Herz und Psyche im Fokus – Eindrücklicher Fall aus der Rehabilitationsklinik

Hintergrund

Kardiologische Erkrankungen zählen zu den führenden Todesursachen in der industrialisierten Welt. Neben Schmerzen und Atemnot, die häufig mit Ängsten einhergehen, erleben Betroffene oft ein Gefühl der Hilflosigkeit (1). Depression, Angst und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sind häufig, können Folge einer Herzerkrankung sein und sich negativ auf den Krankheitsverlauf auswirken. Eine frühe Erfassung psychischer Symptome ist daher wichtig. Die recht junge Disziplin der Psychokardiologie befasst sich mit dem Zusammenspiel kardialer und psychischer Veränderungen sowie mit den darauf einwirkenden psychosozialen Faktoren (2). Heute sind die Wechselbeziehungen psychosozialer und somatischer Vorgänge im Kontext von Herzerkrankungen gut belegt (3).

Anamnese und Befunde – kurze Anamnese mit Betonung des jetzigen Leidens

Wir beschreiben den Fall einer 55-jährigen Patientin, welche aus einem Universitätsklinikum nach Ersatz der Aorta ascendens und des Aortenbogens bei Aortendissektion Typ A (beginnend in der Aorta ascendens) mit schwerer Aortenklappeninsuffizienz in die Rehabilitationsklinik Oberwaid überwiesen wurde. In diesem Fallbericht konzentrieren wir uns im Wesentlichen auf die psychokardiologischen Aspekte der Patientin. Sie zeigte sich bei Aufnahme physisch und v. a. psychisch geschwächt und berichtete über Schmerzen im Brustkorb. Die Patientin wurde frühzeitig zur psychokardiologischen Mitbeurteilung vorgestellt. Sie wirkte bei Aufnahme gereizt, angespannt und ängstlich-depressiv. Im ersten psychokardiologischen Gespräch war sie einerseits offen und freundlich, andererseits misstrauisch. Sie redete viel, begleitet von affektiv weinerlichen Einbrüchen. Die Patientin berichtete, dass sie seit mehreren Monaten (November 2023) starke thorakale und in den Arm ausstrahlende Schmerzen bei Ärzten angegeben habe. Man habe ihr zunächst nicht hinreichend geholfen, sondern die Schmerzen als Verspannung gewertet. Erst im März 2024 seien ihre Beschwerden medizinisch weiter abgeklärt worden. Die Patientin gab an, dass sie im Mai 2023 wegen einer zervikalen Spinalkanalstenose operiert worden und daher immer wieder in medizinischer Behandlung gewesen sei. Vor allem das lange «nicht ernst genommen werden» durch medizinisches Personal belaste sie sehr. Sie beschreibt in Bezug auf die verzögerte Dia­gnosestellung und Therapie der Herzkrankheit wiederkehrende einschiessende Erinnerungen an Situationen in der Notaufnahme, neu aufgetretene Albträume, Stimmungsminderung, Ängste, sozialen Rückzug, Insuffizienz- und Schamgefühle sowie Gedanken von Lebensüberdruss. Sie vermeide, an die negativen Erlebnisse zu denken. Zudem würden sich Erinnerungen an Gewalt ausübende Personen aus der Kindheit und Gedanken an die aktuell wahrgenommene fehlende Hilfe im Krankenhaus in ihren Gedanken vermischen und sich immer wieder intensiv aufdrängen. So sehe sie sich am Boden liegend, niemand würde ihr helfen. Ihr komme der Satz «aufstehen, anziehen und nach Hause gehen» in den Sinn. Sie habe in diesen Situationen im Krankenhaus Angst, Ohnmacht und Wut verspürt, und diese Gefühle erlebe sie noch immer, wenn sie daran denke. In den folgenden psychokardiologischen Sitzungen wird sie immer wieder von starken Gefühlen überwältigt, wenn sie über die erlebten Geschehnisse berichtet. Sie habe sich «nicht gesehen gefühlt», habe teilweise lange in der Notaufnahme warten müssen und sei «einfach weggeschickt worden». An kardiovaskulären Risikofaktoren liessen sich neben einer arteriellen Hypertonie ein mit der Herzoperation sistierter Nikotinabusus und ein erhöhtes LDL-Cholesterin bei ansonsten geringer körperlicher Betätigung erfragen. Zur Vorgeschichte ist zu erwähnen, dass die Patientin in der Türkei zunächst bei den Grosseltern und dann bei Verwandten aufgewachsen sei. Die ersten zehn Jahre seien friedlich verlaufen, dann hätte sie wegen politischer Unruhen fliehen müssen. Sie hätte die meiste Zeit keinen festen Wohnsitz gehabt, sei «mal hier, mal dort» zur Schule gegangen. Die Patientin deutet sexuellen Missbrauch und körperliche Gewalt durch fremde Männer an. Sie erlebe Phasen, in welchen plötzlich verdrängte Erinnerungen aus dieser Zeit auftauchten und sie starke Angst und Ohnmacht verspüre. Nach dem Schulabschluss sei sie nach Deutschland gekommen. In den 1990er-Jahren habe sie ihren Ex-Mann kennengelernt. Dieser habe im Asyl in der Schweiz gelebt. Sie sei ihm dorthin gefolgt. Sie hätten eine gemeinsame Tochter. Vor mehr als 15 Jahren habe sie sich von ihrem Mann getrennt.

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Bei der Patientin bestand neben der genannten kardialen Grunderkrankung die beschriebene psychische Begleitsymptomatik. Differenzialdiagnostisch zogen wir zunächst a) eine Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Reaktion gemischt (F43.22), b) eine rezidivierende depressive Störung, ggw. mittelgradige Episode (F33.1) bei vorbeschriebenen depressiven Episoden und c) eine PTBS in Betracht (F43.1). Gemäss der ICD-10-Klassifikation der WHO (4) zählen im Wesentlichen zu den diagnostischen Kriterien von a) die identifizierbare psychosoziale Belastung von einem nicht aussergewöhnlichen oder katastrophalen Ausmass mit Beginn innerhalb eines Monats und Symptome oder Verhaltensstörungen, wie sie bei affektiven Störungen (F3) vorkommen (sowohl Angst als auch depressive Symptome sind vorhanden, jedoch nicht in grösserem Ausmass als bei Angst und depressiver Störung gemischt (F41.2) oder anderen gemischten Angststörungen [F41.3]). Zu den Symptomen von b) zählen eine gedrückte Stimmung, eine Verminderung von Antrieb und Aktivität, es treten wiederholte depressive Episoden auf. Die Fähigkeit zur Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten. Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit reduziert. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind häufig beeinträchtigt. Betroffene haben meist grosse Schwierigkeiten, alltägliche Aktivitäten fortzusetzen. Nach der WHO-ICD-10 (4) wird die PTBS/c) (F43.1) den Reaktionen auf schwere Belastungen (z. B. körperliche Gewalt, aber auch schwere Erkrankung) zugeordnet. Intrusionen (inneres Wiedererleben), Vermeidung von Trauma-relevanten Stimuli und/oder die emotionale Taubheit sowie Hyperarousal (Übererregbarkeit) sind Kernsymptome einer PTBS. Diese Symptome verhindern eine erfolgreiche Bewältigung des Ereignisses und führen aufgrund dessen zu Schwierigkeiten in der sozialen Funktionsfähigkeit (1). Psychische Vorerkrankungen und Symptome begünstigen das Risiko für eine PTBS.

Weitere Abklärungsschritte und Diagnostik

Diagnostisch wurden die detaillierte Anamnese und weitere klinische Befunde (Tab. 1–3) erhoben sowie testpsychologische Untersuchungen (Tab. 4) bereits am Tag nach Eintritt durchgeführt. Vor dem Hintergrund des zunehmenden klinischen Eindrucks einer Traumafolgestörung wurde zusätzlich (auch) der «Primary Care – PTSD Screen»-Fragebogen eingesetzt, dessen Ergebnis zusammen mit der klinischen Diagnostik auf eine PTBS gemäss den gängigen Diagnosesystemen (ICD-10 und DSM-5) hinwies (5–7). Es imponierte neben der beschriebenen klinischen Symptomatik eine ausgeprägte, nicht allein somatisch erklärbare Erschöpfung.

Diagnose

In der Gesamtschau der Untersuchungsergebnisse waren bei der Patientin die Kriterien einer PTBS (F43.1) gemäss ICD-10 (4) erfüllt, sodass diese Diagnose gestellt werden konnte. Die Patientin war in der Vergangenheit wiederkehrenden und länger anhaltenden Ereignissen mit Gewalterfahrungen von aussergewöhnlicher Bedrohung ausgesetzt. Zudem zeigten sich bei ihr anhaltende Erinnerungen, Intrusionen und Flashbacks an die Ereignisse von damals, welche durch die nun für sie belastende Situation im Krankenhaus verstärkt auftraten und sich auch durch aufdringliche Nachhallerinnerungen und Träume äusserten. Bei der Patientin bestanden zudem eine Übererregbarkeit, erhöhte Wachsamkeit, eine Reizbarkeit sowie Konzentrations-, Ein- und Durchschlafstörungen. Es lag ein hoher Leidensdruck bei der Patientin vor. Zugrunde liegend für die sich manifestierenden PTBS sind unserer Ansicht nach die traumatischen biografischen Erfahrungen mit bereits in der Vorgeschichte immer wieder auftretenden Erinnerungen und Intrusionen.

Kommentar

Während der vierwöchigen stationären kardialen Rehabilitation fand eine intensive psychokardiologische Begleitung statt. Das allgemeine Therapieprogramm bestand aus der an die Leistungsfähigkeit der Patientin angepassten Physiotherapie (inkl. Atemgymnastik, Entspannung im Sitzen/Progressive Muskelrelaxation, Gymnastik, medizinische Trainingstherapie, Qigong im Sitzen), Ergotherapie und physikalischer Therapie mit Massagen. Des Weiteren nahm die Patientin an Vorträgen zu «Bewegung und Sport», «Herzgesunder Ernährung», «Herzinsuffizienz», «Herzrhythmusstörungen», «Koronarer Herzerkrankung», «Leben mit Herzerkrankung» und «Risikofaktoren» in der Gruppe teil. Neben der psychiatrisch-psychotherapeutischen Betreuung wurde die Patientin eingehend kardiologisch behandelt.

Die psychotherapeutische Behandlung wurde mittels Elementen der Trauma-fokussierten kognitiven Verhaltenstherapie durchgeführt. Inhalte waren u. a. die Therapievorbereitung, Alltagsbewältigung und die Ressourcenaktivierung. Ausserdem wurden für die Patientin schwierige Situationen durch Expositionen in sensu bearbeitet. Aufgrund der vorliegenden PTBS mit ängstlicher und depressiver Symptomatik (trotz nicht auffallender Werte in der Hospital Anxiety and Depression Scale) wurde zusätzlich zur psychotherapeutischen Behandlung bei fortbestehenden Beschwerden eine Psychopharmakotherapie mit einem Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), z. B. Sertralin, grundsätzlich nach Abschluss der dualen Plättchenhemmung empfohlen. In einer Netzwerk-Metaanalyse erwiesen sich u. a. Paroxetin und Sertralin effektiver als Placebo. Dies vor dem Hintergrund, dass gemäss der Leitlinie für die PTBS (8) statistisch signifikante Befunde zur Wirksamkeit der SSRI vorliegen, allerdings mit geringen Effektstärken, die deutlich unter denen einer Trauma-fokussierten psychotherapeutischen Behandlung liegen. Für die trizyklischen Antidepressiva sind mehr kardiotoxische Nebenwirkungen bekannt als für die SSRI. An der eher zurückhaltenden Beurteilung der Pharmakotherapie bei der Behandlung der PTBS hat sich in den letzten Jahren wenig geändert. Die Trauma-fokussierte Psychotherapie ist die Methode der Wahl (8). Die empfohlene Medikation stand nach unserer Einschätzung nicht im Widerspruch zur somatischen Medikation (Tab. 5). Dieser Fallbericht zeigt auch, dass der klinische Eindruck von grosser Bedeutung ist und nicht allein auf die Ergebnisse von Fragebögen vertraut werden sollte. So zeigte sich bei der Raucheranamnese ein widersprüchlicher Befund. Die Patientin berichtete im klinischen Interview über einen Nikotinabusus mit 20 bis 25 Packungsjahre, während beim Fragebogen «nie geraucht» angekreuzt wurde. Abb. 1 zeigt eine Übersicht der durchgeführten Therapieelemente in Anlehnung an eine Übersichtsarbeit zur PTBS als Folge einer akuten Herz-Kreislauf-Erkrankung von Princip M. und Kollegen (9).

