Wir hoffen, Sie geniessen den schönen Sommer von seiner besten Seite. – Leider hat die 2025 bereits erfahrene grosse Hitze aber auch ihre Schattenseiten. Lesen Sie passend dazu den relevanten Artikel Hitzschlag / Coup de Chaleur, von Christophe Bianchi et al. Der Hitzschlag wird häufig unterdiagnostiziert, kann aber schwerwiegende Folgen bis hin zum Multiorganschaden haben. Aufgrund der Klimaerwärmung wird diese Entität in Zukunft bedauerlicherweise noch mehr an Bedeutung gewinnen.
Christian Häuptle, unser Mitherausgeber der PRAXIS, berichtet in seinem Artikel über 15 Jahre Stiftung zur Förderung der Weiterbildung in Hausarztmedizin WHM FMF. Die hausärztliche und pädiatrische Weiterbildung ist essentiell für die Zukunftssicherung der medizinischen Versorgung. Hier ist eine zukünftige Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Kantonen und der Programmkoordination zukunftsweisend. Die Stiftung hat mit der Praxisassistenz und den curricularen Rotationen entscheidend zur Sicherung der medizinischen Grundversorgung in der Schweiz beigetragen. Heute unterstützen alle Kantone diese Form der Weiterbildung, und die Stiftung ist zu einem zentralen Akteur für Lehrarztkurse, Programmkoordination und Qualitätssicherung geworden. Besonders erfreulich ist, dass viele neue Lehrärztinnen und Lehrärzte aus der Praxisassistenz hervorgehen – ein starkes Zeichen für die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit dieses Modells.
Aus den Fachbereichen finden Sie ein Update der aktuellen Praxisempfehlung zur Aknebehandlung von Severin Läuchli und der entsprechenden Arbeitsgruppe der Schweizerischen Gesellschaft für Dermatologie und Venerologie. Ein wichtiges urologisches Thema, die benigne Prostatahyperplasie (BPH), behandelt Malte Rieken in dieser Ausgabe. Bei Männern nimmt die Prävalenz der BPH mit dem Alter stark zu: Während sie vor dem 30. Lebensjahr kaum vorkommt, sind im sechsten Lebensjahrzehnt bereits 40–50 % und im neunten bis zu 90 % betroffen. In der Hausarztpraxis liegt der Fokus auf der Diagnose und medikamentösen Behandlung, wobei Symptome, Lebensqualität und Patientenwunsch im Zentrum der Therapieentscheidung stehen. Daneben finden sie in dieser Ausgabe spannende Praxis-Fälle. Im Journal Club zeigen Bigna Hut et al., dass der Einsatz verschiedener Entscheidungshilfen, sogenannte Decision Aids, die Qualität des Shared Decision Making bei Vorhofflimmern zur Schlaganfallprävention verbessert. Die Patientinnen und Patienten nutzten vor dem Termin – zu Hause oder im Wartezimmer – ein interaktives Online-Tool zur Visualisierung des individuellen Schlaganfall- und Blutungsrisikos.
Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre!
Prof. Dr. med. Dagmar Keller Lang
Chefärztin, Leiterin Notfall
Klinik Gut
7500 St. Moritz
Verbessert der Einsatz von Entscheidungshilfen (Decision Aids) die gemeinsame Entscheidungsfindung (Shared Decision Making) in der Schlaganfallprävention bei nicht valvulärem Vorhofflimmern?
Hintergrund
Shared Decision Making ist ein wesentlicher Bestandteil der modernen Medizin. Besonders bei der Antikoagulationstherapie zur Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern stehen die Betroffenen und ihre betreuenden Ärztinnen und Ärzte vor komplexen Entscheidungen. Entscheidungshilfen können dabei unterstützen, diese Entscheidungen evidenzbasiert und zugleich patientenzentriert zu treffen. Ziel der Studie war es, die Effektivität verschiedener Entscheidungshilfen im klinischen Alltag zu untersuchen.
Studiendesign und Methodik
Randomisierte, kontrollierte Studie an sechs akademischen Zentren in den USA.
Teilnehmende
Teilnahmeberechtigt waren ≥ 18-jährige Patientinnen und Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern und erhöhtem Schlaganfallrisiko (CHA₂DS₂-VASc-Score ≥ 1 für Männer, ≥ 2 für Frauen), die eine ärztliche Konsultation zur Schlaganfallprävention geplant hatten. Es wurden zwei Patientengruppen unterschieden: solche, die eine Antikoagulationstherapie neu beginnen sollten (Initiation-Kohorte), und solche, die bereits unter Therapie standen, aber eine Neubewertung ihrer Behandlung benötigten (Monitoring-Kohorte).
Interventionen
Untersucht wurden zwei Entscheidungshilfen: Die Patient Decision Aid (PDA) wurde als Vorbereitung vor der ärztlichen Konsultation genutzt und bot Patientinnen und Patienten Informationen zu Vorhofflimmern, Schlaganfallrisiko (CHA₂DS₂-VASc) und Blutungsrisiko (HAS-BLED). Sie erhielt auch Vergleiche zwischen verschiedenen Antikoagulationsoptionen. Die Encounter Decision Aid (EDA) wurde während der Konsultation verwendet und unterstützte die gemeinsame Entscheidungsfindung durch strukturierte Nutzen-Risiko-Abwägungen.
Die Randomisierung erfolgte stratifiziert nach CHA₂DS₂-VASc-Score und nach der jeweiligen Patientengruppe (Initiation oder Monitoring). Es gab vier Studienarme:
• Patientinnen und Patienten wurden entweder der PDA oder der Kontrollgruppe mit Standardberatung zugeteilt.
• Ärztinnen und Ärzte wurden entweder der EDA oder der Kontrollgruppe mit Standardberatung zugeteilt.
Daraus resultierten vier Studienarme: Patientinnen und Patienten nur mit PDA, nur mit EDA, sowohl mit EDA als auch mit PDA sowie Patientinnen und Patienten nur mit einer Standardberatung.
Outcome
Primärer Outcome:
• Qualität des Shared Decision Making (gemessen mit der OPTION12-Skala, einem beobachterbasierten Score zwischen 0 und 100, wobei höhere Werte eine höhere Qualität des Shared Decision Making darstellen)
• Wissen der Betroffenen über Vorhofflimmern (gemessen mit einem Richtig/Falsch-Wissenstest)
• Entscheidungskonflikte (gemessen mit der Decisional Conflict Scale mit einem Score zwischen 0 und 100, wobei niedrigere Werte geringere Entscheidungskonflikte darstellen)
Weitere Outcomes:
• Neben anderen sekundären Outcomes wurden u. a. die Konsultationsdauer und die Therapiewahl bestimmt.
Resultate
• 1117 Patientinnen und Patienten wurden in die Studie eingeschlossen. Das mittlere Alter betrug 69 Jahre. Die Mehrheit identifizierte sich als männlich, weiss, Non-Hispanic und hatte mindestens einen College-Abschluss.
• Gruppe EDA und PDA: Die Qualität des Shared Decision Making war signifikant verbessert (+12.1 Punkte von 31.6 auf 43.7 auf der OPTION12-Skala; p < 0.001). Das Wissen über Vorhofflimmern nahm deutlich zu (Odds Ratio 1.68, Verhältnis der richtigen Antworten im Wissenstest; p < 0.001), und der Entscheidungskonflikt reduzierte sich signifikant (–6.3 Punkte von 25.8 auf 19.5 auf der Decisional Conflict-Skala; p < 0.001).
• Gruppe PDA allein: Die Qualität des Shared Decision Making verbesserte sich moderat (+3.8 Punkte auf der OPTION12-Skala; p < 0.001). Das Wissen über Vorhofflimmern stieg signifikant an, jedoch wurde keine signifikante Reduktion des Entscheidungskonflikts beobachtet.
• Gruppe EDA allein: Die Qualität des Shared Decision Making war signifikant verbessert (+12.9 Punkte auf der OPTION12-Skala; p < 0.001). Zudem nahm das Wissen über Vorhofflimmern signifikant zu, und der Entscheidungskonflikt reduzierte sich ebenfalls signifikant.
• Therapiewahl und Beratungsdauer: keine signifikanten Unterschiede
Quelle Ozanne EM, Barnes GD, Brito JP et al. Effectiveness of shared decision making strategies for stroke prevention among patients with atrial fibrillation: cluster randomized controlled trial. BMJ. 2025;388:e079976.
Med. pract. Bigna Hut
Institut für Hausarztmedizin
Universitätsspital Zürich
Pestalozzistrasse 24, 8091 Zürich
bigna.hut@usz.ch
Die Autorschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
Diese Studie zeigt eindrücklich, dass der Einsatz von Entscheidungshilfen – insbesondere in Kombination von PDA und EDA – die Qualität des Shared Decision Making in der Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern verbessert. Besonders relevant ist die Reduktion des Entscheidungskonflikts, was langfristig zu einer besseren Adhärenz führen könnte. Für eine Implementierung in der Praxis spricht auch, dass kein Unterschied in der Beratungsdauer festgestellt wurde.
