glukokortikoiden nicht unterlegen (16). Allerdings ist das Medikament in dieser Indikation in der Schweiz nicht zugelassen und daher meist nur im stationären Setting oder nach vorhergehender Kostengutsprache zu verordnen.

Therapie der chronischen CPP-Arthritis

Die Therapie der chronischen CPP-Arthritis gestaltet sich häufig schwierig, insbesondere wenn sie sich phänotypisch wie eine Rheumatoide Arthritis (RA) darstellt und von einer seronegativen LORA (Late Onset RA) nicht zuverlässig unterschieden werden kann bzw. in Kombination mit einer RA vorkommt.

Colchicin wird weithin als Therapie der ersten Wahl verwendet und ist hinsichtlich der wahrscheinlichen kardioprotektiven Effekte und der niedrigen Kosten auch über den rein antiinflammatorischen Effekt hinaus empfehlenswert. Bisweilen ist auch eine Kombination mit niedrig dosiertem Prednison effektiv und mit weniger Nebenwirkungen vergesellschaftet, wenn auch hinsichtlich Osteoporose etc. nicht wünschenswert. Weitere Therapiekonzepte zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass ihre Wirksamkeit nur in sehr kleinen und meist alten (1981–2002) Fallserien mit < 40 Teilnehmern untersucht wurden und daher nur fraglich als valid angesehen werden kann. Hierzu gehören Magnesiumsubstitution (auch bei normomagnesiämen Patienten) (24), Plaquenil (25) und Radiosynoviorthese (26). Methotrexat wird anekdotisch häufig als wirksam erachtet, eine kleine kontrollierte Studie von Finckh et al. von 2014 zeigte jedoch keinen Effekt in einem Crossover Setting (27).

In refraktären Fällen bzw. bei Kontraindikationen für die o. g. Therapien kommt auch eine dauerhafte oder bedarfsweise Gabe mit Anakinra infrage (23). Da die tägliche Gabe häufig mühsam und mit Lokalreaktionen und Immunogenizität vergesellschaftet ist, kann eine IL-1-Beta-Antagonisierung (nach vorgängiger Kostengutsprache) mit Canakinumab erwogen werden.

Ausblick

Die neuen ACR/EULAR-Kriterien für eine CPPD werden sicherlich die Anzahl klinischer Studien und damit die Hoffnung auf neue wirksame Therapien erhöhen. Es gibt bereits erste Ansätze neuartiger «targeted therapies». In einer Fallserie von 11 Patienten mit therapierefraktärer CPP-Arthritis konnte gezeigt werden, dass Tocilizumab 4 mg/kg – 8 mg/kg alle 4 Wochen (22) zu einer deutlichen Reduktion oder dem kompletten Ausschleichen einer dauerhaften Prednisontherapie geführt hat (28). Eine Erweiterung dieser Studie bei insgesamt 31 Patientinnen und Patienten zeigte ein gutes Ansprechen bei 23, wohingegen nur 2 nicht ansprachen (unpublizierte Daten). Aktuell ist eine randomisierte klinische Studie mit Tocilizumab gegen Placebo geplant.

Eine aktuelle Studie beschreibt das aktuelle Verschreibungsverhalten, die Sicherheit und die Therapietreue bei chronischer CPP-Arthritis in Europa. Überraschenderweise zeigen sich hierbei die Retentionsraten für Methotrexat und Tocilizumab höher als jene für Anakinra (29). Es bleibt hierbei anzumerken, dass häufig Kombinationstherapien eingesetzt wurden und nicht explizit beschrieben ist, wie viele Patienten auch für eine (überlappende) seronegative RA klassifizieren würden.

Ein weiterer neuartiger Ansatz könnten spezifische NLRP3-Inhibitoren wie Dapansutril sein, welche sich aktuell bereits in klinischen Studien zur Behandlung von Gichtarthritiden befinden (30). Da auch bei der CPP-Arthritis eine starke Induktion des NLRP3-Inflammasoms stattfindet, wäre diese Therapie im Analogieschluss zu Gicht zumindest wert, weiter evaluiert zu werden.

