Editorial

Einführung: Integrative Onkologie



In einem europäischen Survey gaben 19 bis 73 % der an Krebs betroffenen Patienten an, Komplementärmedizin zu nutzen (1), mit Zunahme der Nutzung in den letzten Jahren (2). Die Gründe sind unterschiedlich: bessere Symptomkontrolle, Wohlbefinden für Körper und Psyche, selber etwas tun können, den Leib gegen den Krebs stärken. Auch sollte Komplementärmedizin zu Beginn angeboten werden (3). Nach dem Diagnoseschock besteht häufig der Wunsch, aus einer passiven in eine selbstwirksame, aktive Rolle überzugehen (4, 5). Chemotherapien, Immuntherapien, komplexe zielgerichtete Therapien, Radiotherapie und Operationen können als aggressiv und unmenschlich erlebt werden, geübte Achtsamkeit, Kunsttherapie, äussere Anwendungen oder eine selbst injizierte Misteltherapie, als menschengemäss und gesundheitsfördernd. Man wird wieder Herr/Frau im eigenen Leib, wird wieder Gestalter seiner persönlichen Biographie.

Mittlerweile belegen auch Studien den positiven Effekt von integrativmedizinischen Massnahmen auf die Lebensqualität sowie die Symptomkontrolle in allen Phasen der Krebserkrankung (z. B. bei Nausea, Wallungen, Polyneuropathie, Angst, Schlafstörungen, Fatigue). Nicht zuletzt hat die im Jahr 2003 gegründete nordamerikanische Society for Integrative Oncology (SIO: https://integrativeonc.org) dazu beigetragen, die wissenschaftliche Evidenz für Komplementärmedizin in der Onkologie deutlich zu verbessern. Guidelines werden in prominenten Journals publiziert, sodass von verschiedenen Seiten der Appell kommt, die Standards of Care in der Onkologie anzupassen und Komplementärmedizin systematisch zu integrieren (6). In Deutschland sind ebenfalls S3-Leitlinien für Komplementärmedizin in der Onkologie erschienen (https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/komplementaermedizin). Bei belegter Wirksamkeit sollte eine ausgewählte Komplementärmedizin bereits bald nach der Diagnose einer Krebserkrankung angeboten werden, im Sinne einer frühen integrativen Onkologie.

In der Schweiz ist ein gewisses komplementärmedizinisches Angebot in den Kliniken für Onkologie schon längst nicht mehr die Ausnahme. Keine integrative Onkologie zu führen, wird zum Konkurrenznachteil. Am 25. April 2024 wurde im Kantonsspital Aarau von über 20 Institutionen das Schweizerische Netzwerk für Integrative Onkologie SNIO (https://integrative-oncology.ch) gegründet (Abb. 1). Darunter alle Universitätsspitäler und mehrere Kantonsspitäler. Ziele des Netzwerkes sind die Förderung von Qualität, Edukation und klinischer Forschung in der integrativen Onkologie. SNIO zählt heute 24 Mitglieder aus allen Landesregionen. Dieses Jahr sind im November am Schweizerischen Kongress für Hämatologie und Onkologie SOHC in Basel mehrere Symposien geplant: Nursing Interventions in Integrative Oncology gemeinsam mit der Onkologie Pflege Schweiz, Integrative Medicine in Pediatric Oncology mit der Schweizerischen Pädiatrischen Onkologie Gruppe SPOG, ein SNIO Science Update (https://www.sohc.ch) und Integrative Onkologie wird im Basiskurs Medizinische Onkologie regulär geschult.

Dankenswerterweise haben sich für diese Auflage der Therapeutischen Umschau Experten von SNIO-Institutionen erfolgreich an die Arbeit gemacht, um einen fundierten und spannenden Einblick in die Disziplinen und Themen der integrativen Onkologie zu ermöglichen.

Die klinischen Angebote von Integrativer Onkologie in SNIO-Zentren basieren auf der Vielfalt der (Traditionell-) Komplementären und Integrativen Medizin (7) und zeigen die Fokussierung auf die in der Schweiz besonders verankerten 7 Kerndisziplinen. Im Artikel Gemeinsamkeiten und Kerndisziplinen wird die gemeinsame Basis dieser Kerndisziplinen diskutiert. Dazu gehören die SNIO-Statuten (siehe Kasten), die auf der Definition der SIO aufbauen (8), und Charakteristika der Schweiz und Europas berücksichtigen, wie z. B. das Verständnis von Phytotherapie (Mehrkomponenten-Extrakte aus ganzen Pflanzen), von Lebensstilmedizin (Fokus auf Verhaltensänderungen basierend auf achtsamer Selbstreflexion und Verbundenheit) oder von traditioneller Medizin (inkl. ganzheitliche medizinische Systeme [Whole Medical Systems]).

Die Artikel der 7 Kerndisziplinen diskutieren neben den Inhalten auch Aspekte der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz und spezifische Qualitätskriterien. Diese beiden Aspekte werden vertieft in den Artikeln Forschung und Weiter- und Fortbildung.

