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Zusammenhang zwischen Ibrutinib bzw. Venetoclax und progressiver multifokaler Leukenzephalopathie



David Haefliger, MD; Prof. Dr. med. François Girardin, MSc, eMBA Regionales Pharmacovigilance-Zentrum, Abteilung Klinische Pharmakologie, Universitätsspital Lausanne (CHUV), Schweiz

Einleitung

Die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) ist eine opportunistische Infektion des zentralen Nervensystems (ZNS), die durch das JCPolyomavirus verursacht wird (1). Die Mehrzahl der PML-Fälle tritt bei Patienten auf, die gleichzeitig mit HIV infiziert sind. Weitere Risikofaktoren sind hämatologische Malignome, Autoimmunerkrankungen (z. B. Multiple Sklerose, Sarkoidose, rheumatoide Arthritis) oder Immunsuppression nach Organtransplantationen. Einige Medikamente wurden mit einem erhöhten PML-Risiko in Verbindung gebracht, z. B. solche mit B-Zell-Depletion (Rituximab) und VLA4-Integrin-Antagonisten (Natalizumab).

Bei anderen Arzneimitteln ist der Zusammenhang mit PML nicht eindeutig nachgewiesen (1–4). Fälle von arzneimittelinduzierter PML manifestieren sich meist mit motorischen und/oder kognitiven Defiziten mit radiologisch nachweisbaren Läsionen vorwiegend im Frontal- und Parietalbereich (5). In der Onkologie tritt eine arzneimittelinduzierte PML im Durchschnitt 14 Monate nach erstmaliger Gabe des betreffenden Arzneimittels auf (5). Wir berichten über einen Patienten, der im Rahmen einer chronischen lymphatischen Leukämie (CLL) eine PML mit wahrscheinlicher Beteiligung von Ibrutinib und Venetoclax entwickelte.

Fallbericht

Bei einem Patienten in seinen Siebzigern mit einer 2014 diagnostizierten CLL wurde nach 15 Zyklen Rituximab und Bendamustin (letzte Verabreichung im September 2019) angenommen, dass er sich in Remission befindet. Aufgrund eines hämatologischen Rückfalls wurde im Januar 2022 eine Behandlung mit Venetoclax (Venclyxto®) 400 mg 1 x täglich und Ibrutinib (Imbruvica®) 280 mg 1 x täglich begonnen. Die Standarddosis von Ibrutinib ist 420 mg 1 x täglich, der Patient erhielt jedoch eine niedrigere Dosis aufgrund einer Wechselwirkung zwischen Ibrutinib und CYP3A4-Inhibitoren (d. h. Amiodaron und Diltiazem gegen Vorhofflattern). Weitere verschriebene Medikamente waren Apixaban, Olmesartan und Cholecalciferol/Calcium. Im Dezember 2022 wurde eine schnell einsetzende kognitive Beeinträchtigung mit Gedächtnisverlust und exekutiver Dysfunktion gemeldet. Mitte Februar 2023 wurde der Patient zur Untersuchung eines Hemineglect-Syndroms eingewiesen. Vitalparameter bei der Aufnahme: Blutdruck 140/73 mmHg, Herzfrequenz 67 min-1, O2-Sättigung 95 %, Körpertemperatur 36,8°C. Bei der neurologischen Untersuchung war der Patient desorientiert und zeigte rechts einen multimodalen Hemineglect, eine Labial-Ptosis, Schlaffheit der rechten Extremität und Babinski-Reflex beim rechten Fuss. Die Labortests zeigten eine stabile Nierenfunktion mit einem Kreatininwert von 136 μmol/l (N 62-106 μmol/l) und mit Leberwerten, einschliesslich der Transaminasen, im Normbereich. Das Blutbild zeigte keine Anomalien bezüglich neutrophiler Granulozyten. Lymphozyten-Zellzahlen: Die Zellzahl lag für BZellen bei 8 Zellen/mm3 (N 80-490 Zellen/mm3), für CD4+ T-Zellen bei 359 Zellen/mm3 (N 490-1640 Zellen/mm3) und für CD8+ T-Zellen bei 1709 Zellen/mm3 (N 170-880 Zellen/mm3). Der serologische HIV-Test war negativ. Die zerebralen MRT-Befunde bestätigten die PML-Merkmale: Es wurden multifokale periventrikuläre und subkortikale Bereiche mit hyperintensen Signalen bei T2-Gewichtung festgestellt, hauptsächlich bilateral in den Frontal-, Parietal- und Okzipitalregionen. Eine Lumbalpunktion ergab erhöhte Proteine von 707 mg/l (N 150-460 mg/l), aber Glukose und Laktate blieben Swissmedic Vigilance-News | Edition 30 – Mai 2023 11 im Normbereich. Die zytologische Untersuchung ergab keine Tumorzellen, und die Zellularität war normal. Bei der mikrobiologischen Untersuchung des Liquors wurde das JC-Polyomavirus nachgewiesen (PCR mit 900 Kopien/ml). Die Reaktivierung des JC-Virus wurde auf die mit der CLL verbundene Immunsuppression und auf die Behandlung mit Venetoclax und Ibrutinib (beide abgesetzt) zurückgeführt. Der Krankheitsverlauf war ungünstig und es wurde eine palliative Behandlung eingeleitet. Der Patient starb vier Wochen nach der Einweisung.