Dieser Artikel fasst die 2024 Empfehlungen der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft hinsichtlich Diagnose und Therapie von Bluthochdruck zusammen. Es werden besonders alltagsrelevante Neuerungen praxisnah diskutiert.
This mini-review summarizes the new guideline recommendations of the European Society of Cardiology for the management of elevated blood pressure and hypertension – with particular focus on aspects relevant to daily clinical practice. Keywords: Arterial hypertension, guidelines
Das Paradoxon Hypertonie
Bluthochdruck ist der bedeutendste singuläre Risikofaktor für die Gesamtsterblichkeit weltweit, verantwortlich für etwa 13 % aller Todesfälle (1, 2). Uns stehen über 50 gebräuchliche antihypertensive Substanzen zur Verfügung, welche allesamt generisch sind. Die Tagestherapiekosten belaufen sich für den durchschnittlichen Hypertoniker auf weit unter 1 CHF/Tag. Dennoch erreichen in der Schweiz nur 60.9 % von einem Idealkollektiv, welches diagnostiziert, behandelt und wahrscheinlich therapieadhärent ist, und nur 39.4 % von allen Patienten mit Hypertonie das liberalste aller Blutdruckziele (< 140/90 mmHg) (3). Der niedrige Leidensdruck, komplexe Therapieschemata sowie die häufigen Nebenwirkungen der antihypertensiven Therapie und die damit verbundene niedrige Therapieadhärenz, Schwierigkeiten einer validen Blutdruckmessung und auch die Trägheit der Ärzte, eine notwendige Therapieintensivierung vorzunehmen («physicians` inertia»), sind die grössten Hürden, eine adäquate Blutdruckkontrolle zu erreichen (4, 5).
Die neuen ESC-Guidelines – das Wichtigste für die tägliche Praxis eines Kardiologen
Wie ist Bluthochdruck definiert?
Bei der Benennung der diagnostischen Blutdruckkategorien wurde einerseits zur Kenntnis genommen, dass der Begriff «Normotonie» schwierig zu definieren ist, da das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse bereits ab 90 mmHg systolisch zu steigen beginnt. Bei indigenen Bevölkerungen, die unserem Lebensstil nicht ausgesetzt sind, können auch in späteren Lebensdekaden systolische Blutdruckwerte von 100 mmHg dokumentiert werden (6). Unter anderem hat auch durch den Einbezug von Patienten-Repräsentanten eine Vereinfachung der Klassifizierung stattgefunden, wie in Abb. 1 gezeigt (7).
Screening und Diagnose
Es wird empfohlen, den Blutdruck mit einem validierten und kalibrierten Gerät zu messen, die korrekte Messtechnik durchzusetzen und bei jedem Patienten einen einheitlichen Ansatz für die Blutdruckmessung anzuwenden (Klasse I) (7). Für diagnostische Zwecke wird die ambulante Blutdruckmessung (Heim- oder 24-h-Blutdruckmessung) empfohlen, vor allem, weil damit sowohl die Weisskittelhypertonie als auch die maskierte Hypertonie erkannt werden können. Opportunistisches Screening wird, auch bei Personen mit nicht erhöhtem Blutdruck, alle 3 Jahre empfohlen, bei allen anderen Personen/Patienten sind mindestens jährliche BD-Messungen empfehlenswert.
Nicht pharmakologische Therapie
Lifestyle-Massnahmen wurden bei allen Patienten, inklusive Patienten mit nicht erhöhten Blutdruck, empfohlen. Dazu gehören: eine gesunde Ernährung (z. B. mediterrane Diät), die Kaliumzufuhr zu erhöhen, ein regelmässiges aerobes Training (150 min/Woche), ein stabiler und normaler «body mass index» (BMI 20–25 kg/m2), die Salzaufnahme (< 2 g/Tag) und den Alkoholkonsum (< 100 g/Woche) zu reduzieren und das Rauchen zu stoppen.
Ab wann sollte eine Pharmakotherapie initiiert werden?
Während eine sofortige Einleitung einer Pharmakotherapie bei einem bestätigten Praxis-Blutdruck von ≥ 140/90 mmHg (oder den korrespondierenden Heim- oder 24-h-Blutdruckwerten, Abb. 1) weiterhin indiziert ist, geben die aktuellen Leitlinien viel detaillierter Aufschluss darüber, welche Patientengruppen mit erhöhtem Blutdruck (120–139 mmHg systolisch) eine medikamentöse Therapie erhalten sollten. Da etwa die Hälfte aller Patienten mit manifester Hypertonie nicht von ihrer Erkrankung weiss und der Grossteil der Patienten mit manifester Hypertonie in Europa, inklusive Schweiz, weit entfernt von einer Blutdruckzielerreichung ist, stellt sich die Frage, welche Berufsgruppe sich mit dieser Nischenkategorie in dem geforderten Detail auseinandersetzen soll (8–10). Konkret empfehlen die Leitlinien bei Patienten mit erhöhtem Blutdruck
1) festzustellen, ob eine etablierte kardiovaskuläre Erkrankung, mässige bis schwere Niereninsuffizienz, ein Hypertonie-assoziierter Endorganschaden oder eine familiäre Hypercholesterinämie vorliegen.
2) Falls nicht, sollte der SCORE2 oder der SCORE2-OP («older persons») ausgerechnet werden, zur Abschätzung des 10-Jahres-Risiko für tödliche und nicht tödliche Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
3) Liegt dieser bei ≥10 %, sollte nach 3-monatiger Lebensstilintervention eine Pharmakotherapie begonnen werden, wenn weiterhin ein bestätigter Blutdruck von ≥ 130/80 mmHg vorliegt.
4) Liegt dieser zwischen 5 und 10 %, sollten entweder weitere «risk modifiers» oder «risk tools» evaluiert werden (Auflistung siehe Legende Abb. 1).
Diese ausgesprochen detaillierte Aufarbeitung von Patienten hat dann eine therapeutische Konsequenz, wenn ein systolischer Blutdruck von 130–139 mmHg oder ein diastolischer Blutdruck von 80–89 mmHg mittels mehrmaliger Praxis-Messung bestätigt werden kann bzw. idealerweise eine Weisskittelhypertonie mittels Heim- oder 24-h-Blutdruckmessung ausgeschlossen wurden. Da die Messschwankungen diesen Korridor oft übersteigen, die Kapazitäten der Allgemeinmedizin in Europa/der Schweiz hierfür limitiert (bzw. inexistent) sind und solche Patienten selten den Weg zu Kardiologen oder Nephrologen mit hypertensiologischem Einschlag finden, erscheint der praktische Impact dieses neuen Algorithmus gering auszufallen.
Welches Blutdruckziel sollte im Fall einer Therapieindikation angestrebt werden?
Die vorherige Auflage der ESC-Guidelines aus dem Jahr 2018 hat enge Blutdruckzielkorridore für verschiedene Komorbiditäten (Diabetes, Niereninsuffizienz, koronare Herzerkrankung, stattgehabter Schlaganfall oder TIA) vorgegeben, stratifiziert nach Alterskategorien. Diese komplexen Grenzwerte in einem Band von 10-mmHg-Breite waren aufgrund der oft darüber hinausgehenden intraindividuellen Messschwankungen und realistischen (individuellen sowie flächendeckenden) Erreichbarkeit mehr akademischer als praktischer Natur (11).
Basierend auf metaanalytischer Evidenz konnte bis zu einem systolischen Blutdruck von 120 mmHg kein Blutdruckziel identifiziert werden, welches nicht mit einer Risikoreduktion für kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert wäre (12–14). Eine Kontroverse besteht, bei welchem therapienaivem Ausgangsblutdruck (d. h. absoluten kardiovaskulären Risiko) eine Blutdrucksenkung tatsächlich zu einer relevanten Risikoreduktion beiträgt.
Diesen Umständen geschuldet und auch aufgrund des Einflusses von Patienten-Repräsentanten liegen nun Empfehlungen vor, die in der Praxis umsetzbarer erscheinen.
Es wird das ALARA-Prinzip («as low as reasonably achievable»), welches wir aus dem Strahlenschutz kennen, genannt. Die Leitlinien nennen nun eine Klasse-I-Indikation für ein systolisches Blutdruckziel von 120–129 mmHg, sofern dieses toleriert wird. Eine Blutdrucksenkung < 140 mmHg systolisch sollte jedenfalls angestrebt werden, und es werden klinische Limitationen aufgeführt, welche ein darüber hinaus weniger aggressiveres Vorgehen befürworten (Abb. 1). Erfreulicherweise ist durch das Wegfallen der weniger stark evidenzbasierten diastolischen Blutdruckgrenzwerte die Empfehlung noch konziser (7).
