Klare Vorteile einer Single Pill in der kardiovaskulären Therapie

Seit bald zwanzig Jahren wird über den Einsatz von Single Pills (SP/Polypills) diskutiert. Im Jahre 2022 sind weitere bedeutende Studien zu diesem Thema erschienen. Zusammenfassend verbessert eine Einzeltablette mit verschiedenen Wirkstoffen (u.a. BD-Senker, Statin, Aspirin) die Adhärenz resp. die Compliance (Therapietreue), dadurch kommt es u.a. zu einer Verbesserung der kardiovaskulären Risikofaktoren Blutdruck und LDL. Diese und zusätzliche pleiotrope und vaskuläre Effekte führen zu einer deutlichen Verbesserung des Outcomes mit Senkung der kardiovaskulären (cv) Ereignisse und der Mortalität. Auch die Folgekosten werden durch diese Therapie-Strategie deutlich gesenkt. Der Einsatz von SP ist daher wirtschaftlich und zweckmässig.

Aktuell gibt es bei uns im Alltag verschiedene Kombinations­tabletten bei der Behandlung der Hypertonie. Diese werden auch gemäss Leitlinien primär empfohlen. Nur 50% aller Hypertoniker erreichen den geforderten Ziel-BD. Dabei erhalten leider nur ca. 1/3 eine Kombinationstherapie als SP. Es gibt in der Schweiz nur wenige Antihypertensiva z.B. in Kombination mit Atorvastatin als SP. Bekannt ist auch die Kombination eines Statins mit Ezetimib. Da diese Substanzen als Generika zur Verfügung stehen, ist eine SP nicht wesentlich teurer. Die Adhärenz der Patienten wird leider deutlich überschätzt. Nach einem Myokardinfarkt nehmen weniger als 50% das für die sekundäre cv-Prävention verschriebene Multimedikamentenregime konsequent ein. Daher sollte eine oder mehrere SP in Zukunft der Normalfall sein.

Neuere Studien belegen klar den Nutzen mit obigen Resultaten (1-8). In der START- und START 2.0-Studie (1, 2) wurden Krankenversicherungsdaten bei 29’668 Herzkreislauf-Patienten (Hypertoniker) in Deutschland retrospektiv analysiert. Die Real Life Daten ergeben, dass die Gesamtmortalität, verschiedene cv-Ereignisse und die Hospitalisationsrate durch sieben Kombinationen von SP mit Antihypertensivas, Lipidsenkenden Medikamenten und auch Aspirin signifikant reduziert wurde, verglichen mit der Gabe von losen Einzelsubstanzen. Die Zeit bis zum ersten Ereignis wurde verlängert. Die Therapietreue war signifikant besser und die Gesamtkosten waren deutlich tiefer.

In der spanischen Studie NEPTUNO (3) wurden Daten elektronischer Krankengeschichten, ebenfalls retrospektiv, in der Sekundärprävention wegen atherosklerotischen, kardiovaskulären Erkrankungen analysiert. Durch eine Kombinationstablette von Aspirin 100mg, Atorvastatin 20 oder 40mg und Ramipril 2,5/5/10mg wurden die cv-Ereignisse über zwei Jahre um 15% vermindert verglichen mit der Gabe von Monosubstanzen. Auch traten diese später auf. Die Risikofaktoren BD und LDL waren bei guter Therapietreue besser eingestellt.

In der SECURE Study (4), der ersten prospektiven europäischen Interventions-Studie, ergaben sich eindrucksvolle Resultate in der Sekundärprävention nach einem Myokardinfarkt vor max. 6 Monaten und einem weiteren cv-Risikofaktor. Diese wurde am ESC 2022 in Barcelona vorgestellt. Verglichen wurde eine Single Pill mit drei Wirkstoffen vs. der Einnahme dieser drei Wirkstoffe als Einzelsubstanzen: Aspirin 100mg, Atorvastatin 20 oder 40mg und Ramipril in aufsteigender Dosierung 2,5-10mg bei insgesamt 2499 Patienten (Durschnitt 76 Jahre, 31% Frauen). Der primäre Endpunkt (nicht tödlicher Myokardinfarkt, nicht tödlicher Schlaganfall, cv-Tod und Notfallrevaskularisationen) wurde um 24% über 3 Jahre gesenkt. Der härteste Endpunkt: der cv-Tod um 33%. Es werden bei gleichem BD und LDL in beiden Gruppen zusätzliche pleiotrope Effekte der Statine und vaskuläre Effekte von Aspirin und Ramipril vermutet. Bei einer längeren Nachbeobachtung wäre der Unterschied wahrscheinlich noch grösser.

In einer Arbeit aus Italien (5) bei arterieller Hypertonie konnten die kardiovaskulären Ereignisse und die Gesamtmortalität in fünf verschiedenen Ländern auf drei Kontinenten über 10 Jahre deutlich gesenkt werden.
In der PolyIran Studie (6) konnte mit einer niedrig dosierten Fixkombination von 4 Wirkstoffen bei Menschen älter als 50 Jahre meist ohne bekannte Herzkreislauferkrankungen über 5 Jahre im ländlichen Iran die Ereignisrate um 1/3 gesenkt werden. Lebensstilintervention vs. Lebensstilintervention und Polypill. In der Primärprävention und bei hoher Compliance relative Risikoreduktion sogar um 40%.

Die TIPS-3 Studie von S. Yusuf et al. zeigte in der Primärprävention, dass eine kombinierte Behandlung mit einer SP plus Aspirin zu einer geringeren Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse führte als Placebo bei Teilnehmern ohne Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die ein mittleres kardiovaskuläres Risiko hatten (7). Die primärpräventive Wirkung hatte gemäss HOPE-3 Studie bei intermediärem cv Risiko und einem Alter >55 Jahren vor allem die Lipidsenkung (8).

Somit zeigen uns diese Publikationen, dass eine Single Pill im Praxisalltag ein sehr hilfreiches und einfaches Instrument ist, um die Adhärenz des Patienten/der Patientin deutlich zu verbessern und dadurch Outcome und Folgekosten positiv zu beeinflussen. Es ist zu hoffen, dass weitere Wirkstoff-Kombinationen in verschiedenen Dosierungen als Single Pill, neben den bereits vorhandenen Kombinationen in der Hypertoniebehandlung, in der Primär- und Sekundär-Prävention zum Wohle unserer Patienten auch in der Schweiz auf den Markt kommen und von uns Ärzten vermehrt gezielt und richtig eingesetzt werden. Es bedarf einem Konzeptwechsel von vielen Einzeltabletten auf eine oder mehrere SP. Durch verschiedene Dosierungen und Kombinationen ist auch eine individualisierte Medizin möglich. Eine Medibox kann für die Therapietreue und damit ein besseres Outcome ebenfalls behilflich sein.

