Origingalartikel

Polyneuropathien – ein praxisorientierter Überblick



Einführung

Polyneuropathien (PNP) sind häufig (Prävalenzdaten für die Schweiz gemäss Bundesamt für Statistik: allgemeine Prävalenz: 2500 pro 100 000 entspricht 2.5 % der Gesamtbevölkerung; Prävalenz bei über 55-Jährigen: 8000 pro 100 000 entspricht 8 %), können mit unterschiedlichen Symptomen einhergehen und sowohl von akutem, schubförmigem oder chronischem Charakter sein. Sensibilitätsstörungen, neuropathische Schmerzen, aber auch Muskelschwäche, Koordinations- und Gangstörungen sind typische Symptome, welche in unterschiedlicher Verteilung bzw. Kombination auftreten können. Zahlreiche Ursachen können einer PNP zugrunde liegen, aber ein erheblicher Anteil bleibt trotz eingehender Abklärung unklarer Ätiologie. Darüber hinaus können auch andere neurologische Erkrankungen ähnliche Symptome hervorrufen und eine PNP imitieren, wie zum Beispiel eine Radikulopathie, eine amyotrophe Lateralsklerose (ALS) oder eine Multi­ple Sklerose. Für gewisse PNP stehen gezielte und effiziente Behandlungsansätze zur Verfügung (z. B. intravenöse Immunglobuline [IVIG] bei Immunneuropathien). In dieser Situation sind eine strukturierte Einteilung und gezielte Abklärung von PNP besonders hilfreich, um behandelbare Ursachen nicht zu verpassen. Nicht alle Patienten können/müssen dem Spezialisten überwiesen werden, und Red Flags sollen bei dieser Entscheidung helfen.

Grundlagen und Symptome bei ­Polyneuropathien

PNP sind generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems, welches sowohl motorische, sensible und autonome Nervenfasern umfasst, oft als sogenannte gemischte Nerven. Es kommen grundsätzlich alle allgemein gängigen Ursachen wie metabolisch, toxisch, entzündlich, infektiös, vaskulär, (para)-neoplastisch infrage. Per definitionem werden traumatische Nervenläsionen nicht zu den PNP gezählt. Eine PNP erhöht aber grundsätzlich die Anfälligkeit für aufgepropfte kompressive Neuropathien, welche entsprechend aktiv gesucht und bei Bedarf einer gezielten Behandlung zugeführt werden sollen (z. B. Nervendekompression bei Karpaltunnelsyndrom).

Die Art der beteiligten Nervenfasern – sensibel, motorisch oder autonom – bestimmt, welche Symptome im Vordergrund stehen. Dabei lassen sich die Symptome weiter unterteilen in negative und positive Erscheinungen. Zu den negativen Symptomen gehören ein Funktionsverlust, wie beispielsweise eine Parese oder sensible Beeinträchtigungen mit verminderter oder fehlender Empfindung. Positive Symp­tome hingegen weisen auf eine übermässige oder abnorme Aktivität hin, wie etwa Faszikulationen, Muskelkrämpfe oder Schmerzen, die durch Reizung oder Schädigung der Nerven hervorgerufen werden können (Tab. 1).

Die klinischen Symptome erlauben per se keine Unterscheidung zwischen einer axonalen, demyelinisierenden oder gemischt axonal-demyelinisierenden Schädigung. Diese Unterscheidung gelingt nur mittels einer weiterführenden elektroneuromyographischen Untersuchung (ENMG), welche von Neurologen durchgeführt wird. Die Bestimmung des Schädigungscharakters ist aber durchaus relevant, sowohl hinsichtlich Prognose (schlechtere Erholung bei axonaler Schädigung) als auch hinsichtlich spezifischer Ursache (z. B. typische Demyelinisierungszeichen bei entzündlichen Neuropathien). Small-Fiber-Neuropathien (SFN) betreffen kleine, wenig oder nicht myelinisierte Nervenfasern (Aδ- und C-Fasern), welche an der Schmerz- und Temperaturwahrnehmung beteiligt sind. Diese Fasertypen können durch Standard-ENMG-Untersuchungen nicht direkt untersucht werden (1). Bei Verdacht auf eine Small-Fiber-Neuropathie dient eine Quantitative Sensorische Testung (QST) der Beurteilung funktioneller Störungen und eine Hautbiopsie der Quantifizierung der intraepidermalen Nervenfaserdichte (2).

