- Depression und Migräne ein bidirektionaler Zusammenhang mit therapeutischer Implikation
Anlässlich des Jahreskongresses der SGPP gaben Prof. Thomas MĂ¼ller, der als ärztlicher Direktor der Privatklinik Meiringen tätig ist, und Prof. Christoph Schankin, der als Leitender Arzt der Neurologie der Bellevue Medical Group arbeitet, am Satellitensymposium von Teva Pharma einen detaillierten Einblick in den bidirektionalen Zusammenhang zwischen Depression und Migräne. «Es ist sehr schön, dass wir dieses Thema an einem psychiatrischen Kongress diskutieren dĂ¼rfen, gerade weil Migräne traditionell eher der Neurologie zugeordnet wird», sagte Prof. MĂ¼ller.
Ein detaillierter Blick auf den Zusammenhang zwischen Depression und Migräne
Zunächst gab Prof. MĂ¼ller einen Ăœberblick und schlug die BrĂ¼cke zu neuen Behandlungsansätzen, die Prof. Schankin anschliessend vertiefte. Dabei wies er darauf hin, dass neben den Patientinnen und Patienten auch die volkswirtschaftlichen Folgen behandelt werden mĂ¼ssen. In Europa belaufen sich die jährlichen Kosten durch Depressionen auf rund 118 Milliarden Euro, durch Migräne sind es etwa 27 Milliarden Euro. Ein erheblicher Teil davon entfällt auf indirekte Kosten wie Arbeitsausfälle. Diese sind besonders hoch, wenn Depressionen und Migräne gemeinsam auftreten.
Genetische Ăœberschneidungen
Im Jahr 2018 wurde in der Zeitschrift Science eine gross angelegte genomweite Assoziationsstudie mit 265 000 Patientinnen und Patienten sowie fast 750 000 Kontrollpersonen veröffentlicht (1). Die Studie zeigte deutliche genetische Ăœberschneidungen innerhalb der Psychiatrie, insbesondere zwischen Schizophrenie und bipolarer Störung. Solche Ăœberschneidungen sind zwischen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen seltener, mit Ausnahme von Migräne, die signifikant mit Depressionen und ADHS assoziiert ist. Auch das Tourette-Syndrom weist Ăœberschneidungen auf.
Pathophysiologie
Es gibt Hinweise auf gemeinsame Signalwege, etwa bei der Serotoninregulation, bei Neurotransmittern wie Dopamin oder bei Neuropeptiden wie dem Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP). Auch Neuroinflammation und chronischer Stress spielen eine Rolle. Epidemiologisch haben Migränepatientinnen und -patienten ein zwei- bis zweieinhalbfach erhöhtes Risiko fĂ¼r Depressionen, während das Risiko fĂ¼r Migräne bei Depressionen zwei- bis dreifach erhöht ist (2).
Studien wie jene von Breslau (3) zeigen eine besonders hohe Prävalenz von Depression bei Migräne. Auch die MAST-Studie (4) bestätigte die enge Komorbidität. Häufige Begleiterkrankungen sind Schlafstörungen, Angststörungen und kardiovaskuläre Risikofaktoren.
Therapieoptionen
Pharmakologische Massnahmen: Trizyklische Antidepressiva, insbesondere Amitriptylin, haben sich sowohl bei Spannungskopfschmerz als auch bei Migräne bewährt. SSRI und SNRI sind weniger wirksam (5).
Nicht-pharmakologische Massnahmen: Sport kann depressive Symptome reduzieren, bei Ăœberlastung jedoch Migräne auslösen. Psychotherapeutische Verfahren wie Achtsamkeit, emotionsfokussierte Therapie, Biofeedback und Entspannungstechniken können die Häufigkeit und Intensität der Attacken verringern.
Fazit
Migräne und Depression treten häufig gemeinsam auf und verstärken sich wechselseitig: Migränepatientinnen und -patienten haben ein rund 2–2.5-fach erhöhtes Depressionsrisiko, während bei Menschen mit Depression das Migränerisiko etwa 2–3-fach erhöht ist. Diese enge VerknĂ¼pfung hat erhebliche volkswirtschaftliche Bedeutung und spricht fĂ¼r ein systematisches Screening in beide Richtungen. Therapeutisch bewährt sind Antidepressiva (v. a. Amitriptylin, SNRI) sowie psychotherapeutische Verfahren wie KVT, Achtsamkeit und Biofeedback. Ergänzend zeigen Sport/Bewegung und Anti-CGRP-Therapien vielversprechende Effekte bei komorbider Migräne und Depression. Insgesamt empfiehlt sich ein multimodales, individuell abgestimmtes Vorgehen mit regelmässiger Evaluation von Symptomen beider Erkrankungen.