Dr. med. Urs N. Dürst

Zelglistrasse 17
8127 Forch

u.n.duerst@ggaweb.ch

1. Wilke T. et al.: Effects of Single Pill Combinations compared to identical Multi Pill Therapy on Outcomes in Hypertension, Dyslipidemia and Secondary Cardiovascular Prevention: The Start-Study; Integrated Blood Pressure Control 2022:15-21
2. Weisser B. et al.: Single pill treatment in daily practice is associated with improved clinical outcomes and all-cause mortality in cardiovascular diseases: results from the START project. Poster presented at the ESC Congress 2022, 26. August 2022, Barcelona
3. González-Juanatey JR. et al.: The CNIC-Polypill reduces recurrent major cardiovascular events in real-life secondary prevention patients in Spain: The NEPTUNO study; Int J Cardiol 2022; 361:116-123
4. Castellano J.M. et al.: Polypill Strategy in Secondary Cardiovascular Prevention; NEJM 2022;387:967-977
5. Borghi C. et al.: International Journal of Cardiology Cardiovascular Risk and Prevention 2021; 10:200102
6. Roshandel G et al.: Effectiveness of polypill for primary and secondary prevention of cardiovascular diseases (PolyIran): a pragmatic, cluster-randomised trial. Lancet 2019; 394:672-83
7. Yusuf S. et al.: Polypill with or without Aspirin in Persons without Cardiovascular Disease NEJM 2021;384: 216-228
8. Yusuf S. et al.: Cholesterol Lowering in Intermediate-Risk Persons without Cardiovascular Disease. NEJM 2016; 374: 2021-2031.

Neue Lipidsenker – ob und wann?

Erhöhte Blutfette sind ein wichtiger, modifizierbarer Risikofaktor für Atherosklerotische Herz-Kreislauf-Erkrankungen (ASCVD). Unter neun modifizierbaren Risikofaktoren, die für mehr als 90% aller Erst-Myokardinfarkte verant­wortlich sind, stehen die Blutfette mit 50% der an der Bevölkerung zurechenbaren Risiken an erster Stelle, stellte Dr. Konstantinos Koskinas, Bern, eingangs fest. LDL-Cholesterin spielt eine kausale Rolle in der Atherosklerose, wie mit klinischen pharmakologischen Studien, Beobachtungsstudien und Mendel’schen Randomisierungsstudien gezeigt werden konnte. Diese Studien haben auch eindrücklich gezeigt, dass je tiefer das LDL-Cholesterin ist, desto niedriger das Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis ist, und dass es kein unteres Limit für die Sicherheit gibt.

Diese Evidenz stammt vor allem aus Studien mit Statinen, der Referent zeigte aber, dass sie auch für Nicht-Statin-Medikationen gilt, z.B. für Ezetimibe. Gemäss den Lipid-Guidelines von 2019 richtet sich der Zielwert für LDL-Cholesterin nach dem kardiovaskulären Risiko des Patienten: für tiefes Risiko wird ein LDL-Zielwert von 3.0mmol<7l empfohlen, für moderates Risiko ein Zielwert von 2.6mmol<7l, für hohes Risiko ein solcher von 1.8mmol/l und für sehr hohes Risiko einen Wert von 1.4mmol<7l und jeweils ein mindestens fünfzigprozentige Senkung des LDL-Cholesterins. Die Evidenz dazu stammt aus der CTT-Meta-Analyse, hochintensive Therapie vs. Standardtherapie (LDL-C 1.71vs. 1.32, HR 0.71), der IMPROVE-IT Studie, Ezetimibe + Statin vs. Statin (LDL-C 1.8 vs. 1.4mmol<7l, HR 0.94), der FOURIER- Studie, Evolocumab+ Statin vs. Statin (LDL-C 2.37 vs. 0.78, HR 0.85) und ODYSSEY OUTCOMES, Alirocumab + Statin vs. Statin (LDL-C 2.37 vs. 1.37, HR 0.85).

Es gibt aber noch unerfüllte Bedürfnisse in Bezug auf die LDL-Senkung: im EURASPIRE-IV Survey wiesen 80.7% der Patienten nach einem Herzinfarkt einen LDL-C-Wert >1.8mmol/l auf, im EUROASPIRE V Survey waren es immer noch 71% und in der SWISS SPUM Kohorte 62.5%. Gründe dafür sind neben der fehlenden Adhärenz der Patienten, die therapeutische Trägheit der Ärzte. Der Referent konnte in einer Studie zeigen, dass nur 50% der Patienten eine hochintensive Statintherapie bei Spitalentlassung und nach einem Jahr erhalten.

Risikomanagement: Welcher Score für welche Patienten?

Bei einer nationalen Umfrage in den USA wurde festgestellt, dass die Ärzte den Risikoalgorithmus kennen, aber nur eine Minderheit ihn in der Praxis nutzt, stellte Prof. Dr. David Nanchen, Lausanne, eingangs fest. Ärzte verwenden Risikoalgorithmen auch selten zur Verschreibung von Statinen, wie eine Untersuchung in England zeigte: ein QRISK2-Score wurde bei 80% aller Konsultationen aufgenommen, Statintherapie wurde bei 25% aller Konsultationen verschreiben und 7.5% aller Konsultationen hatten sowohl einen QRISK2-Score und ein folgender Statinbeginn.

Prof. Nanchen präsentierte die Fallvignette einer 59jährigen Frau. Sie hatte keine vorbestehende kardiovaskuläre Krankheit, einen BMI von 27kg/m2, Bewegungsmangel, der systolische Blutdruck war 130mmHg in 2021 und 134mmHg Ende 2022. Sie ist Raucherin und hat keine beitragende Familienanamnese. LDL-Cholesterin war 4.8mmol/l in 2021 und 4.7mmol/l Ende 2022, HDL-c 1.4 bzw. 1.5mmol/l, Triglyceride 1.5 bzw. 1.7mmol/l, die eGFR betrug 75ml/min. Der Referent stellte die Frage nach dem koronaren Risiko in den nächsten 10 Jahren. 44% der Teilnehmer sprachen sich für 11% aus, 33% für 6% und 11% für 17% und ebenfalls 11% für ein Risiko von 22%. Das richtige Resultat war ein 6% Risiko. Die nächste Frage galt der Statintherapie. 50% antworteten mit eher ja, nach Teilung der Entscheidung mit der Patientin, 33% eher nein, nicht unmittelbar, aber nach Überprüfung und 17% antworteten mit nein, nicht vor der nächsten Kontrolle in einem Jahr.