Ursachen und Einteilung von Polyneuropathien

Das Verteilungsmuster als auch die Verlaufsform können wertvolle Hinweise auf mögliche bzw. im Vordergrund stehende Ursachen ergeben (Tab. 2 und Tab. 3):

Die häufigste Form der PNP ist distalbetont (längenabhängig, beginnt in den Beinen) und symmetrisch, sensibel oder sensibel-betont, von axonalem oder gemischt axonal-demyelinisierendem Charakter und oft langsam fortschreitend. Bei dieser Form sind nicht selten auch die autonomen Fasern mitbetroffen, was in einer sogenannten Small-Fiber-Neuropathie (SFN) resultiert. Letztere kann auch isoliert auftreten und ist oft schmerzhaft.

Die häufigsten Ursachen v. a. mit Mitbeteiligung der SFN sind metabolisch (Diabetes mellitus, Hypertriglyzeridämie, Hypothyreose), toxisch (Alkohol, medikamentös, wie z. B. Chemotherapien), autoimmun (Zöliakie, Morbus Crohn, Sjögren-Syndrom) und infektiös (HIV, Hepatitis C) (2, 3).

Seltener sind Polyradikuloneuropathien, bei denen in erster Linie sowohl zervikale als auch lumbosakrale Nervenwurzeln betroffen sind, manchmal auch Rumpf- und Hirnnerven. Polyradikuloneuropathien sind häufiger von demyelinisierendem Charakter, können auch proximalbetont bzw. asymmetrisch ausfallen. Diese Formen treten häufig bei immunvermittelten Polyneuropathien (z. B. chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie) oder im Zusammenhang mit einer Infektion (z. B. Borreliose, Syphilis, HIV) auf (4).

Bei der sogenannten Mononeuropathia multiplex sind mehrere Nerven gleichzeitig oder nacheinander betroffen, was zu einem asymmetrischen und nicht längenabhängigem Befallsmuster führt. Die Mononeuritis multiplex ist vergleichsweise selten, meist schmerzhaft und von axonalem Charakter. Die Ätiologie sind gehäuft systemische Vaskulitiden oder Autoimmunerkrankungen (z. B. Lupus erythematodes, rheumatoide Arthritis) (5).

Seltener sind Formen mit überwiegend motorischen Symp­tomen, ein zusätzlicher proximaler Befall oder ein Beginn der Erkrankung in den Armen, welche am häufigsten entzündlich oder paraneoplastisch bedingt sind (5).

Auch die Verlaufsform einer PNP kann auf spezifische Ursachen hinweisen, z. B. akute Verläufe wie beim Guillain-Barré-Syndrom (GBS) sind durch eine rasche Progression charakterisiert (innerhalb von Tagen bis maximal vier Wochen), während chronische Verläufe über Jahre hinweg schleichend verlaufen (Symptome bestehen länger als acht Wochen) (4, 5). Chronische PNP mit langsamer Progression haben häufig eine toxische oder metabolische Ätiologie, einschliesslich Diabetes, Vitamin-B12-Mangel, alkoholinduzierter Polyneuropathie und Chemotherapie-induzierter Neuropathie (vgl. Tab. 3). Akute oder subakute Verläufe mit rascher Progression (über Tage bis maximal acht Wochen) treten oft bei immunvermittelter Ursache wie Guillain-Barré-Syndrom, chronisch inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathien, Vaskulitiden oder tumorassoziiert auf (5, 6).

Diagnostik bei Polyneuropathien

Wenn anamnestische und klinische Befunde auf eine PNP hinweisen, so empfiehlt sich in jedem Fall ein sogenanntes Basislabor (vgl. Tab. 4). Diese Untersuchungen decken die häufigsten und potenziell kausal behandelbaren Ursachen einer PNP auf.