Diskussion

Der Patient entwickelte eine PML im Zusammenhang mit CLL ein Jahr nach Beginn der Behandlung mit Venetoclax und Ibrutinib.Venetoclax ist wie Navitoclax ein selektiver Inhibitor des antiapoptotischen Proteins BCL-2 (B-Zell- Lymphom): Es hemmt das BCL-2-Protein, was zur mitochondrialen Apoptose durch Aktivierung der Caspasen führt, einer Familie von Proteasen, die eine wesentliche Rolle beim programmierten Zelltod spielen. Die immunsuppressive Wirkung von Venetoclax ist letztlich auf anhaltende Zytopenien zurückzuführen (6). Häufige unerwünschte Ereignisse sind Neutropenie und Lymphopenie mit Atemwegs- und Harnwegsinfektionen. Opportunistische Infektionen (wie z. B. die Reaktivierung des JC-Virus) werden jedoch nicht als unerwünschte Arzneimittelwirkungen gemeldet, auch nicht langfristig. In der Datenbank der Europäischen Arzneimittel-Agentur sind fünf Fälle von PML in Zusammenhang mit Venetoclax verzeichnet. Gemäss einer Untersuchung der European Society of Infectious Diseases entwickeln 3,6 % der Patienten, die mit Venetoclax behandelt werden, opportunistische Infektionen (einschliesslich Aspergillose, Pneumocystis, Nocardiose, Toxoplasmose). Die Autoren berichten jedoch nicht über einen Zusammenhang zwischen Venetoclax und PML (7). Uns ist kein Fallbericht bekannt, bei dem ein Zusammenhang zwischen Venetoclax und PML beschrieben wird. Hingegen existiert ein Fallbericht zu einem Patienten mit CLL, der eine PML überlebte. Etwa sieben Jahre nach der PML-Diagnose wurde bei ihm ein Rezidiv seiner malignen Erkrankung festgestellt. Die Behandlung mit Venetoclax führte nicht zu einer Reaktivierung des JC-Virus (8). Ibrutinib ist ein Inhibitor der Bruton-Tyrosinkinase (BTK), die an der Pathogenese verschiedener B-Zell-Malignome beteiligt ist. Die BTK spielt eine Rolle bei der Proliferation, dem Überleben und der Differenzierung von B-Zellen. Das mögliche Auftreten von PML während einer Ibrutinib-Behandlung ist in der Fachinformation aufgeführt. Die Datenbank der Europäischen Arzneimittel-Agentur enthält derzeit 31 Fälle von PML im Zusammenhang mit einer Ibrutinib-Behandlung. In der Literatur wurde Ibrutinib mit einem erhöhten Risiko für PML in Verbindung gebracht. In einer Studie auf der Grundlage von Postmarketing-Daten der FDA wurde das Auftreten von PML bei verschiedenen Biologika- und Krebsbehandlungen beobachtet. Es wurden dabei 10 Fälle von PML im Zusammenhang mit Ibrutinib-Behandlungen identifiziert (9). In einer Fallserie wurden fünf CLL-Patienten beschrieben, die nach der Behandlung mit Ibrutinib (n = 1), Ibrutinib + Rituximab (n = 3) oder Ibrutinib + Rituximab + Bendamustin (n = 1) an PML starben. Der Median der Ibrutinib-Behandlungsdauer betrug 11 Monate (Intervall: 1,5-24 Monate), und die PML trat im Durchschnitt acht Jahre nach der CLLDiagnose auf (Intervall: 3-17 Jahre) (10). Als Mechanismus, der den Zusammenhang zwischen dem Auftreten der PML und der Ibrutinib-Behandlung erklärt, wird die Hemmung der B-Zell-Proliferation durch Ibrutinib vorgeschlagen. Es wird angenommen, dass B-Zellen und die humorale Immunantwort eine entscheidende Rolle bei der Kontrolle der JC-Virus-Replikation spielen (Zusammenspiel von B- und T-Zellen bei der antiviralen Antwort) (5, 11). Im vorliegenden Fall erfolgte die letzte Verabreichung von Rituximab und Bendamustin im September 2019. Ihre Beteiligung am Auftreten der PML erscheint unwahrscheinlich. Die Mehrzahl der PMLFälle mit einer Rituximab-Behandlung entwickelt sich innerhalb von zwei Jahren nach Behandlungsbeginn (12). Ein Zusammenhang zwischen Bendamustin und PML ist in der Literatur nicht nachgewiesen, und die lange Zeitspanne seit der letzten Verabreichung macht den ursächlichen Zusammenhang sehr unwahrscheinlich (13–14).