Der Nutzen der Behandlung hängt vom kardiovaskulären Risiko ab

Der Referent zeigte das Beispiel einer Intervention, die das relative Risiko um 25% senkt. Das absolute Risiko beträgt 40% vor der Behandlung und 30% danach. Die Differenz des absoluten Risikos beträgt 10% = 0.1. Die Number Needed to Treat = 1/absolute Risikodifferenz, d.h. 10. Bei 5% absolutem Risiko und gleicher Senkung von 25% kommt man auf ein absolutes Risiko von 4%. die absolute Risikodifferenz beträgt in diesem Fall 1% = 0.01 und die NNT entsprechend 1/absolute Risikodifferenz = 100. 60% der kardiovaskulären Todesfälle sind über 75jährig.
Das kardiovaskuläre Risiko nimmt mit dem Alter zu. Das Risiko nimmt aber auch entsprechend der präexistierenden Krankheiten zu. Sehr hohes Risiko: Vorgeschichte für Herz-Kreislaufkrank­heiten → Sekundärprävention (Atherosklerose mit Blutgerinnsel), Diabetes mit Organschäden oder chronische Niereninsuffizienz (CCl <30ml/min) →Kardiovaskuläre Risiko-Äquivalente. (Atherosklerose?) Hohes Risiko: Familiäre Hypercholesterinämie Diabetes (ohne Organschaden), Niereninsuffizienz (CCl <60ml/min) → Primärprävention (Atherosklerose? normale Koronararterien?).

Kardiovaskuläre Risiko-Scores

Mittel zur Abschätzung des Risikos für kardiovaskuläre Krankheit über 10 Jahre.

Traditionelle Risikofaktoren, historisches: 1998 Framingham Score, 2002 PROCAM Score, 2003 SCORE Algorithmus, 2007 QRISK in UK, 2013 Pooled Cohort Equation (PCE): AHA/ACC Guidelines, 2019 Life CVD, ESC Guidelines, 2021 SCORE2, SCORE OP.

Nach dem AGLA Risikorechner (www.agla.ch), der auf dem PROCAM Score beruht, weist die Patientin in der Fallvignette ein Risiko von 6.8% auf (niedriges Risiko). In der Abschätzung nach ESC SCORE2-OP wären es 6.2%.

Der Referent trat anschliessend auf die Begriffe Sensitivität, Spezifität und Diskriminierung ein (Wahrscheinlichkeit, dass die Scores Personen mit höherem Risiko unterscheiden). Ein Vergleich verschiedener Scores in einer Sensitivitäts-Spezifitätsanalyse zeigte für den FRS-CHD 0.69, den FRS CVD 0.71, ATPII-FRS-CHD 0.71, RRS 0.70 und AHA/ACC 0.71 an, also alle Socres mit ungefähr der gleichen Diskriminationspower. Niedrige Sensitivität bedeutet, dass ein Patient, der einen Herzinfarkt erleiden wird, nicht erkannt wird. Hohe falsch negative Rate. Eine niedrige Spezifität bedeutet, dass derjenige, der identifiziert wird, kein kardiovaskuläres Ereignis in den nächsten 10 Jahren erleiden wird. Die hohe falsch positive Rate führt zu Überbehandlung, Nebenwirkungen und finanzieller Last. Ein Vergleich der Scores von AGLA/PROCAM, ESC/SCORE und AHA/ASCVD ergab 35%, 20% und 28%. Ungefähr 30% der Patienten mit akutem Koronarsyndrom hätten für eine niedrige Präventionskategorie qualifiziert (niedrige Sensitivität). Eine Untersuchung aus dem Jahre 2015 (DeFilippis et al. Ann Intern Med 2015; 164:266-275) verglich die Guidelines der AHA/ACC und drei ältere Framingham-basierte Risikowerte. Es zeigte sich, dass diese Richtlinien kardiovaskuläre Ereignisse um 37% bis 154% bei Männern und 8% bis 67% bei Frauen überschätzten.

Ein Vergleich von SCORE1 und SCORE2 in der CoLaus-Studie zeigte, dass die vorhergesagten 10 Jahres-Risiken mit SCORE 1 bei Frauen und Männern mit hohem Risiko doppelt so hoch wie die beobachteten waren. Mit SCORE2 berechnete, vorhergesagte Risiken waren bei Frauen etwas höher als die beobachteten, bei Männern gab es mit SCORE2 eine recht gute Übereinstimmung.

Zurückkommend auf die Patientenvignette ergibt sich nach den AGLA Guidelines ein niedriges Risiko und ein LDL-C <2.6mmol/l kann in Betracht gezogen werden. Die Risikostratifizierung gemäss dem Alter würde bei unter 50jährigen ein Risiko von 2.5 bis <7.5%, bei 50-69jährigen (unser Fall , LDL-c 4.7mmol/l) 6% (5-10%) ergeben. Bei ≥70jährigen würde das Risiko 7.5% bis <15% betragen. Dies bedeutet hohes Risiko und eine Behandlung des Risikofaktors sollte unter Berücksichtigung der Risiko Modifier, des lebenslangen Risikos, des Behandlungsnutzens und der Präferenzen der Patientin in Betracht gezogen werden (Klasse IIa).

Der Referent präsentierte anschliessend Entscheidungshilfen für die Statintherapie in der Primärprävention (Nanchen D et al Revue Médicale Suisse 2016): Unter der Annahme, dass die Patienten keine Medikamente einnehmen, hätten sie beispielsweise ein Risiko von 8%, d.h. 8 Personen von 100 würden einen Herzinfarkt erleiden. Bei Behandlung mit einem Statin mittlerer Dosierung würden 6 Personen einen Herzinfarkt erleiden, 92 Personen hätten keinen Herzinfarkt und 2 Personen würden einen Herzinfarkt dank des Medikaments vermeiden, so der Referent.

Schlussfolgerungen

Primärprävention der kardiovaskulären Krankheit in der Schweiz:

  • SCORE2 und SCORE2-OP scheinen gut kalibriert zu sein.
  • Im Vergleich zu AGLA, erhöhen die ESC-Guidelines von 2021 die Wählbarkeit vo Patienten für Statine nicht.
  • Die 2021 ESC-Guidelines erhöhen jedoch die Intensität der in der Primärprävention eingesetzten lipidsenkenden
    Medikamente.

Quelle: AGLA Update Meeting, online, 1. November, 2022

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Nicht nur nach Rom führen viele Wege

Der Monte Bar zwischen der Val Colla und der Val d’Isone ist ein herrlicher Aussichtsberg, der uns zu allen Jahreszeiten immer wieder anzieht. Dieses Mal ist es der 4. Januar und nur gerade auf dem Gipfel liegt ein wenig Schnee. Die zahlreichen Wege, die im Rahmen der Aufforstungen im Tal erstellt wurden, erlauben die unterschiedlichsten Aufstiegsvarianten. Wir beginnen unseren Aufstieg in Signôra und verlassen das Dorf am oberen Ende über ein Fahrsträsschen in nordnordöstlicher Richtung.