Patienten mit nachgewiesenem Diabetes mellitus, die eine langsam progrediente, längenabhängige sensible Polyneuropathie aufweisen, benötigen in einer ersten Phase nicht zwingend eine neurologische und elektrophysiologische Untersuchung (ENMG).

Es gibt jedoch bestimmte Warnsignale (Red Flags), die auf eine potenziell schwerwiegende, spezifisch behandelbare Ursache einer PNP hinweisen und eine weiterführende neurologische und neurophysiologische Diagnostik erforderlich machen.

Zu den Red Flags gehören:

1. Akuter bis subakuter Beginn mit rascher Progression
Ein plötzliches oder schnell fortschreitendes Auftreten der Symptome (innerhalb von Tagen bis wenigen Wochen) kann auf entzündliche, autoimmune oder paraneoplastische Ursachen hindeuten.

2. Überwiegende motorische Beteiligung
Wenn vorrangig Muskelschwäche im Vordergrund steht und sensorische Störungen weniger ausgeprägt sind, sollte an Erkrankungen wie das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) oder die chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) gedacht werden.

3. Frühe Beteiligung der Propriozeption
(frühe sensible Ataxie)
Ein Verlust des Lage- und Vibrationsempfindens in frühen Krankheitsstadien kann auf eine sensorische Neuronopathie (z. B. paraneoplastisch oder autoimmun) oder eine Vitamin-B12-Mangel-assoziierte Myeloneuropathie hinweisen.

4. Bulbäre Beteiligung
Symptome wie Dysarthrie (Sprechstörungen), Dysphagie (Schluckstörungen) oder Fazialislähmungen sollten differenzialdiagnostisch an eine immunvermittelte Neuropathie, eine Erkrankung der motorischen Endplatte (z. B. Myasthenia gravis) oder eine Erkrankung des Motoneurons (z. B. ALS) denken lassen.

5. Multifokale oder nicht längendominante Verteilung der Symptome
Eine asymmetrische oder nicht distalbetonte Neuropathie kann auf multifokale demyelinisierende Polyneuropathien wie die multifokale motorische Neuropathie (MMN) oder vaskulitische Neuropathien hindeuten.

Gemäss den deutschen neurologischen Leitlinien ist bei Red-Flag-Symptomen, aber auch bei ungewöhnlichen Verläufen oder therapierefraktären Fällen eine weiterführende Diagnostik (inklusive ENMG, ggf. Nervenultraschall bzw. MR-Neurographie, spezifische Labor- und Liquoranalyse, Nervenbiopsie) angezeigt (7). In diesen Fällen soll eine zeitnahe Überweisung an einen Neurologen erfolgen.

Wichtigste Polyneuropathien und mögliche Fallgruben

Diabetische Polyneuropathie

Fallbeispiel: Der 56-jährige Patient mit seit 5 Jahren bekanntem Diabetes mellitus stellt sich zunächst beim Hausarzt mit sensiblen Defiziten an den Füssen vor, woraufhin eine diabetische Polyneuropathie vermutet wird. Aufgrund der im Verlauf aber fortschreitenden Symptome mit proximaler Beinparese erfolgt die Zuweisung zum Neurologen. Die elektrophysiologische Untersuchung zeigt ausgeprägte, fokale demyelinisierende Schädigungen, was den Verdacht auf eine chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) bestätigt. Zudem wird unter Metformin ein erniedrigtes Holotranscobalamin festgestellt, was als Aggravationsfaktor der Polyneuropathie gilt. Eine IVIG-Therapie mit regelmässiger neurologischer Verlaufskontrolle wird eingeleitet, begleitet von einer Optimierung der Blutzuckereinstellung und Vitamin-B12-Substitution.

