Praxis-Fall

Akute Stoffwechselentgleisung mit Hirnödem bei Ahornsirupkrankheit

  • Akute Stoffwechselentgleisung mit Hirnödem bei Ahornsirupkrankheit


Hintergrund

Die Ahornsirupkrankheit (maple syrup urine disease, nachfolgend MSUD) ist mit einer Prävalenz von 1–9:1 000 000 (1) und Inzidenz von 1:120 000 (2) eine seltene erbliche Stoffwechselstörung. Ursächlich besteht eine autosomal-rezessiv vererbte Aktivitätsminderung des Multienzymkomplexes «verzweigtkettige 2-Ketosäuren-Dehydrogenase», aufgrund welcher die verzweigtkettigen Aminosäuren Leucin, Isoleucin und Valin sowie deren entsprechende 2-Ketosäuren nicht adäquat abgebaut werden können (Abb. 1). Die Folge ist eine vermehrte Akkumulation im Gewebe mit akuter und chronischer neurotoxischer Wirkung, insbesondere durch Leucin und dessen Metabolit 2-Ketoisocapronsäure. Der Name der Erkrankung leitet sich aus dem süsslichen Geruch des Urins durch vermehrte Ausscheidung eines Isoleucin-Metaboliten ab (3). Bei frühzeitiger Erkennung (Neugeborenenscreening, in der Schweiz von 1965–1986 sowie seit 2014 [4]) und strikter Therapieadhärenz (spezielle Leucin-arme, proteinreduzierte MSUD-Diät, ergänzende Leucin-, Isoleucin- und Valin-freie Aminosäuremischung) können grundsätzlich Referenzbereich-nahe Plasmaleucinspiegel erzielt werden und die Patient/-innen das Erwachsenenalter ohne Folgeschäden erreichen. Die konsequente Umsetzung der stark einschränkenden Diätvorgaben ist jedoch schwierig; in vielen Fällen entstehen daher kognitive Defizite oder ­leichtere neurologische Einschränkungen, selten eine spastische Zerebralparese (5, 6).

Mit einer geschätzten Anzahl von nur 100 erwachsenen MSUD-Patient/-innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Stand 2014) sowie deren Betreuung an spezialisierten Stoffwechselzentren ist die praktische Erfahrung im Umgang mit diesen Patient/-innen in der allgemeininternistischen Erwachsenenmedizin mutmasslich gering. Die MSUD zählt jedoch zu denjenigen Stoffwechselerkrankungen, bei welchen ein Behandlungsunterbruch oder kataboler Zustand (infolge Krankheit, Operation oder Fasten) rasch zu einer akuten Stoffwechselentgleisung mit lebensbedrohlichen Folgen führen kann (3). Anhand dieses Fallberichtes möchten wir das Bewusstsein für dieses Krankheitsbild schärfen und die zentralen Aspekte der Behandlung in Erinnerung rufen.

Fallbericht

Ausgangslage

Eine 50-jährige, im Alltag selbständige Patientin mit bekannter MSUD seit dem 6. Lebenstag wurde aufgrund Vigilanzminderung spätabends an unser Zentrum verlegt. Vorangegangen war eine 4-tägige Hospitalisation (1 Tag Akutspital, 3 Tage Psychiatrie) aufgrund einer schweren Gewalttat mit psychischer Traumatisierung. Eine sich dort schnell entwickelnde qualitative Bewusstseinsstörung war zunächst als Mutismus und psychomotorische Blockade infolge der Traumatisierung interpretiert worden. Am Tag der Verlegung in unser Spital wurde die Patientin komatös vorgefunden. Bei daraufhin bestehendem Verdacht auf akute Stoffwechselentgleisung war zur Verhinderung einer weiteren Katabolie bereits eine 10  % Glukoseinfusion mit 200 ml/h gestartet sowie 300 mg Thiamin i.v. verabreicht worden. Als Komorbidität bestand eine strukturelle Epilepsie im Rahmen der MSUD, unter Therapie mit Lamotrigin.