Die Arzt-Patient-Beziehung gestaltete sich gut. Die Symptome wie Flashbacks, Hyperarousal, Vermeidungsverhalten, verbunden mit Emotionen wie Angst, Wut und Trauer, waren bei Abschluss der Rehabilitation bereits rückläufig, wenn auch noch vorhanden. Die Patientin war zum Entlassungszeitpunkt psychisch stabil und konnte die Erlebnisse um ihre Herzerkrankung differenziert in Beziehung zu ihren früheren Erlebnissen setzen. Sie fühlte sich insgesamt in ihrer Alltagsgestaltung und im Umgang mit Mitmenschen deutlich sicherer und damit körperlich, emotional und sozial wohler. Eine erneute testpsychologische Untersuchung hielten wir aufgrund der deutlichen Besserung der klinischen Symptomatik und aufgrund der bei der Eintrittsuntersuchung auffallenden diskrepanten Ergebnisse nicht für indiziert.

Eine weiterführende psychiatrisch-psychotherapeutische Betreuung erachteten wir für notwendig. Die Patientin konnte in psychisch deutlich stabilerem Zustand nach Hause entlassen werden. Wir empfahlen der Patientin insbesondere eine ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische Betreuung in Form der Trauma-fokussierten kognitiven Verhaltenstherapie (8, 10). Die Patientin wird ambulant ebenso durch einen kardiologischen Kollegen engmaschig weiter betreut. Des Weiteren wurde die Fortführung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung bei einer ambulanten Kollegin in die Wege ­geleitet.

Traumafolgestörungen werden zu selten diagnostiziert, insbesondere dann, wenn die traumatischen Erfahrungen länger zurückliegen und die Symptomatik nicht dem klassischen Bild der PTBS entspricht (11). Der besondere Fall zeigt, dass psychosoziale Belastungen (niedrige soziale Unterstützung, akuter oder chronischer Stress, Depression, Angst, Mangel an sozialer Unterstützung und traumatische Erlebnisse in der Vorgeschichte) und psychische Begleiterkrankungen bei Herzpatienten routinemässig erfasst werden sollten, damit sich gezielt eine weiterführende Diagnostik und Therapie mit passendem Behandlungsangebot anschliessen können. Bei psychischer Komorbidität sollen psychotherapeutische Interventionen ggf. mit entsprechender medikamentöser Therapie angeboten (12) und der Arzt-Patienten-Kontakt nach den Prinzipien einer patientenzentrierten Kommunikation gestaltet werden (13). Patientinnen und Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen leiden häufig unter psychischen Beschwerden und kognitiven Dysfunktionen. Es treten besonders oft Angst, Panikstörung, PTBS und Depression auf. Für die Prognose ist die simultane Behandlung der kardiologischen und der psychischen Erkrankung von Bedeutung. Sie vergrössert die Chance auf eine erfolgreiche Rehabilitation deutlich. Die Psychokardiologie verfolgt dabei einen integrativen Ansatz, um das Zusammenspiel von somatischem und psychosozialem Status der Patienten zu würdigen (2). Die Herstellung einer sicheren, störungsfreien Gesprächsatmosphäre, die Berücksichtigung von spezifischen Kon­trollbedürfnissen, die aktive Erfragung der Symptome einer PTBS, die Vermittlung eines Erklärungsmodells für diese als eine normale menschliche Reaktion auf Extrembelastung (Psychoedukation) und das Benennen der Störung im Sinne einer posttraumatischen Diagnose führen in der Regel zur Entlastung der Betroffenen.

Ganz allgemein beeinflusst eine psychophysiologische Belastung einer PTBS nach einem Herzinfarkt bzw. kardialen Ereignis über dysregulierte Stressachsen, wie ein sympathovagales Ungleichgewicht und die Hyperaktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden/HPA-Achse, sowohl zentrale als auch periphere Mechanismen. Dies führt zu endothelialer Dysfunktion, erhöhter systemischer Inflammation und metabolischen Veränderungen, die klassische kardiovaskuläre Risikofaktoren wie arterielle Hypertonie, Dyslipidämie und Insulinresistenz begünstigen und das langfristige kardiovaskuläre Risiko für betroffene Patientinnen erhöhen. Gleichzeitig wirkt sich die PTBS negativ auf das gesundheitsbezogene Verhalten aus, indem sie mit vermehrtem Substanzkonsum (z. B. Nikotin, Alkohol), gestörtem Schlafverhalten, reduzierter körperlicher Aktivität und eingeschränkter Therapieadhärenz einhergeht, wodurch sich atherosklerotische Prozesse weiter verstärken. Ein integrativer Behandlungsansatz, der sowohl die somatischen als auch die psychosozialen Dimensionen der PTBS adressiert, könnte daher helfen, kardiometabolische Dysregulationen zu reduzieren und die kardiovaskuläre Prognose der Patientinnen und Patienten zu verbessern (14, 15).

Psychische Symptome bei Patientinnen und Patienten mit Herzerkrankung sind grundsätzlich gut behandelbar (16, 17). Bei einer PTBS ist die Trauma-fokussierte kognitive Verhaltenstherapie, bei welcher der Schwerpunkt auf der Verarbeitung der Erinnerung an das traumatische Ereignis und/oder seiner Bedeutung liegt, also eine bevorzugte Behandlungsmethode. Gemäss S3-Leitlinie wird zwischen Trauma-fokussierter und nicht Trauma-fokussierter Intervention unterschieden. Ergänzend zu dieser sollen weitere Problem- und Symptombereiche abgeklärt und berücksichtigt werden (8). Die Trauma-fokussierte Therapie basiert auf den Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie und beinhaltet als zentrale Trauma-fokussierte Techniken imaginative Exposition in Bezug auf die Traumaerinnerungen, narrative Exposition, Exposition in vivo und/oder kognitive Umstrukturierung in Bezug auf Trauma-bezogene Überzeugungen (8, 18, 19). Psychopharmakotherapie sollte weder als Mono- noch als primäre Therapie, sondern leitliniengerecht ergänzend eingesetzt werden (8).

Kunigunde Pausch 1, Uwe Grommas 1, Roland von Känel 2, Anke Schneiders 1, Doris Straus 1,
Gavin Brupbacher 1, 2

1 Klinik Oberwaid, St. Gallen, Schweiz
2 Universitätsspital Zürich, Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik, Zürich, Schweiz

Abkürzungen
ICD-10 International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems-10. Revision der Klassifikation
WHO World Health Organization
DSM-5 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders

Historie
Manuskript eingegangen: 21.12.2024
Angenommen nach Revision: 20.03.2025

Dr. med. Kunigunde Pausch

Oberwaid AG
Rorschacherstrasse 311
9016 Sankt Gallen Schweiz

kunigunde.pausch@oberwaid.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

• Bei einer Herzerkrankung gezielt nach psychischen ­Symptomen zu fragen, ist prognostisch relevant.
• Die Notwendigkeit einer psychokardiologischen ­Begleitung sollte bereits zu Beginn der Behandlung einer kardialen Erkrankung evaluiert werden.
• Psychokardiologische Angebote in spezialisierten ­­
Akut- und Rehabilitationskliniken sind unerlässlich.

1. Princip M, Meister-Langraf RE: Posttraumatischer Stress in der Kardiologie. Cardiovascular Medicine (Internet) 2022 (zitiert 2024 Okt 8); 25. https://cvm.swisshealthweb.ch/en/article/doi/cvm.2022.02194; zugegriffen: 08.10.2024
2. Bunz M, Kindermann I, Karbach J, Wedegärtner S, Böhm M, Lenski D: Psychokardiologie: Wie Herz und Psyche zusammenhängen. DMW – Deutsche Medizinische Wochenschrift 2015; 140: 117–24.
3. Herrmann-Lingen C: Psychokardiologie – aktuelle Leitlinien und klinische Realität. PPmP – Psychotherapie · Psychosomatik · Medizinische Psychologie 2019; 223: 237–52.
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6. Schäfer I, Schulze C: Primary Care Checklist for PTSD (PC-PTSD) nach Prins, Ouimette, & Kimerling (2003). 2010;
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19. Schauer M, Neuner F, Elbert T: Narrative Exposure Therapy: A Short-Term Treatment for Traumatic Stress Disorders. 2. Aufl. Hogrefe Publishing: 2011.

Müdigkeit, Leistungsdefizit und Schnarchen als frühe Symptome einer systemischen Erkrankung

Anamnese

Ein 68-jähriger Patient klagte über seit zwei Wochen bestehende allgemeine Müdigkeit und Schwäche, die seine Alltagsaktivitäten beeinträchtigten. Zusätzlich berichtete er von einer verminderten Schlafqualität, die durch Schnarchen und nächtliches Erwachen geprägt war. Vor einem Monat hatte er eine Infektion der oberen Atemwege durchgemacht, die symptomatisch abgeklungen war. Zudem wurde wenige Wochen zuvor eine kurative Operation aufgrund eines Prostatakarzinoms durchgeführt. Weitere Beschwerden wie B-Symptomatik, Dyspnoe oder Angina pectoris wurden verneint. Eine Vormedikation lag nicht vor.

Befunde mit Status und Labordiagnostik
Die körperliche Untersuchung zeigte stabile Vitalparameter und einen unauffälligen klinischen Status. Das Blutbild sowie die Nieren-, Leber- und Schilddrüsenwerte lagen im Normbereich. Mangelzustände wie ein Vitamin-B12- oder Eisenmangel liessen sich nicht nachweisen. Die zur Beurteilung chronisch entzündlicher Prozesse durchgeführte Serumeiweisselektrophorese zeigte keine entsprechenden Hinweise. Der Laktat-Dehydrogenase-Wert (LDH) war unauffällig und zeigte als unspezifischer Marker keine Hinweise auf einen systemischen Krankheitsprozess. Zudem war das prostataspezifische Antigen nicht erhöht, wodurch ein Tumorrezidiv unwahrscheinlich erschien.

Kurze Anamnese mit Betonung des jetzigen Leidens
Der Patient berichtete über eine seit zwei Wochen bestehende körperliche Schwäche und Müdigkeit. Zudem klagte er über eine schlechte Schlafqualität mit häufigem nächtlichem Erwachen.

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Das Leitsymptom war eine seit zwei Wochen bestehende allgemeine Müdigkeit und Schwäche, begleitet von einer gestörten Schlafqualität mit häufigem nächtlichem Erwachen und Schnarchen. Wir stellten folgende differenzialdiagnostischen Überlegungen (Tab. 1) an:
– Obstruktives Schlafapnoe-Syndrom (OSAS)
– Prolongierte Infektkonstellation
– Postoperatives Fatigue-Syndrom
– Hypogonadismus – möglicher Testosteronmangel nach radikaler Prostatektomie
– Depressive Grundverstimmung nach Tumordiagnose

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Erste klinische Verlaufskontrolle: Zum Zeitpunkt der Untersuchung zeigte sich die Symptomatik unverändert. Die Screeninguntersuchung auf eine schlafbezogene Atemstörung wies auf ein OSAS hin, weshalb eine fachärztliche Abklärung einschliesslich Schlaflabordiagnostik veranlasst wurde. Zwei Monate später stellte sich der Patient notfallmässig mit neu aufgetretener Dyspnoe vor. Die sofortige Diagnostik zeigte nun ein erhöhtes D-Dimer (802 ng/ml, Referenzwert: 0–500 ng/ml) und NT-proBNP (2302 ng/l, Referenzwert: 0–300 ng/l), während der high sensitive Troponinwert negativ blieb (Referenzwert: < 0.01 ng/ml). Dies deutete auf eine kardiale Belastung hin, während der negative Troponinwert gegen eine akute myokardiale Ischämie sprach. Eine Computertomographie (CT) des Thorax zeigte keine Hinweise auf eine Lungenembolie, dokumentierte jedoch bronchiolitische Veränderungen. Die erhöhte NT-proBNP-Konzentration deutete auf eine mögliche Herzinsuffizienz hin. Die Echokardiographie zeigte eine normale linksventrikuläre Funktion (65 %), eine diastolische Dysfunktion mit leichter Erhöhung des rechtsventrikulären systolischen Druckes (RVSP 44 mmHg, Referenzwert: 15–30 mmHg). Es fanden sich keine Klappenvitien oder Auffälligkeiten im Elektrokardiogramm (EKG). Es wurde eine Therapie mit einem Angiotensin-Converting-Enzym-Hemmer (ACE-Hemmer) und Schleifendiuretikum eingeleitet. Zur Klärung der Ätiologie der Herzinsuffizienz wurde eine kardiale Bildgebung veranlasst. Parallel dazu erfolgte eine pneumologische Untersuchung zur Abklärung der bronchiolitischen Veränderungen.

Kardiale Bildgebung

Zur weiteren Einordnung der Herzinsuffizienz zeigte die Kardio-MRT (Magnetresonanztomographie) Fibrosen und erhöhte T1-Mapping-Zeiten, was den Verdacht auf eine Amyloidose nahelegte. Auf Grundlage dieses Befundes wurden weiterführende Untersuchungen zur Abklärung einer Transthyretin-assoziierten Amyloidose (ATTR-Amyloidose) eingeleitet, da diese die häufigste Form der Amyloidose mit kardialer Beteiligung ist. Im pneumologischen Untersuchungsbefund zeigte sich als Nebenbefund eine leicht eingeschränkte Diffusionskapazität, die am ehesten im Zusammenhang mit der kardialen Dekompensation stand und keine Hinweise auf eine primär pneumologische Erkrankung lieferte. Die kardiologische Single-Photon-Emissions-Computertomographie (SPECT) wurde durchgeführt, um potenzielle Anreicherungen von Tracern im Myokard zu identifizieren. Die Untersuchung zeigte jedoch nur diskrete Tracer-Akkumulationen, was eine ATTR-Amyloidose als Grunderkrankung weniger wahrscheinlich machte. Ein Perugini-Score von eins, der unter anderem zur Differenzierung der Amyloidoseformen verwendet wird, stützte diese Annahme (Abb. 1).