Die diabetische Polyneuropathie (DPN) stellt die häufigste Form der Polyneuropathie sowohl in Europa als auch weltweit dar. Die Prävalenz der DPN variiert je nach Diabetes-Typ erheblich: Die deutschen Leitlinien geben an, dass sie bei Patienten mit Typ-1-Diabetes zwischen 8 % und 54 % und mit Typ-2-Diabetes zwischen 13 % und 46 % liegt (8). Neben Diabetes mellitus können auch andere, potenziell behandelbare Ursachen wie Vitaminmangelzustände oder toxische Einflüsse eine Neuropathie begünstigen (9).
Die Pathophysiologie der DPN ist komplex und umfasst mehrere Mechanismen, darunter:
• mikrovaskuläre Dysfunktion, die zu einer gestörten Durchblutung der Nerven führt,
• Beeinträchtigungen des mitochondrialen und Lipidstoffwechsels, die die Energieversorgung der Nervenfasern negativ beeinflussen,
• Aktivierung alternativer Stoffwechselwege, die toxische Zwischenprodukte generieren,
• Bildung neurotoxischer, glykativer Endprodukte, die die Struktur und Funktion von Nervenproteinen schädigen (8).
Die häufigste klinische Manifestation der DPN ist die distale symmetrische Polyneuropathie. Diese beginnt meist mit sensiblen Symptomen wie Parästhesien oder Hypästhesien, nicht selten begleitet von einer SFN, die durch neuropathische Schmerzen, trockene Haut und eine gestörte Temperaturempfindung gekennzeichnet ist. Motorische Defizite treten in der Regel erst spät auf und sind bei speziellen Formen, wie der diabetischen Amyotrophie, vorherrschend. In seltenen Fällen kann es zu akuten schmerzhaften SFN kommen, insbesondere bei einer zu schnellen Normalisierung der Blutzuckerwerte (9).
Zusätzlich können Nebenwirkungen bestimmter Antidiabetika, wie beispielsweise ein Vitamin-B12-Mangel bei längerer Anwendung von Metformin, indirekt zur Entwicklung einer Polyneuropathie beitragen. Das Risiko für gewisse autoimmune Neuropathien wie CIDP ist bei Diabetikern leicht erhöht, was insbesondere bei atypischen Verläufen bzw. Red Flags berücksichtigt werden soll.
Die Therapie der DPN umfasst mehrere Komponenten:
• Optimierung der Blutzuckereinstellung, angepasst an das individuelle Komorbiditätsprofil,
• Behandlung zusätzlicher Risikofaktoren (z. B. Hypertonie oder Hyperlipidämie),
• Lebensstiländerungen, einschliesslich regelmässiger körperlicher Aktivität,
• symptomorientierte Therapie wie Schmerzmanagement, Behandlung vegetativer Dysfunktionen oder Massnahmen bei Diabetischem Fusssyndrom.

Besonders bei der diabetischen Amyotrophie wird die Rolle von Immuntherapien diskutiert, jedoch sind weitere Studien erforderlich, um diese Ergebnisse zu validieren (9).

Alkoholinduzierte Polyneuropathie

Die alkoholinduzierte Polyneuropathie tritt bei 22–66 % der chronischen Alkoholabhängigen auf. Wesentliche Risikofaktoren sind die Dauer und Menge des Alkoholkonsums, wobei ein Konsum von mehr als 100 g Alkohol pro Tag über Jahre als pathologisch angesehen wird (10). Frauen sind dabei häufiger betroffen als Männer.

Die Pathophysiologie der alkoholinduzierten Polyneuropathie ist multifaktoriell und umfasst:
• Mangelernährung, insbesondere einen Mangel an B-Vitaminen wie Thiamin,
• direkte neurotoxische Effekte von Alkohol und seinen Metaboliten, insbesondere Acetaldehyd,
• oxidativen Stress, der die neuronale Funktion beeinträchtigt.