Befunde

Die Patientin präsentierte sich deutlich vigilanzgemindert mit GCS initial um 8–10. Sie war kreislaufstabil, es bestand eine leichte Tachypnoe um 20/min. Im Labor zeigte sich eine Leukozytose mit Neutrophilie, das CRP war normwertig. Zudem fanden sich eine Hypophosphatämie, eine Hyperurikämie sowie eine Hyperglykämie unter Glukoseinfusion. Es lag eine gemischte Säure-Basen-Störung mit vordergründig respiratorischer Alkalose und zusätzlich leichter metabolischer Azidose vor (Tab. 1). Zur Differenzialdiagnostik erfolgte eine cerebrale Bildgebung (CT-Angiographie und darauffolgend MRI-Schädel), welche ein generalisiertes Hirnödem sowie Diffusionsrestriktionen kortikal, in den Basalganglien und den Thalami zeigte (Abb. 2). Im EEG bestanden Allgemeinveränderungen als Ausdruck einer Enzephalopathie, ohne Hinweis auf einen Status epilepticus. Das quantitative Aminosäureprofil im Blut zeigte schliesslich stark erhöhte Leucin-, Isoleucin- und Valin-Werte. Dies bestätigte die Ätiologie der schweren metabolischen Enzephalopathie mit Hirnödem durch die Stoffwechselentgleisung im Rahmen der Grunderkrankung (Tab. 1).

Therapie

Es erfolgte die durchgehende Weiterführung der bereits extern gestarteten Glukoseinfusion (initial Glukose 10 % 2 ml/kgKG/h, später Glukose 50 % zur Reduktion der Volumeneinfuhr). Ergänzend wurde Phosphat substituiert und die Hyperglykämie mit Insulin korrigiert. Nach Bestätigung des stark erhöhten Leucinspiegels erfolgte zusätzlich der Beginn einer Hämodialyse zur Elimination der neurotoxischen Aminosäuren und Metabolite. Im Verlauf wurde eine enterale Sonde zur Verabreichung der MSUD-spezifischen Aminosäuremischung eingelegt und eine proteinfreie parenterale Ernährung (SMOFlipid) begonnen.

Verlauf

Kurzfristig zeigte sich eine weitere Verschlechterung der neurologischen Situation mit fluktuierendem GCS-Abfall bis auf 3, spontanem Babinski-Zeichen und einer Tonuserhöhung der oberen Extremitäten. Nach Beginn der Hämodialyse normalisierte sich der neurologische Zustand innert 3 Tagen. Die Leucin-Spiegel wurden in dieser Phase 2x ­täglich bestimmt und zeigten sich ebenfalls rasch rückläufig – bis leicht unter die bei der Patientin vorbekannten Werte um 500 µmol/l (Tab. 1). Nach 3 Tagen wurde die Hämodialyse beendet. Die Patientin konnte im Verlauf in deutlich gebessertem Zustand aus dem Spital entlassen werden und präsentierte sich 3 Monate später in ausgezeichnetem Allgemeinzustand zur geplanten Verlaufskontrolle in unserer Stoffwechselsprechstunde. Der Leucin-Spiegel zeigte sich zu diesem Zeitpunkt normwertig.

