Fortbildung AIM

Zusammenarbeit der Swiss Orthopaedics und der Versicherungsmedizin der Suva

Der Dokumentationsbogen nach Schultertrauma

Läsionen der Rotatorenmanschette sind eine häufige Ursache von Schulterschmerzen. Die Sehnen der Rotatorenmanschette durchlaufen mit zunehmendem Alter degenerative Prozesse, was eine Differenzierung zwischen traumatischer oder degenerativer Ursache von Sehnenläsionen oftmals schwierig macht. Alle in der Schweiz beschäftigten Arbeitnehmer/-innen sind obligatorisch unfallversichert, somit ist diese Differenzierung nach einem Trauma äusserst relevant hinsichtlich der Festlegung des Kostenträgers. Essentiell ist eine möglichst detaillierte und strukturierte Erfassung von unfallbezogenen Informationen bei der ärztlichen Erstkonsultation, welche in aller Regel hausärztlich oder auf Notfallstationen erfolgt. Gemeinsam haben die Expertengruppe Schulter und Ellbogen der Swiss Orthopaedics und die Suva einen Dokumentationsbogen nach Schultertrauma erarbeitet, der dies ermöglichen soll. Mit diesem Artikel soll dieser Dokumentationsbogen nach Schultertrauma bekannter gemacht und seine Relevanz für die versicherungsmedizinische Aufarbeitung eines Schultertraumas aufgezeigt werden.



Lesions of the rotator cuff are a common cause of shoulder pain. The tendons of the rotator cuff undergo degenerative processes with increasing age, which makes it difficult to distinguish between traumatic and degenerative causes of tendon injuries. The swiss population is covered by a compulsory accident insurance, thus the differentiation of trauma and degeneration is important regarding responsibilities of the insurance providers. A detailed and structured documentation of all injury-related information at the first medical consultation, which frequently is conducted by general practitioners and emergency wards, is essential. To provide a reproducible template for this critical documentation, the shoulder and elbow expert group of Swiss Orthopaedics in collaboration with Suva created a shoulder trauma documentation form. The purpose of this article is to introduce, popularise and underline the importance of this form.
Keywords: Rotatorenmanschette, Schultertrauma, Versicherungsmedizin, Dokumentationsbogen

Schulterschmerzen gehören zu den häufigsten Symptomen für muskuloskelettale Konsultationen bei Erstversorgern (1). In einem umfassenden systematischen Review wurden 61 Studien einbezogen, in denen die Prävalenz von Schulterschmerzen bei Patienten der Grundversorgung zwischen 1–4.8 % ermittelt wurde. Die jährliche Inzidenz wird mit ca. 12–25/1000 angegeben (2). Rund 50 % der Patient/-innen berichten 6 Monate nach der Erstkonsultation, ohne Berücksichtigung der eingeleiteten Behandlung, über anhaltende Symptome (3). Läsionen der Rotatorenmanschette machen einen grossen Anteil der Schulterpathologien aus (2). Die Prävalenz über alle Altersgruppen liegt bei rund 20 %, wobei mit steigendem Alter eine deutliche Zunahme festzustellen ist (4). Dabei handelt es sich sowohl um degenerativ als auch traumatisch bedingte Rupturen der Rotatorenmanschette. Enger et al. (5) finden mit ihrer prospektiven Studie zu Schulter­traumata innerhalb eines Jahres die Diagnose einer Rotatorenmanschettenläsion in 4 % aller Schulterverletzungen bestätigt, wobei diese bei einem Median von 60 Jahren auftraten.
Nicht selten treten Schwierigkeiten bei der genauen Differenzierung zwischen Traumafolgen und degenerativen/alters- und abnützungsbedingten Läsionen der Rotatorenmanschette (sogenannt «acute-on-chronic») auf.

Alle in der Schweiz beschäftigten Arbeitnehmer/-innen sind gemäss Bundesgesetz über die Unfallversicherung obligatorisch bei einer Unfallversicherung versichert (Art. 1 UVG). Wer nicht berufstätig ist, erhält bei einem Unfall Versicherungsschutz über die Krankenkasse. Arbeitslose Personen sind obligatorisch bei der Suva gegen Unfälle versichert. Ein Unfallereignis muss der zuständigen Unfallversicherung, dem Arbeitgeber oder der Arbeitslosenversicherung gemeldet werden (Art. 45 UVG). Mit dieser Anmeldung werden der Versicherung Angaben zum Unfallzeitpunkt, zum Hergang und zu einer eventuell resultierenden Arbeitsunfähigkeit gemacht. Oft erfolgt die Unfallmeldung durch oder über den Arbeitgeber. Ein Arztzeugnis UVG enthält diese Informationen und wird durch den erstbehandelnden Arzt ausgefüllt. Die Unfallversicherung prüft anhand der vorhandenen Daten, ob ein Unfall (wie in Artikel 4 ATSG definiert), eine Berufskrankheit nach Artikel 6 Absatz 1 UVG oder nach Artikel 6 Absatz 2 UVG eine Listendiagnose vorliegt. In vielen Fällen ist eine versicherungsmedizinische Beurteilung erforderlich.