Pharmakotherapie
Für die meisten Patienten mit manifester Hypertonie betonen die Leitlinien einmal mehr den Einsatz von Kombinationspräparaten (initial ACE-Hemmer/Angiotensinrezeptorblocker + Kalziumkanalblocker oder Diuretikum, Klasse I), mit Intensivierung auf eine Tripel-Kombination nach 1–3 Monaten (Klasse I), und Betablocker bei relevanter koexistenter Indikation (Angina, nach Myokardinfarkt, systolische Herzinsuffizienz, Frequenzkontrolle).
Betablocker als antihypertensive Erstlinientherapie sind aufgrund der geringen bzw. fehlenden Risikoreduktion für Schlaganfälle nicht empfohlen (15). Gemäss ganz aktueller Daten verbessert eine Betablockertherapie auch unmittelbar nach Myokardinfarkt mit normaler systolischer LV-Funktion sowie in der chronischen Phase nach Myokardinfarkt das Outcome nicht (16, 17).
Es kann nicht oft genug betont werden, dass aus hausärztlicher Sicht die Verschreibung von Kombinationspräparaten die effizienteste Massnahme ist, zur Verbesserung der individuellen und populationsbasierten Blutdruckkontrolle beizutragen. Durch die Reduktion von Polypharmazie und nicht notwendigen mehrfach täglichen Gaben wird die Therapieadhärenz wesentlich verbessert (18).
An dieser Stelle muss auch mit der Misskonzeption aufgeräumt werden, dass eine Dosissteigerung von Erstliniensubstanzen zu einer weiteren Senkung des Blutdrucks führt. Die Dosis-Wirkungs-Beziehung von Erstlinien-Antihypertensiva ist marginal. Eine Vervierfachung der Dosis führt zu einer systolischen Blutdrucksenkung von ca. 2 mmHg (19–21). Deswegen sind Konsultationen zur Blutdruckeinstellung, bei denen mit Dosierungen und Morgen-Abend-Gaben gespielt wird (auch basierend auf den Halbwertszeiten der Präparate, z. B. Amlodipin mit ca. 40 h Halbwertszeit), wirkungslos, folglich sowohl für Patient als auch Arzt letztendlich frustrierend. Wenig überraschend hat eine am ESC-Kongress präsentierte Metaanalyse von 5 Studien, welche Patienten zu einer Morgen- oder Abendgabe aller Antihypertensiva randomisiert haben, keinen Unterschied in kardiovaskulären Outcomes oder hypotensiven Episoden zeigen können (22).
Selbstverständlich ist die Dosismaximierung in der Indikation Herzinsuffizienz ein Eckpfeiler des Therapiekonzeptes.
Therapieresistente Hypertonie
Weiterhin ist diese Entität mit einem Blutdruck ≥ 140/90 mmHg unter Behandlung mit 3 verschiedenen antihypertensiven Substanzklassen inklusive eines Diuretikums definiert. Die häufigste Ursache ist die Pseudoresistenz in bis zu zwei Drittel der Fälle aufgrund von Non-Adhärenz (23). Erfreulicherweise nennen die Leitlinien nebst Urinsampling die beobachtete Medikamenteneinnahme als Massnahme zur Überprüfung der Adhärenz. Aus eigener Erfahrung sollte ein Venenzugang für eine etwaige Katecholamingabe und intensivmedizinische Betreuung zur Verfügung stehen, besonders wenn 5–6 Antihypertensiva auf einmal beobachtet eingenommen werden.
Zu den weiteren häufigsten Ursachen gehört der Hyperaldosteronismus, speziell bei adipösen Patienten. Deshalb sollte als 4. Substanzklasse (nach Dreifachkombination mit ACE-Hemmer/Angiotensinrezeptorblocker, Kalzium-kanalantagonist und Diuretikum) Spironolacton oder alternativ Eplerenon hinzugegeben werden (Klasse-IIa-Indikation). Nebst Betablocker und Reservemedikamenten erhielt die renale Denervation nach einem «shared decision making» eine Klasse-IIb-Indikation (7).
Fazit
Etwa die Hälfte aller Personen mit manifester arterieller Hypertonie ist nicht diagnostiziert (4). Zudem wurde weltweit gezeigt, dass selbst Patienten, welche in observierenden oder randomisierten Studien zur Blutdruckkontrolle teilgenommen haben, nach Studienende nur in 40–50 % der Fälle das liberalste aller Blutdruckziele erreichen (3, 9, 10, 24–26). Die aktuellen ESC-Leitlinien erleichtern zwar die Zielerreichung per se nicht, aber die Vereinfachung mancher diagnostischer und therapeutischer Algorithmen ist sicherlich hilfreich bei der Problembewältigung.
Copyright
Aerzteverlag medinfo AG
Zweitabdruck aus PRAXIS 02/2025
PD Dr. med. univ. Miklos Rohla
Inselspital, Universitätsspital Bern
Universitätsklinik für Kardiologie
Herz Gefäss Zentrum
Freiburgstrasse 20
3010 Bern
miklos.rohla@insel.ch
PD Dr. med. Emrush Rexhaj
Inselspital, Universitätsspital Bern
Universitätsklinik für Kardiologie
Herz Gefäss Zentrum
Freiburgstrasse 20
3010 Bern
Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
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Das Prostatakarzinom ist die häufigste Tumorerkrankung des Mannes in der Schweiz. Ziel der Früherkennung ist die selektive Detektion behandlungsbedürftiger Prostatakarzinome, um kurative Therapien zu ermöglichen und gleichzeitig Überdiagnosen zu vermeiden. Der PSA-Test als Screening-Tool ist weit verbreitet, weist jedoch Limitationen auf. Die multiparametrische Magnetresonanztomographie (mpMRI) hat die diagnostische Genauigkeit verbessert, ist jedoch kosten- und ressourcenintensiv. Als Teil eines strukturierten Diagnostikpfads sollen Biomarker, wie der Stockholm3-Test, eine sinnvolle Ergänzung zur Risikostratifizierung in der Früherkennung bieten. Basierend auf Plasmaproteinen, genetischen Markern und klinischen Parametern errechnet Stockholm3 einen individuellen Risiko-Score für das Vorliegen eines behandlungsbedürftigen Prostatakarzinoms. Hierdurch kann eine Reduktion unnötiger Biopsien und mpMRI-Untersuchungen erreicht werden, bei vergleichbarer Detektion signifikanter Karzinome.
Prostate cancer remains the most common malignancy among men in Switzerland. The focus of early detection lies on selectively identifying clinically significant prostate cancer (csPCa), to enable curative treatments while avoiding overdiagnosis. Although prostate-specific antigen is widely used for screening, it has well-known limitations. Multiparametric magnetic resonance imaging (mpMRI) has improved diagnostic accuracy but is costly and user dependent. Biomarkers, such as the Stockholm3 test, could be a valuable addition to a structured diagnostic pathway for early detection of PCa. By combining plasma protein levels, genetic markers, and clinical variables, Stockholm3 reliably estimates the risk for csPCa. This enables a significant reduction in unnecessary biopsies and mpMRIs, while maintaining a comparable detection rate of significant cancers. Keywords: Prostatakrebs; Früherkennung; Stockholm3; PSA; Biomarker
Einleitung
Das Prostatakarzinom (PCa) ist mit 7800 Neuerkrankungen pro Jahr (Zeitraum 2017–2021) (Abb. 1), die häufigste Tumorerkrankung bei Männern in der Schweiz. Trotz signifikanter Fortschritte in der Therapie und einer daraus resultierenden kontinuierlichen Abnahme der Mortalität über die letzten drei Dekaden bleibt die Erkrankung nach dem Lungenkarzinom die zweithäufigste tumorbedingte Todesursache bei Männern (1). Aktuell existieren in der Schweiz organisierte Programme zur Früherkennung von Brust-, Darm- und Gebärmutterhalskrebs. Beim Prostatakarzinom wurden vergleichbare Initiativen bisher nicht flächendeckend umgesetzt, trotz Bestrebungen von Fachexperten (2).
Ziel in der Früherkennung des PCa ist die rechtzeitige Identifikation behandlungsbedürftiger Prostatakarzinome (Gleason Score ≥ 7a bzw. ISUP Grade Group ≥ 2), bei denen kurative Therapieoptionen bestehen. Gleichzeitig gilt es, Überdiagnosen und unnötige Interventionen bei Männern ohne behandlungsbedürftige Tumoren – insbesondere Gleason Score 6 bzw. ISUP Grade Group 1 – zu vermeiden. Diese Tumore erfordern in der Regel keine Therapie, deren Detektion ist jedoch mit erheblichen psychologischen, sozialen und gesundheitsökonomischen Belastungen verbunden (3).
Bereits in den frühen 1990ern etablierte sich das Prostata-spezifische Antigen (PSA) als Screening-Tool für das PCa, mit dem Ziel, die Mortalität der Erkrankung zu senken (4). Die Verwendung zeigte jedoch im populationsbasierten Setting aufgrund der geringen Spezifität Limitationen. Es kam unverhältnismässig häufig zu falsch-positiven Ergebnissen, unauffälligen Prostatabiopsien und zum Nachweis nicht behandlungsbedürftiger Karzinome. All dies hat berechtigte Zweifel am Nutzen des PSA-Screenings geweckt.