Migräne und komorbide Depression – Prophylaxe mit Fremanezumab
Diagnostische Kriterien – ICHD-3
A. FĂ¼r die Diagnose braucht es mindestens fĂ¼nf Attacken, welche die Kriterien B und D erfĂ¼llen.
B. Kopfschmerzattacken, die unbehandelt oder erfolglos behandelt 4 bis 72 Stunden andauern.
C. Der Kopfschmerz weist mindestens zwei der folgenden vier Charakteristika auf:
1. Einseitige Lokalisation
2. Pulsierender Charakter
3. Mittlere oder starke Schmerzintensität
4. Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten (z. B. Gehen oder Treppensteigen) oder fĂ¼hrt zu deren Vermeidung.
D. Während des Kopfschmerzes besteht mindestens eines dieser Kriterien:
1. Ăœbelkeit und/oder Erbrechen
2. Photophobie und Phonophobie
E. Nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose
Nicht automatisch Spannungskopfschmerz
Typisch bilateral, drĂ¼ckend/verspannend, mild bis moderat, nicht durch Routineaktivität verschlechtert, bzw. kein Vermeidungsverhalten.
Wahrscheinliche Migräne (ICHD-3, 1.5.1)
Attacken, die alle bis auf eines der Kriterien A–D fĂ¼r 1.1 Migräne ohne Aura erfĂ¼llen.
5-Minuten-Assessment in der Praxis
Dynamik
1. Seit wann kennen Sie den aktuellen Kopfschmerz?
2. Wie häufig war er initial?
3. Wie häufig ist er jetzt?
4. Ăœber welchen Zeitraum kam es zu der Ă„nderung?
Migraine Screen Questionnaire (MS-Q) (6)
Nein = 0, Ja = 1
1. Leiden Sie häufig oder stark unter Kopfschmerzen?
2. Dauern Ihre Kopfschmerzen Ă¼blicherweise länger als vier Stunden?
3. Leiden Sie Ă¼blicherweise unter Ăœbelkeit, wenn Sie Kopfschmerzen haben?
4. Stören Sie Licht oder Lärm während der Kopfschmerzen?
5. Beschränken die Kopfschmerzen Ihre körperliche oder geistige Aktivität?
Damit wird die Diagnostik im Alltag erleichtert (drei von fĂ¼nf Kriterien erfĂ¼llen eine hohe Sensitivität). Ebenso hilfreich sind Kopfschmerzkalender.
Akuttherapie
Je nach Migräne-Intensität werden unterschiedliche Medikamente empfohlen:
Leichtere Attacken: Acetylsalicylat, Diclofenac, Ibuprofen, Metamizol, Mefenaminsäure, Naproxen, Paracetamol (2. Wahl, bei Kontraindikation gegen NSAR).
Mittel bis sehr starke Attacken: Almotriptan, Eletriptan, Frovatriptan, Naratriptan, Rizatriptan, Sumatriptan, Zolmitriptan.
Triptane unterscheiden sich hinsichtlich Wirksamkeit und Nebenwirkungen, der Zeit bis zum Wirkungseintritt sowie der Wirkungsdauer. Bei Bedarf kann die Einnahme nach 2–4 Stunden wiederholt werden; ein Wechsel des Präparats innerhalb derselben Attacke sollte vermieden werden. Bewährt hat sich ein Therapieversuch Ă¼ber drei Attacken; bleibt der Effekt unzureichend, ist ein Präparatewechsel sinnvoll. Bei Wiederkehrkopfschmerz kann eine Kombination mit einem NSAR erwogen werden. Kontraindikationen umfassen unter anderem Herzinfarkt, CVI und die gleichzeitige Einnahme von MAO-Hemmern.
