Miktionsstörung bei jungen Patientinnen

Dieser Praxis-Fall beschreibt eine 28-jährige Patientin, die unter unklarer Restharnbildung leidet. In der urogynäkologischen Untersuchung zeigt sich eine stark hyperkapazitäre Blase bei atonem Detrusor. Nach Ausschluss weiterer gynäkologischer und neurologischer Differentialdiagnosen wurde die Diagnose des Fowler-Syndroms gestellt. Dabei handelt es sich um eine schmerzlose Restharnbildung bei typischem Beckenboden-EMG mit Beckenbodendyskoordination. Die Diagnose kann nur durch eine vollständige Urodynamik mit Beurteilung der Miktionsphase, der Druckflusskurve einschliesslich EMG-Ableitung gestellt werden. Kausale Therapien existieren keine. Sakrale Neuromodulation, perkutane tibiale Nervenstimulation oder intermittierende Selbstkatheterisierung sind mögliche Therapieansätze.

Anamnese und Befunde

Zuweisung der 28-jährigen Patientin in die urogynäkologische Sprechstunde bei rezidivierenden Harnwegsinfektionen aufgrund erhöhter Restharnwerte. Im Rahmen einer regulären gynäkologischen Kontrolle zeigte sich im transvaginalen Ultraschall eine stark gefüllte Harnblase, unmittelbar nach Spontanmiktion. Ebenso traten in den letzten Monaten rezidivierende Harnwegsinfektionen (HWI’S) auf, die stark symptomatisch waren und antibiotisch behandelt werden mussten. Auf Nachfrage berichtete die junge Patientin, dass sie seit 2-3 Jahren die Blase nicht mehr richtig entleeren könne und Restharngefühl bestehe.
In der Anamnese hatte die Patientin beim ersten Kind eine sekundäre Sectio caesarea, das 2. Kind kam per Spontangeburt. Zudem besteht eine bekannte peritoneale Endometriose sowie ein Uterus myomatosus mit einem Hinterwandmyom von 40mm. Die Antikonzeption wird mittels Hormonspirale durchgeführt. 2017 litt die Patientin an Nephrolithiasis mit vorübergehender Harnableitung mittels Doppel-J-Katheter links.
Zur weiteren Abklärung der erhöhten Restharnwerte erhielt die Patientin ein Aufgebot in die urodynamischen Spezialsprechstunde. Die urogynäkologische Untersuchung zeigte sich bis auf eine Zystozele I° und schwache Levatorenschenkel unauffällig. Unauffällige Urethralkalibrierung bis Charr 25. In der Untersuchung fiel eine, für eine so junge Patientin, ausgeprägte Blasenentleerungsstörung mit stark erhöhten Restharnwerten auf. Im Uroflow zeigte sich eine mehrgipflige verlängerte Spontanmiktion von 413ml mit deutlich erniedrigtem Flow sowie stark erhöhtem Restharnwert von 250ml (Normwert <100ml) (Abbildung 1). Zystotonometrisch zeigte sich eine hyperkapazitäre Blase von 619ml (Normwert 500ml) mit einem normalen ersten Harndrang bei einer Füllmenge von 319ml. In der Entleerungsphase fiel ein atoner Detrusor auf. Die Miktion erfolgte hauptsächlich über die Bauchpresse. In der Beckenboden-Elektromyographie (EMG) zeigte sich eine verstärkte Aktivität im Sinne einer Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination (Abbildung 2). Kein Hinweis einer Obstruktion. Die Urethro-Zystoskopie fiel unauf­fällig aus (Abbildung 3). Ebenso zeigte sich im Urin­status ein erneuter Harnwegsinfekt, der resistenzgerecht antibiotisch therapiert wurde. Zusammenfassend zeigte sich somit eine unklare Blasenentleerungsstörung, die zu rezidivierenden HWI’s führt. Als erste Therapieoption wurde mit der Patientin eine getimte Miktion alle 2-3 Stunden sowie eine Beckenbodenphysiotherapie mit Biofeedback und Trink- und Miktionstraining besprochen.


Differentialdiagnostische Überlegungen

Grundsätzlich müssen differentialdiagnostisch die verschiedenen Mechanismen, die zur unvollständigen Blasenentleerung führen, beachtet werden. Hierbei können neurologische von nicht-neurologischen Ursachen unterschieden werden (1).

Neurologische Ursachen

Eingeschränkte Detrusoraktivität

Grundsätzlich tritt mit zunehmendem Alter eine signifikante Reduktion Nervenfunktionalität und folglich der Muskelaktivität auf mit ggf. erhöhten Restharnwerten.
Ein Diabetes mellitus kann alleine, oder insbesondere in Kombination mit hohem Alter, die Detrusoraktivität durch eine zunehmende Neuropathie einschränken (2).
Weitere neurologische Krankheitsbilder mit eingeschränkter Detrusoraktivität können eine Multiple Sklerose oder eine Parkinson-Erkrankung sein. Insbesondere bei jungen Patient_innen sollte eine Multiple Sklerose ausgeschlossen werden. Eine Parkinson-Erkrankung kann ebenso zu einer Blasenentleerungsstörung führen, wenn auch öfters zur über­aktiven Blase (1,3).
Neurologische Krankheitsbilder mit Schädigung der Cauda equina und des sakralen Rückenmarks können zu einer Blasenatonie (Schädigungen des Gehirns hingegen zu einer Detrusorhyperreflexie und im Bereich des Rüchenmarks zu einer Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie) führen. Viele Patient_innen leiden nach Wirbelsäulentraumata (Spinalkanalstenosen, mediale Diskushernien und traumatische Verletzungen) unter erhöhtem Restharn. Zusätzlich kann es als Folge ausgedehnter gynäkologischer und viszeralchirurgischer Operationen zur iatrogenen Denervierung der Blase kommen (1).

Nicht-neurologische Ursachen

Obstruktion

Unter den obstruktiven Differentialdiagnosen werden anatomische Gegebenheiten zusammengefasst, die zu einer
Obstruktion der Urethra führen. Einerseits kann ein Beckenbodendeszensus (vor allem eine Zystozele) zu einem Quetsch-­­ hahnphänomen und somit zu einem Abknicken der Urethra führen. Andererseits können Raumforderungen im kleinen Becken zu einer externen Obstruktion der Urethra führen. Dabei sollte vor allem an Uterusmyome, Adnexbefunde aber auch Darmpathologien und -tumore gedacht werden.
Intrinsische Ursachen einer Urethraobstruktion sind Urethrastrikturen (iatrogen und idiopathisch) und –divertikel. Ebenso sollten intraluminale Befunde der Urethra wie Steine, Malignome, aber auch ein erodiertes Band nach suburethraler Schlingeneinlage, ausgeschlossen werden (1).

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Die junge Patientin wurde im Anschluss engmaschig in die urogynäkologische Sprechstunde angebunden. Da sich in der klinischen Untersuchung eine Zystozele I° zeigte, wurde zum Ausschluss eines Quetschhahnphänomens eine Pessartherapie versucht. Bei fehlender Besserung der Symptomatik trotz Pessar wurde die Therapie im Verlauf auf Wunsch der Patientin wieder gestoppt. Zum Ausschluss einer neurologischen Ursache, insbesondere einer Multiplen Sklerose, wurde die Patientin den Kolleginnen der Neurologie zugewiesen. Die klinische Untersuchung zeigte sich dabei unauffällig, ebenso wurde ein unauf­fälliges MRI Neurocranium inkl. Wirbelsäule durchgeführt.
Im Verlauf wurde bei hohem Leidensdruck der Patientin und fehlender Besserung durch die Physiotherapie und getimte Miktion eine medikamentöse Therapie mit einem blasentonisierenden Medikament versucht, ebenfalls ohne deutliche Besserung. Zwischenzeitlich traten wiederholt symptomatische Harnwegsinfektionen mit der Notwendigkeit einer antibiotischen Therapie auf. Konservative prophylaktische Therapieversuche zur Reduktion der HWI’s waren ebenfalls frustran. Es wurden wiederholt Uroflow-Messungen durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass die Restharnwerte umso grösser waren, je höher das gesamte Blasenvolumen war. Maximal zeigte sich eine stark hyperkapazitäre Blase mit einem Volumen von 1500ml, wobei über 900ml als Restharn in der Blase verblieben (Bild 4).
Bei hohem Leidensdruck der Patientin aufgrund der erhöhten Restharnwerte und der folgenden HWIs erfolgte die interdisziplinäre Vorstellung und Besprechung des Falles.


Diagnose

Aufgrund der multiplen unauffälligen Abklärungen wurde bei unklarer Blasenentleerungstörung der jungen Patientin die Diagnose des seltenen Fowler-Syndroms gestellt. Das Krankheitsbild präsentiert sich mit schmerzlosem Harnverhalt aufgrund einer fehlenden Urethrasphinkter-Relaxation. Es können sich Restharnmengen von über einem Liter zeigen (4,5).

Kommentar

Beim Fowler-Syndrom handelt es sich um eine seltene Erkrankung, die typischerweise bei jungen Frauen (Durchschnittsalter 27 Jahre) auftritt und sich durch unerklärten, schmerzlosen Harnverhalt manifestiert. Die hohen Restharnwerte prädisponieren für rezidivierende Harnwegsinfektionen, mit hohem Leidensdruck der jungen Patientinnen. Da es sich beim Fowler-Syndrom um eine Ausschlussdiagnose handelt, besteht oft ein jahrelanger Leidensweg bis die Diagnose gestellt wird. In der Literatur wird eine Assoziation mit dem polyzystischen Ovarialsyndrom beschrieben. Dies war bei unserer Patientin nicht der Fall. Die Aetiologie des Fowler-Syndroms ist unklar. Es besteht keine kausale Therapie (4). Mögliche Therapieansätze sind die sakrale Neuromodulation. Dabei kommt es zur Schrittmacheranlage, der durch externe Impulse die Sakralnerven ansteuert. Alternativ kann eine perkutane tibiale Nervenstimulation erfolgen, dabei wird der Nervus tibialis im Bereich des Fusses extern stimuliert. Als weniger invasive Therapieoption kann mit den Patient*Innen die intermittierende Selbstkatheterisierung besprochen werden (4). Wir haben mit der Patientin die verschiedenen Therapieoptionen besprochen und sie zur Besprechung der definitiven Therapie den Kolleg_innen der Urologie zugewiesen.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
EMG Elektromyographie
HWI’s Harnwegsinfektionen

Dr. med. Désirée Abgottspon

Kantonsspital St. Gallen
Rorschacherstrasse 95/Haus 06
9007 St. Gallen

desiree.abgottspon@kssg.ch

Historie
Manuskript eingereicht: 25.09.2023
Manuskript akzeptiert: 01.11.2023

Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Unvollständige Blasenentleerung kann zu rezidivierenden Harnwegsinfektionen und somit zu einem hohen Leidensdruck führen. Bei unauffälliger urogynäkologischer und neurologischer Abklärung soll, insbesondere bei jungen Frauen, an das Fowler-Syndrom gedacht werden. Kausale Therapieoptionen bestehen keine. Es gibt jedoch vielversprechende Therapieansätze, die zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität der Patientinnen führen.