Ein Paradigmenwechsel erfolgte Anfang der 2010er Jahre mit dem Aufkommen der multiparametrischen Magnetresonanztomographie (mpMRI) der Prostata. Diese führte zu einer merkbaren Reduktion von unnötigen Biopsien sowie Diagnosen von insignifikanten PCa – und damit zu einem verbesserten Nutzen-Risiko-Verhältnis der Früherkennung.
Obwohl die mpMRT strahlenfrei ist, bleibt sie ressourcenintensiv, geräte- und untersucherabhängig. Zudem ist die psychosoziale Belastung für Männer im Zeitraum zwischen PSA-Bestimmung, MRI und Befundmitteilung nicht zu unterschätzen. Da viele Männer kein relevantes Karzinom aufweisen, scheint eine prä-MRI-Triage sinnvoll für eine zielgerichtete und effiziente Früherkennungsstrategie. Mit dem seit 2023 in der Schweiz verfügbaren Stockholm3-Test (STHLM3) steht nun ein vielversprechender, validierter Test zur Verfügung, der das Potential hat, die Anzahl unnötiger MRIs im Vergleich zur PSA-basierten Diagnostik zu reduzieren.
PSA als Grundpfeiler der PCa-Diagnostik
Der klinische Einsatz von PSA stellte einen entscheidenden Durchbruch bei der Detektion des PCa dar. Wenngleich kostengünstig und gut verfügbar, weist der Parameter erhebliche diagnostische Schwächen auf: Neben dem Prostatakarzinom können Prostatahyperplasie, Prostatitis, Harnwegsinfektionen oder mechanische Reize zu einer Elevation des Spiegels führen. Umgekehrt kann ein niedriger PSA-Wert ein aggressives Karzinom nicht sicher ausschliessen. Verschiedene PSA-Derivate wie freies PSA (fPSA), der fPSA/PSA-Quotient oder der sogenannte Prostate Health Index (PHI) wurden über die Jahre entwickelt, um die diagnostische Aussagekraft zu verbessern – mit teils moderatem Erfolg.
Zwei nennenswerte Studien, die PLCO-Studie (Prostate, Lung, Colorectal and Ovarian Cancer Screening Trial) (5) und die ERSPC-Studie (European Randomized Study of Screening for Prostate Cancer) (6), untersuchten die Anwendung von PSA im Screening-Setting genauer und kamen 2009 zu unterschiedlichen Ergebnissen:
Die US-amerikanische PLCO-Studie mit 76 693 Männern zeigte zwar unter Screeningbedingungen mittels PSA-Test und digital-rektaler Untersuchung eine erhöhte Inzidenz von Prostatakarzinomen (Relatives Risiko [RR] 1.22; 95 %-Konfidenzintervall [KI] 1.16–1.29), jedoch keine Veränderung der Mortalität (RR 1.13; 95 %-KI 0.75–1.70) (5). Aufgrund einer ausgeprägten Kontamination der Kontrollgruppe – ca. 90 % der Männer erhielten mindestens einmal einen PSA-Test – wird die Studie heute als methodisch limitiert und nicht mehr entscheidend für die Bewertung des PSA-Screenings angesehen (7). Nichtsdestotrotz prägten die Resultate der PLCO-Studie massgeblich die zu dieser Zeit formulierten Empfehlungen zur Prostatakrebsfrüherkennung.
Im Rahmen der ERSPC-Studie mit über 180 000 Teilnehmern in acht europäischen Ländern wurde Männern der Screening-Kohorte eine PSA-Bestimmung ca. alle 4 Jahre angeboten. Die Kontrollgruppe erhielt kein entsprechendes Aufgebot. Durch die Massnahme kam es zu einem signifikanten Rückgang der Prostatakarzinom-spezifischen Mortalität um ca. 20 % in der Screening-Gruppe (RR 0.80; 95 %-KI 0.65–0.98) nach 9 Jahren (6). Bei längerer Nachbeobachtung vergrösserte sich dieser Effekt kontinuierlich und auch die Anzahl der Männer mit metastasierter Erkrankung ging zurück (8).
Die Publikation der Studienergebnisse führte zu einer anhaltenden Debatte über den Nutzen eines PSA-Screenings. Die U. S. Preventive Services Task Force sprach 2012 zunächst eine Ablehnung diesbezüglich aus (9), revidierte diese jedoch 2018: Für Männer zwischen 55 und 69 Jahren empfiehlt das Gremium nun ein Screening auf Basis einer individuelle Entscheidung nach ärztlicher Aufklärung, betont jedoch die Bedeutung informierter Präferenzen. Für Männer ab 70 Jahren wird das Screening weiterhin nicht empfohlen, da potenzielle Schäden aufgrund der begrenzten Lebenserwartung überwiegen (10).
In der Schweiz fielen die Empfehlungen zur Prostatakarzinom-Früherkennung uneinheitlich aus: Während das inzwischen aufgelöste Swiss Medical Board 2011 grundsätzlich vom PSA-Screening abriet, spricht sich die Schweizerische Gesellschaft für Urologie (SGU) in ihrem bis heute gültigen Positionspapier von 2012 für eine PSA-Bestimmung als Option zur Frühdetektion bei Männern zwischen 50 und 70 Jahren nach individueller Aufklärung aus. Diese differenzierte Haltung findet sich auch in den aktuellen Leitlinien internationaler Fachgesellschaften wieder (11, 12). Neu hat die EU im Rahmen des «Europe’s Beating Cancer Plan» die strukturierte Prostatakrebsfrüherkennung in den Katalog potenzieller EU-weiter Screeningprogramme aufgenommen. In diesem Zusammenhang hat die SGU an ihrer Generalversammlung 2023 beschlossen, sich aktiv an der Entwicklung eines evidenzbasierten, qualitätsgesicherten Früherkennungsprogramms zu beteiligen.
Der Stellenwert der MRI
Die mpMRI der Prostata erlaubt eine hochsensitive und -spezifische Detektion karzinomverdächtiger Läsionen, was eine gezielte Biopsie des Tumors möglich macht. Mittlerweile ist die Datenlage, auch im Setting eines populationsbasierten Screenings, äusserst überzeugend: Nordström et al. zeigten, dass eine MRI-basierte Diagnosestrategie, im Vergleich zu einer PSA-basierten Standardbiopsie, zu einer höheren Detektionsrate behandlungsbedürftiger Tumoren führt, bei gleichzeitiger Reduktion von unnötigen Biopsien und Überdiagnosen (13). Entsprechend empfehlen internationale Leitlinien die Durchführung einer mpMRI vor der Erstbiopsie bei erhöhtem PSA-Wert (11, 14). Limitierend ist allerdings, dass die Untersuchung ressourcenintensiv, kostenaufwendig und in ihrer diagnostischen Aussage von der Erfahrung des Radiologen abhängig ist, was den Einsatz in einem breiten Früherkennungsprogramm erschwert.
Konzept des Stockholm3-Tests
Der Stockholm3-Test wurde 2015 am Karolinska Institutet in Stockholm entwickelt und zielt darauf ab, behandlungsbedürftige Prostatakarzinome mit höherer diagnostischer Präzision zu identifizieren als PSA allein. Der Test basiert auf einem komplexen mathematischen Algorithmus, der fünf Serumproteine, über 60 genetische Marker (Single Nucleotide Polymorphisms, SNPs) sowie klinische Informationen (Alter, Familienanamnese, frühere Biopsien und medikamentöse Therapie mit einem 5-Alpha-Reduktasehemmer) in einem Risiko-Score zusammenführt (Abb. 2). Das Ergebnis ist eine individuelle Risikoabschätzung für das Vorliegen eines behandlungsbedürftigen Prostatakarzinoms, wobei der ursprünglich empfohlene Cut-off für weiterführende Diagnostik bei einem Wert von ≥ 11 % liegt.
Die Wahl der Proteine und genetischen Marker für den Stockholm3-Test erfolgte auf der Grundlage umfangreicher Kohortenanalysen und genomweiter Assoziationsstudien. Für die Proteinkomponente wurden, neben Gesamt- und freiem PSA, humanes Kallikrein 2 (hK2), MIC-1 (Macrophage Inhibitory Cytokine 1) und MSMB (Beta-Microseminoprotein) als Prädiktoren ausgewählt. Die genetische Komponente des Tests besteht aus 60 SNPs, die in grossen europäischen Kohorten signifikant mit dem Prostatakarzinomrisiko assoziiert werden konnten (15).