Auch in der Integrativen Onkologie sind präzise, konkrete Forschungsfragen notwendig, basierend auf einer soliden und reflektierten klinischen Praxis mit Einbezug der Patientenpräferenz. Der Artikel Forschung diskutiert das Dreibein (oder 3 Säulen) der evidenzbasierten Medizin und die Wahl einer geeigneten Forschungsmethodik. Dabei ist ein gründliches Verständnis der gelebten klinischen Realität der Integrativen Onkologie erforderlich (u. a. Patientenauswahl, Beschreibung des therapeutischen Kontexts, angemessene Kontrollgruppen, relevante Ergebnis-Kriterien [z. B. Kohärenz, Autonome Regulation (9)]) und ein breites Repertoire an (kombinierten) Forschungsmethoden mit unterschiedlichen gesetzlichen Vorschriften und Möglichkeiten der vernetzten Forschung (SNIO Working Group Forschung). Dieser Artikel soll dazu beitragen, die Evidenzverankerung der Integrativen Onkologie in der Schweiz zu stärken.

Qualitätskriterien in der Onkologie basieren v. a. auf der Weiter- und Fortbildung, Zertifizierungsprozessen und fachlichem Austausch. Dabei werden zunehmend spezifische Qualitätsindikatoren in Leitlinien (www.leitlinienprogramm-onkologie.de/qualitaetsindikatoren) formuliert. In der Integrativen Onkologie werden einerseits für Kerndisziplinen spezifische Qualitätskriterien definiert. Diese dienen sowohl zur Sicherstellung der bestmöglichen Wirksamkeit von therapeutischen Massnahmen (u. a. mit adäquater fachlicher Qualifikation der Fachpersonen) als auch zur Minimierung von Risiken. Im Artikel Weiter- und Fortbildung werden Angebote der Weiter- und Fortbildung vorgestellt und diskutiert (SNIO Working Group Edukation) und auch allgemeine Qualitätskriterien für die Integrative Onkologie diskutiert (10) (wie adäquate Informationen über die onkologische Erkrankung und Behandlungsoptionen zur Vermeidung von falschen Heilsversprechungen; wie Einbettung der aktiv erfragten Patientenpräferenz in die klinische Entscheidungsfindung mit robuster Evidenzverankerung; oder wie proaktive, transparente Koordination und Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren für eine optimale interdisziplinäre, patientenzentrierte Versorgung).

Ein wesentliches Element für die Entwicklung von Qualitätskriterien für Integrative Onkologie in der Schweiz im Sinne einer konsensuellen, transparenten und verantwortlichen «Best Practice» ist das SNIO-Projekt Konsensus der SNIO Working Group Konsensus (siehe Artikel Forschung).

Das Spektrum an möglichen Angeboten der Integrativen Onkologie in den Behandlungspfaden der modernen Onkologie ist breit. In den beiden Artikeln Palliative und End-of-Life Care sowie Survivorship werden beispielhaft ausgewählte Behandlungsmöglichkeiten bei typischen klinischen Situationen (z. B. Insomnie, CINP, Fatigue, Symptomkontrolle am Lebensende) diskutiert. Dabei werden auch Gemeinsamkeiten der Integrativen Onkologie mit der modernen onkologischen Survivorship Care, der Palliativmedizin und Supportive Care diskutiert (11), beispielhaft bezüglich Ernährung mit Verbindung von onkologischer Ernährungsmedizin und Unterstützung von Verhaltensänderungen mit Massnahmen der Integrativen Onkologie. Dabei hat die Integrative Onkologie das Potenzial, Lücken in der Krebsbehandlung und unterstützenden Pflege zu schliessen, muss jedoch Kompetenzen aus den «konventionellen» Bereichen (z. B. Ernährung, Bewegungswissenschaft, Rehabilitation, Psychologie, Palliativmedizin) einbringen und die konventionelle onkologische Versorgung anerkennen und (gegenseitig) respektieren. Es spielt wie bei der Supportive Care und Palliative Care weniger die Zuteilung zu einem Begriff eine Rolle (12), sondern primär, dass patientenzentrierte, bedürfnisorientierte, qualitativ hochstehende, evidenzbasierte Massnahmen in transprofessioneller und interdisziplinärer Zusammenarbeit zu den betroffenen Menschen beim Leben mit und nach Krebs kommen.

Wir wünschen Ihnen eine inspirierende und lehrreiche Lektüre dieser Ausgabe.

Florian Strasser 1, 2, Marc Schläppi 1

1 Zentrum Integrative Medizin, HOCH Health Ostschweiz, Kantonsspital St. Gallen, Schweiz
2 Cancer Fatigue Clinic (Münsterlingen, Sargans, Schaffhausen), Schweiz

PD Dr. med. Florian Strasser

Senior Research Consultant
Zentrum Integrative Medizin, HOCH Health Ostschweiz
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95, 9000 St. Gallen

Cancer Fatigue Clinic
(Münsterlingen, Sargans, Schaffhausen), Schweiz

cancerfatigueclinic@hin.ch

Marc Schläppi ist Präsident des Swiss Network for Integrative Oncology.

