Originalartikel

Blickpunkt MS – Sehstörungen als Leitsymptom der Multiplen Sklerose



Einleitung

Neurologische Sehstörungen entstehen durch Schädigungen oder Funktionsstörungen des zentralen oder peripheren Nervensystems, die das Sehvermögen beeinflussen. Diese Störungen betreffen nicht das Auge selbst, sondern die neuronalen Verbindungen und Zentren, die für die Verarbeitung visueller Informationen verantwortlich sind.

Die Auswirkungen sind mannigfaltig und reichen von einer monokulären Visusminderung, z. B. bei einer Schädigung des Sehnervs, über Sehfelddefekte durch Schädigungen des Sehnervs oder der Sehbahn bis hin zu zur visuellen Agnosie im Sinne einer Verarbeitungsstörung bei einer Schädigung des Temporallappens oder des okzipitalen Kortexes.

Ursachen solcher Störungen können Schlaganfälle, Hirntumore, Traumata, aber auch entzündliche Erkrankungen des Gehirns, wie z. B. die Multiple Sklerose, sein.

Fall

Eine bis anhin gesunde 28-jährige Frau stellt sich aufgrund einer monokulären Visusminderung vor, welche seit etwa 2 Tagen bestehe und progredient sei. Sie beschreibt ein Verschwommensehen und äussert Schmerzen bei Augenbewegungen. Es sei das erste Ereignis dieser Art, früher aufgetretene neurologische Symptome werden verneint. Dieses Szenario weckt speziell bei einer jungen Frau den Verdacht auf eine Optikusneuritis.

Nervus opticus

Der Nervus opticus ist der 2. Hirnnerv und leitet visuelle Informationen von der Netzhaut zum Gehirn. Der Nervus opticus besteht aus etwa 1.2 Millionen Nervenfasern, die sich aus den Axonen der Ganglienzellen der Netzhaut bilden. Er verlässt das Auge an der Papilla nervi optici (blinder Fleck) und verläuft vom hinteren Teil des Auges durch die knöcherne Augenhöhle (Orbita) und tritt in den Schädel ein.

Die Nervenfasern kreuzen zu 50 % im Chiasma opticum, das heisst die Fasern, die ihren Ursprung in der temporalen Retinahälfte haben verlaufen angekreuzt, während die Phasen der nasalen Hälfte zur Gegenseite kreuzen. Dadurch werden die Informationen aus dem linken Gesichtsfeld beider Augen in die rechte Hirnhälfte und aus dem rechten Gesichtsfeld in die linke Hirnhälfte geleitet. Der Nervus opticus ist entscheidend für das Sehvermögen, er transportiert das visuelle Informationen von der Netzhaut zur Sehrinde im Okzipitallappen des Gehirns transportiert, wo die visuelle Wahrnehmung stattfindet. Diese Informationen umfassen Helligkeit, Farb- und Kontrastsehen wie auch Bewegungen im Gesichtsfeld.

Neuritis nervi optici

Per definitionum stellt die Neuritis nervi optici (NNO; Synonyme: Optikusneuritis, Retrobulbarneuritis, engl. optic neuritis) eine Entzündung des Nervus opticus aufgrund einer zunächst nicht näher bezeichneten Genese dar. Sie ist die häufigste Optikusneuropathie im jungen Erwachsenenalter (1). Mit einer Inzidenz von 1–5/100 000 (2, 3) ist die Optikusneuritis keine allzu seltene Erkrankung. Die Optikusneuritis wird häufig mit Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht, zu nennen ist hier hauptsächlich die Multiple Sklerose (MS). Hier macht die Optikusneuritis in fast 1/4 der Fälle das Erstsymptom der Erkrankung aus.