Validierung und Voraussagekraft des Stockholm3-Tests
Bereits in der ursprünglichen STHLM3-Studie (2015) mit mehr als 58 000 Teilnehmern aus Schweden, welche damals noch ohne Einsatz der MRI durchgeführt wurde, konnte eine Überlegenheit des Tests gegenüber PSA demonstriert werden. Festzuhalten gilt, dass analog den Prioritäten des schwedischen Gesundheitssystems nicht eine höhere Detektionsrate angestrebt wurde, sondern eine Verbesserung der Effizienz durch Reduktion unnötiger Biopsien. Gemäss dieser Intention wurde der Stockholm3-Test so kalibriert, dass er eine gleich hohe Sensitivität wie der PSA-Wert aufweist. Tatsächlich führte der Test bei gleicher Detektionsrate für behandlungsbedürftige Karzinome zu einer Reduktion der Anzahl der durchgeführten Biopsien um 44 %. Bemerkenswerterweise wurde eine relevante Anzahl signifikanter Karzinome im PSA-Bereich von 1.5–3.0 μg/l gefunden (15).
Im Jahr 2021 wurde die Folgestudie STHLM3-MRI mit 12 750 Männern durchgeführt, wobei, entsprechend der zwischenzeitlich etablierten klinischen Praxis, der Stockholm3-Test mit einer MRI kombiniert wurde. Je nach gewähltem Grenzwert (11 % oder 15 %) konnte durch den Einsatz des Tests bei Männern mit einem PSA-Wert von > 3.0 μg/l die Detektionsrate von klinisch signifikanten Karzinomen um 18 % erhöht oder die Anzahl der notwendigen MRIs um 36 % gesenkt werden (13).
Aufgrund populationsspezifischer genetischer Einflüsse wurde die Übertragbarkeit der Stockholm3-Testresultate in unabhängigen Kohorten (keine Screening-Kohorten) ausserhalb Skandinaviens validiert. Trotz heterogener Studienpopulationen konnte die diagnostische Leistung des Tests bestätigt werden. In einer Studie von Elyan et al. mit 342 Männern aus Deutschland und der Schweiz mit erhöhtem PSA-Wert zeigte der Stockholm3-Test eine bessere Differenzierung behandlungsbedürftiger Karzinome im Vergleich zu PSA allein. Bei Anwendung eines Cut-offs von 11 % hätte ca. ein Viertel der Biopsien vermieden werden können – mit nur geringfügigen Einbussen bei der Detektionsrate (16). Tilki et al. untersuchten 405 deutsche Patienten und verglichen den Stockholm3-Test mit dem Rotterdam Prostate Cancer Risk Calculator. Bei einem Schwellenwert von 15 % hätten rund 50 % der Biopsien eingespart werden können, während 92 % der behandlungsbedürftigen Prostatakarzinome weiterhin erkannt worden wären (17).
Globale Relevanz und multiethnische Validierung erlangte der Test in der SEPTA-Studie von 2024. Diese multizentrische Untersuchung an einer US-amerikanischen, ethnisch diversen Kohorte zeigte, dass der Stockholm3-Test eine gleichwertige Sensitivität wie der PSA-Test aufweist, jedoch eine signifikant geringere Rate unnötiger Biopsien zur Folge hatte. Die Überlegenheit zeigte sich über alle untersuchten ethnischen Gruppen hinweg, was für eine breite klinische Anwendbarkeit spricht (18).
Zuletzt wurde die Anwendung des Stockholm3-Tests als Tool für Folgerunden eines Screenings (ein Grundkonzept der Früherkennung) im Rahmen einer Sekundäranalyse der bereits erwähnten STHLM3-MRI-Studie untersucht. Discacciati et al. prüften, ob der Stockholm3-Test 2–3 Jahre nach einem negativen Screening erneut eingesetzt werden kann, um unnötige MRIs zu vermeiden und die Detektion behandlungsbedürftiger Prostatakarzinome aufrechtzuerhalten. Insbesondere ein Cut-off von 15 % führte in der Studie zu einer deutlichen Reduktion der durchgeführten MRIs um 41 %, bei vergleichbarer Anzahl an detektierten behandlungsbedürftigen Karzinomen (19). Somit zeichnet sich auch eine gute Performance des Stockholm3-Tests im wiederholten Screening-Setting ab.
Grenzwert 11 % vs. 15 %
Für die klinische Anwendung des Stockholm3-Tests haben sich zwei relevante Schwellenwerte etabliert: 11 % und 15 % Risiko für ein klinisch signifikantes Prostatakarzinom. Ein Cut-off von 11 % weist eine um 18–23 % höhere Detektionsrate signifikanter Karzinome im Vergleich zum PSA-Test auf und eignet sich besonders für eine individualisierte Früherkennung entsprechend den Präferenzen informierter Patienten (13, 20). Der strengere Grenzwert von 15 % reduziert unnötige MRIs und Biopsien bei gleichzeitig hoher Erkennungsrate relevanter Tumoren. Die dänische PRIMA-Studie validierte diesen Schwellenwert prospektiv und zeigte, dass damit rund 26 % der MRIs eingespart werden konnten, ohne signifikante Karzinome zu übersehen (20). Die individuelle Wahl des Cut-offs ermöglicht somit eine flexible Anpassung an klinische Zielsetzungen wie diagnostische Sicherheit oder Ressourcenallokation. Für ein breites populationsbasiertes Screening sehen die Autoren dieses Artikels jedoch ausschliesslich den 15 %-Grenzwert als geeignet an.
Möglicher Algorithmus zur Frühdetektion
Basierend auf den erwähnten Daten stellt sich die Frage, wie ein optimiertes Früherkennungsprogramm aussehen könnte. Es ergibt sich folgende Überlegung: Der PSA-Test ist kostengünstig, bekannt und als Routinetest in den meisten Schweizer Laboren verfügbar – ideale Voraussetzungen für den Einsatz als initialer Triage-Test im Rahmen der Prostatakrebsfrüherkennung. Studien zeigen, dass bei PSA-Werten unter 1.5 μg/l das Risiko für ein klinisch relevantes Prostatakarzinom vernachlässigbar klein ist. Rund 65 % der Männer (altersübergreifend) liegen in diesem Niedrigrisikobereich und bedürfen zum Zeitpunkt der Testung keiner weiteren Abklärung (21).
Ab einem Schwellenwert von 1.5 μg/l steigt das Risiko für behandlungsbedürftige Prostatakarzinome kontinuierlich an. Ein propagiertes Konzept sieht vor, bei PSA-Werten ≥ 1.5 μg/l einen reflexartigen Zweittest, wie den Stockholm3-Test, einzusetzen. Dies ist mit zusätzlichen Kosten verbunden, erlaubt jedoch eine höhere diagnostische Genauigkeit. Um Doppelkonsultationen und Verzögerungen zu vermeiden, empfiehlt sich die gleichzeitige Blutentnahme für PSA und einen potenziellen Zusatztest in derselben Konsultation. Ist der PSA-Wert ≥ 1.5 μg/l, so wird der Zusatztest durchgeführt. Erst ein zweites auffälliges Ergebnis triggert die Zuweisung zur mpMRI und ggf. Biopsie im Verlauf.
Copyright
Aerzteverlag medinfo AG
Dr. med. univ. Julian M. Baumkirchner
Klinik für Urologie
Universitätsspital Zürich
Frauenklinikstrasse 10
8091 Zürich
PD. Dr. med. Ashkan Mortezavi
Klinik für Urologie
Universitätsspital Zürich
Frauenklinikstrasse 10
8091 Zürich
Ashkan Mortezavi hat Beratungshonorare von A3P Biomedical erhalten. Die übrigen Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel.
Das Prostatakarzinom ist die häufigste Tumordiagnose bei Männern in der Schweiz, wobei das Ziel der frühzeitigen Erkennung behandlungsbedürftiger Karzinome und gleichzeitigen Vermeidung unnötiger invasiver Eingriffe anspruchsvoll ist.
Der PSA-Test, trotz grosser Popularität, weist signifikante diagnostische Schwächen auf.
Die mpMRI der Prostata bietet eine hohe Sensitivität, ist aber ressourcenintensiv, untersucherabhängig und kann zu unnötigen Belastungssituationen bei gesunden Männern führen.
Der Stockholm3-Test stellt eine evidenzbasierte Ergänzung zur klassischen Diagnostik des Prostatakarzinoms dar. Die Aussicht, unnötige Biopsien und MRI-Untersuchungen zu vermeiden, spricht für seinen Einsatz als Teil eines strukturierten Diagnosealgorithmus.
In der Schweiz ist der Stockholm3-Test seit 2023 verfügbar und kann sowohl beim Grundversorger als auch beim Spezialisten unkompliziert durchgeführt werden.
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2. Würnschimmel C, Menges D, Kwiatkowski M, Sigg S, Prause L, Mattei A, et al. Prostate cancer screening in Switzerland: a literature review and consensus statement from the Swiss Society of Urology. Swiss Med Wkly 2024;154:3626.
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4. Catalona WJ, Smith DS, Ratliff TL, Dodds KM, Coplen DE, Yuan JJJ, et al. Measurement of Prostate-Specific Antigen in Serum as a Screening Test for Prostate Cancer. N Engl J Med 1991;324(17):1156–61.