Im Rahmen der Differenzialdiagnose kardialer Speicherkrankheiten wurde nun die Amyloid-Leichtketten-Amyloidose (AL-Amyloidose) als naheliegendste Diagnose in Betracht gezogen. Die Serumeiweisselektrophorese mit Immunfixation zeigte laut labormedizinischer Beurteilung zunächst keine Hinweise auf eine monoklonale Erkrankung (Tab. 2).

Trotz unauffälligen Analysekommentars wies die Immunelektrophorese auffällige Veränderungen auf, die im klinischen Kontext verdächtig erschienen, sodass umgehend eine hämatoonkologische Abklärung erfolgte. Eine spätere wiederholte Immunelektrophorese bestätigte schliesslich das Vorliegen einer Non-IgM monoklonalen Gammopa­thie vom Typ IgG Lambda mit einem Wert von 4.8 g/l (Referenzbereich: 7–16 g/l) (Tab. 3).

Die nachfolgende Abklärung beinhaltete die Bestimmung der freien Leichtketten im Serum und Urin. Es wurde eine Erhöhung der freien Leichtkette Lambda auf 299.0 mg/l (Referenz: 5.7–26.3 mg/l) festgestellt, während der Kappa-/Lambda-Quotient mit 0.02 (Referenz: 6–1.65) pathologisch war. Im Urin wurden Bence-Jones-Proteine des Typs Lambda nachgewiesen. Eine Positronen-Emissions- Tomographie (PET-CT) zeigte keine Hinweise auf einen lymphoproliferativen Prozess. Die Knochenmarkpunktion ergab ein Smouldering Plasmazelllymphom mit 30 % Infiltration. Die zytogenetische Analyse zeigte (6; 14) (p21; q32) del13q14, gain 4p16 ohne TP53/17p-Deletion, was auf ein Standardrisiko hindeutete.

Im weiteren Verlauf verschlechterte sich die Symptomatik zunehmend, begleitet von Gewichtsverlust, Diarrhöen, Hypotonien und Tachykardien bei Belastung. Das EKG zeigte eine Niedervoltage und verzögerte R-Progression. Kardiale Biomarker bestätigten eine fortschreitende Dekompensation (NT-proBNP 14.856 ng/l, Referenz: 0–300 ng/l). Positives Troponin deutete auf ein ischämisches Geschehen hin (Troponin 50 ng/l, Referenz: 0–30 ng/l), wobei invasive Verfahren keine behandlungsbedürftigen Befunde zeigten. Die Durchblutungsstörung wurde als Teil der Grunderkrankung eingeordnet.

Die hämatologischen Untersuchungen zeigten eine fortschreitende Anämie mit einem Hämoglobinwert von 10.4 g/dl (Referenz: 13–17.5 g/dl). Die Leukozyten- und Thrombozytenzahlen waren normal, die Nierenfunktion unverändert. Ein Anstieg der alkalischen Phosphatase und LDH wurde festgestellt. Es traten spontane Hauteinblutungen auf, möglicherweise durch Amyloidablagerungen in den Kapillaren oder einen Mangel an Faktor X, dessen Auftreten im fortgeschrittenen Stadium häufig ist (1) (Abb. 2 und Abb. 3).

Weiteres diagnostisches Vorgehen und Verlauf

Der Nachweis der freien Leichtketten, erforderlich für die onkologische Therapie, konnte mehrfach nicht erbracht werden. Die Bauchfettanalyse zeigte nur minimalen Amyloidnachweis, eine Typisierung war nicht möglich. Auch Knochenmark- und Hautbiopsien sowie Nachfärbungen der Gastro-/Koloskopiebiopsien von 2023 lieferten keinen spezifischen Nachweis von Amyloid. Diese Problematik verzögerte die Einleitung einer Therapie, welche auf Verdacht nicht möglich war und zu einem erheblichen Zeitverlust führte.

Diagnosestellung

16.09.2024: Der Patient wurde im weiteren Verlauf notfallmässig wegen des Verdachts auf eine perforierte Sigmadivertikulitis operiert. Während der laparoskopischen Exploration konnte ausgedehnt AL-Amyloid in der Bauchfettanalyse nachgewiesen werden, was zur Diagnose einer AL-Amyloidose im Rahmen des Smouldering Plasmazelllymphoms führte.
Zum Zeitpunkt der Diagnose war die Erkrankung weit fortgeschritten. Der postoperative Verlauf war komplikationsreich, und der Patient verstarb kurz darauf. Die geplante hämatoonkologische Therapie konnte nicht mehr eingeleitet werden.

Kommentar

Der Fall beschreibt den Verlauf eines 68-jährigen Patienten, der zunächst seit kurzem Zeitraum unspezifische Symptome wie Müdigkeit, Schwäche und Schlafstörungen zeigte. Initial lagen laborchemisch, klinisch und anamnestisch keine Hinweise auf eine schwerwiegende Erkrankung vor. Erst das Auftreten spezifischer Symptome wie Dyspnoe mehrere Wochen später führte zu weiterführenden Untersuchungen und schliesslich zur Diagnose einer Speichererkrankung. Zunächst wurde eine ATTR-Amyloidose vermutet, letztlich bestätigte sich jedoch eine AL-Amyloidose im Rahmen eines Smouldering Plasmazellmyeloms. Die verzögerte Diagnose der hämatoonkologischen Erkrankung und der späte Nachweis von Amyloid, der für die Therapieeinleitung erforderlich war, wirkten sich nachteilig auf die Prognose aus.

Die Abb. 4 veranschaulicht den Abklärungsprozess bei Verdacht auf Amyloidose. Eine Immunfixation bestimmt, ob die Diagnose einer AL- oder ATTR-Amyloidose weiter untersucht wird. Bei einem auffälligen Befund, der auf eine hämatoonkologische Erkrankung hindeutet, ist eine Gewebeprobe zum Nachweis von Amyloid erforderlich. Ein negativer Befund deutet auf eine ATTR-Amyloidose hin, deren Diagnose mittels Skelettszintigraphie erfolgt (2).

Der aggressive Verlauf einer AL-Amyloidose macht eine frühzeitige Diagnosestellung essenziell. Ein effektives Therapiekonzept besteht in der Kombination aus hoch dosiertem intravenösem Melphalan und autologer Stammzelltransplantation. Ziel ist eine zügige Reduktion der zirkulierenden Leichtkettenfragmente, um weitere Amyloidablagerungen zu verhindern (2, 3).

Limitationen:

Frühzeitige Berücksichtigung einer hämatoonkologischen Erkrankung
Die frühzeitige Erwägung einer hämatoonkologischen Erkrankung hätte eventuell trotz fehlender klinischer und laborchemischer Hinweise, der kurzen Beschwerdedauer und der breiten Differenzialdiagnosen möglicherweise eine schnellere Diagnose und dadurch verbesserte Prognose ermöglicht.

Verzögerung durch die konventionelle Eiweisselektro­phorese
Die Diagnosestellung wurde durch den anfänglichen Einsatz der konventionellen Eiweisselektrophorese im Rahmen eines allgemeinen Screeningverfahrens verzögert, da kleine Paraproteine, die bei dieser Methode übersehen werden können, nicht identifiziert wurden. Eine frühzeitige Durchführung der Eiweisselektrophorese mit Immunfixation hätte potenziell eine schnellere Diagnose erlaubt.

Engmaschige klinische Überwachung und wiederholte Laborkontrolle
Eine engmaschigere klinische Überwachung, insbesondere bei älteren Patienten mit unklarer Diagnose, hätte möglicherweise eine frühere Erfassung von klinischen Symptomen und laborchemischen Veränderungen ermöglicht. Es wäre besser gewesen, die Immunelektrophorese – bei persistierender Symptomatik – zu einem früheren Zeitpunkt zu wiederholen.

Bildgebende Verfahren und Priorisierung der ATTR-­Amyloidose
Die Priorisierung der ATTR-Amyloidose aufgrund ihrer höheren Prävalenz war nachvollziehbar, jedoch hätte eine parallele Untersuchung auf AL-Amyloidose eine frühere Diagnose der zugrunde liegenden hämatoonkologischen Erkrankung ermöglichen können.

Luzia Maria Gruber, Peter Kurz
Ärztezentrum Stäfa, Stäfa

Abkürzung
ACE-Hemmer Angiotensin-Converting-Enzym-Hemmer
AL-Amyloidose Amyloid-Leichtketten-Amyloidose
ATTR Transthyretin-Amyloidose
CT Computertomographie
EKG Elektrokardiogramm
IgG Immunglobulin G
LDH Laktatdehydrogenase
MRT Magnetresonanztomographie
NT-proBNP N-terminales pro B-type natriuretic peptide
OSAS Obstruktives Schlafapnoe-Syndrom
PET-CT Positronen-Emissions-Tomographie-Computertomographie
RVSP Rechtsventrikulärer systolischer Druck
SPECT Single-Photon-Emissions-Computertomographie

Historie
Manuskript eingegangen: 06.01.2025
Angenommen nach Revision: 18.03.2025

Dr. med. Peter Kurz

Ärztezentrum Stäfa
Häldelistrasse 9
8712 Stäfa

peter.kurz@aerztezentren.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

• Daran denken: Es ist wichtig, bei unspezifischen Symp­tomen wie Müdigkeit und allgemeiner Schwäche auch ohne eindeutige Befunde, fehlender «red flags» und ­Vorliegen plausibler Differenzialdiagnosen eine hämato­onkologische Erkrankung oder Amyloidose in Betracht
zu ziehen.
• In solchen Fällen sollte ein direktes Screening durch Immunfixationselektrophorese erfolgen, da die konventionelle Eiweisselektrophorese kleinere Paraproteine möglicherweise nicht erfasst. Bei weiterhin bestehendem Verdacht ist zusätzlich die Bestimmung der freien ­Leichtketten im Serum und Urin notwendig (4, 5).
• Bei anhaltenden Beschwerden trotz unauffälliger Erstbefunde ist eine erneute Laborkontrolle wie die Wiederholung der Immunelektrophorese wichtig, um frühe pathologische Veränderungen zu erkennen.
• Die frühe Therapieeinleitung bei AL-Amyloidose ist ­entscheidend für den Therapieerfolg und erfolgt durch die Behandlung der Grunderkrankung.

1. Fotiou D, Tsiara A, Dimopoulos M, et al. Thrombotic and bleeding complications in patients with AL amyloidosis. Br J Haematol. 2024;204(5):1816-24. doi: 10.1111/bjh.19331.
2. Schwotzer R, Djerbi N, Vetter F. Neues zur Diagnostik und Therapie der AL-Amyloidose. Schweiz Z Onkol. 2022;2:6-12
3. Palladini G, Milani P, Merlini G. How I treat AL amyloidosis. Blood. 2021;139(19):2918-2929. doi:10.1182/blood.2020008737
4. Silva M, Figueiredo A, Santos I, et al. Light-chain multiple myeloma: A diagnostic challenge. Cureus. 2021;13(10):e19131. doi: 10.7759/cureus.19131.
5. Vaxman A, et al. When to suspect a diagnosis of amyloidosis. Acta Haematol. 2020;143(4):304-11. doi:10.1159/000506617

Fieber unklarer Genese: Eine diagnostische Herausforderung

Anamnese

Ein 25-jähriger Patient stellt sich in der gastroenterologischen Sprechstunde vor, da er seit drei Wochen unter abendlichen Fieberepisoden mit Schüttelfrost leidet. Aufgefallen sei dem Patienten zudem eine vermehrte Müdigkeit. Vor allem morgens fühle er sich so erschöpft, dass er seinen Beruf als Elektriker nur noch schwer ausüben könne. Der Patient ist nicht hausärztlich angebunden. Er befindet sich fast drei Jahre in gastroenterologischer Betreuung aufgrund einer Therapie mit Infliximab im Rahmen einer Colitis ulcerosa, welche in Remission ist. Zu Nebenwirkungen der Behandlung sei es bisher nicht gekommen. Gastroenterologische Symptome verneint er ausdrücklich. Andere chronische Erkrankungen liegen nicht vor. Bezüglich der Reiseanamnese ist der Patient zwei Wochen, als die Symptome bereits bestanden, gemeinsam mit seiner Partnerin für 10 Tage nach Thailand gereist. Zuvor habe er sich nur in der Schweiz aufgehalten. Während des Auslandsaufenthaltes setzten sich die Fieberepisoden unverändert fort. Weitere Symptome präsentierten sich nicht. In der Umgebungsanamnese fand sich kein Hinweis auf andere erkrankte Personen oder eine mögliche Exposition. Der Sexualkontakt war ausschliesslich mit der langjährigen Partnerin. Im Haushalt sowie während des Urlaubes hatte der Patient keinen Tierkontakt.