Diesem folgen wir bis unmittelbar nach der dritten Kehre, wo bergwärts in nordnordwestlicher Richtung ein Weg abgeht und in ein steiles bewaldetes Tälchen führt. Noch bevor wir dessen Bach erreichen, zweigen wir nach Südwesten auf einen Pfad ab, über den wir, an zwei länglichen Gebäuden vorbei und über einige weite Kehren, den Geländepunkt 1400 Meter erreichen. Hier erwartet uns ein Rastplatz mit Brunnen. Nun haben wir die Wahl, entweder östlich durch den schattigen Wald oder westlich über die sonnigen Alpweiden zum Torrettone aufzusteigen. Von dort aus ist es nicht mehr weit bis zum Forsthaus von Piandanazzo, das wir entlang des oberen Randes der Valle di Scareglia erreichen. Wer militärhistorisch interessiert ist, der wendet sich vor dem Aufstieg zum Monte Bar nach Osten in Richtung der Cima Moncucco. Auf deren Westseite finden sich noch Überreste von befestigten Stellungen aus dem 1. Weltkrieg.

Über den Ostgrat des Monte Bar führt uns schliesslich eine Pfadspur zum Gipfel. Die weite Rundsicht über die Berge des Sotto- und Sopraceneri, die Walliser, Berner, Urner und Bündner Alpen bis hin zu den Bergen rund um den Lario (Lago di Como) lädt zum Verweilen ein, wenn man das Glück eines seltenen windstillen Tages hat (Abb. 1 und 2). Allzu oft ist der Berg jedoch seiner exponierten Lage wegen heftigen Winden aus einem der vier Himmelsrichtungen ausgesetzt, sodass man bald einmal in die gastfreundliche Capanna Monte Bar hinuntergetrieben wird (Abb. 3). Auch diesmal kehren wir dort ein und lassen uns kulinarisch verwöhnen. Dabei sollte man nicht vergessen, dass die Hütte im Winter vom 28. November bis 30. April nur von Freitag bis Sonntag bewartet ist. Zusätzlich ist sie an Festtagen und während der Schulferien geöffnet.

Für den weiteren Abstieg wenden wir uns der östlichen Begrenzung der Weiden von Pian Carasso zu und steigen entlang der Westkante der Valle di Scareglia bis zum ersten, kein Wasser mehr führenden Weidebrunnen ab. Dort stossen wir auf einen Pfad, der in wenigen Kehren zu einem Weg hinunterführt, der nordwärts zwei Bäche quert und zur Costa del Bello hinüberleitet. Gleich nach dem zweiten Bach zweigt auf der Talseite ein Pfad ab, der teilweise von Sträuchern überwuchert ist, uns aber auf direktem Weg zur Hütte von La Spessa bringt. Wir folgen dem Waldsträsschen taleinwärts bis zu dessen Ende. Hier stossen wir beim Bach auf die frisch angelegte Trasse eines alten Weges, über die wir auf der Ostseite der wilden Valle di Scareglia zu den Häusern von I Barche gelangen. Anstatt nach Scareglia abzusteigen, wenden wir uns vorerst eben aus nach Osten bis zu einem letzten kleinen Gebäude und einer länglichen Ruine von I Sass Gross. Nun steigt der Pfad im Wald noch etwas an, bevor wir wieder unsere Aufstiegsroute erreichen, über die wir nach Signôra zurückfinden (Abb. 4).

Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo

Riedstrasse 9
6430 Schwyz

christian.besimo@bluewin.ch

Geburtseinleitung

Die Geburtseinleitung betrifft 25% aller Schwangerschaften. Ziel einer vorzeitigen Induktion von Kontraktionen ist es, das bestmögliche Outcome für Mutter und Kind zu erreichen. Wir unterscheiden die medizinisch indizierte Geburtseinleitung und die Wunscheinleitung. Aus Einleitungsindikation, Anamnese, Parität, Schwangerschaftsalter, Reifegrad der Zervix und dem Wunsch der Patientin setzt sich die Entscheidungsfindung zusammen, die immer schriftlich dokumentiert werden soll. Zur Einleitung verwenden wir medikamentöse, mechanische und alternative Methoden. Misoprostol oral stellt bei unreifer Zervix das effektivste Verfahren mit geringsten Risiken dar.

Labor induction affects 25% of all pregnancies. The aim of premature induction of contractions is to achieve the best possible outcome for mother and child. We distinguish between medically indicated induction of labor and desired induction. The decision-making process, which should always be documented in writing, is based on the induction indication, medical history, parity, gestational age, degree of cervical maturity and the patient’s wishes. For induction we use medicinal, mechanical and alternative methods. Misoprostol orally represents the most effective procedure with the least risks in immature cervix.
Key Words: Einleitungsindikationen, Einleitungsmethoden, Misoprostol

Die Geburtseinleitung – die Triggerung von zervixwirksamen Kontraktionen vor physiologischem Geburtsbeginn – betrifft heute ein Viertel aller Schwangerschaften. Obwohl eine gute Evidenz besteht, ist die Geburtseinleitung sowohl bei Schwangeren als auch bei betreuenden Personen eher negativ belegt. Es gilt im Folgenden, die Indikationen, Methoden mit deren Vor- und Nachteilen, das Outcome, aber auch rechtliche und psychologischen Aspekte rund um die Geburtseinleitung darzustellen.

Epidemiologie

Nach den aktuellen Daten, die dem BAG vorliegen, wurden 2015-2017 mehr als 25% aller Schwangerschaften durch eine Geburtseinleitung beendet. Die regionale Verteilung schwankt stark (Abb. 1). Im Vergleich zum Zeitraum 2012-2014 ist die Einleitungsrate in praktisch allen Kantonen gestiegen, mit Ausnahme der Kantone Jura, Luzern, Obwalden und St. Gallen (1).

Einleitungsindikationen

Grundsätzlich unterscheiden wir die medizinisch indizierte Geburtseinleitung, bei der das Risiko zur Fortführung der Schwangerschaft die Nachteile dieser medizinischen Intervention übersteigt, von der Wunscheinleitung. In beiden Situationen gilt es, den Nutzen der Intervention gegen die Risiken abzuwägen und im Einvernehmen mit der Schwangeren als Behandlungsteam eine Entscheidung zu treffen, die zu einem besseren perinatalen Outcome führt, als bei Zuwarten zu erwarten wäre. Tabelle 1 liefert einen Überblick über die Indikationen.