PD Dr. med. Tobias Manigold

Universitätsklinik für Rheumatologie und Immunologie
Freiburgstrasse, Anna-Seiler Haus, Stock J
3010 Bern

tobias.manigold@insel.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Therapie der Gicht 2024

Antientzündliche Therapie und Prophylaxe

Antientzündliche Therapie des Gichtanfalls

Je rascher – idealerweise innerhalb Stunden – die Behandlung erfolgt, desto wirksamer ist sie. Intraartikulär injizierte Glukokortikoide bringen die schnellste und stärkste Linderung; bei einer Monarthritis sind sie die erste Wahl. Alternativ können kurzzeitig systemische Glukokortikoide (z. B. Prednison 20–50 mg/d) oder nichtsteroidale Antirheumatika (cave Niereninsuffizienz) gegeben werden (1–5), insbesondere bei einer Polysynovitis. Colchicin eignet sich wegen seines langsameren Wirkungseintritts und seiner hohen Toxizität nur bedingt. Es wird heute nur noch tief dosiert eingesetzt, da seine Wirkung nicht mit der Kumulationsdosis korreliert, sondern mit dem Maximum des erzielten Serumspiegels (6–7). Bei normaler Nierenfunktion empfiehlt sich, mit 1 mg gefolgt von 0.5 mg nach 1 h zu beginnen; nach frühestens 12 h kann die Behandlung mit 2 x 0.5 mg/d fortgesetzt werden. Colchicin ist kontraindiziert bei schwerer Niereninsuffizienz und unter starken CYP3A4- und P-Glykoprotein-Inhibitoren wie Ciclosporin, Clarithromycin, Verapamil und Ketoconazol (2, 8). Für Colchicin ist eine gute Compliance Voraussetzung, da es schon bei einer geringen Überdosis hoch toxisch ist; die Einnahme einer einzigen Originalpackung ist letal (cave Suizidalität).
Begleitend kann topisch Kälte (Eis) angewandt werden. Eine bereits etablierte harnsäuresenkende Therapie soll während einer Gichtattacke nicht unterbrochen werden, weil dies zu einer Schwankung des Harnsäurespiegels führt, die weitere Attacken provozieren kann (5) (Tab. 1).

Antientzündliche Prophylaxe weiterer Gichtanfälle

Zu Beginn einer harnsäuresenkenden Therapie kommt es nicht selten zu einer Häufung der Gichtschübe. Im Behandlungsverlauf werden die Schübe dann seltener und bleiben spätestens nach etwa einem Jahr aus. Solchen Schüben kann mit Colchicin, nichtsteroidalen Antirheumatika und/oder niedrig dosierten Glukokortikoiden entgegengewirkt werden (Tab. 2).

Colchicin (Colctab®) wird dafür typischerweise mit 2 x 0.5 mg dosiert. Besonders bei älteren Patienten kann es darunter zu einer Erhöhung der Stuhlfrequenz kommen. Die Dosierung soll dann auf 1 x 0.5 mg oder gar 0.5 mg jeden zweiten Tag reduziert werden. Bei einer Niereninsuffizienz im Stadium 3 (Kreatinin-Clearance von 30–60 ml/min) wird Colchicin mit 1 x 0.5 mg und im Stadium 4 (Kreatinin-Clearance von 15–30 ml/min) mit 0.5 mg alle 2–3 Tage dosiert. Bei der gleichzeitigen Anwendung von Colchicin und einem Statin ist Vorsicht geboten, weil beide Substanzen Substrate und Inhibitoren von Cytochrom P450 (CYP3A4) und P-Glykoprotein sind. Diese Interaktion erhöht das Risiko für eine Toxizität, insbesondere eine Myopathie und sogar eine schwere Rhabdomyolyse (2, 9).

Voraussetzung für eine Prophylaxe mit nichtsteroidalen Antirheumatika ist eine ausreichende Nierenfunktion. Erfahrungsgemäss kann die Hälfte der empfohlenen maximalen Tagesdosis des NSAR für die Prophylaxe noch wirksam sein. Zur Vorbeugung von Gichtschüben kommen auch niedrig dosierte Glukokortikoide infrage, z. B. Prednison 5 bis 7.5 mg/d.