1. Ihnenfeld I, Blick N, Passweg D. Störung der Harnblasenent­leerung bei der Frau. info@gynäkologie, Volume 23, Augsgabe 3, 2023. p. 11 – 15.
2. Olujide LO, O’Sullivan SM. Female voiding dysfunction. Best Pract Res Clin Obstet Gynaecol. 2005;19(6):807-28.
3. Griebling TL. Urologic Issues in Geriatric Health Care. Clin Geriatr Med. 2015;31(4):xiii-xiv.
4. Szymanski JK, Słabuszewska-Józwiak A, Jakiel G. Fowler’s Syndrome-The Cause of Urinary Retention in Young Women, Often Forgotten, but Significant and Challenging to Treat. Int J Environ Res Public Health. 2021;18(6).
5. Fowler CJ, Christmas TJ, Chapple CR, Parkhouse HF, Kirby RS, Jacobs HS. Abnormal electromyographic activity of the urethral sphincter, voiding dysfunction, and polycystic ovaries: a new syndrome? BMJ. 1988;297(6661):1436-8.

Kleine Zecke – Grosse Gefahr

Wir berichten über einen 23-jährigen Patienten, der sich aufgrund persistierender Kopfschmerzen sowie Fieber und Erbrechen in der Hausarztpraxis vorstellte. Im weiteren Verlauf kamen eine rechtsbetonte Tetraparese, eine Dysphagie sowie eine Dysarthrie hinzu und es kam zu einem generalisierten tonisch-klonischen Krampfanfall. Weitere Abklärungen bestätigten eine FSME-Enzephalomyelitis und Polyradikulitis. Auch nach zweimonatiger Rehabilitation blieben beim ungeimpften Patienten sowohl neuropsychologische wie auch fokal-neurologische Residuen bestehen.

Anamnese und Befunde

Der 23-jährige, bisher gesunde Patient, meldete sich im Spätsommer erstmals in der Hausarztpraxis wegen starken, bitemporalen Kopfschmerzen mit Lichtempfindlichkeit, welche seit einer Woche bestanden. Bei Verdacht auf migräneartige Kopfschmerzen erfolgte eine symptomatische Therapie mit einem Salicylat (ASPÉGIC forte® 1000 mg) in Kombination mit Paracetamol (Dafalgan® 1g). Darunter kam es lediglich zu einer leichten Regredienz der Beschwerden, weshalb nach drei Tagen eine Wiedervorstellung in der hausärztlichen Praxis erfolgte. Der Patient klagte nun über persistierende, neu auch occipitale Kopfschmerzen (NRS 8/10) sowie über Übelkeit mit rezidivierendem Erbrechen – gemäss Angaben des Patienten ohne Fieber. Ebenfalls gab der Patient auf Nachfrage an, gegen Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) geimpft zu sein und keinen Zeckenstich bemerkt zu haben.
Bei der klinischen Untersuchung zeigte sich ein febriler (38.8°C) Patient in deutlich reduziertem Allgemeinzustand und erhöhter Atemfrequenz, bewusstseinsklar und allseits orientiert. Klinisch fand sich kein eindeutiger Fokus für einen Infekt, insbesondere war die Abdomenuntersuchung unauffällig und epigastrisch war lediglich eine diffuse Druckdolenz eruierbar. Neurologisch zeigte sich ein fraglicher, höchstens endständiger Meningismus bei unauffälligem Hirnnerven-Status sowie normaler Sensorik und Motorik in allen vier Extremitäten.
Im Labor (Tabelle 1) waren eine Leukozytose (12.85 G/l) sowie Granulozytose (9.75 G/l) zu sehen, bei normwertigem C-reaktivem Protein (CRP). Das restliche Blutbild war unauf­fällig (Abbildung 1).

Differentialdiagnosen

Die Symptome lassen primär an eine Meningitis respektive Enzephalitis denken, wobei ein Spannungskopfschmerz bei zusätzlicher Infektion im Magen-Darm-Bereich als Ursache der Beschwerden nicht auszuschliessen ist. Weiter könnte man an eine (septische) Sinusvenenthrombose denken (Tabelle 2).

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Aufgrund des sichtlich reduzierten Allgemeinzustandes des Patienten mit Kopfschmerzen sowie Erbrechen ohne eindeutigen Fokus und Bestehen eines möglichen Meningismus’ erfolgte die notfallmässige Zuweisung auf die Notfallstation eines Zentrumsspitals zur weiteren Diagnostik und Therapie. Durch die Angehörigen wurde dort ergänzend eine vermehrte Vergesslichkeit des Patienten in letzter Zeit beschrieben. Wie sich herausstellte, war der Patient nicht gegen FSME geimpft. In der neuerlichen neurologischen Beurteilung fielen sodann zusätzlich ein Absinken des rechten Armes (ohne Pronation) im Vorhalteversuch sowie symmetrisch schwache Muskeleigenreflexe auf.
Sowohl eine Computertomografie (CT) des Neurocraniums als auch die ergänzende CT-Angiographie waren ohne pathologische Befunde. Nach wiederholt frustraner Lumbalpunktion erfolgte bei dringendem Verdacht auf eine infektiöse ZNS-Erkrankung eine empirische Therapie mit Ceftriaxon, Dexamethason sowie Aciclovir. MR-tomografisch zeigte sich sodann ein diskret vermehrtes Enhancement zerebellär beidseits, passend zu einer Leptomeningitis (Abbildung 2).

In der im Verlauf erfolgreich durchgeführten Liquoranalyse (Tabelle 2) war eine Pleozytose mit erhöhtem Proteinanteil sichtbar, bei einer leicht- bis mittelschweren Störung der Bluthirnschranke. Zweizeitig bestimmte FSME-Serologien (sowohl IgM- als auch IgG-Antikörper) fielen jeweils positiv aus (mit deutlichem Titeranstieg (Ausgangswert IgG-Antikörper: 159 U/ml; im Verlauf 1756 U/ml)), während der HSV-Typ 1/2- sowie VZV-PCR negativ ausfiel (Tabelle 3). Die empirische Therapie mit Rocephin, Aciclovir sowie Dexamethason wurde folglich gestoppt.

Bereits zu Beginn erfolgte eine Verlegung des Patienten auf die Intensiv- und Pflegestation wo der Patient im Verlauf eine zunehmende rechts- und proximalbetonte Tetraparese (Armabduktion rechts M2, Hüftbeuger M3, sonst M4-5) entwickelte, was bei erhaltenen bis lebhalten Reflexen im Rahmen einer Enzephalomyelitis interpretiert wurde. Der Allgemeinzustand des Patienten verschlechterte sich sodann erneut, wobei es im Verlauf passend zu einer Enzephalopathie zu einer Vigilanzminderung mit Benommenheit und zu einer Dysarthrie sowie Dysphagie kam, weshalb eine Intubation sowie später eine Tracheotomie erforderlich wurden. Erschwerend kam ein Harnwegsinfekt dazu, welcher den erneuten Einsatz von Antibiotika (Piperacillin/Tazobactam) während einer Woche erforderlich machte. Nach Auftreten eines generalisierten tonisch-klonischen Anfalls zeigte eine durchgeführte Bildgebung mittels CT des Neurocraniums keine neuen Aspekte. Ein ergänzende Magnetresonanztomografie (MRT) long spine zeigte den Befund einer spinalen Leptomeningitis sowie einer Polyradiukulitis (Abbildung 3 und 4). Ebenfalls bestand eine motorische Unruhe im Sinne einer Akathisie. Es erfolgte eine weiterführende symptomatische sowie supportive Therapie, worunter es zu einer Besserung der Beschwerden kam. Nach 4 Wochen, während denen der Patient 18 Tage IPS-pflichtig war, konnte dieser in stabilem Allgemeinzustand in die Rehabilitation entlassen werden. Während den 8 Wochen der stationären Rehabilitation wurde die initial noch bestehende Dysphagie mittels Logopädie deutlich verbessert. Obwohl ein selbständiges Gehen ohne Hilfsmittel nach Absolvierung der Rehabilitation wieder möglich war, persistierten eine verminderte Schritthöhe sowie fehlende Schutzschritte. Motorisch bestand zudem weiter eine starke Einschränkung der Abduktion des rechten Armes – ein Aufstehen vom Boden ohne Hilfsmittel war zudem weiterhin nicht möglich.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
BWS Brustwirbelsäule
CRP C-reaktives Protein
CT Computertomografie
fs Fettsättigung
FSME Frühsommer-Meningoenzephalitis
hs-CRP high-sensitive CRP
HSV Herpes simplex Virus
HWI Harnwegsinfekt
HWS Halswirbelsäule
IPS Intensiv- und Pflegestation
KM Kontrastmittel
KSSG Kantonsspital St. Gallen
li links
LWS Lendenwirbelsäule
MRT Magnetresonanztomographie
n/a nicht anwendbar
NRS Numerische Ratingskala
PCR Polymerase chain reaction
re rechts
TBE Tick-borne encephalitis
VZV Varizella Zoster Virus

Prof. Dr. med. Beat Knechtle

Facharzt FMH für Allgemeinmedizin
Medbase St. Gallen Am Vadianplatz
Vadianstrasse 26
9001 St. Gallen
Switzerland

beat.knechtle@hispeed.ch

Historie
Manuskript akzeptiert: 27.09.2023

Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Danksagung
Wir danken dem Kantonsspital St. Gallen (KSSG) für das zur Verfügung stellen der MRT- sowie CT-Bilder.