Fetale Indikationen

Terminüberschreitung

Wichtig ist der anhand biometrischer Daten gesicherte Gestationstermin (Korrektur ab 5 Tagen abweichender SSL bei 11-14 SSW). Ausnahme bilden IVF Schwangerschaften (Entbindungszeitpunkt= Transferdatum+266 Tage-Embryoalter in Tagen) (2). Eine Metaanalyse zeigte bei einer Geburtseinleitung ab vollendeter 41 SSW eine deutliche Reduktion der perinatalen Mortalität (risk ratio (RR) 0.31, 95% confidence interval (CI) 0.15-0.64). Demnach wurde mit 544 Einleitungen ein perinataler Tod verhindert. Zudem wurde durch die Intervention die Sektiorate gesenkt (RR 0.90, 95% CI 0.85-0.95) und die Rate an vaginaloperativen Entbindungen blieb nahezu unverändert (RR 1.03, 95% CI 0.96-1.10) (3). Somit wird in der deutschsprachigen Leitlinie ab 40+0 SSW eine engmaschigere Überwachung zur frühzeitigen Erkennung von Risiken empfohlen, ab 41+0 SSW kann eine Geburtseinleitung angeboten werden. Ab 41+3 SSW sollte diese empfohlen werden, ab 42+0 SSW dringend (4).

Vorzeitiger Blasensprung

Ein vorzeitiger Blasensprung vor dem Einsetzen regelmässiger Wehen (PROM) am Termin zeigt sich in 8-10 % aller Schwangerschaften. Das Risiko für ein Amnioninfektionssyndrom nimmt ab 24 Stunden signifikant zu (5). So wird eine Geburtseinleitung spätestens nach 24 Stunden empfohlen (4). Gemäss Metaanalyse reduziert aktives Management das Intervall bis zur Geburt um 10 Stunden (95% CI 12-8), das Auftreten einer Chrorionamnionitis/ Endometritis (RR 0.49, 95% CI 0.33-0.72) und das Risiko einer kindlichen Verlegung auf die Neonatologie (RR 0.75, 95% CI 0.66-0.85). Sektiones waren nicht häufiger nötig (RR 0.84, 95% CI 0.69-1.04) (6).

Oligohydramnion

Die Diagnose eines Oligohydramnion wird sonographisch mittels AFI<5cm oder dem grössten vertikalen Depot (single deepest pocket <2cm) gestellt und betrifft 2-10% der Schwangerschaften in der 40-42 SSW (7, 8). Die AFI-Methode führt dabei häufiger zur Geburtseinleitung aufgrund eines Oligohydramnions ohne das Outcome zu verbessern. Auf keinen Fall vor, aber auch nach 37+0 SSW ist ein isoliertes Oligohydramnion eine Indikation zur Einleitung. Ab 39+0 kann diese bei Vorliegen weiterer Risikofaktoren grosszügiger gestellt werden – auch wenn hierfür keine eindeutige Evidenz vorhanden ist (4).

Intrauterine Wachstumsretardierung

IUGR (intrauterine Wachstumsrestriktion) ist mit einer erhöhten fetalen Morbidität und Mortalität vergesellschaftet. Hingegen sind SGA (small for gestational age) Feten konstitutionell bedingt klein und haben ein normales perinatales Outcome. Bei einem IUGR steigt mit zunehmender SSW das Risiko eines IUFTs, so dass bei pathologischem Doppler A. umbilicalis (PI>95. Perzentile) eine Schwangerschaftsbeendigung ab 37+0 SSW angestrebt werden sollte. Bei isoliertem SGA sollte die Einleitung ab 38+0 SSW mit der Patientin diskutiert und eine Terminüberschreitung vermieden werden (4, 9).

Fetale Makrosomie

Die fetale Makrosomie (>95. Perzentile) ist ein Risikofaktor für Schulterdystokie und andere kindliche und mütterliche Risiken. So kann gemäss der spärlichen Datenlage durch eine Geburtseinleitung ab 39+0 SSW zwar keine Sektio (RR 0.91, 95% CI 0.76-1.09) oder vaginaloperative Entbindung (RR 0.86, 95% CI 0.65-1.13) vermieden werden, doch das Risiko einer Schulterdystokie (RR 0.60, 95% CI 0.37-0.98) und Frakturen (RR 0.20, 95% CI 0.05-0.79) wird reduziert. Bei 60 Geburtseinleitungen wird eine fetale Fraktur verhindert. Bei noch früherer Einleitung überwiegt irgendwann das Risiko den möglichen Nutzen (10). Unter Berücksichtigung aller Aspekte sollte die Geburtseinleitung bei Verdacht auf einen LGA-Fetus >95. Perzentile ab 39+0 SSW angeboten werden (4).

Maternale Indikationen

Diabetes mellitus

Frauen mit Gestationsdiabetes haben ein erhöhtes Risko für Präe­klampsie, Polyhydramnion und Makrosomie. Trotzdem reicht die aktuelle Studienlage nicht aus, den optimalen Zeitpunkt für die Geburtseinleitung klar zu definieren (11). Der Zeitpunkt sollte anhand weiterer Risikofaktoren, der diabetogenen Stoffwechsellage und fetalen Kriterien gewählt werden. Generell sollte eine Einleitung <39+0 SSW vermieden werden. Ab 40+0 SSW soll diese bei insulinpflichtigem Gestationsdiabetes angeboten werden. Ein diätetisch gut eingestellter Gestationsdiabetes stellt keine Indikation zur Geburtseinleitung dar (4).

Schwangerschaftscholestase

Die intrahepatische Schwangerschaftscholestase ist mit einem erhöhten Risiko für kindliche Mortalität und Morbidität assoziiert (IUFT: RR 1.46, 95% CI 0.73-2.89, Verlegung auf die Neonatologie: RR 2.12, 95% CI 1.48-3.03). Die Auswirkungen korrelieren dabei mit der Gallensäurekonzentration im maternalen Blut (12). Auch bei niedrigen Werten <40 μmol/L ist trotz geringer Evidenz die Geburtseinleitung bei ≥37+0 SSW empfohlen. Bei hoher Konzentration von >100 μmol/L sollte die Beendigung der Schwangerschaft ab 34+0 SSW unter Berücksichtigung der Schwere der Symptome und Wünschen der Frau angestrebt werden (4).

Hypertonie

Bei einer Gestationshypertonie sollte ab 37+0 SSW, bei einer chronischen Hypertonie ab 38+0 SSW die Beendigung der Schwangerschaft empfohlen werden. Eine Terminüberschreitung sollte vermieden werden (4).