Die antientzündliche Prophylaxe kann nach einer schubfreien Periode von 3–6 Monaten wieder aufgehört werden (2) (Tab. 2). Bei ungenügender Wirkung und Unverträglichkeit herkömmlicher Entzündungshemmer können Interleukin-1-Hemmer wie Anakinra (Kineret®, in der Schweiz in dieser Indikation nicht zugelassen) und Canakinumab (Ilaris®) als Off-Label-Use eingesetzt werden, wenn kein Infektionsverdacht besteht. Routinemässig lässt sich Canakinumab aufgrund der prolongierten Immunsuppression und hohen Kosten aber nicht empfehlen (2, 3).

Massnahmen zur Harnsäuresenkung

Diät

Die früher gängige purinarme Diät wird heute nicht mehr empfohlen. Sie kann die Serumharnsäure höchstens um etwa 60 µmol/l reduzieren und wird von den meisten Patienten nur schlecht akzeptiert (10).
Bei Adipositas ist eine langsame Gewichtsreduktion anzustreben nicht nur durch Diät, sondern auch durch vermehrte körperliche Aktivität (2). Fastenkuren sind ungeeignet, weil sie durch die Ketoazidose Anfälle provozieren.

Generell sind Zurückhaltung mit tierischen Eiweissen und vermehrter Konsum von Milchprodukten zu empfehlen. Fleisch und Innereien, aber auch Fisch und Meeresfrüchte enthalten viele Purine und sollten daher mit Zurückhaltung gegessen werden. Vermehrter Konsum von Milchprodukten senkt hingegen die Gichtinzidenz. Milchproteine (Casein, Lactalbumin) begünstigen die Ausscheidung der Harnsäure (11).
Die Trinkmenge sollte mindestens zwei Liter pro Tag betragen, um die Ausscheidung der Harnsäure zu unterstützen. Geeignet sind zuckerlose, nicht alkoholische Getränke (10).

Von den alkoholischen Getränken ist in erster Linie Bier zu meiden. In zweiter Linie sollte der Konsum von Spirituosen eingeschränkt werden. Alkohol erhöht die Harnsäureproduktion und hemmt vor allem die Harnsäureausscheidung; Bier (auch alkoholfreies) enthält zudem viele Purine. Moderater Weinkonsum hingegen erhöht die Gichtinzidenz nicht signifikant (12).

Den Harnsäurespiegel erhöhen alle Getränke, die Fruktose enthalten; dies betrifft sowohl Fruchtsäfte (z. B. Orangensaft, Süssmost, Multivitaminsäfte) als auch sämtliche Limonaden, die freie Fruktose bzw. Saccharose als Süssstoff enthalten (13).

Regelmässiger Kaffeekonsum (mehr als vier Tassen pro Tag) vermindert die Gichtinzidenz. Dies gilt in geringerem Ausmass auch für koffeinfreien Kaffee, nicht hingegen für Tee. Postuliert wird eine Hemmung der Xanthinoxidase durch Inhaltsstoffe des Kaffees (14).

Anpassung der Hypertonietherapie

Die essenzielle arterielle Hypertonie per se und die Anwendung von Diuretika sind assoziiert mit Hyperurikämie und Gicht. Die Serumharnsäure steigt unter tief dosierten Thiaziden aber nur relativ gering. Der Angiotensin-1-Antagonist Losartan (Cosaar®) hingegen vermag die Serumharnsäure durch einen urikosurischen Effekt zu senken; Voraussetzung ist natürlich eine ausreichende Nierenfunktion (15, 16). Generell ist zu empfehlen, in der Hypertonietherapie falls möglich auf Diuretika zu verzichten und bevorzugt Losartan einzusetzen (2).