  • Infektionen mit dem FSME-Virus können auch bei jungen und gesunden Menschen zu schweren Verläufen mit Enzephalomyelitis und Polyradikulitis führen.
  • Die dreifache Impfung gegen FSME bietet einen umfassenden Schutz von schätzungsweise 90-99%.
  • Bei Fieber ohne Fokus mit Kopfschmerzen sollte auch bei unspektakulären Labor-Werten und nicht erinnerlichem Zeckenstich an eine ZNS-Infektion gedacht werden.

1. Lindquist L, Vapalahti O. Tick-borne encephalitis. Lancet. 2008; 371:1861-1871.
2. R˚užek D, Vancová M, Tesarˇová M, Ahantarig A, Kopecký J, Grubhoffer L. Morphological changes in human neural cells following tick-borne encephalitis virus infection. J Gen Virol. 2009;90:1649-1658.
3. Zens KD. Frühsommer-Meningoenzephalitis – Virale Übertragung und Überlegungen zur Impfung. Therapeutische Umschau. 2022; 79:471-481.
4. Kollaritsch H, Dobler G, Schmidt AJ, Krech T, Steffen R. Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) – Grundlagen. Therapeutische Umschau. 2022;79:463-470.
5. Bundesamt für Gesundheit (BAG). Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME): Ausweitung der Risikogebiete. BAG-Bulletin. 2019; 6:12-14. www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/mt/i-und-b/richtlinien-empfehlungen/empfehlungen-spezifische-erreger-krankheiten/zeckenenzephalitis/zeckenenzephalitis-impfung-risikogebiet.pdf.download.pdf/zeckenenzephalitis-impfung-risikogebiet-de.pdf; letzter Zugriff: 01.05.2023.
6. Bundesamt für Gesundheit (BAG). Zeckenübertragene Krank- heiten – Lagebericht Schweiz. www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrue che-epidemien/zeckenuebertragene-krankheiten.html; letzter Zugriff: 01.05.2023
7. World Health Organization. Tick-borne Encephalitis. www.who.int/health-topics/tick-borne-encephalitis#tab=tab_2; letzter Zugriff: 01.05.2023.
8. Bogovic P, Strle F. Tick-Borne Encephalitis [Internet]. Meningoencephalitis – Disease Which Requires Optimal Approach in Emergency Manner. InTech. 2017.
9. World Health Organization. Immunization -Tick-borne Encephalitis. www.who.int/teams/immunization-vaccines-and-biologicals/diseases/tick-borne-encephalitis, letzter Zugriff: 01.05.2023.
10. Baroutsou V, Zens KD, Sinniger P, Fehr J, Lang P. Analysis of Tick-borne Encephalitis vaccination coverage and compliance in adults in Switzerland, 2018. Vaccine. 2020;38:7825-7833.
11. Bogovic P, Strle F. Tick-borne encephalitis: A review of epidemiology, clinical characteristics, and management. World J Clin Cases. 2015; 3:430-441.
12. Riccardi N, Antonello RM, Luzzati R, Zajkowska J, Di Bella S, Giacobbe DR. Tick-borne encephalitis in Europe: a brief update on epidemiology, diagnosis, prevention, and treatment. Eur J Intern Med. 2019;62:1-6.
13. Gritsun TS, Lashkevich VA, Gould EA. Tick-borne encephalitis. Antiviral Res. 2003;57:129-146.
14. Bogovic P, Lotric-Furlan S, Strle F. What tick-borne encephalitis may look like: clinical signs and symptoms. Travel Med Infect Dis. 2010;8:246-250.
15. Vlad B, Jelcic I. FSME [Tick-Borne Encephalitis (TBE) – Clinical and Therapeutical Aspects]. Ther Umsch. 2022;79:482-492. German.
16. Süss J. Epidemiology and ecology of TBE relevant to the production of effective vaccines. Vaccine. 2003;21 Suppl 1:S19-35.
17. Kohlmaier B, Schweintzger NA, Sagmeister MG et al. Clinical Characteristics of Patients with Tick-Borne Encephalitis (TBE): A European Multicentre Study from 2010 to 2017. Microorganisms. 2021;30:1420.
18. Günther G, Haglund M. Tick-borne encephalopathies: epidemiology, diagnosis, treatment and prevention. CNS Drugs. 2005; 19: 1009-1032.
19. Czupryna P, Moniuszko A, Pancewicz SA, Grygorczuk S, Kondrusik M, Zajkowska J. Tick-borne encephalitis in Poland in years 1993-2008–epidemiology and clinical presentation. A retrospective study of 687 patients. Eur J Neurol. 2011;18:673-679.
20. Mickiene A, Laiskonis A, Günther G, Vene S, Lundkvist A, Lindquist L. Tickborne encephalitis in an area of high endemicity in lithuania: disease severity and long-term prognosis. Clin Infect Dis. 2002;35:650-658.

Antibiotikatherapie, Chirurgie oder beides?

Die 90-jährige Patientin wurde mit zunehmenden lumbalen Rückenschmerzen bei bekannter rheumatoider Arthritis und Spinalkanalstenose zur Optimierung der Schmerztherapie zugewiesen. Bei klinisch auffallender Druck­dolenz im Unterbauch sowie deutlich erhöhten Entzündungsparametern erfolgte eine weitere Diagnostik mittels Computer­tomografie des Abdomens, wobei sich eine gedeckt perforierte Appendizitis mit perityphlitischem Abszess zeigte. Die konservative Therapie mittels Abszess-Drainage und Antibiotika war erfolgreich.

Anamnese und Befunde

Die elektive Zuweisung der 90-jährigen Patientin erfolgte zur Optimierung der analgetischen Behandlung chronischer lumbaler Rückenschmerzen im Rahmen einer hochgradigen spinalen Stenose L4/5 und L1/2. Die Patientin berichtete, dass sie bereits seit mehreren Monaten an lumbalen Rückenschmerzen mit Ausstrahlung nach gluteal sowie in die dorsalen Oberschenkel leide. Die Schmerzen hätten in den letzten Tagen so stark zugenommen, dass eine selbstständige Mobilisation nicht mehr möglich sei. In der persönlichen Anamnese der Patientin bestand eine rheumatoide Arthritis mit langjähriger Therapie mit Leflunomid, das wegen Diarrhö sistiert und zwei Wochen vor Eintritt durch Methotrexat 10 mg subkutan ersetzt worden war. Als Nebendiagnosen hatte die Patientin eine arterielle Hypertonie, die mit Valsartan und Hydrochlorothiazid gut eingestellt war, sowie ein chronisches Vorhofflimmern/
-flattern. Die orale Antikoagulation mit Rivaroxaban hatte die Patientin wegen Epistaxis selbstständig abgesetzt.
Bei Krankenhauseintritt präsentierte sich die Patientin grenzwertig hypoton (Blutdruck 107/68 mmHg), knapp normokard (Herzfrequenz 97/min) und afebril (Temperatur 37,0 °C) in leicht reduziertem Allgemein- und adipösem Ernährungszustand. In der klinischen Untersuchung fiel eine deutliche Druckdolenz im Unterbauch sowie eine Klopfdolenz paravertebral beidseits im Bereich der unteren Lumbalwirbelsäule auf. Laboranalytisch imponierten ein deutlich erhöhtes C-reaktives Protein von 214 mg/l (< 5 mg/l) sowie eine Panzytopenie (Tabelle 1).

Differenzialdiagosen

Unsere hochbetagte Patientin präsentierte sich mit zunehmenden lumbalen Schmerzen, einer abdominalen Druckdolenz sowie mit einem laboranalytisch nachgewiesenen Entzündungszustand und einer Panzytopenie. Wegen der wenig spezifischen Präsentation ergeben sich verschiedenste Differenzialdiagnosen. Aufgrund der langjährigen Vorgeschichte besteht neben einer Exazerbation der Schmerzen im Rahmen der bekannten Spinalkanalstenose die Möglichkeit einer Spondylarthritis. Dagegen spricht das hohe Alter der Patientin sowie eine fehlende Besserung der Symptomatik durch Bewegung im Verlauf des Tages. Eine weitere Differenzialdiagnose aus dem rheumatologischen Formenkreis ist eine Kristallarthropathie, am ehesten eine Calciumpyrophosphat-Ablagerungserkrankung. Dafür passend sind das hohe Alter und das Geschlecht der Patientin. Üblicherweise sind hier eher die peripheren Gelenke betroffen, und bei einer akuten Arthritis kommt es zu einer Schwellung und Rötung des betroffenen Gelenks.
In Zusammenhang mit der in der klinischen Untersuchung festgestellten Druckdolenz im Unterbauch kamen differenzialdiagnostisch auch abdominale Infektionen in Frage. Kolitiden unterschiedlicher Ätiologie verursachen in der Regel neben abdominalen Schmerzen auch Stuhlveränderungen wie Diarrhö, Schleimbildung oder Blutbeimengung und führen selten oder nur in Schüben zu so deutlich erhöhten Entzündungsparametern. Sowohl eine Cholezystitis, Divertikulitis als auch eine Appendizitis kommen aufgrund der Symptomatik und des deutlich erhöhten C-reaktiven Proteins als infektiologische Differenzialdiagnosen in Frage.
Die Panzytopenie wurde am ehesten im Rahmen der Therapie mit Methotrexat der bekannten rheumatoiden Arthritis mit Aggravation im Rahmen des akuten Entzündungszustands gewertet. Differenzialdiagnostisch muss an eine neo- oder dysplastische hämatologische Erkrankung gedacht werden.

Weitere Abklärungen und Verlauf

Zur Suche eines möglichen Infektfokus erfolgte aufgrund der Druckdolenz im Unterabuch eine Computertomografie des Abdomens. Hierbei zeigte sich der Verdacht auf eine gedeckt perforierte Appendizitis mit perityphlitischer Abszedierung und beginnender Peritonitis (Abb. 1). Aufgrund des hohen Patientenalters wurde in Rücksprache mit den Kolleginnen und Kollegen der Viszeralchirurgie auf eine notfallmässige Appendektomie verzichtet. Nach Abnahme von Blutkulturen wurde mit einer intravenösen antibiotischen Therapie mit Amoxicillin/Clavulansäure begonnen. Am Folgetag erfolgte durch die interventionellen Radiologen eine perkutane Drainageeinlage in den perityphlitischen Abszess. Darunter kam es zu einer raschen Besserung der Schmerzsymptomatik und die Entzündungs­parameter waren rückläufig. In den Kulturen der Abszess-Drainage wurden pansensible Escherichia coli nachgewiesen. Unter einer parenteralen antibiotischen Therapie mit Amoxicillin/Clavulansäure kam es zu einer Normalisierung der Leuko- und Thrombozyten. Bei weiter persistierender makrozytärer Anämie konnte in der weiteren Diagnostik ein schwerer Vitamin-B12-Mangel von 71 pmol/l (141–189 pmol/l) nachgewiesen werden. Es wurde mit einer parenteralen Substitution begonnen.