Systemanamnese

Der Patient berichtet über einen leichten Gewichtsverlust von 2–3 kg bei einem BMI im unteren Normalbereich mit erhaltenem Appetit. Bei abendlichen Fieberepisoden gibt es keine weiteren Symptome wie Nachtschweiss, Atembeschwerden, Husten, Halsschmerzen, Bauchschmerzen, Durchfall, Hautveränderungen, Gelenkschmerzen oder neurologische Symptome. Auch kardiovaskulär und urogenital finden sich keine Auffälligkeiten. Hinweise auf einen Infektfokus liegen nicht vor. Die einzige Medikation in den letzten Monaten ist Infliximab (120 mg s.c., zweiwöchentlich) gewesen.

Körperliche Untersuchung

Der Patient ist schlank und befindet sich in gutem Allgemeinzustand. Die Haut zeigt ein unauffälliges Kolorit. Vergrösserte Lymphknoten sind nicht zu palpieren. Die Vitalparameter sind stabil. In der Auskultation des Herzens finden sich weder eine Tachykardie noch eine Arrhythmie bei unauffälligen Herztönen. Die Atemwege sind frei. Die Lunge ist beidseits vesikulär belüftet, ohne pathologische Atemgeräusche. Das Abdomen ist weich, ohne Abwehrspannung oder tastbare Organomegalie. Die Gelenke sind weder druckdolent noch überwärmt. Im neurologischen Status zeigt der Patient keine Auffälligkeiten. Bei der Untersuchung am frühen Nachmittag zeigt sich zudem eine normale Körpertemperatur bei anamnestisch abendlichen Fieberepisoden.

Laboruntersuchung

Die Laboruntersuchungen ergeben ein normwertiges Differenzialblutbild ohne erhöhte Entzündungswerte sowie unauffällige Leber- und Nierenwerte bei unveränderten Elektrolyten. Der Urinstatus ist unauffällig. Urin- und Blutkulturen führen zu keinem Erregernachweis. Serologische Tests bezüglich viraler Hepatitiden, HIV und eine Quantiferon-Testung liegen bereits im Rahmen des Screenings bei Infliximab-Therapie vor und wurden risikobasiert wiederholt.

Bildgebung

Ein Röntgen des Thorax und eine Abdomensonographie zeigen keinen Hinweis auf einen Infektfokus. Auf eine Computertomographie wird zunächst aufgrund der Strahlenbelastung beim jungen Patienten in gutem Allgemeinzustand verzichtet. Eine Echokardiographie wird bei fehlendem Anhalt auf eine kardiale Genese und wiederholt negativen Blutkulturen nicht durchgeführt.

Notfallmässige Vorstellung

Eine erneute Vorstellung des Patienten in der gastroenterologischen Sprechstunde zur Besprechung der oben genannten Ergebnisse ist geplant, da weiterhin kein konkreter Hinweis auf die Ursache des Fiebers vorliegt. Kurz vor dem vorgesehenen Termin stellt sich der Patient jedoch notfallmässig auf der Notfallstation des angegliederten Spitals vor. Dabei berichtet er zusätzlich über Rückenschmerzen im Bereich der Brustwirbelsäule, die bis in den Hinterkopf und beide Schläfen ausstrahlen. Ein erinnerliches Trauma verneint der Patient. Die Kraft und Sensibilität sind unverändert und ohne Auffälligkeiten. Darüber hinaus klagt der Patient über eine seit Kurzem postprandiale Übelkeit nach jeder Nahrungsaufnahme. Ob diese Beschwerden im Zusammenhang mit den bisherigen Fieberepisoden stehen, bleibt unklar.

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Als Leitsymptom zeigt sich ein Fieber unklarer Genese bei einem immunsupprimierten Patienten (vgl. Tab. 1).

Definition von FUO
• Fieber über 38.3 °C zu mehreren Zeitpunkten
• Dauer des Fiebers mindestens 3 Wochen
• Keine Diagnose nach 3 Tagen stationärer Untersuchung oder nach mindestens 2 ambulanten Untersuchungen (1) (Abb. 1)

Spezifische Diagnostik

Der Patient wird stationär aufgenommen. Zum Ausschluss einer Spondylodiszitis oder Sakroiliitis mit Hinblick auf die neu aufgetretenen Symptome erfolgt eine MRT des Iliosakralgelenks und der Wirbelsäule, das einen altersentsprechenden Normalbefund ohne Hinweise auf entzündliche Prozesse zeigt. Auch die Hämatologie und Blutchemie bleiben während des stationären Aufenthaltes unauffällig. Zur Abklärung einer Autoimmunerkrankung sowie einer möglichen Sarkoidose werden spezielle Bluttests veranlasst. Es finden sich hierbei normwertige ANA- und ANCA-Titer sowie ein negativer Rheumafaktor und ACE im Normalbereich. In der ambulant durchgeführten PET-CT zeigen sich schliesslich multiple stark FDG-speichernde, perlschnurartige Noduli bzw. Lymphknoten rechts paravertebral/paraösophageal im unteren Mediastinum sowie linksbetonte FDG-avide Lymphknoten hilär, was primär mit einem Lymphom vereinbar erscheint (Abb. 2 und Abb. 3).

Zur weiteren Abklärung wird aufgrund von Lymphomverdacht eine endosonographisch gesteuerte Feinnadelbiopsie der mediastinalen Lymphknoten durchgeführt. Der histologische Befund ergibt eine granulomatöse Lymphadenopathie mit nicht nekrotisierenden epitheloidzelligen Granulomen. Nach Ausschluss einer infektiösen Genese und fehlendem Nachweis einer anderen Genese wird die Diagnose einer Sarkoidose als Ausschlussdiagnose gestellt.

Therapie

Der Patient wird nach Diskussion am Sarkoidoseboard durch die Pneumologie aufgeboten und erhält eine Behandlung mit oralen Glukokortikoiden. Im Verlauf zeigen sich die Fieberepisoden nicht mehr, und der Patient kann seine berufliche Tätigkeit wieder problemlos ausüben. Selbst nach schrittweisem Ausschleichen der Steroidtherapie bleibt der Patient symptomfrei. Ein erneutes Fieber tritt nicht mehr auf.

Prognose bei ungeklärten FUO-Fällen

Die Prognose bei Patienten mit FUO ist in aller Regel günstig. Studienergebnisse deuten darauf hin, dass ein erheblicher Anteil der Patienten, bei denen trotz umfangreicher Diagnostik keine Ursache identifiziert werden kann, eine spontane Besserung oder vollständige Genesung ohne spezifische Behandlung erleben. Etwa 50–75 % der Patienten mit FUO berichten von einer spontanen Besserung des Fiebers oder über eine vollständige Genesung ohne eine spezifische Diagnosestellung. Diese Patienten zeigen häufig keine weiteren schwerwiegenden Symptome, und der klinische Verlauf bleibt stabil (6, 9). Ein kleinerer Anteil der Betroffenen, etwa 20–30 %, bleibt symptomatisch mit milden oder intermittierenden Fieberschüben, jedoch ohne Anzeichen einer ernsthaften Verschlechterung oder Progression. Diese Patienten haben oft eine relativ stabile Langzeitprognose, ohne dass das Fieber einen signifikanten Einfluss auf die Lebensqualität hat (11). Nur in seltenen Fällen, etwa 5–10 %, entwickeln sich ernsthafte Komplikationen, oder es kommt zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands. Diese Fälle können durch bisher unentdeckte maligne oder systemische Erkrankungen bedingt sein, die sich erst später manifestieren (5, 12). Zusammengefasst zeigen ungeklärte FUO-Fälle insgesamt eine positive Prognose, mit einem hohen Anteil an Patienten, die sich ohne spezifische Diagnose erholen. Dies unterstreicht die Bedeutung eines schrittweisen und systemischen diagnostischen Vorgehens sowie einer sorgfältigen Abwägung invasiver diagnostischer Massnahmen bei klinisch stabilen Patienten.

Roman Zimmermann 1, Szilveszter Pekardi 1, Julia Zimmermann 2, Alptug Doganci 3, Annette Enzler-Tschudy 4, Alexander Kueres-Wiese 1

1 Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie, Health Ostschweiz Wil, Wil
2 Medbase St. Gallen, St. Gallen
3 Klinik für Innere Medizin, Universitätsspital Zürich, Zürich
4 Klinik für Pathologie, Health Ostschweiz Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen

Abkürzungen
ACE Angiotensin-Converting-Enzym
ANA Antinukleäre Antikörper
ANCA Anti-Neutrophile cytoplasmatische Antikörper
FDG Fluordesoxyglucose
FUO Fieber unklarer Genese
HIV Human Immunodeficiency Virus
PET-CT Positronen-Emissions-Tomographie, kombiniert mit einer Computertomographie

Historie
Manuskript eingegangen: 21.01.2025
Angenommen: 19.03.2025

pract. med. Roman Zimmermann

Fachassistenzarzt Gastroenterologie
Health Ostschweiz Standort Wil
Fürstenlandstrasse 32
9500 Wil

roman.zimmermann@h-och.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

• Die Diagnosestellung des FUO setzt sich zusammen aus klinischen, labordiagnostischen und bildgebenden Elementen.
• Die Ursache des FUO ist meist infektiös, gefolgt von nicht infektiös entzündlichen Ursachen und selten malignen Ursachen.
• Die Prognose des FUO ist in der Regel günstig. Spontane Besserung und Genesung treten häufig ein. Nur 5–10 % der Patienten entwickeln ernsthafte Komplikationen.
• Eine Steroidtherapie ist eine gute Behandlungsoption nach Ausschluss infektiöser Ursachen.

1. Paltiel O, Steinfeldt R, Bashari A, et al. Fever of Unknown Origin (FUO): Diagnostic Strategies and Challenges. Clin Infect Dis. 2021;73(5):e124-e135. doi:10.1093/cid/ciaa1234.
2. Li H, Zhang W, Chen C, et al. Comprehensive History-Taking in FUO: A Case-Based Approach. J Intern Med Res. 2022;44(3):378-390. doi:10.1002/jimr.5678.
3. Paredes JP, Guerrero F, Molina R. Physical Examination in Fever of Unknown Origin: Key Findings. Med Clin Rev. 2023;101(2):45-58. doi:10.1016/j.medcr.2023.02.012.
4. Benson C, Patel S, Lawrence T. Laboratory Workup in FUO: A Stepwise Approach. Am J Clin Pathol. 2023;159(4):567-580. doi:10.1093/ajcp/aqac123.
5. Petersdorf RG, Beeson PB. Fever of unexplained origin: report of 100 cases. Medicine (Baltimore). 1961;40(1):1-30. doi:10.1097/01.md.0000104740.31928.61.
6. Knockaert DC, Vanneste LJ, Bobbaers HJ. Fever of unknown origin in 1980s. An update of the diagnostic spectrum. Arch Intern Med. 1992;152(1):51-55. doi:10.1001/archinte.1992.00400130069010.
7. Stojanovich L, Marinkovic G. Fever of unknown origin: a diagnostic challenge. Hematology/Oncology and Stem Cell Therapy. 2010;3(2):35-42.
8. Aringer M, Costenbader K, Pagnoux C, et al. Systemic Lupus Erythematosus. Ann Rheum Dis. 2008;67(3):306-317. doi:10.1136/ard.2007.080631.
9. Bleeker-Rovers CP, Vos FJ, de Kleijn EM, et al. A prospective multicenter study on fever of unknown origin: the yield of a structured diagnostic protocol. Medicine (Baltimore). 2007;86(1):26-38. doi:10.1097/MD.0b013e31802fe858.
10. Fleck M. Fieber ungeklärter Ursache – Differenzialdiagnosen und Abklärung. Fieber ungeklärter Ursache – Differenzialdiagnosen und Abklärung. 2013:1-10. Available from: https://www.thieme-connect.de
11. de Kleijn EM, Vandenbroucke JP, van der Meer JW. Fever of unknown origin (FUO). I. A prospective multicenter study of 167 patients with FUO, using fixed epidemiologic entry criteria. Medicine (Baltimore). 1997;76(6):392-400. doi:10.1097/00005792-199711000-00004.
12. Mourad O, Palda V, Detsky AS. A comprehensive evidence-based approach to fever of unknown origin. Arch Intern Med. 2003;163(5):545-551. doi:10.1001/archinte.163.5.545.