Pharmakologische Harnsäuresenkung

Behandlungsindikationen sind mindestens zwei Anfälle pro Jahr, Tophi, konventionell radiologische Gelenkveränderungen, eine chronische artikuläre Entzündungsaktivität und eine assoziierte Niereninsuffizienz oder Nephrolithiasis (Tab. 3). Das Therapieziel ist eine Serumharnsäure unter 360 µmol/l. Ausnahme sind Patienten mit schwerer Gicht und insbesondere mit Tophi; bei diesen wird eine Harnsäure unter 300 µmol/l angezielt (2, 3).

Eine Hyperurikämie ohne sichere klinische Gichtmanifestationen ist generell keine Indikation für eine harnsäuresenkende Therapie (Tab. 3).

Urikostatika

Zur Harnsäuresenkung stehen die beiden Xanthinoxidasehemmer Allopurinol (Zyloric®) und Febuxostat (Adenuric®) zur Verfügung. Bei letzterem ist in der Schweiz die Limitatio (Spezialitätenliste) zu berücksichtigen, nämlich eine ungenügende Wirkung oder Unverträglichkeit von Allopurinol.

Allopurinol

Allopurinol hemmt die Xanthinoxidase, wodurch die Oxidation von Hypoxanthin in Xanthin und von Xanthin in Harnsäure vermindert wird. Dadurch stehen mehr Hypoxanthin und Xanthin zur Wiederverwertung im Purin-metabolismus zur Verfügung, was durch einen Feedback-Mechanismus die De-novo-Synthese von Purin herabsetzt. Nach Beginn mit Allopurinol sinkt die Serumharnsäure innerhalb von zwei Tagen und erreicht stabile Werte nach etwa zwei Wochen. Für den Erfolg einer Therapie mit Allopurinol sind ein langsames Einschleichen, eine Dosisanpassung an die Nierenfunktion und ein gezieltes Auftitrieren für eine optimale Harnsäuresenkung entscheidend. Früher wurde für Allopurinol eine Dosis von 300 mg/d empfohlen, und bei Niereninsuffizienz wurde die Dosierung nach Massgabe der geschätzten GFR angepasst (17). Der Serumharnsäure-Zielwert liess sich damit aber bei weniger als einem Drittel der Patienten erreichen (18). Heute werden niedrigere Anfangsdosierungen (Tab. 4) empfohlen (19), gefolgt von einem langsamen Auftitrieren in kleinen Schritten (max. 100 mg/d) von 3–4 Wochen bis etwa 800 mg/d. Auch bei Niereninsuffizienz dürfen so 300 mg/d überschritten werden. Es ist gut belegt, dass mit dieser Strategie mit «start low, go slow» das Risiko für ein Allopurinol-Hypersensitivitätssyndrom minimiert werden kann, auch wenn die Erhaltungsdosis höher als früher empfohlen ist (19, 20). Zudem kann mit «start low, go slow» auch die Häufigkeit von Schubrezidiven vermindert werden (Tab. 4).


Obwohl sich Allopurinol als stark toxisch erweisen kann, treten Nebenwirkungen generell selten auf. Wie unter allen harnsäuresenkenden Behandlungen kann es zu Beginn zu einer Häufung von Gichtschüben kommen, wenn keine antiinflammatorische Prophylaxe etabliert wird. Zu den milden, mit einer Häufigkeit von etwa 3–5 % bezifferten Nebenwirkungen gehören ein Exanthem, eine Leukopenie, eine Thrombopenie und eine Diarrhö. Schwere Reaktionen wie ein DRESS-Syndrom oder schwere Hautreaktionen sind sehr selten. Sie treten gehäuft auf bei Personen mit dem HLA-B*5801-Allel, chronischer Niereninsuffizienz und unter Thiazid- und Schleifendiuretika. Weitere schwere Nebenwirkungen umfassen eine Vaskulitis, ein Drug fever und eine interstitielle Nephritis (2, 3).