Diagnose

Bei unserer hochbetagten Patientin wurde computertomografisch eine komplizierte Appendizitis mit perityphlitischem Abszess diagnostiziert. Die eingeleitete konser­vative Therapie mit Abszess-Drainage und antibiotischer Therapie mit Amoxicillin/Clavulansäure war erfolgreich.

Kommentar

Die genaue Pathophysiologie der Appendizitis ist nicht vollständig geklärt. Am ehesten entwickelt sich eine Appendizitis durch eine Obstruktion des Lumens mit Sekretansammlung, Steigerung des intraluminalen Drucks und Bakterienvermehrung. Die venöse und die lymphatische Drainage werden gestört, was zu einer Ischämie führt. Die Folgen sind Gangrän, Perforation mit Freisetzung von Darmbakterien (insbesondere Enterobacteriaceae und Anaerobier) bis hin zu perityphlitischem Abszess, Peritonitis und Sepsis. Je nach Ausprägungsgrad wird die Appendizitis als unkompliziert oder kompliziert bezeichnet: Bei der unkomplizierten Form beschränkt sich Inflammation auf den Appendix. Die komplizierte Form ist jede ­Appendizitis mit periappendikulärer Phlegmone, freier ­Flüssigkeit oder Abszess, mit oder ohne Perforation. Die sichere Einteilung im klinischen Alltag ist oft erst intraoperativ oder sogar nur durch den histologischen Befund möglich. Trotz hoher Zuverlässigkeit der Computertomografie in der Diagnosestellung einer Appendizitis ist die Differenzierung der unkomplizierten und komplizierten Appendizitis nicht immer möglich.
Die Appendizitis ist der weltweit häufigste abdominelle chirurgische Notfall. Jährlich erkrankt eine von 1000 Personen an einer Appendizitis. Das Lebenszeitrisiko beträgt bei Männern 8,6 %, bei Frauen 6,7 %. Am häufigsten erkranken Jugendliche im Alter von 10–19 Jahren. Bei älteren Personen > 65 Jahre, wie im Fall unserer Patientin, ist eine Appendizitis oft mit milderen und unspezifischen Symptomen, einem protrahierten Verlauf und einer höheren Perforationsrate verbunden [1]. Die Herausforderung für die Klinikerin und den Klinker besteht bei älteren Pa­tientinnen und Patienten darin, aus einem atypischen klinischen Beschwerdebild und orientierenden Laboruntersuchungen (CRP, Blutbild) an eine Appendizitis zu denken und die entsprechende bildgebende Diagnostik zu veranlassen.
Historisch besteht die Meinung, dass die Appendizitis eine irreversible Krankheit ist, die unbehandelt unweigerlich zur Perforation und Peritonitis führt. Aus diesem Grund wird eine Appendizitis praktisch in allen Fällen operativ behandelt. In der internationalen Beobachtungsstudie POSAW von 2018 wurden von 4282 Personen mit Appendizitis 95,7 % operativ (51,7 % laparoskopisch und 42,2 % offen) und nur 4,3 % konservativ behandelt [2].
Die Appendektomie als einzige Behandlungsoption der unkomplizierten Appendizitis wird jedoch immer häufiger hinterfragt. Als alternative Therapieoption kommt die konservative Therapie mittels Antibiotika in Frage. In einer Metaanalyse von fünf randomisierten Studien mit insgesamt 1351 Personen betrug die Effektivität der Therapie nach einem Jahr 98,3 % bei Appendektomie im Vergleich zu 75,9 % bei der konservativen Therapie (p < 0,0001). Im Antibiotika-Arm erlitten 22,5 % der Betroffenen innerhalb des ersten Jahrs ein Rezidiv und mussten doch noch operiert werden [3]. In der CODA-Studie aus dem Jahr 2020 mit 1552 Teilnehmenden (je 50 % in der Appendektomie- und in der Antibiotikagruppe) zeigte sich, dass der Gesundheitszustand der Teilnehmenden nach 30 Tagen gleich gut war, unabhängig von der Therapiemethode. 29 % der Teilnehmenden mit primärer Antibiotika-Behandlung wurden jedoch bis zum Tag 90 doch noch appendektomiert; wenn ein Appendikolith nachgewiesen wurde, waren es sogar
41 %. [4].
Zusammenfassend kann eine unkomplizierte Appendizitis beim Erwachsenen primär antibiotisch behandelt werden. Die Effektivität der chirurgischen Therapie bleibt jedoch höher. Der Eingriff ist komplikationsarm, und bei rund 1 % der Appendektomien werden unerwartete Neoplasien diagnostiziert. Bei einer komplizierten akuten ­Appendizitis mit freier Perforation sollte eine Appendektomie unverzüglich durchgeführt werden. Bei der Appendizitis mit einer lokalen Komplikation (Abszess oder Phlegmone) kann bei stabilen Patientinnen und Patienten, wie in unserem Fall, eine initial konservative Therapie mit Antibiotika und allenfalls Drainage durchgeführt ­werden, gefolgt bei Bedarf von einer Appendektomie nach 6–8 Wochen. Bei diesem Vorgehen kommt es zu weniger Komplikationen als bei einer Notfalloperation [5].
Antibiotika sind wichtige Bestandteile der Appendizitis, Therapie und sollten gegen Gram-negative Bakterien und Anaerobier wirksam sein (Tabelle 2). Die notwendige Dauer der Antibiotikatherapie im Rahmen der nicht-­operativen Therapie orientiert sich hauptsächlich am ­klinischen Verlauf und der Dynamik der Entzündungsparameter; in der Regel wird vorerst eine parenterale Antibiotikatherapie über 1–3 Tage empfohlen, die für weitere 5–7 Tage mit oralen Antibiotika fortgeführt wird [2]. Perioperativ sollten Antibiotika immer, unabhängig davon, ob eine unkom­plizierte oder komplizierte Appendizitis vorliegt, angewendet werden. Dadurch werden Wundinfek­tionen und ­Abszesse reduziert. Die postoperative Fortsetzung der Antibiotikatherapie über 5–7 Tage ist nur bei der komplizierten Appendizitis, vor allem beim Vorliegen eines Abszesses indiziert.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
CRP C-reaktives Protein
L1/2 Segment 1 und 2 der Lendenwirbelsäule
L4/5 Segment 4 und 5 der Lendenwirbelsäule

PD Dr. med. Alexia Cusini

Leitende Ärztin für Infektiologie
Kantonsspital Graubünden
Loëstrasse 170
7000 Chur

alexia.cusini@ksgr.ch

Historie
Manuskript akzeptiert: 20.02.2023

Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.

ORCID
Meret Joanna Zehnder
https://orcid.org/0000-0003-1299-8122
Alexia Cusini
https://orcid.org/0000-0001-5086-0293

  • Je nach Ausprägungsgrad wird eine unkomplizierte Appendizitis (Inflammation des Organs) von einer komplizierten Appendizitis (Abszess, Phlegmone, freie Flüssigkeit, mit/ohne Perforation) unterschieden.
  • Bei älteren Personen präsentiert sich eine Appendizitis oft mit milderen und unspezifischen Symptomen, einem protrahierten Verlauf und einer höheren Perforationsrate.
  • Die Appendektomie bleibt auch bei der unkomplizierten Appendizitis die Standardbehandlung, weil es ein effektiver und komplikationsarmer Eingriff ist.
  • Bei stabilen Patientinnen und Patienten mit komplizierter Appendizitis und einer lokalen Komplikation kann eine initial konservative Therapie mit Antibiotika und allenfalls Drainage durchgeführt werden mit nachfolgender Appendektomie.

Wenn das Hirn den Takt angibt

In seltenen Fällen kann eine HSV-Enzephalitis zu einer Sinusknotendysfunktion führen. So auch im vorliegenden Fall einer 70-jährigen Patientin, die rezidivierende Synkopen erlitt. Bei beobachteten Sinusbradykardien und kurzzeitigen Sinusarrests wurden die Synkopen initial einer kardialen Ursache zugeschrieben. Als im Verlauf Fieber und neurologische Beschwerden hinzukamen, konnte eine HSV-1-Enzephalitis nachgewiesen werden. Der Zusammenhang hierfür, so zeigt die Literatur-Recherche, ist nicht abschliessend geklärt. In Versuchen konnte gezeigt werden, dass der Befall des Inselkortex, der Prädilektionsstelle einer zerebralen HSV-Infektion, Einfluss auf das autonome Nervensystem hat. Im vorliegenden Fall vermuten wir jedoch eine iktale Genese, unter anderem, weil die Arrhythmien nach Einleitung einer antiepileptischen Therapie sistierten. Der vorliegende Fall betont die Bedeutung differenzialdiagnostischer Überlegungen bei Synkopen.