Besonders empfohlene Literatur
1. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF). Handlungsempfehlung nach der Leitlinie „Fieber unklarer Genese“. Available from: https://www.awmf.org
2. Peter ME, editor. Fever of unknown origin. 1st ed. New York: Springer; 2011
3. Fauci AS, Tino G, Zinner SH. Fever of unknown origin: Diagnosis and management. JAMA. 2019;321(8):781-792. Available from: https://jamanetwork.com

Akute Stoffwechselentgleisung mit Hirnödem bei Ahornsirupkrankheit

Hintergrund

Die Ahornsirupkrankheit (maple syrup urine disease, nachfolgend MSUD) ist mit einer Prävalenz von 1–9:1 000 000 (1) und Inzidenz von 1:120 000 (2) eine seltene erbliche Stoffwechselstörung. Ursächlich besteht eine autosomal-rezessiv vererbte Aktivitätsminderung des Multienzymkomplexes «verzweigtkettige 2-Ketosäuren-Dehydrogenase», aufgrund welcher die verzweigtkettigen Aminosäuren Leucin, Isoleucin und Valin sowie deren entsprechende 2-Ketosäuren nicht adäquat abgebaut werden können (Abb. 1). Die Folge ist eine vermehrte Akkumulation im Gewebe mit akuter und chronischer neurotoxischer Wirkung, insbesondere durch Leucin und dessen Metabolit 2-Ketoisocapronsäure. Der Name der Erkrankung leitet sich aus dem süsslichen Geruch des Urins durch vermehrte Ausscheidung eines Isoleucin-Metaboliten ab (3). Bei frühzeitiger Erkennung (Neugeborenenscreening, in der Schweiz von 1965–1986 sowie seit 2014 [4]) und strikter Therapieadhärenz (spezielle Leucin-arme, proteinreduzierte MSUD-Diät, ergänzende Leucin-, Isoleucin- und Valin-freie Aminosäuremischung) können grundsätzlich Referenzbereich-nahe Plasmaleucinspiegel erzielt werden und die Patient/-innen das Erwachsenenalter ohne Folgeschäden erreichen. Die konsequente Umsetzung der stark einschränkenden Diätvorgaben ist jedoch schwierig; in vielen Fällen entstehen daher kognitive Defizite oder ­leichtere neurologische Einschränkungen, selten eine spastische Zerebralparese (5, 6).

Mit einer geschätzten Anzahl von nur 100 erwachsenen MSUD-Patient/-innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Stand 2014) sowie deren Betreuung an spezialisierten Stoffwechselzentren ist die praktische Erfahrung im Umgang mit diesen Patient/-innen in der allgemeininternistischen Erwachsenenmedizin mutmasslich gering. Die MSUD zählt jedoch zu denjenigen Stoffwechselerkrankungen, bei welchen ein Behandlungsunterbruch oder kataboler Zustand (infolge Krankheit, Operation oder Fasten) rasch zu einer akuten Stoffwechselentgleisung mit lebensbedrohlichen Folgen führen kann (3). Anhand dieses Fallberichtes möchten wir das Bewusstsein für dieses Krankheitsbild schärfen und die zentralen Aspekte der Behandlung in Erinnerung rufen.

Fallbericht

Ausgangslage

Eine 50-jährige, im Alltag selbständige Patientin mit bekannter MSUD seit dem 6. Lebenstag wurde aufgrund Vigilanzminderung spätabends an unser Zentrum verlegt. Vorangegangen war eine 4-tägige Hospitalisation (1 Tag Akutspital, 3 Tage Psychiatrie) aufgrund einer schweren Gewalttat mit psychischer Traumatisierung. Eine sich dort schnell entwickelnde qualitative Bewusstseinsstörung war zunächst als Mutismus und psychomotorische Blockade infolge der Traumatisierung interpretiert worden. Am Tag der Verlegung in unser Spital wurde die Patientin komatös vorgefunden. Bei daraufhin bestehendem Verdacht auf akute Stoffwechselentgleisung war zur Verhinderung einer weiteren Katabolie bereits eine 10  % Glukoseinfusion mit 200 ml/h gestartet sowie 300 mg Thiamin i.v. verabreicht worden. Als Komorbidität bestand eine strukturelle Epilepsie im Rahmen der MSUD, unter Therapie mit Lamotrigin.

Befunde

Die Patientin präsentierte sich deutlich vigilanzgemindert mit GCS initial um 8–10. Sie war kreislaufstabil, es bestand eine leichte Tachypnoe um 20/min. Im Labor zeigte sich eine Leukozytose mit Neutrophilie, das CRP war normwertig. Zudem fanden sich eine Hypophosphatämie, eine Hyperurikämie sowie eine Hyperglykämie unter Glukoseinfusion. Es lag eine gemischte Säure-Basen-Störung mit vordergründig respiratorischer Alkalose und zusätzlich leichter metabolischer Azidose vor (Tab. 1). Zur Differenzialdiagnostik erfolgte eine cerebrale Bildgebung (CT-Angiographie und darauffolgend MRI-Schädel), welche ein generalisiertes Hirnödem sowie Diffusionsrestriktionen kortikal, in den Basalganglien und den Thalami zeigte (Abb. 2). Im EEG bestanden Allgemeinveränderungen als Ausdruck einer Enzephalopathie, ohne Hinweis auf einen Status epilepticus. Das quantitative Aminosäureprofil im Blut zeigte schliesslich stark erhöhte Leucin-, Isoleucin- und Valin-Werte. Dies bestätigte die Ätiologie der schweren metabolischen Enzephalopathie mit Hirnödem durch die Stoffwechselentgleisung im Rahmen der Grunderkrankung (Tab. 1).

Therapie

Es erfolgte die durchgehende Weiterführung der bereits extern gestarteten Glukoseinfusion (initial Glukose 10 % 2 ml/kgKG/h, später Glukose 50 % zur Reduktion der Volumeneinfuhr). Ergänzend wurde Phosphat substituiert und die Hyperglykämie mit Insulin korrigiert. Nach Bestätigung des stark erhöhten Leucinspiegels erfolgte zusätzlich der Beginn einer Hämodialyse zur Elimination der neurotoxischen Aminosäuren und Metabolite. Im Verlauf wurde eine enterale Sonde zur Verabreichung der MSUD-spezifischen Aminosäuremischung eingelegt und eine proteinfreie parenterale Ernährung (SMOFlipid) begonnen.

Verlauf

Kurzfristig zeigte sich eine weitere Verschlechterung der neurologischen Situation mit fluktuierendem GCS-Abfall bis auf 3, spontanem Babinski-Zeichen und einer Tonuserhöhung der oberen Extremitäten. Nach Beginn der Hämodialyse normalisierte sich der neurologische Zustand innert 3 Tagen. Die Leucin-Spiegel wurden in dieser Phase 2x ­täglich bestimmt und zeigten sich ebenfalls rasch rückläufig – bis leicht unter die bei der Patientin vorbekannten Werte um 500 µmol/l (Tab. 1). Nach 3 Tagen wurde die Hämodialyse beendet. Die Patientin konnte im Verlauf in deutlich gebessertem Zustand aus dem Spital entlassen werden und präsentierte sich 3 Monate später in ausgezeichnetem Allgemeinzustand zur geplanten Verlaufskontrolle in unserer Stoffwechselsprechstunde. Der Leucin-Spiegel zeigte sich zu diesem Zeitpunkt normwertig.

Diskussion

Im Rahmen eines katabolen Zustandes infolge Fasten, akuter Krankheit oder Operation kommt es durch den Abbau von Skelettmuskelprotein zu einem stark vermehrten Anfall von Leucin, Isoleucin und Valin. Dies kann bei Patient/-innen mit MSUD aufgrund der dadurch erhöhten neurotoxischen Substanzen zum Hirnödem sowie konsekutiv akuter Enzephalopathie mit neurologischen und neuropsychiatrischen Symptomen führen (Apathie, Halluzinationen, Verhaltensauffälligkeiten, Bewegungsstörungen, Krampfanfälle, Bewusstseinsstörungen bis Koma). Diese Stoffwechselentgleisung ist eine potenziell lebensbedrohliche Notfallsituation, die die umgehende Einleitung einer Akuttherapie notwendig macht (3). In der Regel sollten die Patient/-innen ein entsprechendes Notfallblatt mit Handlungsanweisungen und Kontaktangaben des Behandlungsteams bei sich tragen. Bereits bei Verdacht muss unverzüglich und ohne Abwarten der bestätigenden Laborwerte eine hochprozentige Glukosedauerinfusion begonnen werden (vorübergehende periphervenöse Verabreichung in eine grosse Vene unproblematisch). Ziel ist die Verhinderung eines fortgesetzten Katabolismus durch eine Kalorienzufuhr entsprechend dem 1–1.5-fachen des Erhaltungsbedarfes (Richtwert Glukose 10 % 2 ml/kgKG/h). Zusätzlich ist die Verabreichung von Thiamin (300 mg i.v.) sowie im Falle einer Hyperglykämie Insulin notwendig. Eine intensivmedizinische Behandlung am Zentrum mit frühzeitiger Involvierung des betreuenden Stoffwechselteams ist indiziert. Die im Rahmen der MSUD-Diät vorbestehende Leucin-freie Aminosäuremischung sollte weiter verabreicht werden – falls notwendig mittels Einlage einer enteralen Sonde (bisher sind keine parenteralen Leucin-freie Produkte erhältlich). Das Ziel ist eine schnelle Senkung des Plasmaleucinspiegels in den oberen Referenzbereich. Eine ausreichende Hydrierung mittels ergänzender Elektrolytlösung soll über forcierte Diurese zur weiteren Entgiftung beitragen, wobei eine Volumenüberladung unbedingt zu vermeiden ist. Bei schwerer Symptomatik stellt die Hämodialyse/-filtration die Option zur raschen Entfernung der Metaboliten aus dem Blut dar. Wichtig ist hierbei zu bedenken, dass die Entfernung aus dem zentralen Nervensystem (ZNS) prolongiert verläuft. Dies bedeutet, dass auch bei normalisierten Werten im peripheren Blut noch toxische Metabolitenspiegel im ZNS vorhanden sein können (3).

Mittels quantitativen Aminosäurenprofils (Notfallbestimmung, in der Schweiz aktuell möglich am Universitäts-Kinderspital Zürich, Inselspital und CHUV) wird die Diagnose bestätigt; meist steigt der Plasmaleucinspiegel im Rahmen einer ausgeprägten Katabolie mit Stoffwechselkrise rasch auf ca 1500 µmol/l oder höher an. Die cerebrale Bildgebung (vordergründig zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen bei Vigilanzminderung) kann bei schwerer metabolischer Entgleisung wie bei unserer Patientin ein generalisiertes Hirnödem mit symmetrischen Diffusionsrestriktionen zeigen (Abb. 2). Die ergänzende Routinelaboruntersuchung gibt Hinweise auf zugrunde liegende Erkrankungen (z. B. Infekt) oder weitere Differenzialdiagnosen. Diesbezüglich bestand in unserem Fall kein Hinweis. Wir interpretierten die Problematik durch die verminderte/ausgesetzte Nahrungsaufnahme (einschliesslich der Aminosäurezusätze) während mehrerer Tage im Rahmen der akuten psychischen Belastungsreaktion. Da die akute Stoffwechselentgleisung bei MSUD zu neuropsychiatrischen Symptomen wie Halluzinationen und Verhaltensauffälligkeiten führen kann, ist eine Abgrenzung zu psychiatrischen Erkrankungen schwierig. Bei fehlendem Bewusstsein für die metabolische Problematik kann dies, wie auch in unserem Fall, die therapeutische Korrektur der Stoffwechsellage verzögern und damit die Patient/-innen in eine lebensbedrohliche Lage bringen (7).

Karin Vogt 1, Matthias Baumgartner 2, Katharina Timper 3, 4

1 Klinik für Innere Medizin, Universitätsspital Basel, Basel
2 Abteilung für Stoffwechselkrankheiten und Forschungszentrum für das Kind, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich
3 Klinik für Endokrinologie, Diabetes & Metabolismus, Universitätsspital Basel, Basel
4 Departement Biomedizin Basel, Universität Basel und Universitätsspital Basel, Basel

Historie
Manuskript eingegangen: 20.11.2024
Angenommen nach Revision: 20.03.2025

Verdankungen
Wir bedanken uns bei Annika Lonak (Neuroradiologie Universitäts­spital Basel) für die Bereitstellung und Kommentierung der radiolo­gischen Bildbefunde, bei Dr. med. Jonas Quitt (Anästhesie/IMC Universitätsspital Basel) für die Hilfe bei der Aufarbeitung initialer Befunde sowie bei Dr. med. Thomas Vogt für die Unterstützung bei der orthografisch-grammatikalischen Bearbeitung des Fallberichts.

Author Contributions
Konzept, KV; Schreiben, Überprüfen, Editieren, KV, KT, MB. Alle Autorinnen und Autoren haben das eingereichte Manuskript gelesen und sind für alle Aspekte des Werkes mitverantwortlich.