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8. Schröder FH, Hugosson J, Roobol MJ, Tammela TLJ, Zappa M, Nelen V, et al. Screening and prostate cancer mortality: results of the European Randomised Study of Screening for Prostate Cancer (ERSPC) at 13 years of follow-up. The Lancet 2014;384(9959):2027–35.
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11. EAU Guidelines. Edn. presented at the EAU Annual Congress Madrid 2025. Arnhem, The Netherlands: EAU Guidelines Office; 2025. ISBN 978-94-92671-29-5.
12. Wei JT, Barocas D, Carlsson S, Coakley F, Eggener S, Etzioni R, et al. Early Detection of Prostate Cancer: AUA/SUO Guideline Part I: Prostate Cancer Screening. J Urol 2023;210(1):46–53.
13. Nordström T, Discacciati A, Bergman M, Clements M, Aly M, Annerstedt M, et al. Prostate cancer screening using a combination of risk-prediction, MRI, and targeted prostate biopsies (STHLM3-MRI): a prospective, population-based, randomised, open-label, non-inferiority trial. Lancet Oncol 2021;22(9):1240–9.
14. Wei JT, Barocas D, Carlsson S, Coakley F, Eggener S, Etzioni R, et al. Early Detection of Prostate Cancer: AUA/SUO Guideline Part II: Considerations for a Prostate Biopsy. J Urol 2023;210(1):54–63.
15. Grönberg H, Adolfsson J, Aly M, Nordström T, Wiklund P, Brandberg Y, et al. Prostate cancer screening in men aged 50-69 years (STHLM3): a prospective population-based diagnostic study. Lancet Oncol 2015;16(16):1667–76.
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18. Vigneswaran HT, Eklund M, Discacciati A, Nordström T, Hubbard RA, Perlis N, et al. Stockholm3 in a Multiethnic Cohort for Prostate Cancer Detection (SEPTA): A Prospective Multicentered Trial. J Clin Oncol Off J Am Soc Clin Oncol 2024;42(32):3806–16.
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20. Fredsøe J, Sandahl M, Vedsted P, Jensen JB, Ulhøi BP, Borre M, et al. Results from the PRIMA Trial: Comparison of the STHLM3 Test and Prostate-specific Antigen in General Practice for Detection of Prostate Cancer in a Biopsy-naïve Population. Eur Urol Oncol 2023;6(5):484–92.
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Die Frühjahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine und Innere Medizin (SGAIM) stand unter dem Motto «Outside the Box». Ein herausragender Beitrag in diesem Rahmen war der Vortrag von Prof. Dr. med. Jörg Leuppi, Chefarzt für Allgemeine Innere Medizin am Kantonsspital Liestal. In seinem Referat spannte er den Bogen von der differenzierten Diagnostik und Stufentherapie des Asthmas über den gezielten Einsatz von Biologika bis hin zu aktuellen Entwicklungen im Management der COPD. Deren Diagnostik, die Bewertung von Symptomen und Exazerbationen sowie die verfügbaren therapeutischen Optionen standen dabei im Fokus.
Asthma
Prof. Dr. med. Jörg Leuppi
Asthma ist eine chronische, heterogene Erkrankung der Atemwege. Sie ist definiert durch eine Anamnese von Atembeschwerden, die im Laufe der Zeit in ihrer Intensität variieren können, sowie durch einen eingeschränkten Atemfluss. Die Lungenfunktionseinschränkungen sind zwar reversibel, eine Heilung ist jedoch nicht möglich.
Asthma ist gekennzeichnet durch eine chronische Entzündung der Auskleidung der Atemwege, die sich rötet und anschwellen lässt. Zudem kommt es zu einer Obstruktion der Atemwege, die durch eine Muskelerschlaffung um die Atemwege herum verursacht wird, wodurch diese verengt werden und das Atmen erschwert wird.
Zur Diagnose von Asthma wird das Ergebnis anhand der abgegebenen Metacholin-Dosis bewertet, die einen Rückgang des FEV1 um 20 % bewirkt. (Provokationsdosis PD₂₀). Dieser Endpunkt ermöglicht vergleichbare Ergebnisse mit verschiedenen Geräten oder Protokollen. Neben dem Provokationstest mit Metacholin kommt auch der Provokationstest mit Mannitol zur Anwendung.
Bei Patienten mit leichtem Asthma führte Budesonid-Formenterol bei Bedarf zu einer besseren Kontrolle der Asthmasymptome als Terbutalin. Dies wurde anhand von elektronisch aufgezeichneten Wochen mit gut kontrolliertem Asthma bewertet. Eine Budesonid-Erhaltungstherapie war jedoch besser. Die Häufigkeit der Exazerbationen war bei den beiden Budesonid-haltigen Therapien ähnlich und lag unter der von Terbutalin.
Asthma-Management
Die Asthma-Behandlung erfolgt in Stufen, wobei die Behandlung je nach Schweregrad des Asthmas nach oben und unten angepasst wird. Stufe 1: Bei Bedarf wird eine Kombination aus inhalativem Kortikosteroid (ICS) und Formoterol in niedriger Dosierung angewendet. Ein niedrig dosiertes ICS sollte immer dann inhaliert werden, wenn ein kurzwirksamer Beta-2-Agonist (SABA) eingesetzt wird. Stufe 2: Präferenz: Tägliche Anwendung eines ICS oder bei Bedarf eine Kombination aus niedrig dosiertem ICS und Formoterol.
Alternative Therapieoption: Leukotrienrezeptor-Antagonist (LTRA) oder niedrig dosiertes ICS, jeweils dann, wenn SABA verwendet wird. Stufe 3: Präferenz: Niedrig dosierte Kombination aus ICS und langwirksamem Beta-2-Agonisten (LABA).
Andere Therapie-Option: Mittel dosiertes ICS oder niedrig dosiertes ICS plus LTRA. Stufe 4: Präferenz: Mittel dosierte Kombination aus ICS und LABA.
Andere Therapie-Option: Hochdosiertes ICS und Überweisung zur phänotypischen Beurteilung ± Tiotropin als Zusatz oder LTRA Stufe 5: Präferenz: Hochdosiertes ICS und LABA
± Zusatztherapie, z. B. Tiotropium, Anti-IgE, Anti-IL5/5R, Anti-IL4R.
Bevorzugte Ablöseoption, nach Bedarf in allen 5 Stufen: Niedrig dosiertes ICS-Formoterol.
Andere Ablöseoption: Bei Bedarf LABA.
Symptomerfassung: Asthmakontrolltest
Eine Überschätzung der Asthmakontrolle kann bei Patienten mit schwerem Asthma zu schlechteren Behandlungsergebnissen führen. In einer Studie aus dem Jahr 2022 (Panettieri RA et al., J Asthma 2022; 59: 1859–1868) wurde festgestellt, dass Fachärzte die Asthmakontrolle im Vergleich zu den ACT-Werten häufig überschätzten. Auch die Patienten gaben die Wirksamkeit der Behandlung häufiger an als die Fachärzte. Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung validierter Instrumente zur Bewertung der Asthmakontrolle und zur Verringerung potenzieller Behandlungslücken, die durch Unstimmigkeiten zwischen Patienten und Fachärzten entstehen können.
COPD
COPD ist ein Überbegriff für verschiedene klinische Entitäten mit vielfältigen Ursachen. Sie führen zu einer nicht vollständig reversiblen Einschränkung des Luftstroms. Am häufigsten sind chronische Bronchitis und Emphysem die Ursache für COPD. Jede Exazerbation schädigt die Lunge und erhöht das Risiko für zukünftige Exazerbationen. Die erste Exazerbation ist ein Risikofaktor für weitere Exazerbationen und letztlich auch für den Tod.
Beurteilung der COPD
GOLD ABE-Bewertung (Abb. 1)
Therapievorschläge
Bei angemessenem Ansprechen auf die Erstbehandlung diese beibehalten. Falls nicht,
• Überprüfung der Adhärenz, der Inhalationstechnik und möglicher störender Komorbiditäten.
• Überlegen Sie, welches Behandlungsmerkmal im Vordergrund steht (Dyspnoe oder Exazerbationen).
• Verwenden Sie den Exazerbationspfad, wenn sowohl Exazerbationen als auch Dyspnoe behandelt werden müssen.
• Setzen Sie den Patienten in das Feld, das der aktuellen Behandlung entspricht, und befolgen Sie die Anweisungen.
• Bewerten Sie das Ansprechen, passen Sie es an und überprüfen Sie es.
• Diese Empfehlungen sind nicht von der ABE-Bewertung zur Diagnose abhängig.