Fallbericht

Die 70-jährige, bis auf eine bekannte arterielle Hypertonie gesunde und selbständig lebende Patientin wurde nach einer Synkope auf die Notfallstation zugewiesen. Beim Spielen mit den Enkelkindern hatte sie Nausea verspürt und war plötzlich bewusstlos geworden. Bis auf passagere, ungewöhnlich starke Kopfschmerzen am Vorabend wurden keine weiteren Beschwerden registriert. Die Patientin präsentierte sich wach, orientiert und ohne neurologische Ausfälle. Auf der Notfallstation kam es erneut zu einer Synkope, wobei eine ca. 20-sekündige Asystolie aufgezeichnet werden konnte (Abb. 1a, b, c). Im Intervall liess sich ein normales EKG ableiten. Laboranalytisch zeigte sich einzig eine leichte Leukozytose. CT-grafisch erfolgte eine Thorax- sowie eine Schädelaufnahme zum Ausschluss einer Lungenarterienembolie oder einer intrazerebralen Blutung. Die Patientin wurde zur Rhythmusüberwachung auf die Überwachungsstation aufgenommen. Bei Verdacht auf kardiale Synkope bei dokumentierter Asystolie wurde eine Schrittmacher-Implantation geplant. Auf der Überwachungsstation kam es rezidivierend zu kurzanhaltenden Sinusbradykardien und insgesamt zu fünf weiteren Episoden eines Sinusarrests mit begleitenden Synkopen. Zweimalig musste Atropin verabreicht und aufgrund der Bradykardien mit konsekutiver Hypotonie und Verschlechterung des neurologischen Zustandsbildes ein Isoprenalin-Perfusor eingesetzt werden.
Bereits am ersten Tag der Hospitalisation fieberte die Patientin bis 38,2 °C auf ohne klinischen Fokus (insbesondere kein Meningismus). Der SARS-CoV2-Abstrich sowie die Blutkulturen waren unauffällig. Bei Klebsiellen im Urin starteten wir, bei Verdacht auf einen febrilen Harnwegsinfekt und vor geplanter Schrittmacher-Implantation, eine Antibiotika­therapie mit Ceftriaxon. Das Fieber war zwischenzeitlich regredient, die Entzündungsparameter im Blut stiegen jedoch leicht an (CRP max. 26 mg/l (Normwert < 5 mg/l)).
Bei vermuteter kardialer Ursache der Synkopen erfolgte eine Echokardiografie, welche eine normale links- und rechtsventrikuläre Funktion ohne regionale Wandbewegungsstörungen und mit unauffälligen Klappen zeigte.
Im weiteren Verlauf präsentierte sich die Patientin fluktuierend desorientiert und teilweise unruhig. Aufgrund der wechselhaften Symptomatik interpretierten wir dies initial im Rahmen eines Delirs und starteten eine Therapie mit Quetiapin.

Am fünften Hospitalisationstag fieberte die Patientin wieder auf, es kam zu neuen intermittierenden linksseitigen fazialen Myoklonien und es konnte ein Meningismus festgestellt werden. Zudem wurde eine spastisch-dystone Hemisymptomatik der linken Körperseite beobachtet. Aufgrund der intermittierenden fazialen Myoklonien erfolgte bei Verdacht auf einen Status epilepticus die intravenöse Gabe von Lorazepam und Levetiracetam. Im Schädel-CT zeigte sich eine diskrete Anschwellung des Hippocampus, respektive des rechten temporalen Hirnbereichs. Wir starteten bei Verdacht auf eine virale Enzephalitis/Meningitis empirisch eine Therapie mit Aciclovir und führten eine Lumbalpunktion durch, welche einen erhöhten Eröffnungsdruck (32 cmH2O [Normwert 6–25 cmH2O]), eine erhöhte Zellzahl (188 G/l [Normwert < 0,004 G/l], 100 % mononukleäre Leukozyten) und einen erhöhten Proteinspiegel (0,89 g/l [Normwert 0,15–0,45 g/l]) ergab. Die PCR wies schliesslich HSV-1 nach, womit sich eine Herpes-Enzephalitis bestätigte.
Im Verlauf kam es klinisch zu einem intermittierenden GCS-Abfall auf 11 bei persistierender Schwäche der linksseitigen Extremitäten mit Persistenz der Desorientierung. Unter der anfallsunterdrückenden Therapie mit Levetiracetam kam es vorerst nicht mehr zu einem epileptischen Anfall. Das im Verlauf durchgeführte MRT des Schädels bestätigte den obigen Befund bei radiologischen Zeichen einer Enzephalitis temporal und insulär rechts (Abb. 2).
Unter der Therapie mit Aciclovir in der Dosierung von 10 mg/kg Körpergewicht achtstündlich kam es zu einer Verschlechterung der Nierenfunktion auf eGFR 19 ml/ min/1,73 im Sinne einer interstitiellen (allergischen) Nephritis. Die Aciclovir-Gaben wurden nierenfunktionsadaptiert reduziert und zudem Methylprednisolon 40 mg i.v. einmal pro Tag verabreicht. Hierunter normalisierte sich die Nierenfunktion im Verlauf.
Die Patientin konnte daraufhin – nach elf Tagen auf der Überwachungsstation – auf die Normalstation verlegt werden. Die Therapie mit Aciclovir wurde für insgesamt
14 Tage fortgeführt.
Auf der Bettenstation erfolgte ein weiterer fokaler, nicht bewusst erlebter Anfall, im EEG zeigte sich eine leichte Allgemeinveränderung mit Zeichen eines frontotemporalen Herdbefunds beidseits rechtsbetont. Zudem erfolgte nun auch die Einlage eines Zweikammer-Schrittmachers. Die Patientin trat nach drei Wochen Hospitalisation in wachem, allerdings persistierend desorientiertem und psychomotorisch verlangsamten Zustand in die neurolo­gische Rehabilitation aus.

Hintergrund

Die Herpes-simplex-Virus-Enzephalitis ist mit schätz­ungsweise fünf Fällen/Million die häufigste sporadische Enzephalitis in Westeuropa. Hierbei können alle Altersgruppen betroffen sein; ⅓ der Fälle tritt bei unter 20-Jährigen auf, 50 % der Fälle bei über 50-Jährigen [1]. Die Letalität beträgt unbehandelt 70 %, unter virostatischer Therapie immer noch 20–30 % [1, 2].
Klinisch lassen sich nebst Fieber auch neurologische Symptome wie Kopfschmerzen, Hemiparesen, Dysarthrien oder Aphasien, Ataxien, psychotische Symptome, epileptische Anfälle oder Vigilanzstörungen bis hin zum Koma beobachten [1, 2].
Neuropathologisch konnte gezeigt werden, dass die akute nekrotisierende Enzephalitis, zu welcher es bei einer akuten HSV-Erkrankung kommen kann, oft asymmetrisch ist und vor allem den orbitofrontalen und temporalen Kortex betrifft [3]. Vermutungen, welche diese Prädilektionsstelle begründen könnten, sind einerseits der mögliche Virus­eintritt bei einer De-novo-Infektion über den N. olfactorius entlang der Hirnbasis zu den Temporallappen oder im Fall einer Virusreaktivierung und Ausbreitung vom Ganglion trigeminale aus zum temporalen und frontalen Kortex [4].
Klinik, Blutuntersuchung, Liquordiagnostik inklusive PCR-Virusnachweis sowie Bildgebung werden zur Diagnose­stellung herangezogen. Das MRT ist dem CT vorzuziehen, typischerweise zeigen sich bereits früh im Krankheitsverlauf in der Diffusions- und FLAIR-Wichtung ein Enhancement temporobasal und periinsulär oder einzelne kortikale Herde. Ebenfalls kann das EEG früh im Krankheitsverlauf pathologisch verändert sein mit fokaler oder generalisierter Verlangsamung und lateralisierten periodischen Entladungen (LPDs) [1]. Die Bildgebung kann aber in seltenen Fällen auch ohne Befund ausfallen – insbe­sondere die CT-Aufnahme kann in den ersten Tagen einer akuten Infektion unauffällig sein [1, 4].
Eine Aciclovir-Therapie (10 mg/kg/8 h) über 14 Tage bei Immunkompetenten und über 21 Tage bei Immunkompromittierten gilt als Therapiestandard [5].

HSV-1-Enzephalitis und Sinusknotendysfunktion: die Hirn-Herz-Achse

Verschiedene Regionen des Gehirns sind für die Kontrolle der Herzfrequenz und der Kontraktilität der Herzmuskelzellen verantwortlich: darunter fallen der vordere Insel­kortex, der Gyrus cinguli, die Amygdala, der Hypothalamus, das periaquäduktale Grau, die parabrachialen Kerne sowie Teile der Medulla. Die Steuerung erfolgt über das parasympathische und sympathische Nervensystem [6]. So erstaunt es nicht, dass zerebrale Pathologien zu kardialen Dysfunktionen und Arrhythmien führen können.
Dr. Harvey Cushing beschrieb bereits 1901 den Zusammenhang eines erhöhten intrakraniellen Drucks mit einer Blutdrucksteigerung und konsekutiver Bradykardie (Cushing-Reflex) [7]. Weiter ist bekannt, dass es im Rahmen von Hirnschlägen (ischämisch wie auch hämorrhagisch) zu systolischen und diastolischen Dysfunktionen, erhöhten Herzenzymwerten wie auch zu EKG-Veränderungen bis hin zu potenziell letalen Arrhythmien kommen kann [8]. Auch im Rahmen von Epilepsien kann es zu Herzrhythmusstörungen kommen (sowohl iktale Bradykardien als auch Asystolien bei einer Überstimulation des parasympathischen Nervensystems). Des Weiteren sind im Zusammenhang mit Epilepsien plötzliche Todesfälle (‹sudden unexpected death in epilepsy [SUDEP]›) beschrieben [9]. Deren Ursache ist zwar nicht abschliessend geklärt, es wird jedoch nebst einer zerebralen Suppression und einer respiratorischen Genese auch eine kardiologische Ursache
diskutiert [10].
In der Literatur wurde das Auftreten von Sinusarrhythmien im Rahmen von bestätigten HSV-1-Enzephalitiden – wie im vorliegenden Fall – in sechs Fallberichten beschrieben [11, 12, 13, 14, 15, 16]. In vier dieser Fallberichte wurde zudem ein auffälliges EEG abgeleitet [11, 12, 15, 16], wobei es in zwei dieser Fälle auch klinisch zu epileptischen Anfällen kam [11, 12]. Aus den Fallberichten kann jedoch nicht sicher eruiert werden, ob beim Auftreten der Sinusarrhythmien jeweils auch gleichzeitig eine EEG-Ableitung erfolgte.
In weiteren drei Fallberichten traten Asystolien bei vermute­ten HSV-Enzephalitiden auf (ohne Bestätigung mittels HSV-PCR im Liquor) [17, 18, 19]. Davon kam es in einem Fallbericht zu mehrmaligen epileptischen Anfällen mit gleichzeitiger Asystolie, weshalb eine iktale Ursache der Asystolie vermutet wurde [17]. Die Anfälle wie auch die Asystolien
waren in diesem Fall unter antiviraler Therapie rückläufig. Ebenfalls traten HSV-Enzephalitis-Fälle mit autonomer Instabilität und QT-Verlängerung respektive ventrikulärer Tachykardie auf [20, 21].
Der zugrundeliegende pathophysiologische Zusammenhang einer Sinusknotendysfunktion und HSV-Enzephalitis konnte bisher nicht abschliessend geklärt werden, bekannt ist jedoch, dass Pathologien im Bereich des Inselkortex zu kardialen Dysfunktionen führen können [22]. Oppenheimer zeigte 1990 in einem Tierversuch, dass durch eine Mikro­stimulation des posterioren Inselkortex Arrhythmien und EKG-Veränderungen bis hin zur Asystolie ausgelöst werden konnten [23]. In einem weiteren Tierversuch beobachtete er, dass eine elektrische Stimulation des caudalen posterioren Inselkortex zu Bradykardien führte, eine Stimulation des rostralen posterioren Inselkortex löste aber Tachykardien aus, wobei beide Effekte mit Atenolol, aber nicht mit Atropin aufgehoben werden konnten, was für eine Aktivität des sympathischen Nervensystems spricht [24]. In einem weiteren Versuch an Patienten, bei denen aufgrund einer Epilepsie eine Temporallappenlobektomie geplant war, zeigte Oppenheimer, dass eine Stimulation des linken Inselkortex häufiger zu Bradykardien führte, während eine Stimulation des rechten Inselkortex häufiger eine Tachykardie auslöste [25]. Diese vermutete Lateralisierung (links parasympathisches Nervensystem versus rechts sympathisches Nervensystem) konnte allerdings bisher nicht ausreichend belegt werden [6].
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Läsionen unterschiedlicher Ursachen im Bereich des Inselcortex – der Prädilektionsstelle der HSV-Enzephalitis – zu EKG-Veränderungen und Arrhythmien führen können. Ob es im vorl­iegenden Fall aufgrund des Ödems im Bereich des rechten Inselkortex zu einer Unterfunktion des sympathischen Nervensystems gekommen ist oder ob die Läsionen zu fokalen insulären Epilepsien geführt haben und daher die rezidivierenden Bradykardien und Asystolien aufgetreten sind, bleibt unklar. Für Letzteres sprächen die wiederholten und jeweils nur kurz andauernden kardialen Episoden, wohingegen im ersteren Fall eher eine länger andauernde Sinusbradykardie zu erwarten wäre.
Die unauffälligen kardialen Untersuchungen (Echokardiografie, EKG im Intervall) lassen jedenfalls vermuten, dass die Ursache der Sinusknotendysfunktion im beschriebenen Fall eher nicht kardiogener Genese, sondern im Bereich der neuralen Steuerung zu suchen ist.