Doch nicht nur im Rahmen der MS ist ein Auftreten der Sehnerven-Entzündung möglich, auch bei den selteneren Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (neuromyelitis optica spectrum disorders, NMOSD) oder den Erkrankungen, die mit Antikörpern gegen Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein assoziiert sind (anti-MOG-antibody-associated diseases, MOGAD) können diese auftreten. Ein Nachweis dieser Erkrankungen kann dank neuerer, erst in den letzten Jahren entdeckter Biomarker und Antikörper ermöglicht werden. Die Unterscheidung zwischen der MS, NMOSD oder MOGAD, ist klinisch bedeutsam, da sich aufgrund unterschiedlicher Pathomechanismen zum einen die Prognose für die Erholung im Schub, zum anderen auch die Langzeittherapie zwischen den einzelnen Erkrankungen unterscheidet. Es ist dennoch verwunderlich, dass, obwohl die Erkrankung wie bereits erwähnt nicht selten ist, erst im Jahre 2022 Kriterien für die Diagnosestellung der Optikusneuritis im Lancet (5) publiziert wurden, welche auf klinischen und paraklinischen Befunden basieren. Präzise Diagnosekriterien sind von grosser Wichtigkeit für die Einordnung einer Sehstörung, insbesondere zumal die Autoren in der Pu­blikation aufführen, dass über 60 Erkrankungen als Ursache für eine Optikusneuritis infrage kommen. So können multiple virale und bakterielle Erreger, z. B. die durch Bar­tonella henselae verursachte Katzenkratzkrankheit oder die Lues, ursächlich sein. Sehnervenentzündungen können aber auch im Rahmen von Kollagenosen (z. B. Sjögren-Syndrom, systemischer Lupus erythematodes) oder einer Sarkoidose auftreten. Auch medikamentöse/toxische Ursachen sind differenzialdiagnostisch in Erwägung zu ziehen. Man unterscheidet im Rahmen der NNO, abhängig von der Symptomatik, Ursache und Prognose, die typische von der atypischen NNO.

Typische Optikusneuritis – MS-assoziiert oder idiopathisch

Bei einer typischen, autoimmunassoziierten Optikusneuritis wird durch die Inflammation die Myelinschicht angegriffen, es kommt zu einer Demyelinisierung des Nervus opticus, einer axonalen Degeneration und letztlich einem Untergang der Neurone des Nervus opticus (1, 6). Die typische Optikusneuritis tritt zwischen dem 20. und 45. Lebensjahr auf und betrifft Frauen zwei- bis dreimal häufiger als Männer.
Die Symptome einer Optikusneuritis treten typischerweise subakut und einseitig auf und umfassen:

1. Schmerzen bei Augenbewegungen im Sinne eines Bulbusbewegungsschmerzes, üblicherweise tritt dieser vor dem Visusabfall auf,
2. einseitige leichte bis moderate Visusminderung, wobei die Betroffenen ein verschwommenes oder trübes Sehen «wie durch ein Milchglas» schildern. Die Verschlechterung tritt innert Stunden bis Tage für ein bis zwei Wochen auf mit anschliessender Besserung,
3. Farbsinnstörung (Dyschromatopsie): Farben erscheinen blass und weniger grell, hauptsächlich trifft dies auf die Farbe Rot zu, man spricht auch von einer Rotentsättigung.

Gelegentlich berichten Betroffene über Flackern oder Lichtblitze, insbesondere bei Bewegung des Auges im Sinne von Phosphenen.
Typischerweise kommt es auch ohne weitere Behandlung innerhalb von zwei bis vier Wochen zu einer spontanen Besserung des Visus. Bei über 90 % der Betroffenen wird ein zufriedenstellender Visus nach Abheilung der Optikusneuritis erreicht. Nicht selten klagen jedoch Patiententrotz wiedererlangter normaler Sehstärke über residuelle Beschwerden, wie einen gestörten Farbsinn oder auch Schwierigkeiten im Kontrastsehen (Niedrigkontrastsehschärfe), welche durchaus auch Alltagsrelevanz haben können.