Dyspnoe
Bei anhaltender Dyspnoe trotz Monotherapie mit LABA oder LAMA sollte eine Umstellung auf eine Kombinationstherapie mit LABA + LAMA erfolgen. Falls dies keine Besserung bringt und weiterhin Dyspnoe besteht, sollten folgende Massnahmen erwogen werden:
• Wechsel des Inhalationsgeräts oder des Wirkstoffs innerhalb der gleichen Substanzklasse
• Eskalation oder Intensivierung nicht-pharmakologischer Interventionen (z. B. Training, Atemtherapie)
• Abklärung alternativer oder zusätzlicher Ursachen der Dyspnoe und ggf. deren gezielte Behandlung
Exazerbationen
Die Dreifachtherapie mit Budesonid, Glycopyrrolat und Formoterol hat sich gegenüber einer LAMA/LABA-Therapie als wirksam erwiesen: Sie senkt die Rate kardiopulmonaler Ereignisse und die Gesamtmortalität um 52 %, reduziert das relative Risiko für kardiopulmonale Ereignisse um 20 % und verringert die Gesamtmortalität um 49 %. Eine ausgeprägte Eosinophilie ist dabei mit einer stärkeren Reduktion der Exazerbationsrate bei COPD assoziiert – dieser Zusammenhang wurde durch grosse randomisierte kontrollierte Studien bestätigt.
Der Einsatz von inhalativen Kortikosteroiden (ICS) in Kombination mit langwirksamen Bronchodilatatoren ist insbesondere dann indiziert, wenn bei der betroffenen Person mindestens zwei moderate Exazerbationen pro Jahr, eine Hospitalisierung wegen einer COPD-Exazerbation, eine Bluteosinophilenzahl von ≥ 300 Zellen pro Mikroliter oder ein begleitendes Asthma vorliegen. Auch bei einer einzelnen moderaten Exazerbation pro Jahr und Bluteosinophilen zwischen 100 und < 300 Zellen/µl kann eine ICS-Behandlung erwogen werden. Dagegen sprechen wiederholte Pneumonien, eine Bluteosinophilenzahl unter 100 Zellen/µl sowie eine Vorgeschichte eines Myokardinfarkts.
Entzündungsmechanismen bei COPD
Die chronische Entzündung bei COPD betrifft vorwiegend das periphere Lungenparenchym und die peripheren Luftwege. Sie ist charakterisiert durch eine Erhöhung der alveolaren Makrophagen, Neutrophilen und T-Lymphozyten. Je höher die Konzentration von Zytokinen, Proteasen und anderen Entzündungsmediatoren ist, desto schwerer ist die COPD.
Dupilumab bei COPD
Bei Patienten mit COPD und einer Entzündung des Typs 2, die sich durch erhöhte Eosinophilenzahlen im Blut anzeigt, hatten diejenigen, die Dupilumab erhielten, weniger Exazerbationen, eine bessere Lungenfunktion und Lebensqualität, sowie weniger schwere Atemwegssymptome als die Placebo-Gruppe.
Biologika bei COPD
Pharmakologische Folgebehandlung (Abb. 2)
Impfung bei COPD
In einer im Jahr 2024 erschienenen Arbeit des Referenten (Boesing et al. PRAXIS 2024;113:297-305) wird festgestellt, dass das Anstreben einer höheren Impfrate bei Personen mit chronischen Lungenerkrankungen entscheidend ist, um Exazerbationen und die damit verbundene Morbidität und Mortalität in dieser gefährdeten Behandlungsgruppe zu verhindern. Die Einführung neuer, wirksamerer Impfstoffe, wie der aktualisierten PCV- und RSV-Impfstoffe sowie die stetige Anpassung der Influenza- und SARS-CoV2-Impfstoffe, werden von entscheidender Bedeutung sein, um den Schutz bei Patienten mit mehreren Erkrankungen in Zukunft zu gewährleisten.
Fazit
Etwa 4–7 % der Bevölkerung leiden an Asthma bzw. COPD.Zur Diagnose dieser Krankheiten werden Lungenfunktionstests und die Messung der eosinophilen Blutkörperchen verwendet.
Schweres Asthma findet sich bei ca. 5–10 % der Betroffenen und bedarf einer interdisziplinären Behandlung. Bei schwerem Asthma sollte die systematische Gabe von Steroiden vermieden und eine biologische Therapie eingesetzt werden.
Biomarker helfen bei der Therapieentscheidung.
Eosinophilenzahlen sind auch bei COPD wichtig. Sie sind ein Prädiktor für häufigere Exazerbationen sowie für das Ansprechen auf inhalative Kortikosteroide und möglicherweise auch auf Biologika.
Schlafstörungen sind weit verbreitet, multidimensional beeinflusst und medizinisch oft unterschätzt. Im Rahmen seines Vortrags präsentierte Prof. Mauro Manconi aus Lugano die aktuellen Klassifikationen, diagnostischen Kriterien und therapeutischen Ansätze zur Insomnie. Dabei wurden sowohl internationale Leitlinien als auch epidemiologische Entwicklungen in der Schweiz beleuchtet. Neben psychiatrischen und somatischen Begleiterkrankungen standen die multisystemischen Auswirkungen von chronischem Schlafmangel sowie praxisrelevante diagnostische und therapeutische Verfahren im Mittelpunkt.
Prof. Mauro Manconi
Prof. Mauro Manconi aus Lugano präsentierte zu Beginn seines Referats die amerikanische Klassifikation der Schlafstörungen nach der ICSD-3-TR (2024) vor. Diese unterteilt Schlafstörungen in folgende Hauptkategorien: Insomnie, schlafbezogene Atemstörungen, Hypersomnie, zirkadiane Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen, Parasomnien, schlafbezogene Bewegungsstörungen, isolierte Symptome sowie andere Schlafstörungen.
Die europäischen Leitlinien wurden 2023 aktualisiert und betreffen vor allem die Diagnose und Behandlung der Insomnie.
Bei Schlafstörungen werden diagnostisch folgende Klassifikationssysteme verwendet: • ICD-11 = Schlafstörungen sind in einem eigenen Kapitel enthalten (Kapitel 7) • DSM-5-TR = In diesem psychiatrisch orientierten Manual werden Insomnien als eigenständige Störung und nicht nur als Symptom anderer psychischer Erkrankungen beschrieben. • ICSD-3-TR = das spezifischste und differenzierteste System für Schlafstörungen
Schlaflosigkeit entsteht, wenn trotz ausreichender Schlafgelegenheiten Ein- oder Durchschlafprobleme sowie Beeinträchtigungen der Tagesfunktion bestehen.
Diagnostische Kriterien für chronische Insomnie (ICSD-3-TR)
A. Der Patient bzw. seine Bezugspersonen beobachten eines oder mehrere der folgenden Symptome:
1. Schwierigkeiten beim Einschlafen
2. Schwierigkeiten beim Durchschlafen
3. Früheres Erwachen als erwünscht
4. Widerstand gegen das Zubettgehen zu angemessenen Zeiten
5. Schwierigkeiten beim Einschlafen ohne Hilfe der Eltern oder einer Betreuungsperson.
B. Zusätzlich berichten Betroffene oder deren Angehörige über eine oder mehrere der folgenden Auswirkungen:
1. Müdigkeit, Unwohlsein
2. Aufmerksamkeit, Konzentration oder Gedächtnisbeeinträchtigung
3. Beeinträchtigte soziale, familiäre, berufliche oder akademische Leistung
4. Stimmungsstörung / Reizbarkeit
5. Tagesschläfrigkeit
6. Verhaltensprobleme (z. B. Hyperaktivität, Impulsivität, Aggression)
7. Reduzierte Motivation / Energie / Initiative
8. Neigung zu Fehlern / Unfällen
9. Bedenken oder Unzufriedenheit mit dem Schlaf
C. Die Beschwerden sind nicht allein durch mangelnde Schlafmöglichkeiten oder ungeeignete Schlafbedingungen erklärbar.
D. Die Symptome treten mindestens dreimal pro Woche auf.
E. Sie bestehen seit mindestens drei Monaten.
F. Andere Schlafstörungen erklären die Symptome nicht besser.
Epidemiologische Daten (Schweiz, 1997–2022)
Laut der 14. Schweizer Gesundheitsbefragung ist der Anteil der Personen mit Schlafstörungen in den letzten 25 Jahren um 5 % gestiegen. Besonders betroffen sind:
• Frauen (37 %) häufiger als Männer (29 %)
• Junge Menschen im Alter von 15–39 Jahren
Weitere Eckdaten:
• 34 % der Gesamtbevölkerung sind betroffen (davon 26 % moderat, 7 % pathologisch)
• Höchste Prävalenz schwerer Insomnie bei 45- bis 64-Jährigen (9 %)
• 60 % der Betroffenen sprechen mit ihrem Hausarzt nicht über ihre Beschwerden
• 80 % der schwer Erkrankten leiden seit über einem Jahr, 40 % sogar seit über fünf Jahren
• Geringer Bildungsstand gilt als Risikofaktor
Psychiatrische und somatische Assoziation
Insomnie tritt häufig in Verbindung mit anderen Erkrankungen auf. Psychisch bestehen insbesondere Assoziationen mit Depressionen, die bei 35 % der von Schlaflosigkeit Betroffenen vorkommen, im Vergleich zu nur 4 % in der Allgemeinbevölkerung. Auch generalisierte Angststörungen sind deutlich häufiger vertreten (25 % vs. 3 %). Ein erhöhtes Suizidrisiko wurde insbesondere bei jungen Menschen mit Insomnie beobachtet. Zudem zeigen sich klare Zusammenhänge mit Burnout-Erkrankungen: 41 % der Personen mit schwerer Insomnie, 29 % mit moderater Ausprägung und 17 % ohne Schlafprobleme weisen ein erhöhtes Risiko für ein Burnout-Syndrom auf.