Diskussion

Die HSV1-Enzephalitis ist eine seltene Ursache einer Sinus­­knotendysfunktion. Im vorliegenden Fall ist eine epileptische Genese der meist selbstlimitierenden Asystolien im Rahmen der nachgewiesenen HSV-Enzephalitis anzunehmen. Leider konnte eine hierfür beweisende zeitgleiche EEG-Aufzeichnung nicht durchgeführt werden. Gestützt wird diese These dadurch, dass nach Start der antiepileptischen Therapie keine Arrhythmien mehr auftraten, obschon die strukturelle Schädigung und das Begleitödem persistierten. Dass solche strukturellen zerebralen Alterationen zu einem epileptischen Geschehen und im Rahmen dessen zu Arrhythmien führen, ist sehr selten, jedoch bei frontalen, temporalen und auch insulären fokalen epileptischen Anfällen durchaus bekannt.
Hinsichtlich der kardialen Dysfunktion weisen die in der Literatur beschriebenen Fälle darauf hin, dass diese mit dem Abheilen der Enzephalitis regredient sind und somit auch das Risiko einer erneuten Arrhythmie oder Asystolie als passager anzunehmen ist. Die Indikation der im vorliegenden Fall durchgeführten Herzschrittmacher-Implan­tation ist somit, nach Start der anfallsunterdrückenden
Therapie, kontrovers zu diskutieren.
Eine grosse Bedeutung hat in jedem Fall die unmittelbare Therapieeinleitung mit Virostatika und anfallsunterdrückender Therapie.
Mit der Aufarbeitung des Falls möchten wir zum breiten differenzialdiagnostischen Denken bei unklaren Synkopen anregen, um die Ursache nicht einzig und allein im Formenkreis der kardiovaskulären oder kardioregulatorischen Krankheiten zu suchen.

Im Artikel verwendete Abkürzungen

CRP C-reaktives Protein
CT Computertomogramm
EEG Elektroenzephalogramm
eGFR Estimated Glomerular Filtration Rate
EKG Elektrokardiogramm
GCS Glasgow Coma Scale
HSV-1 Herpes-Simplex-Virus Typ 1
MRT Magnetresonanztomogramm
PCR Polymerase Chain Reaction

Dr. med. Michael Studhalter

Kantonsspital Olten
Baslerstrasse 150
4600 Olten

michael.studhalter@spital.so.ch

Historie
Manuskript eingereicht: 03.07.2022
Nach Revision angenommen: 09.01.2023

Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.

ORCID
Nina Graf
https://orcid.org/0000-0002-7067-9536
Michael Studhalter
https://orcid.org/0000-0002-5467-2879

  • Die HSV1-Enzephalitis ist mit 5 Fällen/Mio. die häufigste sporadische Enzephalitis in Westeuropa.
  • In seltenen Fällen kann eine HSV1-Enzephalitis die Ursache für eine Sinusknotendysfunktion sein.
  • Die Ursache ist nicht vollständig geklärt, vermuten lässt sich eine Störung der Hirn-Herz-Achse. Einerseits führt der Befall des Inselkortex zu einer autonomen Dysregulation des Herzens, andererseits ist eine iktale Genese zu evaluieren.

1. Meyding-Lamadé U, et al., Virale Meningoenzephalitis, S1- Leitlinie, 2018; in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. www.dgn.org/leitlinien; letzter Zugriff: 11.01.2023.
2. Levitz RE. Herpes simplex encephalitis: a review. Heart Lung J Crit Care. 1998;27:209–12.
3. Davis LE, Johnson RT. An explanation for the localization of herpes simplex encephalitis? Ann Neurol. 1979;5:2–5
4. Kennedy PGE, Chaudhuri A. Herpes simplex encephalitis. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2002;73:237–8.
5. Stahl JP, Mailles A. Herpes simplex virus encephalitis update. Curr Opin Infect Dis. 2019;32:239–43.
6. Palma J-A, Benarroch EE. Neural control of the heart: Recent concepts and clinical correlations. Neurology. 2014;83:261–71.
7. Dinallo S, Waseem M. Cushing Reflex. StatPearls Publishing; 2022.
8. Manea M, Comsa M, Minca A, Dragos D, Popa C. Brain-heart axis – Review Article. J Med Life. 2015;8:266–71.
9. Cole AJ, Eskandar E, Mela T, Noebels JL, Gonzalez RG, McGuone D. Case records of the Massachusetts General Hospital. Case 18-2013: a 32-year-old woman with recurrent episodes of altered consciousness. N Engl J Med. 2013;368:2304–12.
10. Pathak SJ, Yousaf MIK, Shah VB. Sudden Unexpected Death in Epilepsy. Treasure Island (FL): StatPearls; 2022.
11. Pollock S, Reid H, Klapper P, Metcalfe RA, Ahmed N. Herpes simplex encephalitis presenting as the sick sinus syndrome. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 1986;49:331–2.
12. Nicol PP. Herpes Simplex Encephalitis, an Unusual Cause of Sinus Node Dysfunction: Case Report and Literature Review. Int J Clin Cardiol. 2015;2:042.
13. Braiman D, Konstantino Y, Westreich R. When the brain slows the heart – herpes encephalitis and sinus arrest: a case report. Eur Heart J Case Rep. 2021;5:ytab254.
14. Wendl E, Telles-Garcia N. Herpes simplex virus encephalitis with a cause for pause: A case report. Int J Heart Rhythm. 2020:5:14–7.
15. Sabri WMNWM, Yahaya NA, Alias A, Anuar MA. A Case of Severe Transient Sinus Bradycardia in Herpes Simplex Infection. Mal J Med Health Sc. 2021;17(4):428–30.
16. Smith BK, Cook MJ, Prior DL. Sinus node arrest secondary to HSV encephalitis. J Clin Neurosci. 2008;15:1053–6.
17. Gooch R. Ictal asystole secondary to suspected herpes simplex encephalitis: a case report. Cases J. 2009;2:9378.
18. Saffran L, Goldner BG, Adler H, Feingold BD, Feingold RM, Latcha S, et al. Asystole associated with herpes simplex encephalitis. J Invasive Cardiol. 1995;7:152–5.
19. Alsolaiman MM, Alsolaiman F, Bassas S, Amin DK. Viral encephalitis associated with reversible asystole due to sinoatrial arrest. South Med J. 2001;94:540–1.
20. Huemer M, Boldt L-H, Wutzler A, Parwani A, Rolf S, Blaschke D, et al. Polymorphic ventricular tachycardia in a patient with herpes encephalitis. J Clin Neurosci Off J Neurosurg Soc Australas. 2012;19:483–4.
21. Kikumoto M, Nagai M, Ohshita T, Toko M, Kato M, Dote K, et al. Insular cortex lesion and autonomic instability in a herpes simplex virus encephalitis patient. J Neurovirol. 2018;24:649– 51.
22. Nagai M, Hoshide S, Kario K. The insular cortex and cardiovascular system: a new insight into the brain-heart axis. J Am Soc Hypertens JASH. 2010;4:174–82.
23. Oppenheimer SM, Wilson JX, Guiraudon C, Cechetto DF. Insular cortex stimulation produces lethal cardiac arrhythmias: a mechanism of sudden death? Brain Res. 1991;550:115–21.
24. Oppenheimer SM, Cechetto DF. Cardiac chronotropic organization of the rat insular cortex. Brain Res. 1990;533:66–72.
25. Oppenheimer SM, Gelb A, Girvin JP, Hachinski VC. Cardiovascular effects of human insular cortex stimulation. Neurology. 1992;42:1727–32.