Alkohol beeinflusst sowohl das zentrale als auch das periphere Nervensystem auf unterschiedliche Weise. Die alkoholbedingte Polyneuropathie ist eine langsam progrediente, schmerzhafte, überwiegend sensible Neuropathie, die vor allem durch eine SFN gekennzeichnet ist (10, 11). Vor der Zuordnung einer Polyneuropathie zur Alkoholabhängigkeit sollten andere mögliche Ursachen, insbesondere eine nutritive Thiaminmangel-Neuropathie (z. B. auch nach bariatrischer Chirurgie), ausgeschlossen werden. Letztere ist oft durch einen schnelleren Krankheitsverlauf charakterisiert. Die Therapie basiert primär auf der vollständigen Abstinenz von Alkohol sowie der Substitution von Vitaminen und Spurenelementen bei nachgewiesenen Mangelzuständen. Bei konsequenter Abstinenz kann eine klinische Verbesserung innerhalb von Monaten bis Jahren beobachtet werden (12).

Chemotherapie-induzierte und andere toxische Polyneuropathien

Chemotherapie-induzierte Neuropathien (CIN) sind die häufigsten neurologischen Nebenwirkungen der Tumortherapie. Besonders betroffen sind Patienten, die mit Platin-Derivaten, Vinca-Alkaloiden oder Taxanen behandelt werden. Die Inzidenz von CIN variiert je nach Medikament und Dosierung zwischen 10 % und 90 % (13).

CIN zeigt sich häufig durch Sensibilitätsstörung und neuropathische Schmerzen, die während der ersten zwei Monate der Therapie auftreten. Nach Absetzen der Therapie können sich die Symptome stabilisieren oder bessern. Eine Ausnahme bilden jedoch bestimmte Chemotherapeutika wie Platin und Vincristin, bei denen das sogenannte Coasting-Phänomen auftreten kann. Dieses Phänomen beschreibt eine Verzögerung des Auftretens oder eine Verschlechterung der peripheren Neuropathie nach Beendigung der Behandlung. Bei Proteasom-Inhibitoren wie Bortezomib tritt oft eine Small-Fiber-Neuropathie auf (14).

Seit 2011 werden Immuncheckpoint-Inhibitoren zunehmend zur Behandlung von malignen Erkrankungen eingesetzt. Diese Wirkstoffe verbessern die Überlebensraten bei vielen fortgeschrittenen Erkrankungen, sind jedoch mit immunvermittelten Nebenwirkungen assoziiert, die sowohl das zentrale als auch das periphere Nervensystem betreffen können. Schätzungsweise 75 % dieser Nebenwirkungen betreffen das periphere Nervensystem (15). Neben einer toxischen Neuropathie (etwa 29 % der berichteten neurologischen Nebenwirkungen) können immunvermittelte Nebenwirkungen wie subakute Polyradikuloneuropathie, Miller-Fisher-Syndrom, Myasthenia gravis, Myositis auftreten, was die Diagnose und das klinische Management erschwert (16).

Die Prävention umfasst eine enge klinische Überwachung der Neuropathiesymptome, um Dosis und Therapieintervall anzupassen. Die Therapie richtet sich nach der Schwere der Symptome und umfasst schmerzstillende Massnahmen (9).

Polyneuropathien bei Vitaminmangel und Vitaminüberdosierung

Bestimmte Vitaminmangelzustände bzw. Vitaminüberdosierungen können zur Entwicklung einer Polyneuropathie beitragen. Ein Defizit an Vitamin B12 (Cobalamin) und Vitamin B9 (Folat) kann typischerweise neurologische Schäden verursachen, insbesondere durch Beeinträchtigung der Myelinsynthese und der Funktion des zentralen und peripheren Nervensystems. Insbesondere bei zunehmendem Vegetarismus/Veganismus wird eine Bestimmung von Holotranscobalamin empfohlen, da der Vitamin-B12-Spiegel häufig an der unteren Normgrenze liegt und ein funktioneller, intrazellulärer Mangel übersehen werden kann. Ein Mangel an Vitamin B1 (Thiamin) ist bekannt für seine Rolle bei der Entstehung der Beriberi-assoziierten Neuropathie. Ebenso wird ein Defizit an Vitamin B3 (Niacin) mit Pellagra in Verbindung gebracht, das neurologische Symptome wie neuropathische Schmerzen hervorrufen kann. Ein Mangel an Vitamin B6 (Pyridoxin) ist ein Risikofaktor für Polyneuropathien, während eine Überdosierung dieses Vitamins selbst zu einer sensiblen Neuropathie führen kann (17). Vitamin-E-Mangel kann oxidative Schäden fördern und so zu einer Neuropathie beitragen (18). Zusätzlich kann eine Vitamin-D-Hypervitaminose toxische Effekte auf das Nervensystem haben, während ein schwerer Vitamin-D-Mangel in der Regel eher mit einer Myopathie assoziiert ist (18). Eine Korrektur des Vitaminspiegels ist essenziell, um dauerhafte neurologische Schäden zu vermeiden.