Präeklampsie

Bei einer Präeklampsie soll ab 34+0 SSW, spätestens ab 37+0 SSW die Beendigung der Schwangerschaft nach Abwägen der maternalen und neonatalen Risiken empfohlen werden (4).

Wunscheinleitung

Aktuelle Studien zeigen, dass eine Einleitung ab 39+0 SSW aus rein subjektiven Gründen durchaus eine Option darstellt. Dabei werden keine erhöhten Risiken für das Kind in Kauf genommen und die Rate an Sektiones wird sogar verringert (RR 0,84, CI 0,76-0,93) (13, 14).

Einleitungsmethoden

Aus Einleitungsindikation, Anamnese, Parität, Schwangerschafts­alter, Reifegrad der Zervix und dem Wunsch der Patientin setzt sich die Entscheidungsfindung zusammen (Tab. 2). Grundsätzlich unterscheiden wir medikamentöse von mechanischen Methoden. Auch die alternativen Einleitungsmethoden seien erwähnt, wobei die meisten dieser Verfahren jedoch noch unzureichend untersucht sind (Tab. 3). Beim Rizinusöl kommt es über seinen Wirkstoff, die Rizinolsäure, zu einem Effekt an den Prostaglandin-Rezeptoren der Muskelzellen in der Gebärmutter und des Darms, weshalb es zu einer uterinen Überstimulation kommen kann. Rizinusöl sollte deshalb nicht im ambulanten Setting zur Geburtseinleitung verwendet werden.

Mechanische Methoden:

Gemeinsamer Wirkungsmechanismus dieser Methoden ist die Stimulation der Prostaglandinsynthese durch lokale Freisetzung von proinflammatorischen Zytokinen. Diese induzierten Prozesse gleichen den physiologischen Vorgängen. Kontraindikationen für die physikalischen Geburtseinleitungen: tiefliegende Plazenta, vorzeitiger Blasensprung, antepartale Blutungen, vaginale Infekte.

Eipollösung

Dabei wird der innere Muttermund zirkulär gedehnt und das Amnion vom unteren Uterussegment abgelöst. Eine Cochrane-Metaanalyse konnte im Vergleich mit exspektativem Vorgehen einen häufigeren Geburtsbeginn (RR 1,21, 95% CI 1,08-1,34) und weniger Geburtseinleitungen (RR 0,73, 95% CI 0,56-0,94) zeigen (15). So kann die Eipollösung den Schwangeren am Termin angeboten werden (4).

Amniotomie

Wegen der Gefahr eines Nabelschnurvorfalls sollte der Kopf Bezug zur Zervix haben. Die Begünstigung von Infektionen muss ebenfalls bedacht und Vasa praevia ausgeschlossen werden. Obwohl es eine häufige Intervention ist, gibt es kaum aktuelle Studien ausreichender Qualität zur alleinigen Anwendung einer Amniotomie zur Geburtseinleitung (16), so dass sie in Leitlinien oft nicht empfohlen wird (4). Persönliche Erfahrungen sind positiv. Die Kombination mit Oxytocin kann die Effektivität deutlich steigern, so dass verglichen mit Plazebo die Rate an vaginaloperativen Entbindungen signifikant reduziert werden kann (RR 0.18, CI 0.05-0.58) (17).

Ballonkatheter

Durch den mit dem Ballon aufgebauten Druck auf die Zervix, kommt es zur lokalen Freisetzung von Prostaglandinen. Die Effektivität bei unreifem Zervixbefund entspricht der medikamentösen Gabe von Prostaglandinen. Dabei scheint die Rate an uterinen Überstimulationen oder pathologischem CTG im Vergleich zur Medikamentengabe reduziert zu sein. Die simultane Anwendung von Ballonkathetern und medikamentösen Verfahren verkürzt die Zeit bis zur Geburt und führt im Vergleich zur alleinigen Medikamentengabe zu weniger Überstimulationen (4, 18).

Zervixdilatoren

Hygroskopische Zervixdilatatoren werden in die Cervix uteri eingelegt und führen über eine osmotische Dehydratation des Gewebes und Freisetzung von Prostaglandinen zur Dilatation der Zervix. Sie können zur Geburtseinleitung bei unreifem Zervixbefund und auch nach vorherigem Kaiserschnitt verwendet werden (4).

Medikamentöse Methoden:

Oxytocin

Oxytocin erhöht über Rezeptoren das intrazelluläre Kalzium im Myometrium und führt so zu Kontraktionen. Ein Vorteil ist bei kurzer Halbwertszeit von 3-6 Minuten die gute Steuerbarkeit. Welches der beschriebenen Dosisregime das Beste ist, ist durch die aktuelle Studienlage nicht geklärt (18). Erreicht werden sollte eine regelmässige Wehentätigkeit. Dabei sollte Oxytocin nur bei reifem Zervixbefund oder nach Blasensprung zur Geburtseinleitung verwendet werden. Nach 6h ohne deutlichen Geburtsfortschritt sollte die Oxytocininfusion pausiert und ggf. andere Methoden evaluiert werden (4).

Prostaglandine E2 (Dinoproston)

Neben wehenauslösenden Mechanismen bewirken Prostaglandine über einen Kollagenumbau eine Auflockerung des Zervixgewebes und können deshalb anders als Oxytocin auch bei unreifem Zervixbefund eingesetzt werden. Bei Dinoproston sollte dabei die vaginale Verabreichung der intrazervikalen vorgezogen werden (4).

Prostaglandine E1 (Misoprostol)

Misoprostol ist das wirksamste Medikament zur Geburtseinleitung bei unreifem Zervixbefund. Die Applikation sollte oral erfolgen. Aus Vorsicht sollten Erstgaben von > 50 μg vermieden werden. Verglichen mit der vaginalen Anwendung von Dinoproston führt oral gegebenes Misoprostol – bei leicht verlängerter Zeit bis zur Geburt – zu weniger Sektiones (RR 0.84, 95% CI 0.78 to 0.90) bei geringerem Risiko für eine uterine Überstimulation (RR 0.49, 95% CI 0.40 to 0.59). Auch verglichen mit mechanischen Methoden bietet Misoprostol Vorteile. Es führt zu einer erhöhten Rate an vaginalen Geburten innerhalb von 24h (RR 1.32, 95% CI 0.98 to 1.79) bei wohl reduzierter Sektiorate (RR 0.84, 95% CI 0.75 to 0.95) ohne die Rate an Komplikationen wie Überstimulation mit Auswirkung auf die kindlichen Herztöne zu erhöhen (RR 1.31, 95% CI 0.78 to 2.21) (20, 21).