Die Unterscheidung zwischen traumatischer und degenerativer Ursache von Läsionen der Rotatorenmanschette ist schwierig

Das Dilemma der Versicherungsmedizin besteht häufig darin, dass sowohl asymptomatische als auch symptomatische Läsionen der Rotatorenmanschette bestehen (4). Neben Alterungsvorgängen, einer repetitiven Fehl- oder Überbelastung (z. B. bei Überkopfsportarten) sowie z. B. auch genetischen Einflüssen sollten akute, unfallkausal entstandene Läsionen der Rotatorenmanschette bedacht werden. Bei der versicherungsmedizinischen Beurteilung von Fällen nach einem Schultertrauma zeigt sich, dass häufig wichtige und entscheidungsrelevante Informationen nicht dokumentiert sind. In Zusammenarbeit zwischen der Versicherungsmedizin der Suva und der Expertengruppe Schulter und Ellbogen von Swiss Orthopaedics wurde definiert, welche Informationen im Rahmen einer Erstuntersuchung erhoben und dokumentiert werden sollten. Informationen zur Anamnese, dem Hergang, dem Verlauf nach dem Ereignis, zum ärztlichen Erstbefund und den Ergebnissen apparativer Diagnostik haben Einfluss auf die Diagnosefindung, die Therapieplanung und das Outcome der verletzten Personen wie auch auf die versicherungsmedizinische Beurteilung.

In der Praxis zeigt sich, dass entscheidende Informationen oft fehlen. Dies führt u. a. dazu, dass die Anmeldung beim Schulterspezialisten verzögert erfolgt und dass im Verlauf wesentliche Informationen verloren gehen. Den Aussagen der ersten Stunde (der versicherten Personen zum Ereignishergang) sowie den Befunden der ersten ärztlichen Konsultationen kommt bezüglich Beweiswürdigung und Kausalitätsbeurteilung eine wichtige Rolle zu.

Aus den genannten Gründen kann rasch ein Spannungsfeld entstehen. Die erhobenen medizinischen Befunde werden zudem von den kurativ tätigen Ärzt/-innen und den Versicherungsmediziner/-innen unterschiedlich gewichtet. Die Aussagen der wissenschaftlichen Literatur (zur Unfallkausalität) sind – auch aufgrund der unterschiedlichen Definition des Unfallbegriffes – nicht einheitlich.

Aus Sicht der Schulterspezialisten ergibt sich:

Einige Sehnenläsionen sind eine zeitkritische Angelegenheit und benötigen eine rasche operative Therapie, um gute Ergebnisse zu erzielen, den Leidensdruck der Patienten rasch zu reduzieren und auch die volkswirtschaftlichen Schäden wie beispielsweise durch den Arbeitsausfall gering zu halten. Dies begründet hinsichtlich der Therapieentscheidung und der Beurteilung der Unfallkausalität einen gewissen Zeitdruck. Eine beschleunigte Leistungsprüfung durch die Unfallversicherungen hat Vorteile für die versicherten Personen: Sie haben weniger Unsicherheit und eine geringere Wartezeit auf die Therapien. Wenn weniger Rückfragen seitens der Versicherungen notwendig sind, werden die behandelnden Ärzt/-innen entlastet. Auch für die Planung einer konservativen Therapie bei nicht dringlicher Indikation ergeben sich Vorteile aus einer verkürzten Bearbeitungsdauer und wenn Klarheit bezüglich der Kostenübernahme besteht.

Aus versicherungsmedizinischer Sicht ergibt sich:

Bei der versicherungsmedizinischen Beurteilung nach einem Schultertrauma zeigt sich häufig, dass viele wichtige und entscheidungsrelevante Informationen nicht dokumentiert sind. Die versicherten Personen (Patient/-innen) profitieren jedoch von einer strukturierten und vollständigen Erhebung der medizinischen Befunde. Im Zweifelsfall und bei mangelnder Entscheidungsgrundlage tragen sie die Folgen der Beweislosigkeit. Liegen zum Zeitpunkt der Vorlage an die Versicherungsmedizin alle relevanten Befunde und Informationen vor, so kann die Beurteilung rasch, gezielt und gut begründet erfolgen. Dabei ist zu beachten, dass die Versicherungsmedizin und die kurative Medizin die gleichen Fakten lediglich aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten.

Als Konklusion ergibt sich:

Um die Informationserfassung zu vereinfachen und zu vereinheitlichen, wurde in Zusammenarbeit zwischen Swiss Orthopaedics und der Versicherungsmedizin der Suva der Dokumentationsbogen nach Schultertrauma entwickelt. Dieser Bogen soll es ermöglichen, im Rahmen der Erstkonsultation zeitnah zu einem Ereignis die relevanten Informationen strukturiert zu erfassen. Ergänzend zu der Schadenmeldung UVG werden mit dem erarbeiteten Dokumentationsbogen u.a. eine Erfassung einer möglichst genauen Schilderung des Hergangs des Ereignisses, des Verhaltens nach dem Ereignis (z. B. sofortige Beendigung der Aktivität, Notwendigkeit der Rettung etc.), der Frage nach früheren Beschwerden an der betroffenen Schulter und von Begleitverletzungen und die Dokumentation des klinischen Untersuchungsbefundes inklusive einer Standardtestung der Rotatorenmanschette möglich. Der Befund einer allfälligen Röntgenuntersuchung der Schulter, die eingeleitete Primärtherapie und die Frage, ob eine weiterführende Diagnostik und spezialisierte fachorthopädische Behandlung als notwendig erachtet werden, komplettieren die Dokumentation.