Wenn das Hirn das Herz zum Stoppen bringt

In der vorliegenden Ausgabe der «Praxis» beschreiben Andrea Burri, Nina Graf und Michael Studhalter den interessanten Fall einer Patientin, bei der eine HSV-Enzephalitis zu einer Sinusknotendysfunktion führte [1]. Diese Fallbeschreibung ist aus dreierlei Hinsicht äus­serst lehrreich.
Erstens führt sie eindrücklich den Ankereffekt (Anchoring Effect) vor Augen, der die unbewusste Beeinflussung eines Entscheidungsprozesses durch früh erhaltene In­formationen, sogenannte Anker, beschreibt. Die auf der Notfallstation aufgezeichnete selbstlimitierende Asystolie könnte ein solcher Anker gewesen sein, der die Diagnostik anfänglich auf eine kardiale Ursache lenkte und dabei Begleitsymptome vorerst in den Hintergrund rücken liess.
Zweitens weist der Fall auf den Inselcortex als wenig bekannte, aber faszinierende Hirnregion hin. Im Grunde genommen ist die Bezeichnung «Insel» unpassend, da dieser Abschnitt der Hirnrinde nicht abgeschieden und isoliert ist, sondern im Gegenteil funktionell und anatomisch reichhaltige Verknüpfungen aufweist. Die exakte Abgrenzung in funktionelle Unterregionen ist weiterhin Gegenstand der Forschung, beinhaltet jedoch verschiedenste Aspekte wie Sozialverhalten und Emotionen, Geschmackssinn, Gleichgewicht, Schmerzverarbeitung, Motorik und auch über­geordnete Kontrolle von vegetativen Funktionen wie etwa Blutdruck und Herzschlag. Dementsprechend können Störungen des Inselcortex zu verschiedensten, teilweise auch subtilen Symptomen führen. Insbesondere bei epileptischen Anfällen ist die die Zuordnung zur Inselregion oft herausfordernd, da typische epileptisch zuordenbare Symptome erst nach Ausbreitung in den frontalen oder temporalen Hirnlappen auftreten können. Autonome epileptische Anfälle sind sehr selten, sollten aber bei entsprechenden wiederholten, unerklärlichen, stereotypen Ereignissen differenzialdiagnostisch mitberücksichtigt werden [2].
Drittens illustriert der Fall, dass eine Herpes-simplex-Virus-1(HSV-1)-Enzephalitis sich zu Beginn nicht immer fulminant präsentieren muss. Eine verzögerte Diagnostik und Therapie sind keine Seltenheit und mit einem schlechten Ausgang assoziiert [3, 4]. Bei Patientinnen und Pa­tienten mit unklarer Infektkonstellation und Verwirrtheitszustand sollte deshalb niederschwellig auch an eine HSV-1-Enzephalitis gedacht und mittels Lumbalpunktion ausgeschlossen werden, wobei zu beachten ist, dass in ­einem frühen Stadium der PCR-basierte Virusnachweis im Liquor selten auch falsch-negativ sein kann und die Lumbalpunktion bei persistierendem klinischem Verdacht wiederholt werden sollte [5].
Dr. med. Dr. phil. Urs Fisch

Oberarzt, Facharzt Neurologie FMH
Neurologische Klinik und Poliklinik
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
4031 Basel

urs.fisch@usb.ch

1. Burri A, Graf N, Studhalter M. Wenn das Hirn den Takt angibt. PRAXIS 2023;112 (10): 531 – 536. Jobst BC, Gonzalez-Martinez J, Isnard J, Kahane P, Lacuey N, Lahtoo SD, et al. The Insula and Its Epilepsies. Epilepsy Curr. 2019;19(1):11–21. https://doi.org/10.1177 /1535759718822.
3. Hughes PS, Jackson AC. Delays in initiation of acyclovir therapy in herpes simplex encephalitis. Can J Neurol Sci. 2012;
39(5):644–8. https://doi.org/10.1017/S0317167100015390.
4. Raschilas F, Wolff M, Delatour F, Chaffaut C, De Broucker T, et al. Outcome of and prognostic factors for herpes simplex ence­phalitis in adult patients: results of a multicenter study. Clin Infect Dis. 2002;35(3):254–60. https://doi.org/10.1086/341405.
5. Tunkel AR, Glaser CA, Bloch KC, Sejvar JJ, Marra CM, Roos KL, et al. The management of encephalitis: clinical practice guidelines by the Infectious Diseases Society of America. Clin Infect Dis. 2008;47(3):303–27. https://doi.org/10.1086/589747.

Seltene Diagnose für einen Patienten mit Schulterschmerzen: reifes Teratom des Mediastinums

Dank gewissenhafter Abklärung in der hausärztlichen Sprechstunde und Zuweisung zu einer zielführenden Diagnostik konnte der gutartige Thoraxtumor einer kurativen Resektion zugeführt werden. Obwohl die radiologischen und laborchemischen Untersuchungen die gutartige Entität eines reifen Teratoms bei einem jungen, postpubertalen Mann hochwahrscheinlich machten, ist die Klinik meist unspezifisch und erlaubt keine Zuordnung, sodass auch hier die histo-pathologische Aufarbeitung und Resektion zwingend notwendig waren. Dies, um die diagnostische Sicherheit über die Dignität zu erhalten und die leitlinien- und zeitgerechte Therapie zu ermöglichen.
Schlüsselwörter: Benigner Lungentumor, Teratom, Keimzelltumor, interdisziplinäre Zusammenarbeit, leitliniengerechte Therapie

A Rare Diagnosis for a Patient with Shoulder Pain – Mature Teratoma of the Mediastinum

Thanks to a conscientious work-up in the general practitioner‘s office and referral to goal-directed diagnostics, the benign thoracic tumor could be submitted to curative resection. Although the radiological and laboratory examinations made the benign entity of a mature teratoma in a young, postpubertal male highly probable, the clinic is usually nonspecific and makes classification difficult, so that a histo-pathological work-up and resection were mandatory in this case in order to obtain diagnostic certainty about the dignity and to allow for timely therapy according to the guidelines.
Keywords: Benign lung tumor, teratoma, germ cell tumor, interdisciplinary collaboration, guideline-based therapy

Fallvorstellung

Ein 39-jähriger, nichtrauchender Mann mit einer 2-wöchigen Anamnese von zunächst in den Nacken ausstrahlenden Schulterschmerzen und im Verlauf sich verlagernder Schmerzprojektion in den vorderen oberen Brustbereich links sowie leichter Einschränkung bei vertieftem Atmen wurde initial hausärztlich abgeklärt. Bei klinisch gutem Allgemeinzustand zeigten sich auskultatorisch wenig Rasselgeräusche im linken Unterfeld und im konventionellen Thorax-Röntgenbild (Abb. 1 und 2) eine grosse Raumforderung im vorderen, linksseitigen Mediastinum. Laborchemisch fanden sich ein leicht erhöhtes CRP (33 mg/l) ohne Leukozytose sowie eine leicht erhöhte Blutsenkung.
In diesem Fall konnte bereits aus der Tumorlokalisation im vorderen Mediastinum die radiologische Differenzialdiagnose in diesem Bereich auf die 5T: teratoma, thymoma, thyroidea, terrible lymphoma, tortuous vessels) eingegrenzt werden (Tabelle 1).
Durch den Pneumologen wurde zudem sonografisch die normale Zwerchfellbeweglichkeit und lungenfunktionell die leichte Restriktion ausgewiesen. Im CT Thorax (Abb. 3 und 4) fand sich ein Tumor mit elf Zentimetern Durchmesser im vorderen oberen und linksseitigen Mediastinum ohne Hinweis auf Infiltration, ohne Lymphadenopathie, Arrosion der Rippen oder Osteolysen, jedoch mit Nachweis von Fettanteilen und Verknöcherungen. In der Zusammenschau der Befunde wurde der Verdacht auf ein Teratom gestellt. Das Labor ergab weiterhin leicht erhöhte Entzündungsparameter, aber Normwerte für die Tumormarker Beta-HCG und das Alpha-Fetoprotein.
Nach Zuweisung an die Thoraxchirurgie wurde mittels anterolateraler Thorakotomie links eine Tumorektomie (Abb. 5) mit R0-Resektion durchgeführt und histologisch Keimblätter bestätigt (Abb. 6 und 7). Gemäss Tumorboardbeschluss erfolgte die klinische und CT-Verlaufskontrolle nach sechs Monaten. Dort zeigte sich klinisch die Remission der thorakalen Beschwerden und eine Verbesserung der respiratorischen Einschränkung. Computertomografisch fand sich ein regelrechter postoperativer Situs ohne Hinweise für ein Lokalrezidiv oder Metastasen.

Diskussion

Teratom

Das Teratom als häufigster Keimzelltumor und verantwortlich für 7–9 % der Mediastinaltumoren ist im Kindesalter meist gutartig. Die Symptomatik ist meist unspezifisch und bleibt durch das langsame Wachstum oft lange aus. Unspezifische Symptome sind thorakale Schmerzen, Husten, Dyspnoe oder Heiserkeit, wobei ein Drittel der Patientinnen und Patienten asymptomatisch bleibt. Weitere Symptomatik kann sich aufgrund des Grössenwachstums als obere Einflusstauung, Horner-Symptomatik oder Pneumothorax manifestieren. Bei Tumorruptur finden sich teils Pleuraergüsse, eine akute Mediastinitis, ein Empyem oder eine Perikardtamponade. Im Fall einer Fistelbildung mit der Trachea können gar Teratombestandteile (Haare, Talgmaterial) abgehustet werden. Auch Pankreasgewebe ist oft enthalten und kann über einen Hyperinsulinismus eine Hypoglykämie bewirken. Die Tumormarker sind nicht erhöht [2]. Die radiologischen Eigenschaften erlauben oft eine zuverlässige präoperative Diagnose. Eine Resektion sollte aufgrund des potenziellen Entartungsrisikos und der möglichen Beeinträchtigung naheliegender Strukturen immer erfolgen. Obwohl reife Teratome (ausdifferenzierte Gewebselemente) in der Regel benigne sind, können diese gerade bei erwachsenen Männern (bei Frauen 95 % reife Teratome, bei Männern häufiger unreife Teratome) entarten und metastasieren. Eine histologische Untersuchung ist zur Unterscheidung zwischen reaktiven, gutartigen und reifen Teratomen versus unreifen Teratomen mit Metastasierungspotenzial unerlässlich. Es besteht eine altersabhängige Wahrscheinlichkeit der Dignität, und auch wenn im Kindesalter meist noch benigne Befunde auftreten, kann postpubertal eine Malignität vorliegen und im Erwachsenenalter muss auch eine Metastasierung ausgeschlossen werden.
Teratome enthalten Gewebe aus mindestens zwei Keimblättern (Ekto-, Meso- oder Endoderm) und die reifen Teratome ausdifferenziertes Gewebe (Haut, Hautanhangsgebilde, Bronchial- oder Gastrointestinalschleimhaut, Hirngewebe, glatte Muskulatur, Fettgewebe, Pankreasgewebe). Unreife Teratome enthalten unreifes Gewebe. Ein monodermales Teratom (Dermoidzyste) ist selten.
Immunhistochemisch sind embryonale Stammzellmarker (z.B. OCT3/4 (octamer binding transcription factor), SALL4 (Sal-like protein 4), LIN28 (Lin-28 homolog A) negativ, wobei je nach Gewebe typische Immunmarker vorhanden sein können.
Unterschiede zu den anderen Keimzelltumoren sind: das zeitliche Auftreten sowohl prä- als auch postpubertal, die Tatsache, dass auch postpubertale Frauen betroffen sein können, der fehlende Nachweis des bei Keimelltumoren häufig gefundenen Isochromosoms 12p und die Möglichkeit einer kurativen Resektion bei Vorliegen eines reifen Teratoms.
Gemäss S3-Leitlinie [3] ist bei histologisch eindeutig reifem Teratom und normwertigen Serumtumormarkern die Resektion, bei erhöhten Tumormarkern jedoch analog zu den gonadalen Keimzelltumoren die Cisplatin-basierte Polychemotherapie mit folgender Residualtumorresektion (RTR) indiziert.