Chronifizierung der Migräne
Man unterscheidet zwischen episodischer Migräne (weniger als 15 Kopfschmerztage pro Monat) und chronischer Migräne (mehr als 15 Kopfschmerztage pro Monat). Zu den Risikofaktoren fĂ¼r eine Chronifizierung zählen u. a. eine inadäquate Akuttherapie, die Einnahme von Schmerzmitteln in zu hoher Dosierung, psychische Komorbiditäten wie Angst oder Depression sowie kardiovaskuläre Risikofaktoren.
Prophylaxe
Bei mehr als drei Attacken pro Monat sollte eine prophylaktische Therapie in Erwägung gezogen werden. In der Schweiz sind die folgenden Medikamente zugelassen: Amitriptylin, Betablocker (z. B. Metoprolol), Topiramat (mit Vorsicht, da es Depressionen verschlimmern kann) und Flunarizin (Produktion in der Schweiz eingestellt).
DarĂ¼ber hinaus haben sich auch nicht-medikamentöse Massnahmen bewährt, etwa Ausdauersport, die progressive Muskelentspannung nach Jacobson oder Geräte zur transkutanen Nervenstimulation.
Migräne-spezifische Therapien
• Atogepant: Prävention Erwachsener mit episodischer oder chronischer Migräne
• Rimegepant: Akuttherapie, Prävention episodischer Migräne
• Botox nach PREEMPT: Prävention chronischer Migräne
• Erenumab, Eptinezumab, Fremanezumab, Galcanezumab
Diese Medikamente greifen direkt in den pathophysiologischen Mechanismus ein. Während einer Attacke wird CGRP aus dem Trigeminusnerv freigesetzt, was die SchmerzĂ¼bertragung verstärkt. Blockiert man CGRP oder seinen Rezeptor, reduziert sich die Migränefrequenz deutlich. Klinische Studien zeigen, dass diese Therapien nicht nur die Anzahl der Migränetage reduzieren, sondern auch depressive Symptome verbessern – und das unabhängig davon, ob die Migräneattacken vollständig zurĂ¼ckgehen.
In der UNITE-Studie konnte bei Migränepatient/innen mit gleichzeitig diagnostizierter Major Depression unter Fremanezumab eine signifikante Abnahme der depressiven Scores (HAMD-17, PHQ-9) nachgewiesen werden (7). Nebenwirkungen sind selten; am häufigsten treten Verstopfung oder lokale Reaktionen an der Injektionsstelle auf. Die Kosten liegen bei 400–500 CHF pro Monat, was den Einsatz einschränkt. In der Schweiz ist zudem nach einem Jahr ein Therapieunterbruch vorgeschrieben.
Schlussfolgerung
Migräne und Depressionen treten häufig gemeinsam auf.
• Migräne und Depression sind bidirektional verknĂ¼pft (genetisch, pathophysiologisch: Serotonin, CGRP).
• CGRP-basierte spezifische Migränetherapien reduzieren Migränetage und verbessern Depressivität.
• Bei komorbider Migräne/Depression empfiehlt sich ein multimodales Vorgehen mit regelmässiger Evaluation beider Symptomkomplexe.
riesen@medinfo-verlag.ch
1. The Brainstorm Consortium “Analysis of shared heritability in common disorders of the brain.” Science 360.6395 (2018): 1-15.
2. Viudez-Martinez A et al. Understanding the biological relationship between migraine and depression.. Biomolecules 2024;14:163. Doi:10.3390/biom14020163
3. Breslau N. et al. Comorbidity of migraine and depresion: Investigating potential etiology and prognosis. Neurology 2003; 60: 1312
4. Lipton RB et al. Migraine in America Symptoms and Treatment (MAST) Study: Baseline Study Methods, Treatment Patterns, and Gender Differences. Headache 2018 Oct;58(9):1408-1426. doi: 10.1111/head.13407. Epub 2018 Oct 20.
5. Burch RC et al. Migraine : epidemiology, burden , and comotbidity. Neurol Clin. 2019 ;37 :631-649
6. Lainez MJ et al. Development and validation of the Migraine Screen Questionnaire (MS-Q). Headache 2005 ; 45 : 1328-1338
7. Lipton RB et al. Fremanezumb for the treatment of patient with migrsaine and comorbid major depressive disorder. The INITE randomized clinical trial. JAMA Neurol. 2025;82:560-569
der informierte @rzt
- Vol. 15
- Ausgabe 10
- Oktober 2025