Ergänzend steht unter https://tinyurl.com/4jxv3fwh eine Dokumentation zu den Untersuchungstechniken des Schultergelenks zur Verfügung.

Der Dokumentationsbogen kann über medForms aufgerufen werden (https://www.medforms.ch). Der Dokumentationsbogen für die Erstkonsultation nach kraniozervikalem Beschleunigungstrauma hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. Dem Dokumentationsbogen nach Schultertrauma ist ein vergleichbarer Erfolg zu wünschen. Wir rechnen mit einem Aufwand von ungefähr 5 Minuten für das Ausfüllen des Bogens.

Wir sehen den Dokumentationsbogen nach Schultertrauma als ein nützliches und sinnvolles Tool an und möchten insbesondere die Erstversorger/-innen wie Hausärzt/-innen und Ärzt/-innen auf Notfallstationen auf diesen Bogen aufmerksam machen und motivieren, ihn regelhaft auszufüllen.

Dr. med. Stefan Loske 1
med. prakt. Peter Bülow 2 (shared first)
Prof. Dr. med. Andreas Müller 3
Dr. med. Josef Grab 2
Prof. Dr. med. Samy Bouaicha 4
Prof. Dr. med. Matthias Zumstein 5
PD Dr. med. Hannjörg Koch 2
Dr. med. Thomas Meier 2
Shoulder and Elbow Expert Group of Swiss Orthopaedics 6
Prof. Dr. med. Claudio Rosso 1

1 Arthro Medics AG, Eichenstr. 31, 4054 Basel, c.rosso@arthro.ch und s.loske@arthro.ch
2 Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Fluhmattstr. 1, 6002 Luzern
3 Universitätsspital Basel, Spitalstr. 21, 4056 Basel
4 Universitätsklinik Balgrist, Forchstr. 340, 8008 Zürich
5 Orthopädie Sonnenhof, Salvisbergstr. 4, 3006 Bern
6 Bauer Stefan, Candrian Christian, Cikes Alec, Cunningham Gregory, Goetti Patrick, Hertel Ralph, Hoffmeyer Pierre, Holzer Nicolas, Jost ernhard,
Lädermann Alexandre, Puskàs Gàbor, Schär Michael, Schneeberger Alberto, Spross Christian, Wieser Karl, Wirth Barbara

Dr. med. Stefan Loske

Arthro Medics AG
Eichenstr. 31
4054 Basel

s.loske@arthro.ch

med. prakt. Peter Bülow

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva)
Fluhmattstr. 1
6002 Luzern

Prof. Dr. med. Claudio Rosso

Arthro Medics AG
Eichenstr. 31
4054 Basel

c.rosso@arthro.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Die Unterscheidung zwischen einer unfallbedingten oder altersbedingten/degenerativen Ursache von Läsionen der Rotatorenmanschette ist zumeist nicht einfach und bedarf vieler Informationen.
  • Die Unterscheidung ist zur Ermittlung des zuständigen ­Kostenträgers nötig
  • Eine möglichst vollständige und detaillierte Dokumentation der ärztlichen Erstkonsultation nach Trauma der Schulter ­liefert wichtige Informationen für die Entscheidungsfindung; nicht selten sind dafür zu wenig Daten erfasst
  • Zur Standardisierung der Ersterfassung haben die Expertengruppe Schulter und Ellbogen der Swiss Orthopaedics
    und die Suva gemeinsam einen Dokumentationsbogen nach Schultertrauma entwickelt, der den erstbehandelnden ­Ärzt/-innen nun zur Verfügung steht.

1. Urwin M, Symmons D, Allison T, Brammah T, Busby H, Roxby M, et al. Estimating the burden of musculoskeletal disorders in the community: the comparative prevalence of symptoms at different anatomical sites, and the relation to social deprivation. Ann Rheum Dis. 1998;57(11):649-55.
2. Mitchell C, Adebajo A, Hay E, Carr A. Shoulder pain: diagnosis and management in primary care. BMJ (Clinical research ed). 2005;331(7525):1124-8.
3. Kuijpers T, van der Windt DAWM, van der Heijden GJMG, Bouter LM. Systematic review of prognostic cohort studies on shoulder disorders. PAIN. 2004;109(3):420-31.
4. Yamamoto A, Takagishi K, Osawa T, Yanagawa T, Nakajima D, Shitara H, et al. Prevalence and risk factors of a rotator cuff tear in the general population. Journal of shoulder and elbow surgery. 2010;19(1):116-20.