Eine Optikusneuritis ist darüber hinaus mit zwei weiteren Phänomenen assoziiert: dem Pulfrich-Phänomen und dem Uhthoff-Phänomen. Beim Pulfrich-Phänomen wird das Hin- und Herpendeln eines Gegenstands parallel zur Gesichtsebene als elliptische oder schraubenförmige Bewegung erlebt. Das Auge mit der verzögerten Reaktion nimmt das Objekt anders wahr als das gesunde Auge, was zu einer falschen räumlichen Wahrnehmung führt – im Alltag können Betroffene Schwierigkeiten bei der Einschätzung von Geschwindigkeiten von Objekten haben, wie z. B. im Strassenverkehr, beim Tennisspielen oder Fangen eines Balles, aber auch beim Einschenken von Flüssigkeiten.
Beim Uhthoff-Phänomen verschlechtert sich das Sehvermögen des betroffenen Auges, wenn sich die Körpertemperatur erhöht, etwa durch sportliche Aktivitäten, Saunagänge, aber auch bei Fieber. Das Uhthoff-Phänomen wurde ursprünglich bei der Neuritis nervi optici beschrieben (7), betrifft jedoch auch andere, bereits bekannte MS-Symptome nach früheren Schüben. Rund 80 % der Menschen mit Multipler Sklerose leiden an diesem Phänomen.

Atypische Optikusneuritis

Für eine atypische Optikusneuritis sprechen (8)
• Alter < 18 oder > 50 Jahre
• beidseitiges Auftreten entweder simultan oder auch ­sequenziell
• schwere Visusminderung mit einem Visus < 0.1
• keine Augenbewegungsschmerzen
• Auffälligkeiten in der Funduskopie wie eine ausgeprägte Papillenschwellung, eine Uveitis, retinale Exsudate, Netzhautblutungen usw.
• keine Besserungstendenz innerhalb von vier Wochen
• frühes Rezidiv nach Beendigung der Glukokortikoid­therapie

Während die typische Optikusneuritis entweder idiopathischer Genese ist oder mit einer MS assoziiert sein kann, sind insbesondere die schwere Visusminderung und das bilaterale Auftreten verdächtig auf das Vorliegen einer NMOSD oder MOGAD. Bei Letzteren zeigt sich zusätzlich häufig eine ausgeprägte Papillenschwellung. Als weiteres Merkmal einer MOG-ON ist die häufig beobachtete Steroidsensitivität zu nennen, die sich durch Besserung der Beschwerden nach Therapieeinleitung und Rückfall nach Therapieabsetzen bemerkbar macht (9).

Diagnostik – ophthalmologische ­Untersuchung

Die Diagnose einer Optikusneuritis erfolgt nebst der Anam­neseerhebung durch eine Augenuntersuchung inklusive Sehnervenprüfung, Prüfung auf einen relativ afferenten Pupillendefekt (RAPD), eine Spaltlampenuntersuchung der vorderen und mittleren Augenabschnitte sowie Funduskopie und schliesslich eine Perimetrie. Aufgabe des Augenarztes ist es, die Diagnose zu objektivieren und anderweitige ophthalmologische Ursachen auszuschliessen. Die Funduskopie zeigt bei einer typischen NNO in 2/3 der Fälle einen altersentsprechenden Normalbefund («Patient sieht nichts, Arzt sieht nichts») oder allenfalls eine leichte Papillenschwellung (Abb. 1).

Bildgebende Diagnostik

Die MRT-Untersuchung ist eine wichtige Zusatzdiagnostik in Bezug auf die Dokumentation der Lokalisation und Ausdehnung der Neuritis. Sie dient aber auch zum Ausschluss anderer Ursachen und Differenzialdiagnosen (Abb. 2–5).

Ebenso geht es darum, im Rahmen der Diagnostik weitere demyelinisierende Läsionen im zentralen Nervensystem aufzudecken, welche dann hinweisend wären, z. B. das Vorliegen einer Multiplen Sklerose (Abb. 6).

In Abhängigkeit von Anamnese und Bildgebung wäre eine weiterführende Diagnostik mittels Labor- und Liquoranalytik zu evaluieren. Die Erregungsleitung des Sehnervs lässt sich mithilfe visuell evozierter Potentiale (VEP) überprüfen.