Florian Strasser ist Extended Board Member des Swiss Network for Integrative Oncology, er hat Honorare für Vorträge, Beratung oder Teilnahme an Advisory Boards erhalten (letzte 5 Jahre) von Abbott Nutrition, Danone-Nutricia, Fresenius, Helsinn, Ology, Pfizer, Sanofi; er führt in selbstständiger Tätigkeit die ambulanten Sprechstunden der Cancer Fatigue Clinic durch.

Auszug aus SNIO-Statuten
• Integrative Onkologie ist eine patientenzentrierte und zielorientierte Integration von Interventionen aus der komplementären und integrativen Medizin (KIM) in die konventionelle onkologische Behandlung und Betreuung.
• Die betreffenden Interventionen werden dabei von Ärzt/-innen, Pflegenden und Therapeut/-innen mit einer in der Schweiz anerkannten, zertifizierten Ausbildung durchgeführt.
• Ein integrativonkologisches Behandlungskonzept gründet auf einem ganzheitlichen bio-psycho-sozio-spirituellen (BPSS) Menschenverständnis und anerkennt die salutogene Beziehung von Mensch zu Mensch sowie zwischen Mensch und Natur.

1. Molassiotis A, Fernández-Ortega P, Pud D, Ozden G, Scott JA, Panteli V, Margulies A, Browall M, Magri M, Selvekerova S, Madsen E, Milovics L, Bruyns I, Gudmundsdottir G, Hummers ton S, Ahmad AM, Platin N, Kearney N, Patiraki E. Use of complementary and alternative medicine in cancer patients: a European survey. Ann Oncol. 2005 Apr;16(4):655-63.
2. Horneber M, Bueschel G, Dennert G, Less D, Ritter E, Zwahlen M. How many cancer patients use complementary and alternative medicine: a systematic review and metaanalysis. Integr Cancer Ther. 2012 Sep;11(3):187-203,
3. Wode K, Henriksson R, Sharp L, Stoltenberg A, Hök Nordberg J. Cancer patients’ use of complementary and alternative medicine in Sweden: a cross-sectional study. BMC Complement Altern Med. 2019 Mar 13;19(1):62.
4. Horneber M, van Ackeren G, Fischer F, Kappauf H, Birkmann J. Addressing Unmet Information Needs: Results of a Clinician-Led Consultation Service About Complementary and Alternative Medicine for Cancer Patients and Their Relatives. Integr Cancer Ther. 2018 Dec;17(4):1172-1182.
5. Boland L, Bennett K, Connolly D. Self-management interventions for cancer survivors: a systematic review. Support Care Cancer 2018;26(5):1585-1595
6. Lopez G, Narayanan S, Cohen L. Integrative medicine in oncology: redefining the standard of care. Nat Rev Cancer. 2024 Nov;24(11):739-740
7. WHO-Definition: complementary medicine refers to additional healthcare practices that are not part of a country’s mainstream medicine. https://www.who.int/health-topics/traditional-complementary-and-integrative-medicine#tab=tab_1
8. Witt CM, Balneaves LG, Cardoso MJ, Cohen L, Greenlee H, Johnstone P, Kücük Ö, Mailman J, Mao JJ. A Comprehensive Definition for Integrative Oncology. J Natl Cancer Inst Monogr. 2017 Nov 1;2017(52).
9. Kröz M, Reif M, Fässler-Teal LR, Berger B, Sasselli C, Zerm R, Martin D, Gutenbrunner C, Büssing A. Predictors of fatigue improvement in multimodal, multimodal-aerobic and aerobic exercise intervention studies in breast cancer survivors with cancer-related fatigue. Sci Rep. 2025 Jul 1;15(1):20690.
10. Balneaves LG, Watling CZ, Hayward EN, Ross B, Taylor-Brown J, Porcino A, Truant TLO. Addressing Complementary and Alternative Medicine Use Among Individuals With Cancer: An Integrative Review and Clinical Practice Guideline. J Natl Cancer Inst. 2022 Jan 11;114(1):25-37
11. Theunissen I, Bagot JL. Supportive cancer care: is integrative oncology the future? Curr Opin Oncol. 2024 Jul 1;36(4):248-252.
12. Jordan K, Aapro M, Kaasa S, Ripamonti CI, Scotté F, Strasser F, Young A, Bruera E, Herrstedt J, Keefe D, Laird B, Walsh D, Douillard JY, Cervantes A. European Society for Medical Oncology (ESMO) position paper on supportive and palliative care. Ann Oncol. 2018 Jan 1;29(1):36-43

Therapeutische Umschau

  • Vol. 82
  • Ausgabe 5
  • November 2025