- Rettet uns der Fachkräftemangel?
Die Ursachen sind vielfältig und das Gesundheitswesen belegt den Branchenmangel-Rang 1 noch vor der IT-Branche (Adecco in SRF1, 10 vor 10, 28.11.2022). Treiber sind vor allem die Demographie und die hohen Berufsabgänge. Die Arbeitsbedingungen in den Mangelberufen werden als nicht so attraktiv angesehen wie früher und wie in den anderen Berufen, oder andere Arbeitgeber haben schlicht das attraktivere Paket für Mitarbeiter. Die Pflegevertreterverbände fordern denn auch nicht primär mehr Lohn, sondern attraktivere Bedingungen. Dies ist gut nachvollziehbar- auch im Arztberuf, wenn man mit Kollegen spricht und ich mich mit meinen Kindern unterhalte. Auch ein Kollege und ehemaliger Doktorand, der jetzt eine Hausarztpraxis, noch die einzige im Quartier, übernommen hat, schildert fast verzweifelt seine Lage. Er nimmt keine neuen Patientinnen und hat eine Warteliste von 18 Monaten, wenn denn jemand warten will. Er beginnt seine Hausbesuche nach 20 Uhr. So musste er auch meine Bitte abweisen, als ich helfen wollte, einen Hausarzt für Bekannte zu suchen. (MAS-Erhebung SAeZ 2022,103:28-29).
Man baut jetzt auf Ausbildungsinitative. Das ist richtig, weil wir Jahrzehnte lang vom anscheinend nie versiegenden, billigen Import (und auf Kosten anderer Länder) gelebt haben, wie übrigens auch bei anderen kritischen Gütern, beispielsweise bei Strom und Arzneimittel. Mehr Auszubilden genügt nicht, die Arbeitgeber werden bei Arbeitsplatzattraktivität ein paar Briketts in ihren
Personalofen einwerfen müssen, vor allem um die guten Arbeitskräfte in ihrem Betrieb und im Beruf halten zu können. Das ist billiger, einfacher und auch effizienter als das Problem durch neue Ressourcen für zusätzliche Auszubildende bereit zu stellen und zu betreiben, die dann wieder gehen. Wohlverstanden, der Personalofen soll wärmen, zum Bleiben, nicht als Durchlauferhitzer betrieben werden.
Die selbstverschuldete Krise hilft uns aber vielleicht die erkannten, notwendigen Reformen im Gesundheitswesen – und anderswo – endlich an die Hand zu nehmen wie beispielsweise die Versorgungssicherheit von und der gerechte Zugang zu Pharma- und MedTech-Produkten oder das Kompetenzgerangel (oder ist es das Schwarzpeter-Spiel?) zwischen Kantonen und Bund bei den Überkapazitäten zu klären. Oder dort, wo die Umsetzung begonnen hat, richtig vorwärts zu machen wie beispielsweise bei der HSM (Martin Fey SAeZ 2022 103:34-36). Oder beim Elektronischen Patienten Dossier, wo berechtigterweise der Einbezug der Ärzte in die Gestaltung verlangt wird (Saez 2022: 103: 16-19), um nutzerorientiert vorwärts zu machen, damit dieses eine Hilfe wird und nicht nur eine ungeordnete, kaum hilfreiche pdf-Befundsablage bleibt, die mit Zwang eingeführt werden soll. Hier könnte der Fachkräftemangel helfen endlich den Digitalisierungs- und Standardisierungsrückstand im Gesundheitswesen aufzuholen. In all diesen Feldern müssen sich täglich Fachkräfte im Gesundheitswesen mit Problemen abmühen, die nicht ihrer Kernaufgabe entspricht. Dies baut mehr und mehr Frustration auf, bis zur inneren oder tatsächlich realisierten Kündigung. Zudem entzieht dies die fehlende Fachkompetenz dort, wo sie dringend gebraucht würde.
Der Fachkräftemangel könnte auch die längst notwendige Strukturbereinigung im ambulanten Bereich (Hausarztmedizin statt Notfallstationen, Entlastung der Ärzte von Administration und Bürokratie) aber vor allem im Spitalwesen beschleunigen (und erst noch viel Geld sparen): Ungenügende Zusammenarbeit der Kantone, Überkapazität an Betten und Operationssälen und Speziallabore (Koronarangiographie) haben Hunderte von Millionen verdunstet, gerade auch in meiner geographischen Umgebung, und sind exemplarische Probleme, die vor sich hergeschoben wurden und immer noch werden, wohl weil einfach noch zu viel Geld im System vorhanden ist. Der Abbau von Betten könnte Fachkräfte für die ambulante Versorgung freisetzen und wäre eine Chance für attraktivere Arbeitsbedingungen in den Mangelberufen. Die Thematik wurde auch in der Schweizerischen Ärztezeitung wiederholt behandelt (SAeZ 2022, 103: 26-27).
In einer Umfrage unter 23’000 Ärzten in Deutschland war die Mehrheit über fehlende Wertschätzung durch die Politik und Krankenkassen gestört und 60% denken an einen Berufswechsel in den nächsten 2 Jahren nach. Beanstandet wurden auch die falschen Anreizsysteme, welche die Arbeit für technische Leistungen bevorzugen. Reden mit dem Patienten sei, finanziell gesehen, kontraproduktiv. Geldbegehren liegen bei den Ärzten aber nicht auf den vordersten Rängen der Forderungen (übrigens auch nicht in der Pflege). In ihrer täglichen Arbeit steht als Ursache ihrer Frustration die ausufernde Bürokratie (86%) ganz vorne, gefolgt von Problemen verursacht durch nicht funktionierende oder nicht benutzerfreundliche Digitalisierung. Die langen Arbeitszeiten liegen abgeschlagen auf dem 7. Platz (https://medizinio.de/blog/frust-in-der-arztpraxis-2022).
Hier soll jetzt korrigiert werden: Die Strukturreform soll an die Hand genommen und Fehlanreize bei der stationären Versorgung beseitigt werden. Der Bundesminister wurde in der Covid-Pandemie unterschiedlich wahrgenommen, aber wo er recht hat, hat er recht: «Patientinnen und Patienten sollen sich darauf verlassen können, dass sie überall, auch in ländlichen Regionen, schnell und gut versorgt werden, sowie medizinische und nicht ökonomische Gründe ihre Behandlung bestimmen. Dafür müssen wir das Fallpauschalen-System überwinden. Wir haben die Ökonomie zu weit getrieben. Eine gute Grundversorgung für jeden muss garantiert sein und Spezialeingriffe müssen auf besonders gut ausgestattete Kliniken konzentriert werden. Momentan werden zu oft Mittelmass und Menge honoriert. Künftig sollen Qualität und Angemessenheit allein die Kriterien für gute Versorgung sein.» (https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/regierungskommission-legt-krankenhauskonzept-vor.html)
Was der fehlende Geldmangel nicht schafft, schafft vielleicht der Fachkräftemangel?
Prof. Dr. med. Beat Thürlimann
Brustzentrum, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St.Gallen