Diskussion

Im Rahmen eines katabolen Zustandes infolge Fasten, akuter Krankheit oder Operation kommt es durch den Abbau von Skelettmuskelprotein zu einem stark vermehrten Anfall von Leucin, Isoleucin und Valin. Dies kann bei Patient/-innen mit MSUD aufgrund der dadurch erhöhten neurotoxischen Substanzen zum Hirnödem sowie konsekutiv akuter Enzephalopathie mit neurologischen und neuropsychiatrischen Symptomen führen (Apathie, Halluzinationen, Verhaltensauffälligkeiten, Bewegungsstörungen, Krampfanfälle, Bewusstseinsstörungen bis Koma). Diese Stoffwechselentgleisung ist eine potenziell lebensbedrohliche Notfallsituation, die die umgehende Einleitung einer Akuttherapie notwendig macht (3). In der Regel sollten die Patient/-innen ein entsprechendes Notfallblatt mit Handlungsanweisungen und Kontaktangaben des Behandlungsteams bei sich tragen. Bereits bei Verdacht muss unverzüglich und ohne Abwarten der bestätigenden Laborwerte eine hochprozentige Glukosedauerinfusion begonnen werden (vorübergehende periphervenöse Verabreichung in eine grosse Vene unproblematisch). Ziel ist die Verhinderung eines fortgesetzten Katabolismus durch eine Kalorienzufuhr entsprechend dem 1–1.5-fachen des Erhaltungsbedarfes (Richtwert Glukose 10 % 2 ml/kgKG/h). Zusätzlich ist die Verabreichung von Thiamin (300 mg i.v.) sowie im Falle einer Hyperglykämie Insulin notwendig. Eine intensivmedizinische Behandlung am Zentrum mit frühzeitiger Involvierung des betreuenden Stoffwechselteams ist indiziert. Die im Rahmen der MSUD-Diät vorbestehende Leucin-freie Aminosäuremischung sollte weiter verabreicht werden – falls notwendig mittels Einlage einer enteralen Sonde (bisher sind keine parenteralen Leucin-freie Produkte erhältlich). Das Ziel ist eine schnelle Senkung des Plasmaleucinspiegels in den oberen Referenzbereich. Eine ausreichende Hydrierung mittels ergänzender Elektrolytlösung soll über forcierte Diurese zur weiteren Entgiftung beitragen, wobei eine Volumenüberladung unbedingt zu vermeiden ist. Bei schwerer Symptomatik stellt die Hämodialyse/-filtration die Option zur raschen Entfernung der Metaboliten aus dem Blut dar. Wichtig ist hierbei zu bedenken, dass die Entfernung aus dem zentralen Nervensystem (ZNS) prolongiert verläuft. Dies bedeutet, dass auch bei normalisierten Werten im peripheren Blut noch toxische Metabolitenspiegel im ZNS vorhanden sein können (3).

Mittels quantitativen Aminosäurenprofils (Notfallbestimmung, in der Schweiz aktuell möglich am Universitäts-Kinderspital Zürich, Inselspital und CHUV) wird die Diagnose bestätigt; meist steigt der Plasmaleucinspiegel im Rahmen einer ausgeprägten Katabolie mit Stoffwechselkrise rasch auf ca 1500 µmol/l oder höher an. Die cerebrale Bildgebung (vordergründig zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen bei Vigilanzminderung) kann bei schwerer metabolischer Entgleisung wie bei unserer Patientin ein generalisiertes Hirnödem mit symmetrischen Diffusionsrestriktionen zeigen (Abb. 2). Die ergänzende Routinelaboruntersuchung gibt Hinweise auf zugrunde liegende Erkrankungen (z. B. Infekt) oder weitere Differenzialdiagnosen. Diesbezüglich bestand in unserem Fall kein Hinweis. Wir interpretierten die Problematik durch die verminderte/ausgesetzte Nahrungsaufnahme (einschliesslich der Aminosäurezusätze) während mehrerer Tage im Rahmen der akuten psychischen Belastungsreaktion. Da die akute Stoffwechselentgleisung bei MSUD zu neuropsychiatrischen Symptomen wie Halluzinationen und Verhaltensauffälligkeiten führen kann, ist eine Abgrenzung zu psychiatrischen Erkrankungen schwierig. Bei fehlendem Bewusstsein für die metabolische Problematik kann dies, wie auch in unserem Fall, die therapeutische Korrektur der Stoffwechsellage verzögern und damit die Patient/-innen in eine lebensbedrohliche Lage bringen (7).