Schwere kutane Arzneimittelreaktionen (zum Beispiel toxische epidermale Nekrolyse, Stevens-Johnson-Syndrom und Epidermolyse) haben häufig Allopurinol als Ursache. Auch ein nur mildes Exanthem kann Vorbote einer Hypersensitivitätsreaktion auf Allopurinol sein. Zu Beginn einer Therapie sind die Patienten deswegen zu instruieren, sich beim Auftreten eines Hautausschlags rasch vorzustellen. Treten kurz nach Beginn einer Therapie mit Allopurinol ein Exanthem, eine Blasenbildung, Fieber, grippeartige Symptome (Myalgien, Arthralgien, Inappetenz, Fatigue), ein Angioödem, Photophobie, Mukositis oder eine periphere Eosinophilie auf, soll Allopurinol umgehend gestoppt werden. Die meisten Exantheme sind allerdings nur mild und klingen nach Dosisreduktion oder nach Aufhören von Allopurinol wieder ab. Die meisten mit Allopurinol assoziierten, schweren Hautreaktionen manifestieren sich innerhalb der ersten drei Monate; danach wird Allopurinol als Ursache unwahrscheinlich.

Allopurinol soll bei HLA-B*5801-positiven Patienten südostasiatischer (China, Thailand und Korea) und afrikanischer Herkunft vermieden werden, weswegen bei diesen Populationen eine genetische Testung vor Behandlungsbeginn empfohlen wird (2). Das DRESS-Syndrom ist eine Arzneimittelreaktion mit Eosinophilie und systemischen Symptomen, die ein erythematöses Exanthem, Fieber, Hepatitis, Eosinophilie und ein akutes Nierenversagen umfassen. Allopurinol ist die häufigste Ursache für ein DRESS-Syndrom; man spricht dann von einem Allopurinol-Hypersensitivitätssyndrom. Die Mortalität eines solchen reicht bis zu 25 %.

Bei Hautreaktionen wurden früher Desensibilisierungen vorgenommen; seit Febuxostat verfügbar ist, sind solche zumeist nicht mehr erforderlich. Allopurinol kann den immunsuppressiven und zytolytischen Effekt von 6-Mercaptopurin (Puri Nethol®) und Azathioprin (Imurek®) verstärken, welche partiell durch Xanthinoxidase metabolisiert werden. Allopurinol soll deswegen bei damit behandelten Patienten vermieden werden. Bei Patienten mit schwerer Gicht, die trotzdem Allopurinol benötigen, können diese Substanzen beginnend mit einem Viertel der empfohlenen Tagesdosis dennoch eingesetzt werden. Eine Knochenmarksuppression wurde auch bei Patienten unter alkylierenden Substanzen wie Cyclophosphamid beobachtet. Die gleichzeitige Anwendung von Aminopenicillinen erhöht die Wahrscheinlichkeit für ein dadurch bedingtes Exanthem; insgesamt ist dieses Phänomen aber selten.

Febuxostat

Febuxostat (Adenuric®) hemmt ebenfalls die Xanthinoxidase. Begonnen wird mit maximal 40 mg/d. Bei Bedarf wird auf die zugelassene Tagesdosis von 80 mg/d erhöht. Falls nötig, kann weiter auf 120 mg/d gesteigert werden (Off-Label-Use). Bei Niereninsuffizienz ist keine Dosisanpassung erforderlich.
Mögliche Nebenwirkungen von Febuxostat sind Leberfunktionsstörungen, Übelkeit, Arthralgien und sehr selten auch ein Exanthem (21). Vom Hersteller werden deswegen Kontrollen der Leberfunktion (Transaminasen) empfohlen. Hypersensitivitätsrektionen können auch unter Febuxostat auftreten; bei Patienten, die vorgängig eine Reaktion auf Allopurinol hatten, scheint das Risiko dafür höher zu sein.

In den klinischen Studien mit Febuxostat wurde eine höhere Inzidenz von kardiovaskulären Ereignissen beobachtet im Vergleich zu den Kontrollgruppen unter Allopurinol. Eine grosse, von der FDA verlangte Studie bei Patienten mit Gicht und einer kardiovaskulären Erkrankung ergab bei den beiden Studienarmen aber keinen Unterschied beim primären zusammengesetzten kardiovaskulären Endpunkt (22). Febuxostat ging im Vergleich zu Allopurinol aber mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Mortalität und Gesamtmortalität einher; es ergaben sich keine Unterschiede bei den drei anderen sekundären kardiovaskulären Outcomes (nicht letaler Myokardinfarkt, nicht letaler Stroke und Revaskularisation bei instabiler Angina).