Schlussfolgerungen

PML ist eine seltene Erkrankung, die vor allem im Zusammenhang mit spezifischen immunsuppres siven Bedingungen auftritt, wie sie bei HIV oder bei Behandlungen mit VLA4-Integrin-Antagonisten vorliegen. Im hier beschriebenen Fall könnten Venetoclax und Ibrutinib, die nur in wenigen Fallberichten erwähnt werden, als Auslöser in Frage kommen. Da es sich bei PML um ein sehr seltenes Ereignis handelt, liegen noch zu wenig Daten vor, um einen Kausalzusammenhang mit einem der beiden Arzneimittel (Ibrutinib, von der FDA seit 2013 zugelassen, und Venetoclax, von der FDA seit 2016 zugelassen) formal auszuschliessen oder zu bestätigen. Aufgrund der immer häufigeren Kombination eines selektiven BCL-2-Inhibitors mit einem BTK-Inhibitor sollte jedoch deren Beitrag beim Auftreten von PML sorgfältig beobachtet werden.

1. Cortese I, Reich DS, Nath A. Progressive multifocal leukoencephalopathy and the spectrum of JC virusrelated disease. Nat Rev Neurol. 2021.
2. Joly M, Conte C, Cazanave C, et al. Progressive multifocal leukoencephalopathy: epidemiology and spectrum of predisposing conditions. Brain. 2023.
3. Melis M, Biagi C, Småbrekke L, et al. Drug-Induced Progressive Multifocal Leukoencephalopathy: A Comprehensive Analysis of the WHO Adverse Drug Reaction Database. CNS Drugs. 2015.
4. Pavlovic D, Patel MA, Patera AC, Peterson I; Progressive Multifocal Leukoencephalopathy Consortium. T cell deficiencies as a common risk factor for drug associated progressive multifocal leukoencephalopathy. Immunobiology. 2018.
5. Maas RP, Muller-Hansma AH, Esselink RA, et al. Drugassociated progressive multifocal leukoencephalopathy: a clinical, radiological, and cerebrospinal fluid analysis of 326 cases. J Neurol. 2016.
6. Maschmeyer G, De Greef J, Mellinghoff SC, et al. Infections associated with immunotherapeutic and molecular targeted agents in hematology and oncology. A position paper by the European Conference on Infections in Leukemia (ECIL). Leukemia. 2019.
7. Reinwald M, Silva JT, Mueller NJ, et al. ESCMID Study Group for Infections in Compromised Hosts (ESGICH) Consensus Document on the safety of targeted and biological therapies: an infectious diseases perspective (Intracellular signaling pathways: tyrosine kinase and mTOR inhibitors). Clin Microbiol Infect. 2018.
8. O’Connor-Byrne N, Quinn J, Glavey SV, Lavin M, Brett F, Murphy PT. Venetoclax for chronic lymphocytic leukemia associated immune thrombocytopenia following recovery from progressive multifocal leukoencephalopathy. Leuk Res. 2020.
9. Raisch DW, Rafi JA, Chen C, Bennett CL. Detection of cases of progressive multifocal leukoencephalopathy associated with new biologicals and targeted cancer therapies from the FDA’s adverse event reporting system. Expert Opin Drug Saf. 2016.
10. Bennett CL, Berger JR, Sartor O, et al. Progressive multi-focal leucoencephalopathy among ibrutinibtreated persons with chronic lymphocytic leukaemia. Br J Haematol. 2018.
11. Lutz M, Schulze AB, Rebber E, et al. Progressive Multifocal Leukoencephalopathy after Ibrutinib Therapy for Chronic Lymphocytic Leukemia. Cancer Res Treat. 2017.
12. Focosi D, Tuccori M, Maggi F. Progressive multifocal leukoencephalopathy and anti-CD20 monoclonal antibodies: What do we know after 20 years of rituximab. Rev Med Virol. 2019.
13. Warsch S, Hosein PJ, Maeda LS, Alizadeh AA, Lossos IS. A retrospective study evaluating the efficacy and safety of bendamustine in the treatment of mantle cell lymphoma. Leuk Lymphoma. 2012.
14. D’Alò F, Malafronte R, Piludu F, et al. Progressive multifocal leukoencephalopathy in patients with follicular lymphoma treated with bendamustine plus rituximab followed by rituximab maintenance. Br J Haematol. 2020.
15. Jancar N, Sousa Gonçalves F, Duro J, Lessa Simões M, Aguiar P. Progressive Multifocal Leukoencephalopathy in a Chemotherapy-Naive Patient With Chronic Lymphocytic Leukemia: A Case Report. Cureus. 2022.

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  • Vol. 13
  • Ausgabe 7
  • November 2023