Primordiale Keimzellen

Primordialzellen (= PGC primordial germ cells, Urkeimzellen) sind die Vorläufer der Keimzellen (= Gameten, Geschlechtszellen, Spermien oder Eizellen). Unter Abfaltung des Embryos sowie chemotaktischer Reize wandern sie amöboid von der Dottersackwand über die Gastrointestinalwand und das dorsale Mesenterium zur Genitalleiste [4]. Die Genitalleisten entwickeln sich zu Keimdrüsen/Gonaden (Hoden, Ovar). Teratome entstehen in der 4.–6. Woche der Embryogenese im Mediastinum, aber auch in anderen Lokalisationen durch versprengte Primordialzellen auf ihrem Weg aus dem Dottersack (Abb. 8 und 9).

Keimzelltumoren

Entsprechend der Wanderung der Primordialzellen finden sich Keimzelltumoren [5] ausserhalb der Gonaden am häufigsten im Mediastinum und sind zu etwa einem Fünftel für Mediastinaltumoren verantwortlich [2]. Histologisch werden Seminome (ausgehend von Spermatogonien: Stammzellen im Keimepithel des Hodens) von den nicht-seminomatösen Keimzelltumoren (Embryonales Karzinom, Teratom, Dottersacktumor, Chrorionkarzinom: hier häufig Mischformen) unterschieden. Bei Männern manifestieren sich Keimzelltumoren zu 95 % in den Hoden und circa 5 % extragonadal. Gemäss Leitlinien [3] unterscheiden sich Seminome und Nichtseminome wesentlich im Risikoprofil, der Therapie sowie der Nachsorge, und wichtige prognostische Faktoren konnten detektiert werden. Die konsequente Einhaltung der stadiengerechten Therapiekonzepte verspricht eine bis 90 %-ige Heilungschance. Eine Assoziation mediastinaler Keimzelltumoren mit somatischen Karzinomen und des mediastinalen Dottersacktumors mit hämatologischen Neoplasien (z.B. Myelodysplasien, Leukämien) ist zudem bekannt.
Die anatomische und altersabhängige Zuordnung kann die Differenzialdiagnose erheblich eingrenzen (z.B. präpubertale Kinder: mediastinale Teratome und Dottersacktumoren. Postpubertale Frauen: meist gutartige reife Teratome. Postpubertale Männer: gonadale Keimzelltumoren).
Auch eine immunhistochemische Subtypisierung wird der Pathologe zur korrekten Zuordnung und zum Staging der Keimzelltumoren vornehmen, was relevanten Einfluss auf die leitliniengerechte Behandlung und Prognose hat.

Benigne Thorax- und Lungentumoren

Unter den meist radiologisch/zufallsbefundlich entdeckten Lungenrundherden finden sich nach Resektion und pathologischer Aufarbeitung ca. 50 % gutartige Befunde. Die inzidentellen Lungenrundherde (Röntgen, CT) sind oft wenig symptomatisch. Radiologisch benigne, aber keineswegs verlässliche Zeichen sind die glatte Oberfläche, eine Stielbildung, ein erhöhter Kalkanteil, ein Fettgewebsanteil, ein stabiler Verlauf über die Zeit sowie das Fehlen von Retraktion, Spikulae, Gefässnachweis oder dickwandigen Zysten.
Unter den Karzinomen aber hat das Lungenkarzinom [6] mittlerweile die höchste Mortalität [7], wobei auch Nie-Raucher (< 100 Zigaretten auf Lebenszeit) zu rund 25 % betroffen sind. Entsprechend bedürfen solide und subsolide, solitäre (Tabelle 2) oder multiple Lungenrundherde mindestens ab sechs Millimeter im Durchmesser [8] gemäss Risikoeinschätzung einer mindestens leitliniengerechten Beobachtung oder histologischen Sicherung [9].
Als Differenzialdiagnose zum Bronchuskarzinom muss an eine pulmonale Metastase, eine chronische Pneumonie oder auch einen benignen Lungentumor gedacht werden. Benigne Lungentumoren gehen von Bronchien oder Lungenparenchym aus, und es fehlt eine Destruktion, Invasion oder Metastasierung [5, 11]. Unter den eigentlichen Lungentumoren sind die benignen leider selten und nur für zirca 1–3 % verantwortlich.
Histologisch erfolgt die Einteilung der benignen Lungentumoren nach dem Ursprungsgewebe (epithelial: Papillome, Adenome. Mesenchymal: v.a. Chondrome. Mischformen und nicht zuordenbare Tumoren), wovon das Hamartom am häufigsten ist. Diagnostisch ist die minimalinvasive Thoraxchirurgie das Mittel der Wahl. Ein abweichendes Vorgehen ist nur bei Grössenkonstanz über zwei Jahre, sehr kleinem Durchmesser und sichergestellter Verlaufsbeobachtung mittels CT Thorax gerechtfertigt.
Bezüglich Procedere wird entschieden über eine Kontrolluntersuchung versus Resektion (interventionell, thorakoskopisch, chirurgisch offen). Obwohl zystische Läsionen radiologisch eher benignen Befunden entsprechen, muss beachtet werden, dass auch Tumoren und Lymphome zystisch degenerieren können (z.B. Thymom, M. Hodgkin/ Lymphome, Keimzelltumoren, neurogene Tumoren, mediastinale Lymphknotenmetastasen).
Generell stellt die seltene Entität eines gutartigen Lungentumors eine nicht weniger grosse Herausforderung dar hinsichtlich Abgrenzung zu malignen Befunden und bezüglich Behandlungsmanagement. Allein schon ein Grössenwachstum mit Kompression oder Verlagerungen benachbarter Strukturen kann eine diagnostische und ggf. kurative Resektion notwendig machen.

dipl. Arzt Patrick Heeb

FMH Pneumologie und FMH Allg. Innere Medizin
Zürcher RehaZentren Klinik Wald
Faltigbergstrasse 7, 8636 Wald

patrick.heeb@zhreha.ch

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

 

Historie

Manuskript eingereicht: 05.12.2021
Nach Revision angenommen: 14.02.2023

 

Ethische Richtlinien
Die Publikation erfolgt mit dem Einverständnis des Patienten.

 

ORCID
Patrick Heeb
https://orcid.org/0000-0003-2034-8939
Corina Dommann-Scherrer
https://orcid.org/0000-0002-8262-1155

Das Wichtigste für die Hausarzt-Praxis

Dank der gewissenhaften Abklärung bereits in der hausärztlichen Sprechstunde und der Zuweisung zu einer zielführenden Diagnostik konnte der in diesem Fall gutartige Thoraxtumor einer kurativen Resektion zugeführt werden.
Obwohl in diesem Fall die radiologischen und laborchemischen Untersuchungen die gutartige Entität eines reifen Teratoms bei einem jungen, postpubertalen Mann hochwahrscheinlich machten, ist die Klinik meist unspezifisch und erlaubt keine Zuordnung, sodass auch hier die histopathologische Aufarbeitung und Resektion zwingend notwendig waren. Dies, um die diagnostische Sicherheit über die Dignität zu erhalten und die leitlinien- und zeitgerechte Therapie zu ermöglichen.

1. Wormanns D. Thoraxdiagnostik. Stuttgart; Thieme: 2017, 189.
2. Bremmer F, Ströbel P. Mediastinale Keimzelltumoren. Pathologe. 2016; 37(5):441–448.
3. S3-Leitlinie Diagnostik, Therapie und Nachsorge der Keimzelltumoren des Hodens. https://www.awmf.org/uploads/tx_sz leitlinien/043-049OLl_S3_Keimzelltumoren-Hoden-Diagno stik-Therapie-Nachsorge_2020–03.pdf
4. Online Embryologiekurs für Studierende der Medizin. https:// www.embryology.ch/allemand/ugenital/diffmorpho01.html#; Universitäten Fribourg, Lausanne, Bern; 2021. letzter Zugriff: 19.02.2023.
5. Mason RC, Murray JF, Nadel JA, Gotway M. Murray. Nadel’s Textbook of Respiratory Medicine (Kindle-Positionen1307 62-130763). Elsevier Health Sciences, Kapitel 56.
6. Travis WD, Brambilla E, Nicholson AG, et al. The 2015 World Health Organization Classification of Lung Tumors: Impact of Genetic, Clinical and Radiologic Advances Since the 2004 Classification. J Thorac Oncol. 2015;10(9):1243–1260.
7. Grippi, MA. Fishman›s Pulmonary Diseases and Disorders, 5th edition. New York; McGraw-Hill Education: 2015. (Kindle-Version), Grippi, Kap. 108.
8. MacMahon H, Naidich DP, Goo JM, et al. Guidelines for Management of Incidental Pulmonary Nodules Detected on CT Images: From the Fleischner Society 2017. Radiology. 2017; 284(1):228–243.
9. S3-Leitlinie Lungenkarzinom (Langversion 1.0 Februar 2018). Available from: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/ 020-007OL_l_S3_Lungenkarzinom_2018-03.pdf
10. UpToDate, Diagnostic evaluation of the incidental pulmonary nodule, April 2021.
11. Borczuk AC. Benign tumors and tumorlike conditions of the lung. Arch Pathol Lab Med. 2008;132(7):1133–1148.