Insgesamt ist die Interpretation aber schwierig (hohe Drop-out-Rate, keine unbehandelte Kontrollgruppe). Die FDA empfahl in der Folge, dass Febuxostat reserviert werden soll für Patienten, welche auf Allopurinol ungenügend ansprechen oder dieses nicht vertragen unter Berücksichtigung des kardiovaskulären Risikos. Die meisten Guidelines für die Gichttherapie haben dies übernommen. Weitere Post-Marketing-Studien konnten den Verdacht auf ein unter Febuxostat erhöhtes kardiovaskuläres Risiko aber nicht erhärten.

Insbesondere ergab eine grosse europäische Post-Marketing-Studie bei über 60-jährigen Gichtpatienten, die unter Allopurinol standen, dass es nach einem Switch zu Febuxostat im Vergleich zur Fortsetzung von Allopurinol nicht zu einer Erhöhung des kardiovaskulären Risikos kam; ein Drittel dieser Patienten hatten die Anamnese eines vorangehenden kardiovaskulären Ereignisses (23). Dennoch nahm die FDA seither keine Änderung ihrer Warnung vor. Wegen der Kontroverse ist eine gemeinsame Entscheidungsfindung («shared decision making») wichtig, wenn Febuxostat bei Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren eingesetzt wird.

Die Therapiestrategie «start low, go slow» gilt auch für Febuxostat, da darunter – wie immer bei einer raschen Harnsäuresenkung – zu Beginn eine Häufung von Gichtschüben beobachtet wird.

Urikosurika

Probenecid (Santuril®) ist das einzige in der Schweiz verfügbare Urikosurikum. Für eine ausreichende Wirkung sollte die geschätzte GFR über 50 liegen. Bei einer Nephro­lithiasis ist Probenecid natürlich kontraindiziert. Ausgehend von 2 x 250 mg/d wird nach Massgabe des Harnsäurespiegels schrittweise langsam auf max. 2 x 1500 mg/d gesteigert. Unter der Therapie ist auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu achten (2, 3). Probenecid kann natürlich mit einem Xanthinoxidasehemmer kombiniert werden. Leicht urikosurisch wirken auch Losartan (Cosaar®) als einziger AT1-Antagonist, Atorvastatin (Sortis®) als einziges Statin, der Lipidsenker Fenofibrat (Lipanthyl®) und Vitamin C (über 500 mg/d) (16, 24, 25).

Urikolytika

In therapierefraktären schweren Fällen kann rekombinante Urikase eingesetzt werden. In der Schweiz ist aber nur ein Off-Label-Use von Rasburicase (Fasturtec®) möglich. Diese ist zugelassen für die Prophylaxe einer akuten Niereninsuffizienz bei Patienten mit hämatologischen Neoplasien und Risiko einer raschen Tumorlyse zu Beginn der Chemotherapie, welche den Harnsäurespiegel sehr rasch stark ansteigen lässt, was zur Ausfällung von Harnsäurekristallen in den Nierentubuli und dadurch zu einem Nierenversagen führt. Rasburicase katalysiert als sehr starkes Urikolytikum die enzymatische Oxidation von Harnsäure zum wasserlöslichen Allantoin, welches leicht über die Nieren ausgeschieden werden kann (26) (Tab. 5).

Management der Komorbiditäten

Bei Gicht ist die kardiovaskuläre Sterblichkeit erhöht (28), vor allem aufgrund der häufigen Komorbiditäten, nämlich Adipositas, Niereninsuffizienz, arterielle Hypertonie, koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus und Dyslipidämien. Diese Begleiterkrankungen und auch ein allfälliger Alkoholabusus sind deswegen gezielt zu suchen und anzugehen (29).

Dr. med. Adrian Forster

Rheumatologie und Rehabilitation
Schulthess Klinik
Lengghalde 2
8008 Zürich

adrian.forster@kws.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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