- Long COVID – der letzte Akt
In den letzten fünf Jahren scheint Long COVID ähnlich einer klassischen Tragödie fünf Akte durchlaufen zu haben. Exposition: Kaum war die Pandemie medizinisch und politisch einigermassen verdaut, wurden erste Fälle von Fatigue im Zusammenhang mit zurückliegendem SARS-CoV2-Infekt beschrieben. Komplikation/Verzögerung: Die Fälle häuften sich, es wurden engagierte Spezialsprechstunden eingerichtet und verzweifelt nach objektivierbaren Diagnosekriterien oder Therapieoptionen gesucht. Der Höhepunkt wurde erreicht durch die mediale Berichterstattung über hoffnungslose Fälle und den zunehmend lauter werdenden Vorwürfen, die Schulmedizin würde die leidenden Patienten zu wenig ernst nehmen und die Forschung würde zu wenig schnell vorangetrieben. Der Akt der Verzögerung wurde geprägt durch wenige neue Erkenntnisse und parallel dazu durch einen neuen, lukrativen Markt für allerlei teilweise invasive und kostspielige Therapieangebote, die nur wenig Erfolg zeigten. Das Misstrauen gegenüber der Ärzteschaft und eine Art Glaubenskonflikt standen im Vordergrund. Es bleiben die Medien als jammernder Chor, welcher die Ereignisse kommentiert und moralisch einschätzt bzw. anprangert. Glücklicherweise ist es rund um das Thema Long COVID ruhiger geworden, nun ist es dringend an der Zeit für den letzten Aufzug, die Auflösung.
Die Sonderstellung von Long COVID verflüchtigt sich und entsprechend werden auch die Spezialsprechstunden aufgehoben. Für viele Kolleginnen und Kollegen war die Mitarbeit in einer solchen Spezialsprechstunde sehr kräftezehrend und erschöpfend. Aus meiner Sicht bietet sich jetzt die Chance, das Krankheitsbild für die verbleibenden Patienten neu zu ordnen und den Symptomkomplex wieder so zu denken, wie wir es mit allen anderen Beschwerden auch machen. Mit dem Erheben einer sorgfältigen Anamnese, einer internistischen Untersuchung und dem Evaluieren von Differenzialdiagnosen. Dieser wichtige Prozess wurde in der Vergangenheit doch häufig durch die vorgefasste Meinung oder subjektive Einschätzung «ich habe Long COVID» beschnitten. Zusätzliche Fragen zur Anamneseerhebung wurden mit Argwohn quittiert und die Leidensgeschichten zweifelsfrei und stereotyp geschildert. Meine Routinefrage nach Schlafgewohnheiten, Bildschirmzeit, emotionaler Belastung etc. wurde oftmals mit einem spöttischen Lächeln quittiert. Es war schwierig, die Patienten sorgfältig internistisch zu erfassen und unmöglich ganzheitlich in einem Bio-Psycho-Sozialen System einzuordnen. Der Einbezug der Aspekte Psyche und soziale Situation wurde von betroffenen Patienten gerne kategorisch abgelehnt. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum hinsichtlich Long COVID die Patienten nicht ganzheitlich erfasst werden durften und die psychotherapeutische oder psychiatrische Mitbetreuung auf so heftige Ablehnung gestossen ist.
Ich hoffe sehr, dass mit der Auflösung des Sonderlabels Long COVID wieder ein offener, umsichtiger Umgang mit den ME/CFS-Patienten möglich sein wird. Dass wieder ganzheitlich in einem Bio-Psycho-Sozialen Modell gedacht und bei einem chronischen Verlauf auch immer wieder von Neuem neurologische und internistische Differenzialdiagnosen durchgedacht werden. Ich zweifle nicht an der Existenz von ME/CFS, aber es wäre in der Tat eine Katastrophe, wenn eine möglicherweise therapierbare Ursache der Beschwerden nicht gesucht und das Potenzial einer ganzheitlichen Betreuung im psychosozialen Kontext nicht ausgeschöpft würden.
Herzliche Grüsse
Aerzteverlag medinfo AG
Dr. med. Vera Stucki-Häusler
Seestrasse 141
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