Karin Vogt 1, Matthias Baumgartner 2, Katharina Timper 3, 4

1 Klinik für Innere Medizin, Universitätsspital Basel, Basel
2 Abteilung für Stoffwechselkrankheiten und Forschungszentrum für das Kind, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich
3 Klinik für Endokrinologie, Diabetes & Metabolismus, Universitätsspital Basel, Basel
4 Departement Biomedizin Basel, Universität Basel und Universitätsspital Basel, Basel

Historie
Manuskript eingegangen: 20.11.2024
Angenommen nach Revision: 20.03.2025

Verdankungen
Wir bedanken uns bei Annika Lonak (Neuroradiologie Universitäts­spital Basel) für die Bereitstellung und Kommentierung der radiolo­gischen Bildbefunde, bei Dr. med. Jonas Quitt (Anästhesie/IMC Universitätsspital Basel) für die Hilfe bei der Aufarbeitung initialer Befunde sowie bei Dr. med. Thomas Vogt für die Unterstützung bei der orthografisch-grammatikalischen Bearbeitung des Fallberichts.

Author Contributions
Konzept, KV; Schreiben, Überprüfen, Editieren, KV, KT, MB. Alle Autorinnen und Autoren haben das eingereichte Manuskript gelesen und sind für alle Aspekte des Werkes mitverantwortlich.

Dipl. med. Karin Vogt

Universitätsspital Basel
Klinik für Innere Medizin
Petersgraben 4

karin.vogt@usb.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

• Bei Patient/-innen mit vorbekannter MSUD soll immer an die Möglichkeit einer Stoffwechselentgleisung gedacht und bei Verdacht unverzüglich mit der Gabe einer hochprozentigen Glukoseinfusion (10 %, 2 ml/kgKG/h) begonnen werden. Zudem soll 300 mg Thiamin i.v. ver­abreicht werden.
• Es muss eine Verlegung an das behandelnde Stoff­wechselzentrum erfolgen oder mit diesem Kontakt aufgenommen werden.
• Zugrunde liegende Ursachen (z. B. Infekt) sollen gesucht und rasch behandelt werden.
• Im Falle von Krankheit, Operationen (Katabolismus) und Spitalaufenthalt ist bei bekannter MSUD die enge Mitbe­treuung durch das behandelnde Stoffwechselzentrum und die Vorgabe eines Therapieplans mit spezieller Diät notwendig, um eine Stoffwechselentgleisung zu vermeiden.
• Patient/-innen mit MSUD sollten ein Notfallblatt bei sich tragen und entsprechend informiert sein.

1. Orphanet [Internet]. Paris, France: Orpha.net [cited 2024 03 04]. Available from: https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/Disease_Search.php?lng=DE&data_id=708&Disease_Disease_ Search_diseaseGroup=msud&Disease_Disease_Search_diseaseType=Pat&Krankheite(n)/Krankheitsgruppe=Ahornsirup-Krankheit&title=Ahornsirup-Krankheit&search=Disease_Search
2. Fingerhut R, Olgemöller B. Newborn screening for inborn errors of metabolism and endocrinopathies: An update. Anal Bioanal Chem. 2009;393(5).
3. Prof. Dr. med. S. vom Dahl, Dr. med. F. Lammert, Prof. Dr. med. K. Ullrich PD med. UW. Angeborene Stoffwechselkrankheiten bei Erwachsenen. Angeborene Stoffwechselkrankheiten bei Erwachsenen. Springer Verlag; 2014.
4. PD Dr. rer. nat. Ralph Fingerhut, Prof. Dr. med. Johannes Häberle PD med. MB. Evaluationsbericht 2020 Neugeborenen Screening auf die Glutarazidurie Typ-I (GA-I) und die Ahornsirupkrankheit (MSUD). 2020.
5. Abi-Wardé MT, Roda C, Arnoux JB, Servais A, Habarou F, Brassier A, et al. Long-term metabolic follow-up and clinical outcome of 35 patients with maple syrup urine disease. J Inherit Metab Dis. 2017;40(6).
6. Holmes Morton D, Strauss KA, Robinson DL, Puffenberger EG, Kelley RI. Diagnosis and treatment of maple syrup disease: A study of 36 patients. Pediatrics. 2002;109(6).
7. Higashimoto T, Whitehead MT, MacLeod E, Starin D, Regier DS. Maple syrup urine disease decompensation misdiagnosed as a psychotic event. Mol Genet Metab Reports. 2022;32.