Immunvermittelte Polyneuropathien

Guillain-Barré-Syndrom (GBS)
Das GBS ist eine akute, entzündliche Polyradikuloneuropathie, die oft postinfektiös auftritt und wahrscheinlich durch «molecular mimicry» bedingt ist. Sie zeichnet sich durch rasch progrediente Paresen und autonome Dysfunktionen aus und erfordert eine rasche Hospitalisierung zur Überwachung und Behandlung mit IVIG oder Plasmapherese.

Chronisch-entzündliche demyelinisierende ­Polyradikuloneuropathie (CIDP)
Im Gegensatz zum Guillain-Barré-Syndrom (GBS), das typischerweise innerhalb von vier Wochen seinen Höhepunkt erreicht, zeigt die CIDP meist einen chronisch-progredienten und per Definition einen über mindestens 8 Wochen progredienten Verlauf. Es sind aber auch schubförmige Verläufe möglich. Die Prävalenz beträgt 2–3 Fälle pro 100 000 Menschen (19). In seltenen Fällen treten asymmetrische bzw. fokale Symptome oder rein motorische bzw. rein sensible Formen auf. Die neurologische Diagnostik umfasst neben der klinischen Untersuchung obligat auch eine ENMG-Untersuchung mit Nachweis einer Demyelinisierung. Laborchemisch findet sich ebenso wie beim GBS typischerweise ein erhöhtes Eiweiss im Liquor bei normaler oder nur gering erhöhter Zellzahl (sogenannte zyto-albuminäre Dissoziation). Eine immunologische Phänotypisierung, beispielsweise durch den Nachweis von Anti-Gangliosid-Antikörpern, kann die Diagnostik zusätzlich unterstützen. Bildgebungsverfahren wie der Nervenultraschall oder die Magnetresonanztomographie (MRT) gewinnen zunehmend an Bedeutung für die Dia­gnostik und Therapieüberwachung (3, 19). Die Therapie erfolgt mittels IVIG, Plasmapherese oder Kortikoiden.

Wichtige Differenzialdiagnosen der CIDP

• Paraproteinämische Polyneuropathien
Die monoklonale Gammopathie wird mittels Protein-Elektrophorese, Immunfixation sowie Immunfixation im 24-Stunden-Sammelurin (Bence-Jones-Protein) diagnostiziert.

Die häufigste Form ist die monoklonale Gammopathie unbestimmter Signifikanz (MGUS). Eine monoklonale Gammopathie kann jedoch auch im Rahmen systemischer Erkrankungen auftreten, darunter Amyloidose, Multiples Myelom, Lymphome, Morbus Waldenström, Kryoglobulinämie und POEMS-Syndrom (Polyneuropathie, Organomegalie, Endokrinopathie, monoklonale Proteinämie, Hautveränderungen).
Das Vorliegen einer MGUS und einer Polyneuropathie ist oftmals ohne direkten kausalen Zusammenhang. Epidemiologische Daten zeigen, dass 10 % der Patienten mit einer idiopathischen PNP eine MGUS aufweisen. Zudem wurde bei bis zu 30 % der Patienten mit einer CIDP eine MGUS festgestellt (6, 19).