Therapie

Die Behandlung der Optikusneuritis basiert auf den Ergebnissen des Optic Neuritis Treatment Trial (ONTT), welcher 1992 publiziert wurde (10). Viele Erkenntnisse, auch zu Langzeitverläufen bei der Optikusneuritis, stammen aus den Folgepublikationen dieser Kohorte über die Jahre hinweg. Der allgemein akzeptierte Standard zur Behandlung der akuten Neuritis nervi optici (aber auch eines MS-Schubes) ist die intravenöse Gabe von 1000 mg Methylprednisolon an 3–5 aufeinanderfolgenden Tagen, ohne anschliessendes Ausschleichen (11). Methylprednisolon hat den Vorteil einer geringeren mineralokortikoiden Wirkung bei höherer Rezeptoraffinität und besserer Liquorgängigkeit als Prednisolon (12).
In einer 2015 veröffentlichten Studie (13) konnte gezeigt werden, dass die dreitägige orale Einnahme von 1000 mg Methylprednisolon der intravenösen Verabreichung nicht unterlegen ist. Sowohl die funktionelle Verbesserung als auch die Verträglichkeit waren vergleichbar. Mittlerweile liegen weitere ähnliche Studien vor, sodass eine orale hoch dosierte Steroidtherapie daher eine Alternative zur intravenösen Applikation darstellt. Ein kleiner Nachteil ist die Tatsache, dass Methylprednisolon als Tablette derzeit in der Schweiz nur in der Dosis von 100 mg erhältlich ist. Bei einem Ausbleiben der Symptombesserung wird entweder die erneute, ultrahoch dosierte Kortison-Stosstherapie mit höherer Dosierung von bis zu 2000 mg Methylprednisolon pro Tag über weitere 3–5 Tage wiederholt. Hält die Symptomatik trotz optimaler Therapie an, so handelt es sich um einen steroidrefraktären Schub, und in diesem Falle ist eine Therapie mittels Plasmapherese oder Immunadsorption indiziert. Zunehmend wird jedoch eine Plasmapherese oder Immunadsorption als Behandlung bereits zu einem früheren Zeitpunkt erwogen, insbesondere bei den antikörpervermittelten Erkrankungen (14).

Multiple Sklerose

Bei der Multiplen Sklerose (MS) handelt es sich um eine autoimmunvermittelte, chronische, entzündlich-degenerative Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS). Sie zeichnet sich durch einen sehr individuellen Verlauf aus, entsprechend nennt man sie auch «die Erkrankung mit den tausend Gesichtern». Die Ursache der Multiplen Sklerose ist noch nicht endgültig geklärt. Das Risiko an einer MS zu erkranken, unterliegt zum einen einer genetischen Prädisposition, zum anderen werden bestimmte Umweltfaktoren wie virale Infektionen als Triggermechanismus, geringe Sonnenexposition mit niedrigem Vitamin-D-Spiegel, Rauchen oder Übergewicht als zusätzliche prädisponierende Faktoren diskutiert.

In der Regel beginnt die Erkrankung zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr; die Altersspanne reicht jedoch von der Kindheit bis in das höhere Erwachsenenalter. Frauen sind zwei- bis dreimal so häufig von der Multiplen Sklerose betroffen als Männer. Die MS stellt die häufigste neurologische Erkrankung dar, die im jungen Erwachsenenalter zu bleibender Behinderung und vorzeitiger Berentung führt. Schätzungen aus dem Jahre 2016 nach sind rund 15 000 Menschen in der Schweiz an einer MS erkrankt (15). Das Schweizer MS-Register liefert hierzu stets neue Erkenntnisse, demnach liegen die Schätzungen für das Jahr 2021 bei nunmehr 18 000 MS-Betroffenen in der Schweiz (16). Es wird weltweit eine steigende Anzahl MS-Betroffener beobachtet. Dies kann nicht nur dem Bevölkerungswachstum zugeschrieben werden. Konsistent zeigt sich nämlich auch eine stärkere Zunahme der Anzahl von MS betroffener Frauen. Als mögliche Erklärungen hierfür werden Veränderungen im Lebensstil der weiblichen Bevölkerung genannt. Insbesondere werden hier hormonelle Veränderungen diskutiert, die durch das höhere Alter bei der ersten Schwangerschaft und die sinkende Geburtenrate nebst dem steigenden Übergewicht bedingt sind (17, 18).

Bis anhin teilte man die MS in verschiedene Verlaufsformen ein:
• das klinisch-isolierte Syndrom (clinically isolated syndrome, CIS),
• die schubförmige remittierende (relapsing-remitting, RRMS),
• die sekundär progrediente (SPMS) und
• die primär progrediente (PPMS).