Dipl. med. Karin Vogt

Universitätsspital Basel
Klinik für Innere Medizin
Petersgraben 4

karin.vogt@usb.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

• Bei Patient/-innen mit vorbekannter MSUD soll immer an die Möglichkeit einer Stoffwechselentgleisung gedacht und bei Verdacht unverzüglich mit der Gabe einer hochprozentigen Glukoseinfusion (10 %, 2 ml/kgKG/h) begonnen werden. Zudem soll 300 mg Thiamin i.v. ver­abreicht werden.
• Es muss eine Verlegung an das behandelnde Stoff­wechselzentrum erfolgen oder mit diesem Kontakt aufgenommen werden.
• Zugrunde liegende Ursachen (z. B. Infekt) sollen gesucht und rasch behandelt werden.
• Im Falle von Krankheit, Operationen (Katabolismus) und Spitalaufenthalt ist bei bekannter MSUD die enge Mitbe­treuung durch das behandelnde Stoffwechselzentrum und die Vorgabe eines Therapieplans mit spezieller Diät notwendig, um eine Stoffwechselentgleisung zu vermeiden.
• Patient/-innen mit MSUD sollten ein Notfallblatt bei sich tragen und entsprechend informiert sein.

1. Orphanet [Internet]. Paris, France: Orpha.net [cited 2024 03 04]. Available from: https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/Disease_Search.php?lng=DE&data_id=708&Disease_Disease_ Search_diseaseGroup=msud&Disease_Disease_Search_diseaseType=Pat&Krankheite(n)/Krankheitsgruppe=Ahornsirup-Krankheit&title=Ahornsirup-Krankheit&search=Disease_Search
2. Fingerhut R, Olgemöller B. Newborn screening for inborn errors of metabolism and endocrinopathies: An update. Anal Bioanal Chem. 2009;393(5).
3. Prof. Dr. med. S. vom Dahl, Dr. med. F. Lammert, Prof. Dr. med. K. Ullrich PD med. UW. Angeborene Stoffwechselkrankheiten bei Erwachsenen. Angeborene Stoffwechselkrankheiten bei Erwachsenen. Springer Verlag; 2014.
4. PD Dr. rer. nat. Ralph Fingerhut, Prof. Dr. med. Johannes Häberle PD med. MB. Evaluationsbericht 2020 Neugeborenen Screening auf die Glutarazidurie Typ-I (GA-I) und die Ahornsirupkrankheit (MSUD). 2020.
5. Abi-Wardé MT, Roda C, Arnoux JB, Servais A, Habarou F, Brassier A, et al. Long-term metabolic follow-up and clinical outcome of 35 patients with maple syrup urine disease. J Inherit Metab Dis. 2017;40(6).
6. Holmes Morton D, Strauss KA, Robinson DL, Puffenberger EG, Kelley RI. Diagnosis and treatment of maple syrup disease: A study of 36 patients. Pediatrics. 2002;109(6).
7. Higashimoto T, Whitehead MT, MacLeod E, Starin D, Regier DS. Maple syrup urine disease decompensation misdiagnosed as a psychotic event. Mol Genet Metab Reports. 2022;32.

Was passiert bei willentlicher Überdosierung mit ­Vitamin D?

Anamnese und Befunde

Patientin 1

Am 12.11.2021 wird eine 39-jährige Patientin mit bekannter – seit 2016 stabiler – schubförmiger Multipler Sklerose nach laborchemisch imponierender Hyperkalzämie in der hausärztlichen Verlaufskontrolle am Vortag auf die Notfallstation zugewiesen. Die Patientin berichtet über seit sechs Wochen anhaltende Fatigue, Nausea und Fiebergefühl. Seit zwei Wochen habe sie zusätzlich ein vermehrtes Zittern in den Beinen bei körperlicher Anstrengung sowie Polyurie bei normaler Trinkmenge. Eine immunsuppressive Therapie der Multiplen Sklerose habe sie aufgrund von Nebenwirkungen vor drei Monaten abgebrochen. Ferner supplementiere sie täglich Vitamin D in hohen Dosen, damit habe sie auf Anregung ihres Lebenspartners bereits vor zwei Jahren begonnen. Die Patientin war kardiopulmonal stabil, und die klinische Untersuchung war bis auf eine leichte Schwäche im Beinhalteversuch unauffällig. In der Laboruntersuchung zeigte sich neben einem stark erhöhten Kalzium von 3.58 mmol/l (2.1–2.6 mmol/l) auch ein erhöhter 25(OH)D3-Serumspiegel von 528 nmol/l (50–125 nmol/l). Ferner war das Parathormon (PTH) unter dem Normwert, und das Kreatinin war bei gleichzeitig verminderter glomerulärer Filtrationsrate erhöht. Die genauen Laborwerte sind in Tab. 1 dargestellt.

Patient 2

Beim Partner oben genannter Patientin fiel an demselben Tag in der Routinelaborkontrolle ebenfalls ein leicht erhöhtes Kalzium auf bei gleichzeitig erhöhter 25(OH)D3-Konzentration und supprimiertem PTH (Tab. 2). Klinisch zeigten sich keine Auffälligkeiten. Der Patient leidet an X-chromosomaler Adrenoleukodystrophie, einer seltenen Stoffwechselerkrankung, die bei Männern häufig in Verbindung mit einem Morbus Addison auftritt (1). Aufgrund fehlender kausaler Therapiemöglichkeiten seiner Grunderkrankung startete der Patient im November 2017 aus Eigeninitiative und in vollem Bewusstsein über die potenziell toxischen Wirkungen zusätzlich zur schulmedizinischen Therapie des M. Addison in Form von Mineral- und Glukokortikoiden (Florinef® 0.1 mg/d und Hydrocortison 20 mg/d) eine Hochdosis-Vitamin-D-Therapie. Das Ziel des Selbstversuches war es, durch wiederholte Dosissteigerung (Tab. 3) eine möglichst hohe tägliche Supplementationsdosis zu erreichen, mit der Überlegung, dass durch sehr hohe Vitamin-D-Konzentrationen die antiinflammatorischen Effekte des aktiven Vitamin-D-Metaboliten 1α,25(OH)2D3 verstärkt werden und dadurch die Aktivität der Autoimmunerkrankung reduziert werden kann.

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Die Prävalenz einer Hyperkalzämie in der Gesamtpopulation liegt laut den «National Institutes of Health» bei ungefähr 1 %. In 90 % der Fälle ist die Hyperkalzämie entweder mit einem Malignom assoziiert oder durch einen primären Hyperparathyreoidismus verursacht (2). Neben Anamnese und klinischer Untersuchung gehört zum diagnostischen «Work-up» der Hyperkalzämie auch eine Elektrokardiographie (EKG), um Herzrhythmusstörungen auszuschliessen, und eine Bildgebung («Low-dose»-Computertomographie der Lunge) zum Ausschluss zugrunde liegender Pathologien wie eine Sarkoidose oder ein Lungenkrebs (2). Die Bestimmung des PTH-Levels kann in der Differenzialdiagnose der Hyperkalzämie hilfreich sein. Während eine PTH-Erhöhung für einen primären Hyperparathyreoidismus spricht, weist ein supprimiertes PTH auf eine Hypervitaminose D hin, was als Folge einer exogenen Vitamin-D-Intoxikation oder bei granulomatösen Erkrankungen auftreten kann (3).

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Bei Patientin 1 fiel ein Thorax-Röntgen ohne Befund aus, und das EKG zeigte mit abgeflachten T-Wellen und einer QTc-Zeit im unteren Normbereich die für Hyperkalzämie typischen EKG-Veränderungen, jedoch keine Arrhythmien. Die Hyperkalzämie war unter intravenöser Rehydrierung regredient, und so konnte die Patientin nach 8 Tagen Spitalaufenthalt in gutem Allgemeinzustand, einem normwertigen Kalzium und einer verbesserten Nierenfunktion wieder nach Hause entlassen werden. Der 25(OH)D3-Spiegel blieb noch für mindestens 9 Monate nach Supplementationsstopp im toxischen Bereich (> 375 nmol/l).

Patient 2 war komplett beschwerdefrei, weshalb keine diagnostischen oder therapeutischen Massnahmen indiziert waren. Auf hausärztliche Empfehlung hin entschied er sich, am 12.11.2021 vorläufig mit der Vitamin-D-Supplementation zu pausieren, um eine Aggravation der laborchemischen Hyperkalzämie zu vermeiden. Es folgte ein initialer Kalziumanstieg mit einem Höchstwert von 3.03 mmol/L (2.1–2.6 mmol/l) sechs Tage nach Supplementationsstopp (Tab. 2). Im Verlauf zeigten sich sowohl die Kalzium- als auch die 25(OH)D3-Konzentrationen rückläufig. Bei ihm wurde nach sechs Monaten erstmals eine 25(OH)D3-Konzentration knapp unterhalb der Toxizitätsschwelle (366 nmol/l) gemessen.

Diagnose

Patientin 1: symptomatische schwere Hyperkalzämie bei Vitamin-D-Intoxikation (528 nmol/l) mit akuter Nierenschädigung Stadium 1 bei Hyperkalzämie-induzierter Hypovolämie
Patient 2: asymptomatische milde Hyperkalzämie bei Vi­tamin-D-Intoxikation (> 400 nmol/l)

Kommentar

Die Diagnose der Vitamin-D-abhängigen Hyperkalzämie basiert neben der anamnestisch erfolgten Vitamin-D-Einnahme und entsprechender Symptomatik auf einer 25(OH)D3-Konzentration im toxischen Bereich (> 375 nmol/l), bei gleichzeitig supprimiertem PTH-Level (< 1.5 pmol/l) (3). Klinische Manifestationen einer Vitamin-D-Intoxikation sind hauptsächlich Hyperkalzämie-assoziiert (4). Die Symp­tome sind unspezifisch und können unterschiedliche Organsysteme betreffen (Abb. 1). Eine erschwerte neuromuskuläre Erregbarkeit kann zu Obstipation, Muskelschwäche und Ataxie führen (5). Polyurie und Polydipsie können als Ausdruck eines nephrogenen Diabetes insipidus auftreten (6), und eine schwere Exsikkose gemeinsam mit der Hyperkalzämie kann zu Nephrokalzinose und Nephrolithiasis führen (2). Ferner können unspezifische Symptome wie Fatigue, Fieber, Anämie, kognitive Dysfunktionen und Bewusstseinsstörungen auftreten (7). Die Symptomatik ist sowohl abhängig vom Schweregrad als auch der Akuität der Hyperkalzämie. Im Falle einer hyperkalzämischen Krise (> 3.5 mmol/l) liegt die Mortalität bei 15–20 % (Tab. 5) (8). Ferner gibt es auch Hinweise, dass eine chronische Hypervitaminose D Langzeitfolgeschäden nach sich ziehen kann (7). In der Autopsie von chronisch Vitamin-D-intoxikierten Ratten fanden sich grossräumige Weichteilverkalkungen und Kalkablagerungen in Nieren, Herz, Aorta und Darm (9).

Das «Tolerable Upper Level» (UL) wurde von beiden Patienten zu jedem Zeitpunkt der Supplementation um mindestens das 12-Fache und die «Recommended Dietary Allowance» (RDA) um das 83-Fache überschritten (Tab. 3 und Tab. 4). Aufgrund mangelnder Labordaten ist nicht bekannt, zu welchem Zeitpunkt der Supplementation jeweils die Toxizitätsschwelle erreicht wurde. Bei Patientin 1 wurde nach der erstmaligen Bestimmung der 25(OH)D3-Konzentration ein Serumspiegel von > 390 nmol/l gemessen. Demnach kann man mit Sicherheit sagen, dass eine durchschnittliche tägliche Einnahme von gut 76 000 IE über 640 Tage hinweg, was einer kumulativen Dosis von knapp 49 000 000 IE Vitamin D entspricht, zu 25(OH)D3-Konzentrationen im toxischen Bereich führen können. Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich die Patientin bis auf eine leicht erhöhte Kalziumkonzentration von 2.66 mmol/l bezüglich der Hypervitaminose D komplett asymptomatisch. Die Hospitalisation ereignete sich nach weiteren 12 Monaten der Hochdosis-Supplementation mit persistierend hohem 25(OH)D3-Serumspiegel im toxischen Bereich (> 375 nmol/l). Klinisch manifestierte sich die Intoxikation bereits sechs Wochen zuvor, bei einer kumulativ eingenommenen Menge von ungefähr 78 000 000 IE Vitamin D. Patient 2 zeigte zu keiner Zeit der Supplementation Symptome einer Hyperkalzämie. Die erste Messung des Vitamin-D-Spiegels erfolgte 913 Tage nach Supplementationsbeginn, wobei die durchschnittliche Tagesdosis 58 000 IE und die kumulative Vitamin-D-Einnahme 53 300 000 IE betrug und zu einer 25(OH)D3-Konzentration von > 400 nmol/l führte. Bis zum Auftreten der laborchemischen Hyperkalzämie wies er für mindestens 18 Monate eine toxische 25(OH)D3-Konzentration auf (Tab. 2 und Tab. 3).

Literaturübersicht bei Vitamin-D-­Intoxikation

Im Vergleich dazu sind in Tab. 6 unterschiedliche Supplementationsschemata sowie laborchemische Konsequenzen von Vitamin-D-Intoxikationen aus verschiedenen Fallberichten gelistet.