Rechtliche und psychologische Aspekte

Wie schon erwähnt, sollte der Entscheid zur Einleitung nach Ausschluss möglicher Kontraindikationen für eine vaginale Geburt immer im gemeinsamen Einvernehmen des Behandlungsteams, der Schwangeren und ihrem Partner erfolgen. Mütterlicher und fetaler Zustand (Ableitung eines CTGs vor Interventionsbeginn) sollten die Anforderungen an eine vaginale Geburt erfüllen.

Grundsätzlich sollte die sorgfältige Aufklärung über die Indikation, die Methode und die zu erwartenden Risiken schriftlich dokumentiert werden. Im Falle von Zusatzrisiken wie Adipositas, St.n. Sektio, IUGR, Geminischwangerschaft und Beckenendlage empfiehlt es sich, die mütterliche Unterschrift einzuholen.

Werdende Eltern müssen gründlich über die Einleitungsindikation aufgeklärt werden. Es ist wichtig, dabei den zeitlichen Rahmen einer Einleitung von mehreren Tagen zu erwähnen. Ziel dieser Intervention muss das Wohlergehen von Mutter und Kind prä-, intra- und postpartal sein! Dazu tragen wir als Behandler insbesondere durch unsere transparente Aufklärung und unser zugewandtes Verhalten bei.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Oliver Rautenberg

Kantonsspital St.Gallen
Frauenklinik Geburtshilfe
Rorschacher Strasse 95
9007 St.Gallen

Dr. med.Tina Fischer

Kantonsspital St.Gallen
Frauenklinik Geburtshilfe
Rorschacher Strasse 95
9007 St.Gallen

tina.fischer@kssg.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Ziel: Erreichen eines besseren perinatalen Ergebnisses für Mutter und Kind als durch Zuwarten
◆ Mechanische Methoden:
– Untere Eipollösung: Kann angeboten werden
– Amniotomie: Meist nicht als alleinige Einleitungsmethode
– Doppelballonkatheter: Effektiv, geringere Rate an Überstimulation
als Prostaglandine
– Hygroskopische Dilatatoren: Können verwendet werden, wenig Daten
◆ Medikamentöse Methoden:
– Oxytocin: Zugelassen bei reifer Zervix, ggf. Kombination mit
Amniotomie, steuerbar
– Dinoproston: Effektiv, zur Einleitung bei unreifem Zervixbefund,
vaginal
– Misoprostol: Wirksamstes Medikament bei unreifem Zervixbefund
◆ Alternative Methoden: Wenig Evidenz
◆ Gemeinsame Entscheidungsfindung: Kritische Indikationsstellung, Nutzen-Risiko-Abwägung, Beratung

1. Bundesamt für Statistik (BFS) Medizinische Statistik der Krankenhäuser. Entbindungen und Gesundheit der Mütter im Jahr 2017. Neuchâtel, Mai 2019.
2. Standardkommission für Schwangerschaftsultraschall der Schweizerischen Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (SGUM). Empfehlungen zur Ultraschalluntersuchung in der Schwangerschaft. 4. Auflage Bern 2019.
3. Middleton P, Shepherd E, Flenady V, et al. Planned early birth versus expectant management (waiting) for prelabour rupture of membranes at term (37 weeks or more). Cochrane Database Syst Rev 2017; 1:CD005302.
4. Induction of Labour. Guideline of the DGGG, OEGGG and SGGG (S2k, AWMF Registry No. 015-088, December 2020). Geburtsh Frauenheilk 2021; 81: 870–895.
5. Quist-Nelson J, de Ruigh AA, Seidler AL, van der Ham DP, Willekes C, Berghella V, et al. Immediate Delivery Compared With Expectant Management in Late Preterm Prelabor Rupture of Membranes: An Individual Participant Data Meta-analysis. Obstet Gynecol. 2018;131(2):269-79.
6. Middleton P, Shepherd E, Crowther CA. Induction of labour for improving birth outcomes for women at or beyond term. Cochrane Database Syst Rev. 2018;5:CD004945.
7. Kehl S, Schelkle A, Thomas A, Puhl A, Meqdad K, Tuschy B, et al. Single deepest vertical pocket or amniotic fluid index as evaluation test for predicting adverse pregnancy outcome (SAFE trial): a multicenter, open-label, randomized controlled trial. Ultrasound Obstet Gynecol. 2016;47(6):674-9.
8. Morris JM, Thompson K, Smithey J, et al. The usefulness of ultrasound assessment of amniotic fluid in predicting adverse outcome in prolonged pregnancy: a prospective blinded observational study. BJOG 2003; 110:989.
9. Intrauterine growth restriction. Guideline of the German Society of Gynecology and Obstetrics (S2k, AWMF-Registry-No: 15/080, October 2016.
10. Boulvain M, Irion O, Thornton JG. Induction of labour at or near term for suspected fetal macrosomia. Cochrane Database of Systematic Reviews 2016, Issue 5. Art. No.: CD000938.DOI: 10.1002/14651858.CD000938.pub2.
11. Biesty LM, Egan AM, Dunne F, Dempsey E, Meskell P, Smith V, Ni Bhuinneain GM, Devane D. Planned birth at or near term for improving health outcomes for pregnant women with gestational diabetes and their infants. Cochrane Database of Systematic Reviews 2018, Issue 1. Art. No.: CD012910. DOI: 10.1002/14651858.CD012910.
12. Ovadia C, Seed PT, Sklavounos A, et al. Association of adverse perinatal outcomes of intrahepatic cholestasis of pregnancy with biochemical markers: results of aggregate and individual patient data meta-analyses. Lancet 2019; 393:899.
13. Sotiriadis A, Petousis S, Thilaganathan B, Figueras F, Martins WP, Odibo AO, et al. Maternal and perinatal outcomes after elective induction of labor at 39 weeks in uncomplicated singleton pregnancy: a meta-analysis. Ultrasound Obstet Gynecol. 2019;53(1):26-35.
14. Grobman WA, Rice MM, Reddy UM, Tita ATN, Silver RM, Mallett G, et al. Labor Induction versus Expectant Management in Low-Risk Nulliparous Women. The New England journal of medicine. 2018;379(6):513-23.
15. Finucane EM, Murphy DJ, Biesty LM, Gyte GML, Cotter AM, Ryan EM, Boulvain M, Devane D. Membrane sweeping for induction of labour. Cochrane Database of Systematic Reviews 2020, Issue 2. Art. No.: CD000451. DOI: 10.1002/14651858.CD000451.pub3.
16. Bricker L, Luckas M. Amniotomy alone for induction of labour. Cochrane Database Syst Rev. 2000(4):CD002862.
17. Howarth GR, Botha DJ. Amniotomy plus intravenous oxytocin for induction of labour. Cochrane Database Syst Rev. 2001(3):CD003250.
18. de Vaan MD, Ten Eikelder ML, Jozwiak M, Palmer KR, Davies-Tuck M, Bloemenkamp KW, et al. Mechanical methods for induction of labour. Cochrane Database Syst Rev. 2019;10:CD001233.
19. Budden A, Chen LJ, Henry A. High-dose versus low-dose oxytocin infusion regimens for induction of labour at term. Cochrane Database Syst Rev. 2014;10:CD009701.
20. Kerr RS, Kumar N, Williams MJ, Cuthbert A, Aflaifel N, Haas DM, Weeks AD. Low-dose oral misoprostol for induction of labour. Cochrane Database of Systematic Reviews 2021, Issue 6. Art. No.: CD014484. DOI: 10.1002/14651858.CD014484.
21. Surbek D. et al. Misoprostol zur Geburtseinleitung. Expertenbrief Nr. 63, Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe.