Diese Einteilung hat in den letzten Jahren einen Wandel erfahren. Jahrzehntelang ging man von einem 2-Phasen-Modell aus, gekennzeichnet durch eine zunächst schubförmig verlaufende Erkrankung und im Vordergrund stehende entzündliche Aktivität (Schübe, MR-Aktivität) mit Übergang zur sekundär progredienten MS, gekennzeichnet durch einen degenerativen Prozess (Neurodegeneration, Atrophie). Heute wird die Erkrankung hingegen als Kontinuum betrachtet. Es gibt keine klare Trennung zwischen entzündlichen und degenerativen Phasen. Heute wissen wir, dass die Neurodegeneration bereits im frühen Stadium der Erkrankung beginnt. Auch haben wir in den letzten Jahren gelernt, dass neben der bisher angenommenen schubassoziierten auch eine schubunabhängige Behinderungsprogression (progression independant of relapses, PIRA) vorliegen kann (19, 20).

Der MS-Schub

Die Multiple Sklerose manifestiert sich durch Schübe. Ein Schub bei MS kann sich durch verschiedene Symptome bemerkbar machen, die je nach betroffener Hirn- oder Rückenmarksregion unterschiedlich sein können. Die häufigsten Schubsymptome sind Sehstörungen z. B. im Rahmen einer Optikusneuritis oder Doppelbilder, Fühlstörungen, Paresen sowie Gangstörungen.

Ein MS-Schub ist definiert durch das Auftreten neurologischer Funktionsstörungen, die subjektiv berichtet oder durch die Untersuchung objektiviert werden können und die a) mindestens 24 Stunden anhalten, b) mit einem Intervall von > 30 Tagen zum Beginn vorausgegangener Schübe auftreten, c) nicht durch Änderungen der Körpertemperatur (Uhthoff-Phänomen) oder im Rahmen von z. B. Infektionen und d) nicht durch eine anderweitige physische oder organische Ursache hervorgerufen sind (11).

Die Therapie besteht aus der möglichst frühen Gabe von hoch dosierten Steroiden, sollte die Symptomatik von klinischer Relevanz sein. Details zur Dosierung und Dauer der Behandlung wurden oben bereits bei der Behandlung der Neuritis nervi optici aufgeführt.

Diagnose der MS

Die Diagnose einer MS wird anhand Anamnese, klinischer und paraklinischer Befunde gestellt, wobei die Magnetresonanztomographie in der Diagnostik eine wichtige Rolle spielt. Zentral war bisher der radiologische Nachweis einer Dissemination der Läsionen im Raum (dissemination in space, DIS) und in der Zeit (dissemination in time, DIT).

Die im MRT gesehenen Läsionen sollen ovoid und gut umschrieben sowie > 3 mm gross sein mit periventrikulärer, juxtakortikaler, infratentorieller oder spinaler Lokalisation. Die räumliche Dissemination im MRT ist erfüllt, wenn MS-typische Läsionen an mindestens zwei der genannten Lokalisationen sichtbar sind. Die Dissemination in der Zeit ist erfüllt bei Nachweis einer kontrastmittelaufnehmenden Läsion im initialen MRT oder einer neuen demyelinisierenden Läsion in einer Verlaufs-MRT.

Die Liquoruntersuchung hat weiterhin ihren Platz in der Diagnostik der MS. Den grössten Stellenwert besitzen die sogenannten oligoklonalen Banden (OKB) im Liquor. Bei den OKB handelt es sich um den biochemischen Nachweis von Immunglobulinen, die ausschliesslich im ZNS produziert werden als Ausdruck eines pathologischen immunologischen Prozesses. Der Nachweis von oligoklonalen Banden ausschliesslich im Liquor kann ebenfalls herangezogen werden, um das Kriterium der zeitlichen Dissemination zu erfüllen.

Es steht aber kein spezifischer Laborparameter zur Verfügung, der die Diagnose der MS beweist oder gänzlich ausschliesst. Die MS bleibt somit weiterhin eine Ausschlussdiagnose, was bedeutet, dass keine bessere Erklärung für die Symptome oder die paraklinischen Befunde vorliegen darf.