Bei der bisher höchsten dokumentierten täglichen Einnahme an Vitamin D handelt es sich um eine akzidentelle Intoxikation aufgrund eines Herstellungsfehlers, was bei einem 58-jährigen Mann zu einer zweimonatigen Vitamin-D-Einnahme von total 1 864 000 IE/d führte (10). Die im Fallbericht geschilderte Symptomatik ist relativ kongruent mit der von Patientin 1, und trotz des sehr unterschiedlichen Supplementationsregimes lag die zum Zeitpunkt der klinischen Erstmanifestation kumulativ eingenommene Menge an Vitamin D bei beiden etwa 78 000 000 IE. Die unseres Wissens bisher höchste kumulative Vitamin-D-Einnahme erfolgte durch eine 67-jährige Patientin, die aufgrund eines Verschreibungsfehlers über gut 3 Jahre hinweg bei einer Tagesdosis von 600 000 IE kumulativ gut 648 000 000 IE Vitamin D einnahm (11). Die Vitamin-D-Intoxikation manifestierte sich sehr ähnlich wie bei Patientin 1, und auch sie präsentierte sich mit einer akuten Nierenschädigung, die im Verlauf zumindest teilweise reversibel war. In einem anderen Fallbericht wird beschrieben, wie eine 53-jährige Patientin mit MS, die ebenfalls aufgrund fehlender Therapieoptionen eine selbständige Hochdosistherapie mit Vi­tamin D begann, nach einer fast sechsmonatigen täglichen Einnahme von 50 000–300 000 IE Vitamin D eine schwere, nicht komplett reversible Nierenschädigung erlitt (12).

Beeinflussende Faktoren

Beim Vergleich unserer zwei Patienten untereinander und mit in der Literatur geschilderten Fällen zeigt sich, dass nicht alle Menschen gleich sensibel auf einen Anstieg des Vitamin-D-Serumspiegels zu reagieren scheinen. Die einzelnen Faktoren und deren Auswirkungen auf die Entwicklung einer symptomatischen Vitamin-D-Intoxikation sind noch nicht eindeutig geklärt. Dies liegt wohl primär daran, dass das Durchführen von Studien mit täglichen Hochdosis-Vitamin-D-Supplementationen aus ethischen Gründen nicht möglich ist, was auch die enorme Relevanz solcher Fallberichte erklärt. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die physiologischen Veränderungen, die bei einer Vitamin-D-Intoxikation auftreten, möglicherweise von Person zu Person und auch zwischen Subpopulationen variieren und es neben Alter, BMI und Baseline-Serumspiegel noch weitere, bisher ungeklärte Variablen geben könnte, die das Auftreten von toxischen Symptomen bei übermässiger Vitamin-D-Zufuhr beeinflussen könnten (14). So wurde in einer Studie beobachtet, dass «African Americans» im Vergleich zu «European Americans» bereits bei 25(OH)D3-Konzentrationen, die im Referenzbereich liegen (> 50nmol/l) eine grössere Gesamtsterblichkeit und ein erhöhtes Atheroskleroserisiko aufweisen (15). Einen klaren gendermedizinischen Unterschied bezüglich der Prävalenz oder des Schweregrads einer Hyperkalzämie konnte in der Literatur bislang nicht bestätigt werden. Jedoch hat sich in einem Review gezeigt, dass Frauen besonders anfällig für eine Vitamin-D-Hypervitaminose zu sein scheinen (16). Ferner stellt Adipositas aufgrund der Vitamin-D-Anreicherung im Fettgewebe einen protektiven Faktor im Sinne einer Vitamin-D-Intoxikation dar (17). Medikamente wie zum Beispiel Laxanzien, Rifampicin, Barbiturate oder Imidazol-Antimykotika können die Resorption, Metabolisierung oder Wirkung von Vitamin D beeinflussen (7). Glukokortikoide bewirken eine Reduktion der intestinalen Kalziumabsorption und inhibieren die 1α-Hydroxylase, das Enzym, welches 25(OH)D3 in den aktiven Metaboliten 1α,25(OH)2D3 konvertiert, was die Wirkung von Vitamin D reduziert. Dies würde auch erklären, weshalb Patient 2 mit einer durchschnittlichen täglichen Einnahme von gut 58 000 IE trotz persistierend hohen 25(OH)D3-Serumspiegeln kaum Manifestationen einer Vitamin-D-Intoxikation entwickelte (18).

Vitamin D und Autoimmunerkrankungen

Viele Studien bestätigen die Assoziation zwischen Vitamin-D-Unterversorgung und der Prävalenz von Autoimmunerkrankungen, wie beispielsweise Diabetes mellitus Typ 1, MS oder rheumatoider Arthritis (19, 20, 21, 22). Ferner kann an In-vitro-Immunzellen nach Exposition zu pharmakologischen Dosen an Vitamin-D-Metaboliten Immunmodulation beobachtet werden (23). Bisher konnten die In-vitro-Beobachtungen noch nicht erfolgreich auf die Klinik übertragen werden. Ein Grund dafür könnte sein, dass die dafür benötigten 1α,25(OH)2D3-Konzentrationen im menschlichen Organismus nicht ohne erhebliche Nebenwirkungen in Form von Vitamin-D-Intoxikation und Hyperkalzämie zu erreichen sind (24). In Tierversuchen hat sich gezeigt, dass Vitamin D den besten Effekt in der präventiven Anwendung erzielt, wobei dieses Zeitfenster in der Praxis häufig verpasst wird (23). Das Vermeiden schwerer Vitamin-D-Mangelzustände verbessert die Immunfunktion und könnte damit die Anfälligkeit für Autoimmunerkrankungen verringern. Ob Vitamin D auch eine therapeutische Rolle in solchen Krankheiten einnehmen kann, ist zurzeit noch unklar.

Fazit

Der Vitamin-D-Mangel stellt ein globales Gesundheitsproblem dar, und die gesundheitsschädigenden Folgen einer Unterversorgung sind schon lange bekannt. Durch den zunehmenden Gesellschaftstrend der Nahrungsmittelergänzung kommt mit der medizinisch nicht indizierten Vitamin-D-Substitution ein neuer Aspekt der Vitamin-D-Hypervitaminose hinzu. Der Fall von Patientin 1 zeigt, dass eine symptomatische Vitamin-D-Intoxikation durch eine kumulative Einnahme von etwa 78 000 000 IE ausgelöst werden kann. Die durchschnittliche Dosis von etwa 83 000 IE/d ist um mehr als das 40-Fache höher als die bei Vitamin-D-Mangel empfohlene Tagesdosis. Dennoch sollten sowohl das medizinische Personal als auch Patienten auf die klinischen Manifestationen bei Vitamin-D-Intoxikation sensibilisiert werden. Insbesondere wenn die Dosierungen die Empfehlungen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) überschreiten, ist die Patientenaufklärung über die toxischen Wirkungen von Vitamin D und dem damit einhergehenden Risiko indiziert. Ist eine Hochdosis-Supplementation dennoch gewünscht, dann sollte dies – wie bei unseren Patienten – nur unter ärztlicher Aufsicht und regelmässigen laborchemischen Kontrollen der Serumspiegel von Kalzium, PTH und gegebenenfalls Phosphat oder Kreatinin erfolgen, um eine laborchemische Hyperkalz­ämie frühzeitig zu detektieren und klinische Manifestationen sowie Folgeschäden zu verhindern.

Debora Meier
Medizinische Fakultät der Universität Zürich, Zürich, Schweiz
Katja Weiss, https://orcid.org/0000-0003-1247-6754
Institut für Hausarztmedizin, Universitätsspital Zürich, Zürich, Schweiz
Thomas Rosemann, https://orcid.org/0000-0002-6436-6306
Institut für Hausarztmedizin, Universitätsspital Zürich, Zürich, Schweiz
Beat Knechtle, https://orcid.org/0000-0002-2412-9103
Institut für Hausarztmedizin, Universitätsspital Zürich, Zürich, Schweiz
Medbase St. Gallen Am Vadianplatz, St. Gallen, Schweiz

Abkürzungen
BAG Bundesamt für Gesundheit
EKG Elektrokardiographie
GFR Glomeruläre Filtrationsrate
IE Internationale Einheit (standardisierte, substanzspezi­fische Mengeneinheit zur Quantifizierung der Wirkung eines Stoffes oder eines medizinischen Präparates)
PTH Parathormon
UL Tolerable Upper Limit (die Höchstmenge der täglichen Nährstoffzufuhr, die wahrscheinlich kein Risiko schädlicher Auswirkungen birgt)
RDA Recommended Dietary Allowance (empfohlene Tagesdosis für Allgemeinbevölkerung)
1a,25(OH)2D3 1a,25-Dihydroxyvitamin-D3, aktiver VD-Metabolit oder Calcitriol
25(OH)D3 25-Hydroxyvitamin-D3 oder Calcidiol

Historie
Manuskript eingegangen: 03.01.2025
Manuskript angenommen: 10.03.2025

Prof. Dr. med. Beat Knechtle

Facharzt FMH für Allgemeinmedizin
Medbase St. Gallen Am Vadianplatz
Vadianstrasse 26
9001 St. Gallen
Switzerland

beat.knechtle@hispeed.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

• Die Diagnose der Vitamin-D-induzierten Hyperkalzämie basiert neben der laborchemischen Hyperkalzämie, der anamnestisch erfolgten Vitamin-D-Einnahme und entsprechender Symptomatik auf einer 25(OH)D3-Konzen­tration im toxischen Bereich (> 375 nmol/l), bei gleichzeitig supprimiertem PTH-Level (< 1.5 pmol/l).
• Tägliche Vitamin-D-Dosierungen sollten nicht höher als das «Tolerable Upper Level» von 4000 IE/d sein.
• Manifestationen einer Hyperkalzämie sind unspezifisch und können verschiedene Organsysteme betreffen, es gibt aber auch subklinische Verläufe.
• Bei einer Hochdosis-Vitamin-D-Supplementation besteht die Gefahr einer akuten Hyperkalzämie sowie Langzeitfolgeschäden bei chronischer Hypervitaminose D.
• Die Mortalität einer schweren Hyperkalzämie beträgt 15–20  %.

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Rezidivierende Thrombosen trotz oraler ­Antikoagulation? Ein Fallbericht

Anamnese und bisherige Befunde

Die 34-jährige Patientin Schweizer Herkunft wurde uns wegen eines subakuten thrombotischen Verschlusses der Vena mesenterica superior per Zufallsbefund in einer Computertomographie (CT) des Abdomens zugewiesen. Aufgrund bereits stattgehabter thromboembolischer Ereignisse nahm sie seit Juni 2023 regelmässig Apixaban (5 mg zweimal täglich) ein. Grund für die externe CT war eine ödematös-imponierende Darmschleimhaut des Kolons ohne Zeichen einer Blutung oder Entzündung in einer externen Koloskopie. Letztere wurde wegen seit Juli 2023 akut aufgetretener abdominaler Beschwerden und postprandialer Diarrhö durchgeführt. Ein Morbus Crohn (CD) mit Erstdiagnose vor über zehn Jahren stand in den Vordiagnosen. Bei bislang fehlender Klinik war bisher keine spezifische Crohn-Therapie etabliert. Der Befund einer zeitgleich erfolgten Gastroskopie war ebenso bland. Eine Zöliakie konnte hierbei histologisch ausgeschlossen werden. Laut Aufzeichnungen erlitt die Patientin mehrere unprovozierte, thromboembolische Ereignisse (Tab. 1). Daraufhin wurde eine Antikoagulation mit einem Vitamin-K-Antagonisten (Marcoumar©) etabliert, mit Umstellung auf Dalteparin (Fragmin©) während der Schwangerschaft. Nach der Geburt im Oktober 2022 setzte die Patientin die Antikoagulation ab, worauf dies im Juni 2023 zu einer Lungenembolie führte.

Eine angeborene oder erworbene Gerinnungsstörung konnte zweimalig serologisch und genetisch, inklusive Abklärung und Ausschluss einer paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie (PNH), ausgeschlossen werden. Die Patientin war Nichtraucherin und nahm keine Kontrazeptiva ein. Ein direkter Zusammenhang der thromboembolischen Ereignisse mit einer aktiven Morbus-Crohn-Aktivität war zu keiner Zeit beschrieben und dokumentiert. Klinisch präsentierte sich im Rahmen des Erstkontaktes bei uns eine kardiopulmonal stabile Patientin in kachektischem Ernährungszustand (Body-Mass-Index [BMI] 17 kg/m2) mit persistierender Appetitlosigkeit und Völlegefühl. Seit Juli bestand ein Vier-Quadranten-Aszites mit konsekutiver Zunahme des Bauchumfanges. Der Bauch war weich, schmerzfrei und druckindolent. Tenesmen wurden verneint. Bei irregulärem Stuhl, anamnestisch teils flüssig, teils mit unverdauten Speiseresten, bestanden keine Blutbeimengungen. Die Stuhlfrequenz war normal.

Labor

Zusammengefasst (Details siehe Tab. 2) war eine schwere Hypoalbuminämie (17 g/l, normal 40–49 g/l) sowie ein erhöhtes Calprotectin im Stuhl (169 µg/g, normal < 50 µg/g) auffallend. Die Leberfunktion und -syntheseleistung waren normal. Eine Proteinurie und Pankreasinsuffizienz (Pankreaselastase im Stuhl 209 µg/g, normal > 200 µg/g) konnten ausgeschlossen werden. Die Entzündungsparameter lagen im Normbereich, und Stuhlkulturen blieben ohne Wachstum.