Auch im somatischen und neurologischen Bereich bestehen zahlreiche Zusammenhänge. So leiden Menschen mit Insomnie häufiger unter chronischen Schmerzen, etwa bei Arthritis (53 % vs. 32 %), Osteoarthritis (46 % vs. 31 %) oder Rückenschmerzen (40 % vs. 27 %). Zudem besteht eine erhöhte Prävalenz von Bewegungsstörungen wie dem Restless-Legs-Syndrom (RLS) und periodischen Beinbewegungen im Schlaf (PLMD). Darüber hinaus zeigen Studien ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen bei Menschen mit chronischer Schlaflosigkeit. (Tab. 1 und Tab. 2)
Multisystemische Auswirkungen von chronischem Schlafmangel
• Zirkadiane Rhythmusstörungen: Störungen in Körpertemperatur, Atemfrequenz, Hormonproduktion, Menstruationszyklus, Harnexkretion, Zellteilung • Neurologisch: Schlafverlust, REM-Schlafreduktion, Stadium 2 Schlafreduktion, Müdigkeit, Reduktion des Gehirnvolumens • Gastrointestinal: Dyspepsie, Sodbrennen, Bauchschmerzen, Flatulenz • Onkologisch: Erhöhtes Risiko für Brust- und Darmkrebs • Reproduktiv: Spontanabort, niedriges Geburtsgewicht, Frühgeburtlichkeit • Kardiovaskulär: 40 % Zunahme bei Angina pectoris, Hypertonie, Myokardinfarkt • Psychisch: Stress, Neurotizismus, Depression, Angst, Burnout • Neurodegeneration: gestörte Funktion des glymphatischen Systems
Das glymphatische System ist ein hypothetisches System zur Entsorgung zellulärer Abfallstoffe im Zentralnervensystem. Der Prozess existiert in Wirbeltieren und ist fast ausschließlich während des Schlafes aktiv. Störungen des glymphatischen Systems werden mit neurodegenerativen Erkrankungen in Verbindung gebracht.
Diagnostischer Ablauf
Die Diagnostik bei Insomnie umfasst sowohl psychologische als auch medizinisch-apparative Verfahren und sollte individuell angepasst werden. Die wichtigsten Bestandteile sind:
Anamnese und klinische Untersuchung
• Erhebung von Vorerkrankungen (somatisch, neurologisch, psychisch), Medikamenteneinnahme und Substanzgebrauch (z. B. Alkohol, Koffein, Nikotin) (Tab. 3)
• Einschluss von Bettpartnern oder Betreuungspersonen bei Bedarf
• Erfassung psychosozialer Faktoren (z. B. Persönlichkeitsmerkmale, Belastungen, Partnerschaft, Arbeit)
Psychodiagnostik • Insomnia Severity Index (ISI) zur quantitativen Einschätzung der Schwere
• Erfassung von Komorbiditäten wie Depression, Angst oder Burnout
Objektive Messverfahren (bei klinischer Indikation) • Aktigraphie: Bewegungssensor über mehrere Tage zur Analyse des Schlaf-Wach-Rhythmus, bei Verdacht auf circadiane Störung oder periodische Beinbewegungen • Polysomnographie (PSG): umfassende Schlaflaboruntersuchung bei
– komorbiden Schlafstörungen (z. B. Schlafapnoe, PLMD)
– therapieresistenter Insomnie
– Diskrepanz zwischen subjektivem Erleben und objektivem Schlafprofil (Missperzeption)
Zusätzliche medizinische Untersuchungen (bei Bedarf) • Labor: Blutbild, Schilddrüsen-, Leber-, Nierenwerte, CRP, Hämoglobin, Ferritin, Vitamin B12 • Apparativ: EKG, EEG, ggf. CT/MRT • Chronobiologische Marker: Melatoninprofil, Körpertemperatur
Der Gebrauch elektronischer Geräte vor dem Schlafengehen ist weit verbreitet und kann den natürlichen Schlafrhythmus erheblich stören. So verwenden rund 72 % der Personen ihr Telefon kurz vor dem Zubettgehen, 60 % nutzen noch den PC oder Laptop, und 65 % hören Musik. Etwa 23 % spielen vor dem Einschlafen Videospiele, und 18 % berichten, dass sie mindestens einmal pro Woche durch einen Anruf geweckt werden. Zudem geben 8 % an, abends im Bett noch zu chatten. In manchen Fällen kann auch eine Internet- oder Spielsucht eine zugrunde liegende Rolle spielen.
Kognitive Verhaltenstherapie bei Insomnie (CBT-I)
Ein bewährter therapeutischer Ansatz bei chronischer Insomnie ist die kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie (CBT-I). Dabei handelt es sich um eine strukturierte Multikomponententherapie, die typischerweise über vier bis acht Sitzungen erfolgt – entweder einzeln oder in Gruppen und durch entsprechend geschulte Gesundheitsfachpersonen durchgeführt wird. Die Therapie umfasst mehrere Bausteine: eine Psychoedukation, bei der Wissen über Schlaf und gesunde Schlafgewohnheiten vermittelt wird, Entspannungstechniken zur Reduktion von Anspannung, eine gezielte Schlafrestriktion, um den Schlafdruck zu erhöhen, sowie die Stimuluskontrolltherapie, die das Bett wieder positiv mit Schlaf assoziieren soll. Ergänzt wird das Programm durch kognitive Umstrukturierung, um belastende Denkmuster zu verändern, sowie durch das Führen eines Schlaftagebuchs, um Fortschritte zu dokumentieren und Muster zu erkennen.
Stimuluskontrolltherapie (SCT)
Schritt 1: Nutzen Sie Ihr Schlafzimmer ausschliesslich zum Schlafen und für sexuelle Aktivitäten. Ihr Ziel ist es, Ihr Bett mit Schlaf in Verbindung zu bringen.
Schritt 2: Beschränken Sie die Zeit, die Sie wach im Bett verbringen, auf eine halbe Stunde vor dem Lichterlöschen und nach dem endgültigen Aufwachen am Morgen.
Schritt 3: Achten Sie darauf, dass Sie sich schläfrig fühlen, wenn Sie das Licht ausschalten.
Schritt 4: Wenn Sie innerhalb von 20 bis 30 Minuten nicht einschlafen können oder nachts aufwachen und nicht innerhalb dieser Zeit wieder einschlafen können, stehen Sie auf und verlassen Sie das Bett.
Schritt 5: Stellen Sie einen Wecker, der nicht um mehr als eine halbe Stunde variiert.
Schritt 6: Legen Sie Ihre maximale Schlafzeit fest.
Schritt 7: Legen Sie Ihre früheste Schlafenszeit fest.
Schlaftagebuch führen.
Wirkung der CBT-I
1) Die kognitive Verhaltenstherapie (CBT-I) gegen Schlaflosigkeit ist bei Patienten mit psychischen Erkrankungen und komorbider Schlaflosigkeit effektiv.
2) CBT-I senkt die Schwere der komorbiden Schlaflosigkeit (grosse Wirkung) und die Schwere der komorbiden Erkrankungen (mittlerer Effekt).
3) Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen und Alkoholabhängigkeit sind die komorbiden Störungen mit der grössten Evidenz für CBT-I.
Orexin und Orexin Antagonisten
Abschliessend stellte der Referent ein relativ neues Wirkprinzip in der Schlafmedizin vor. die Inhibition von Orexin. Orexin A und B sind Neuropeptid-Hormone, die den Schlafrhythmus und das Essverhalten beeinflussen. Die Orexine entfalten ihre Wirkung an den Zielzellen durch Bindung an zwei unterschiedliche, an G-Proteine gekoppelte Rezeptoren: OX1R und OX2R. Dabei bindet Orexin A etwa gleich stark an beide Rezeptoren, wohingegen Orexin B vor allem an OX2R bindet. Eine neue Gruppe von Medikamenten gegen Schlafstörungen, die meist als duale Orexin-Rezeptor-Antagonisten (DORA) bezeichnet werden, entfaltet ihre Wirkung durch die Hemmung der Orexin-Wirkung im Gehirn. Ein Vertreter dieser Medikamente ist Daridorexant.
Daridorexant hat wachheitshemmende Eigenschaften, die auf der dualen Hemmung der Orexin-Rezeptoren OX1R und OX2R beruhen. Es wird schnell absorbiert (Peak-Plasmakonzentration 1–2 Stunden nach der Verabreichung) und extensiv metabolisiert, wobei keiner der Hauptmetaboliten zur pharmakologischen Wirkung beiträgt. Auch nach wiederholter Anwendung kommt es zu keiner Akkumulation.