Im Jahre 2017 wurden die letzten und aktuell noch gültigen Diagnosekriterien für die MS durch das «International Panel on Diagnosis of MS» erarbeitet und publiziert (21). 2024 wurden erstmals die vom International Advisory Committee on Clinical Trials in MS erarbeiteten, noch unpublizierten Anpassungen der McDonald-Kriterien im Rahmen des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS)-Kongresses präsentiert, die in einigen wesentlichen Punkten zu Veränderungen bei der Diagnosestellung der MS führen werden. Das Kriterium der räumlichen Dissemination wird insofern angepasst, als der Sehnerv als 5. anatomische Lokalisation für die Erfüllung der räumlichen Dissemination aufgenommen wird. Eine Affektion des N. opticus kann dabei nicht nur mittels MRT, sondern auch mittels VEP (visuell evozierte Potentiale) oder OCT (optische Kohärenztomographie) gezeigt werden. Diese Neuerung ermöglicht in gewissen Situationen eine Vereinfachung oder Beschleunigung der Diagnosestellung, zumal die Optikusneuritis, wie bereits erwähnt, zu den Erstsymptomen einer MS gehören kann.

Das übergeordnete Ziel ist die möglichst frühe, aber auch eine zuverlässige Diagnosestellung, um den zeitnahen Beginn einer verlaufsmodifizierenden Therapie zu ermöglichen. «Time is brain» gilt auch für die MS. Je früher die Krankheit diagnostiziert und mit der Immuntherapie begonnen wird, umso besser ist die Langzeitprognose.

Behandlung

Mit der Zulassung von Interferon beta-1b in den 90er-Jahren begann eine neue Ära in der Behandlung der Multiplen Sklerose. Zum ersten Mal stand ein Medikament zur Verfügung, welches nachweislich einen Effekt auf den Verlauf der MS zeigen konnte. 30 Jahre später stehen uns Neurologen mittlerweile zahlreiche Therapeutika mit unterschiedlichen Wirkmechanismen und Applikationsformen zur Verfügung. Ziel dieser Therapeutika ist es, das Risiko weiterer Schübe und somit den Krankheitsprozess und die daraus resultierende fortschreitende Behinderung zu verhindern. Die grosse Auswahl erlaubt, die Therapie an das jeweilige individuelle «MS-Risikoprofil» anzupassen, unter Berücksichtigung von klinischen, radiologischen und biologischen Parametern, aber auch auf die Bedürfnisse und Wünsche des Betroffenen/der Betroffenen einzugehen, was noch vor einigen Jahren so nicht möglich war. Erfreulicherweise befinden sich weitere MS-Therapeutika in der Entwicklung, sodass auch in Zukunft mit neuen Zulassungen gerechnet werden kann.

Über die Jahre hinweg haben sich unsere Therapieziele in der Behandlung der MS verändert. Die ersten zur Verfügung stehenden Medikamente hatten lediglich eine moderate Reduktion der Schubrate zur Folge, mittlerweile ist das Fehlen jeglicher Krankheitsaktivität ein durchaus realistisches Ziel, das im klinischen Alltag angestrebt wird. Fairerweise muss man aber an dieser Stelle erwähnen, dass die meisten Medikamente auf die entzündliche Krankheitsaktivität der MS abzielen und noch Handlungsbedarf besteht, den degenerativen Anteil des Krankheitsprozesses wirkungsvoll zu beeinflussen und zu kontrollieren. Keine der zugelassenen immunmodulatorischen Therapien führt bei progressiven Verläufen zu einer wesentlichen Verminderung der langfristigen Behinderung. Primäre neuroprotektive Therapieansätze existieren nicht.

Handlungsbedarf besteht zudem auch in der Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung der sogenannten unsichtbaren Symptome der MS, wie Einschränkungen in der kognitiven Leistungsfähigkeit oder die Fatigue.

Die grosse Auswahl von Medikamenten stellt uns jedoch auch vor zunehmende Herausforderungen. Die Präparate haben unterschiedliche Nebenwirkungsprofile. Therapieanpassungen werden aufgrund von Wirksamkeits- oder Sicherheitsfaktoren komplexer, zumal Wirkmechanismen, Pharmakokinetik und Wechselwirkungen jeweils mitberücksichtigt werden müssen. Auch individuelle Faktoren wie Alter, Infektionsrisiko oder Kinderwunsch müssen in Betracht gezogen werden.