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Eine renale und hepatische Ursache der Hypoalbuminämie konnte gemäss Labor und Bildgebung ausgeschlossen werden (1). Indirekt bestanden keine Hinweise für eine portale Hypertension oder rechtskardiale Stauung als Ursache für den Aszites und die Anasarka. Die orale Kost- und Proteinzufuhr war regelrecht. Die Patientin wurde hierbei ernährungstherapeutisch begleitet und überwacht. Hinweise für Malignität bestanden gemäss Schnittbildgebung keine. Eine kürzlich erfolgte endoskopische Abklärung zeigte keine Entzündungsaktivität im einsehbaren Gas­trointestinaltrakt und Kolon. Das Calprotectin im Stuhl war widersprechend signifikant erhöht, was eine entzündliche Aktivität im Darm bestätigte. Folglich vermuteten wir eine Entzündungsaktivität im Rahmen einer floriden CD, beschränkt auf den Dünndarm und ursächlich für die Resorptionsstörung mit Proteinverlustsyndrom (PLE). Eine PLE ist als klinisches Erscheinungsbild einer CD anerkannt. Der Proteinverlust im Darm führt typischerweise zu Serumalbuminwerten von < 30 g/l und häufig sogar < 20 g/l (2). Eine Diarrhö ist oft nicht vorliegend (3). Da Albumin ein negatives Akutphasenprotein ist, kann das Serumalbumin bei einem klinisch schweren Verlauf besonders tief sein (3).

Weitere Abklärungsschritte

Eine Magnetresonanztomographie (MRT) des Dünndarms (Abb. 1) zeigte eine ausgeprägte segmentale Wandverdickung des terminalen Ileums sowie multifokale Strikturen im Dünndarm mit zuvor erweiterten Schlingen – vereinbar mit einem Morbus Crohn. Generell weist das Vorliegen eines intramuralen Ödems auf eine aktive Entzündung hin, während ein Nachweis von intramuralem Fett auf eine vergangene oder chronische Entzündung deutet (4). Eine Differenzierung zwischen aktiver Entzündung und venöser Kongestion – bei stattgehabtem Verschluss der Vena mesenterica superior – war letztlich bildgebend und als Rückschluss für die Wandverdickung nicht möglich. Eine mesenteriale Lymphadenopathie wurde ebenso beschrieben, passend zu einer entzündlichen Aktivität (4). Hinweise für Malignität gab es erneut keine. Eine Kapselendoskopie zur weiteren bildgebenden Abklärung wurde diskutiert. Aufgrund der vorliegenden Darmstrikturen verzichteten wir hierauf. Wegen der PLE und den ätiologisch unklaren Thrombosen bestimmten wir den Apixaban-Spitzenspiegel drei Stunden nach oraler Einnahme. Dieser lag mit 87.3 µg/l im subtherapeutischen Bereich (Referenzbereich 152–258 µg/l bei 5 mg Apixaban zweimal täglich). Unsere Vermutung einer enteralen Malabsorption bei CD verfestigte sich hierdurch. Insbesondere das kürzlich aufgetretene Ereignis (Verschluss der Vena mesenterica superior) trotz direkter oraler Antikoagulanzien (DOAK) könnte somit erklärt werden. Erschwerend dazu könne eine bereits zuvor bestehende postthrombotische Veränderung im Rahmen der Vena cava inferior Thrombose von 2012 als Risikofaktor nicht ausgeschlossen werden.

Diagnose

Enterale Malabsorption von direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) durch Entzündungsaktivität im Rahmen eines floriden Morbus Crohn (CD).

Therapie

Der Aszites wurde mittels intravenöser Albuminsubstitution in üblicher Dosis über drei Tage behandelt. Hierunter war der Aszites nahezu vollständig regredient. Betreffend Antikoagulation wurde die Patientin auf ein körpergewichtadaptiertes, niedermolekulares Heparin mit subkutaner Verabreichung umgestellt. Bei unserer Patientin lagen die Proteine S und C, das Antithrombin – bei sonstigem Wirkverlust von Heparin (5) – sowie das Fibrinogen im Normbereich. Hinsichtlich des Morbus Crohn wurde, basierend auf dem Befund des MRT-Abdomens, eine per orale Therapie mit Budesonid und Sulfasalazin initiiert. Zusätzlich wurde temporär Prednison 40 mg wegen ungenügender Besserung verabreicht. Das Serumalbumin normalisierte sich sukzessive und ohne weiteren Substitutionsbedarf mit Beginn der antientzündlichen Therapie. Im Verlauf erfolgte eine Therapieumstellung auf Adalimumab. Unter dieser Medikation war die Patientin weiterhin beschwerdefrei.

Kommentar

Etwa 90 % der oralen Medikamenten- und Nährstoffabsorption, einschliesslich DOAK, erfolgen im Dünndarm, insbesondere im Duodenum und im proximalen Jejunum (6, 7). Durch seine reiche Ausstattung an Zotten und Mikrovilli besteht im Dünndarm eine grosse permeable und gut durchblutete Austauschfläche von etwa 200–400 m² (6, 8). Die spezialisierte Schleimhaut enthält zahlreiche Verdauungsenzyme, Transportproteine und ein komplexes Netzwerk aus Lymph- und Blutgefässen (9). Proteine, Kohlenhydrate und freies Wasser werden überwiegend wegen der ausgedehnten Faltenstruktur im Jejunum aufgenommen. Im Ileum werden Gallensalze und damit verbunden fettlösliche Vitamine (A, D, E, K) sowie Vitamin B12 absorbiert (10). DOAK werden als nur mässig lipophil beschrieben, wobei Rivaroxaban am wenigsten lipophil ist, gefolgt von Apixaban und schliesslich Dabigatran mit der höchsten Lipophilie (11).

Eine entzündliche Aktivität einer CD kann in jedem Abschnitt des Verdauungstraktes Defekte in der Schleimhautbarriere verursachen. Gemäss Studienlage ist bei 30–70 % aller Patienten mit CD der Dünndarm mit betroffen, und bis zu 30 % der Patienten weisen ausschliesslich eine Beteiligung des Dünndarms auf (12). Das terminale Ileum bei CD ist der häufigste Ort der Entzündung. Nur 5 % der Fälle betreffen isoliert den proximalen Dünndarm (13). Es kommt zu aphthösen Ulcera und Körnigkeit der Mucosa mit möglicher Villusverflachung im Duodenum und Entzündungsaktivität in der Lamina propria. Die funktionale Oberfläche des Darms wird hierdurch reduziert (14).

Typische Befunde und Symptome der Entzündung im Dünndarm wären Durchfall, Steatorrhö, Mangelernährung, Gewichtsverlust, Ergussbildung und Anämie (14); grössere Moleküle und Bakterien können die Darmwand passieren. Es kommt zu einer Malabsorption (15). Potenzielle Strikturen und Vernarbungen nach Ulzerationen können zu Lymphabflussstörungen, sekundären Lymphangiektasien und zur Bildung von fistulösen Gängen sowie bakteriellem Überwuchs führen, was zum funktionellen Verlust der Schleimhautfläche beiträgt (9). Je nach Grad der Darmluminalverengung kann proximal eine Darmdilatation entstehen (4).

Aufgrund der – durch oben genannter Pathophysiologie entstandener – Barrierestörung kann es zu subtherapeutischen Serumspiegeln und ungenügender Wirkung von oral verabreichten Medikamenten kommen (15, 16). Obschon es genügend Literatur zu Ernährungsdefiziten und PLE bei CD gibt, ist die Datenlage hinsichtlich Medikamentenabsorption spärlich (17). Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägung von CD ist es schwierig, Veränderungen in der oralen Bioverfügbarkeit anhand einzelner Medikamentenmerkmale oder anhand von Modellen vorauszusagen (18).

Apixaban – ein direkter Faktor-Xa-Inhibitor – zeigt eine lineare Pharmakokinetik bei Dosierungen zwischen 2.5 und 25 mg (16). Bei gesunden Probanden wird der maximale Plasmaspiegel von Apixaban drei Stunden nach oraler Einnahme erreicht. Klinisch relevante Einflüsse der Nahrungsaufnahme auf die Bioverfügbarkeit von Apixaban gibt es keine (7). Die Absorption von Apixaban erfolgt hauptsächlich im Dünndarm (19), wobei der distale Dünndarm und das aufsteigende Kolon etwa 55 % der Apixaban-Absorption ausmachen (7). Im Vergleich zur Einnahme der normalen Filmtabletten ist die Bioverfügbarkeit von 2.5 mg Apixaban-Lösung um etwa 60 % und 84 % niedriger, wenn die Lösung im distalen Dünndarm bzw. im aufsteigenden Kolon freigesetzt wird (19). Bei oralen Dosen bis zu 10 mg beträgt die absolute Bioverfügbarkeit von Apixaban etwa 50 %, was auf eine unvollständige Resorption und den First-Pass-Metabolismus in Darm und Leber zurückzuführen ist (19).

Pollak et al. (16, 20) untersuchten eine spiegelgesteuerte Dosisanpassung von Apixaban, um eine beeinträchtigte Absorption bei einer Patientin mit Kurzdarmsyndrom zu kompensieren. Die Patientin erreichte nur 30 % der normalen medianen Spitzenkonzentrationen mit einer Dosis von 2.5 mg zweimal täglich. Daraufhin wurde die Dosis auf 15 mg zweimal täglich erhöht, was zu therapeutischen Spiegeln führte. Dies zeigt, dass durch eine Dosisanpassung, geleitet durch «Drug Monitoring», auch bei diesen Patienten therapeutische Konzentrationen von Apixaban erreichbar sind.

Zusammengefasst sind die Physiologie und Pathophysiologie der Medikamentenabsorption komplex. Unklar bleibt, ob bei vorhandener Barrierestörung im Dünndarm durch einen Morbus Crohn eine höhere Dosierung zu normalem Medikamentenspiegel führen kann. Vice versa könnte im Falle eines Heilungsprozesses folglich die Gefahr einer Überdosierung mit konsekutivem Blutungsrisiko bestehen, sodass es sinnvoll erscheint, in diesen Fällen eine Therapieüberwachung durch Spiegelbestimmungen durchzuführen.

Sigute Silingaite
Klinik für Innere Medizin, Universitätsspital Zürich

Florian Prenner
Klinik für Innere Medizin, Universitätsspital Zürich

Abkürzung
BMI Body-Mass-Index
CD Morbus Crohn
CT Computertomographie
DOAK Direkte orale Antikoagulanzien
MRT Magnetresonanztomographie
PLE Proteinverlust-Enteropathie
PNH Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie

Historie
Manuskript eingegangen: 18.09.2024
Angenommen nach Revision: 20.03.2025

Dr. med. (LT) Sigute Silingaite

Assistenzärztin
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100, 8091 Zürich

sigute.silingaite@gmail.com

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

• Ein florider Morbus Crohn kann sich je nach Lokalisation atypisch und oligosymptomatisch präsentieren.
• Bei Vorliegen einer Proteinverlust-Enteropathie sollte an eine mögliche Medikamentenmalabsorption gedacht werden.
• Wir empfehlen Spiegelkontrollen bei wichtigen Medikamenten, für welche das klinische Ansprechen nicht direkt beurteilt werden kann, sowie allenfalls eine Umstellung auf eine parenterale Verabreichung, sofern möglich bis zur Rekonvaleszenz.
• Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägung von CD ist es schwierig, Veränderungen in der oralen Bioverfügbarkeit anhand einzelner Medikamentenmerkmale oder Modelle vorauszusagen.

1. Samant S, Lyon DR, Asmi N, Jha P. Protein-Losing Enteropathy in Crohn’s Disease: Two Unusual Cases. Cureus. 2021;13:e19501. doi: 10.7759/cureus.19501.
2. Parrish CR, DiBaise JK, Copland AP. Protein Losing Enteropathy: Diagnosis and Management. Practical Gastroenterology. 2017; Nutrition Issues in Gastroenterology, Series #162. Available from: https://med.virginia.edu/ginutrition/wp-content/uploads/sites/199/2014/06/Parrish-April-17.pdf
3. Murray FR, Morell B, Biedermann L, Schreiner P. Protein-losing enteropathy as precursor of inflammatory bowel disease: a review of the literature. BMJ Case Rep. 2021;14:e238802. doi: 10.1136/bcr-2020-238802.
4. Gauci J, Sammut L, Sciberras M, et al. Small bowel imaging in Crohn’s disease patients. Ann Gastroenterol. 2018;31:395-405. doi: 10.20524/aog.2018.0268.
5. Bandikatla S, Maharaj S, Dadlani A, Ramsubiek K, Rojan A. Thrombosis secondary to protein-losing enteropathy (PLE): A case report and review. Thrombosis Update. 2021;3:100050. doi: 10.1016/j.tru.2021.100050.
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