Bei gewissen Patienten mit MGUS, insbesondere mit IgM-MGUS, können jedoch Anti-MAG-Antikörper (Myelin-assoziiertes Glykoprotein) nachgewiesen werden. Diese Antikörper sind mit einer distal-symmetrischen, überwiegend sensiblen Neuropathie assoziiert, die sich häufig durch Gangunsicherheit, Gangataxie und Tremor manifestiert. Elektrophysiologisch zeigen sich dabei ausgeprägte distale Latenzverlängerungen sowie sekundäre axonale Schäden. Diese Form der Neuropathie spricht häufig schlechter auf eine Behandlung mit Steroiden oder intravenösen Immunglobulinen (IVIG) an, was therapeutische Herausforderungen mit sich bringt.
• Hereditäre demyelinisierende Neuropathien

Zu den hereditären Polyneuropathien zählen unter anderem die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankungen (CMT) und die hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen (HNPP). Klinisch finden sich bei der CMT oft Fussdeformitäten und Muskelatrophien. Die CMT-Erkrankungen können klinisch und elektrophysiologisch einer CIDP ähnlich sein, wobei zur Differenzierung eine genetische Diagnostik erforderlich sein kann (6). Insbesondere die HNPP kann sich durch rezidivierende, typische Kompressionsneuropathien manifestieren, sodass in solchen Fällen eine weiterführende genetische Abklärung erfolgen sollte.

Restless-Legs-Syndrom (RLS) und Polyneuropathien

Das RLS ist eine neurologische Bewegungsstörung, deren Diagnose auf den Ekbom-Kriterien basiert. Diese umfassen folgende Merkmale: einen Bewegungsdrang der Beine, meist begleitet von unangenehmen Empfindungen, eine Verschlechterung der Symptome in Ruhe (z. B. Sitzen oder Liegen), eine vorübergehende Besserung durch Bewegung sowie eine zirkadiane Rhythmik mit einer Verstärkung der Beschwerden in den Abend- und Nachtstunden. Die Pathophysiologie umfasst Dysregulationen im Dopamin- und Eisenstoffwechsel, zudem liegt gehäuft eine PNP oder aber eine isolierte SFN vor. Laut einer systematischen Übersicht und Metaanalyse tritt RLS bei 5.2–53.7 % der Patienten mit PNP auf. Besonders häufig findet sich RLS bei diabetischer, urämischer oder amyloider PNP sowie bei der Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung.
Die Therapie orientiert sich an der Schwere der Symptomatik. Bei mildem RLS mit einem Ferritinwert ≤ 75 µg/l sollte eine orale Eisensubstitution mit 80–100 mg Fe2+ und Vitamin C erfolgen. Als weitere symptomatische Therapien kommen Dopaminagonisten wie Rotigotin, Pramipexol oder Ropinirol in minimal wirksamer Dosierung und, wenn immer möglich, in retardierter Form zum Einsatz. Gabapentinoide wie Gabapentin oder Pregabalin können ebenfalls verwendet werden. In therapieresistenten Fällen können Opioide wie retardiertes Oxycodon/Naloxon erwogen werden. Nicht medikamentöse Massnahmen wie Schlafhygiene, regelmässige körperliche Aktivität (z. B. Yoga), Infrarottherapie oder transkranielle Gleichstromstimulation (tsDCS) können unterstützend wirken. Cannabinoide, Magnesium und Benzodiazepine werden nicht empfohlen. Die individualisierte Therapie unter Berücksichtigung der Lebensqualität und potenzieller Nebenwirkungen bleibt essenziell (20, 21).

Marisa Blanquet 1, Andrea M. Humm 1, 2
1 Neuromuskuläres Zentrum, Universitätsklinik fur Neurologie, Inselspital Bern, Bern
2 Service de Neurologie, HFR Fribourg – Hôpital Cantonal / Kantonsspital, Fribourg

Dr. med. Marisa Blanquet

Neuromuskuläres Zentrum
Universitätsklinik für Neurologie
Inselspital
Freiburgstrasse 18
3010 Bern
marisa.blanquet@insel.ch

marisa.blanquet@insel.ch

Die Autorinnen haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. Malek N, Hutchinson J, Naz A, others. Evaluation of small fibre neuropathies. Pr Neurol. 2024;
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4. Preston DC, Shapiro BE. Electromyography and Neuromuscular Disorders: Clinical-Electrodiagnostic-Ultrasound Correlations. 4. Aufl. Elsevier; 2020.
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