Es besteht mittlerweile ein breiter Konsens, dass eine MS-Therapie möglichst früh begonnen werden soll. Viele MS-Patienten stellen jedoch früher oder später die Frage, wie lange eine MS-Therapie durchgeführt werden soll und ob diese im weiteren Verlauf ohne negative Folgen auch wieder beendet werden kann. Die MS-Krankheitsaktivität nimmt in der Regel mit steigendem Alter ab. Mit zunehmendem Alter steigt die Anzahl der Komorbiditäten, wodurch sich das Nutzen-Risiko-Profil von Immuntherapien verschiebt, auch im Hinblick der Immunoseneszenz. Dieser Frage ging zuletzt die «DOT-MS»- Studie nach, die Ende letzten Jahres veröffentlicht wurde. Die im Schnitt 54-jährigen Teilnehmer hatten seit mindestens 5 Jahren unter einer MS-Therapie (mit Interferon, Glatirameracetat, Dimethylfumarat oder Teriflunomid) keinerlei Zeichen einer klinischen oder radiologischen entzündlichen Krankheitsaktivität und wurden randomisiert, wobei die Hälfte der Probanden die Therapie abgesetzt hat. Bei fast 20 % der Teilnehmenden, welche die Therapie abgesetzt hatten, zeigte sich signifikante Krankheitsaktivität, die Studie musste daher vorzeitig beendet werden. Andersherum kann jedoch auch gesagt werden, dass 80 % der Teilnehmenden, welche die Therapie abgesetzt hatten, weiterhin frei von Krankheitsaktivität blieben, und entsprechend kann ein Absetzversuch im klinischen Alltag im Einzelfall unter Berücksichtigung des Nutzen-Risiko-Profils für den Einzelnen diskutiert werden (22).

Bis anhin werden MS-Krankheitsaktivität und die Beurteilung des Therapieansprechens klinisch (neurologische Untersuchung, Schubanamnese) und radiologisch (MRT) erfasst. Neue Biomarker im Blut ermöglichen eine genauere Vorhersage und Erfassung des Fortschreitens der Erkrankung, bevor der MS-Betroffene einen Schub erleidet oder sich neue Krankheitsaktivität im MRT nachweisen lässt. Serum Neurofilament Light Chain (sNfL) ist ein Marker für neuronalen Schaden, und die Blutspiegel erlauben eine zuverlässige Aussage über die aktuelle Krankheitsaktivität bei MS (23). Ob sNfL zu einer personalisierten MS-Behandlung beitragen kann, indem Therapieanpassungen anhand der Serumwerte vorgenommen werden, wird gerade mit der MultiSCRIPT-Studie, an der acht MS-Zentren in der Schweiz teilnehmen, erstmals prospektiv untersucht (24).

Prognose

Eine verlässliche individuelle Prognoseeinschätzung ist nicht möglich. Als ungünstige prognostische Faktoren gelten jedoch unter anderem ein progredienter Krankheitsverlauf zu Beginn der Erkrankung, viele Krankheitsschübe, eine schlechte Remission des ersten Schubes, eine multifokale Symptomatik, männliches Geschlecht, ein höheres Lebensalter zu Beginn der Erkrankung und eine hohe Läsionslast im MRT mit insbesondere Vorliegen von infratentoriellen und spinalen Läsionen.

Das Bild der Multiplen Sklerose ist bei vielen Betroffenen oft geprägt von der Vorstellung, dass sie bald im Rollstuhl landen. Die MS ist zwar weiterhin nicht heilbar, durch die Zulassung verschiedener verlaufsmodifizierender Therapien und unser verbessertes Verständnis der Krankheitsmechanismen sind wir heute aber in der Lage, den langfristigen Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen.

Dipl. Ärztin Stefanie Müller

Oberärztin mbF
Klinik für Neurologie
HOCH, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9000 St. Gallen

stefanie.mueller@kssg.ch

Die Autorin hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Therapeutische Umschau

  • Vol. 82
  • Ausgabe 3
  • Juni 2025