Schweizer Gesundheitssystem Quo vadis? – Reflexionen einer Hausärztin

Unser hochgelobtes Schweizer Gesundheitswesen scheint am Ende zu sein. Die Spatzen, nein die Kassen, pfeifen es von den Dächern. Die Prämien sind dieses Jahr um durchschnittlich 6,6 % gestiegen. Gibt es Schuldige? Wenn das Verursacherprinzip angewandt wird, so wie es die Kostenträger tun, wird sofort klar, wer daran schuld ist: die Ärztinnen und Ärzte. Die sollen für den Schaden aufkommen.

Vergessen wird, dass wir Patienten behandeln. Negiert wird eine grassierende Inflation, von der auch wir Ärzte betroffen sind. Nicht berücksichtigt wird die Tatsache, dass die Lebens­erwartung in den letzten 20 Jahren erfreulich zugenommen hat, was bei Personen, die am Ende ihrer Lebensspanne angekommen sind, zu einer zunehmenden Kumulation an Gesundheitskosten führt. Ferner, und dies ist entscheidend, sind neue, höchst innovative Therapien, welche klinisch eingeführt und zugelassen wurden, im Einsatz. Diese erhöhen die Lebensqualität und in bestimmten Fällen retten sie Leben.

Was können wir Hausärztinnen und Hausärzte dafür tun? Die konventionelle Hausarztmedizin, bei der ein Grundversorger mit seiner Kenntnis Patienten umfassend und ganzheitlich behandelt und dabei auf sein Fachwissen zurückgreift, hat nicht ausgedient. Sogenannte Billigmodelle hindern Patienten daran, sich direkt beim Spezialisten zu melden. Schliesslich aber müssen sie doch den Hausarzt aufsuchen, damit dieser eine bereits getätigte Spezialisten-Behandlung im Nachhinein rechtfertigt.

Solche Modelle sind auch kostentreibend. Und was kostet die Kassen das jährliche gegenseitige Abwerben von Versicherten? Wir Grundversorger sind nicht die Kostenverursacher, sondern wollen eine moderne Medizin anbieten, die auf unsere Klientel abgestimmt ist und mit der sie zufrieden ist. Der gezielte, niederschwellige Beizug der Spezialisten gehört auch dazu, nach dem Motto: Auf eine gute Fragestellung kommt auch eine gute Antwort.

Es ist so, wir müssen die Probleme beim Schopf packen und selber hartnäckig auf reflektierte Lösungen pochen. Das Einführen eines neuen Tarifsystems gehört dazu, die Ausbildung von mehr Personal gehört dazu, der Einbezug der studentischen Lehre in die Arztpraxen gehört dazu. Wir sind bereit die Probleme anzugehen und haben Lösungen bereit.

Trotz der Administration, die sich auftürmt, bin ich Vollbluthausärztin, die Betreuung meiner anvertrauten Patienten erfüllt mich und macht Freude. Die Begleitung der Menschen und die Kommunikation bleibt für mich prioritär.

Dr. med. Astrid Lyrer

Dr. med. Astrid Lyrer-Gaugler

Basel

RETO KRAPFs Medical Voice

Frisch ab Presse:

«Neuroprothese» zur Korrektur von Sprechstörungen

Hier scheint sich ein grosser Fortschritt anzubahnen! Motorische Sprechstörungen z.B. bei neurodegenerativen Erkrankungen wie der Amyotrophen Lateralsklerose, bei ­Myopathien oder Hirnstamminsulten (im extremen Fall einem «locked-in» Syndrom) sind ein wichtigerer Faktor der Isolation und Vereinsamung. In die (intakten) Sprachareale implantierte Elektroden können die elektrische Aktivität bei versuchtem Sprechen aufnehmen und an einen dem Patienten subkutan implantierten Sensor übermitteln. Via diesen kann ein Rechner dann die im Hirn entstehende Wortbildung interpretieren* und sie via Smartphone oder PC visuell oder stimmlich umsetzen. Die Qualität dieser Methode ist massiv besser geworden: Pro Minute sind jetzt etwa 60 Worte mit einer Fehlerquote von lediglich etwa 10% möglich (1)! Das System funktioniert unbesehen davon, ob der Patient ein Wort zu sprechen versucht oder es stumm – in der Vorstellung sozusagen – formuliert. Neue Methoden verwenden nicht mehr eine transkranielle Implantation der Elektroden, sondern – weniger invasiv – die Einschwemmung der Elektroden, die sich in einem Stent-ähnlichen Maschenwerk befinden, via die Hirnvenen (1). Auf der angegebenen «youtube» Adresse finden Sie ein instruktives Video über diese faszinierende Methode (2).

*Man spricht fachmännisch von einer Gehirn-Computer-Schaltstelle, einer «brain-computer-interface» oder BCI

1. bioRxiv, 2023, doi.org/10.1101/2023.01.21.524489
2. https://www.youtube.com/watch?v=7Fiaew7nDmE

Metabolische Azidose bei chronischer Niereninsuffizienz oder nach Nierentransplantation

Chronisch kranke oder transplantierte Nieren haben oft eine stark eingeschränkte Fähigkeit, metabolisch produzierte Säuren auszuscheiden, sodass eine Blutübersäuerung (chronische metabolische Azidose, definitionsgemäss ein primärer Abfall der Blutbikarbonatkonzentration unter 22 mmol/L, normal um 25 mmol/L) resultiert. Eine chronische metabolische Azidose bei der Niereninsuffizienz scheint die Progression der Erkrankung zu beschleunigen, eine Korrektur derselben (durch Bikarbonat), kann diese Progression verlangsamen. Dies gilt auf Grund einer ausgezeichneten, multizentrischen Schweizer Studie aber leider nicht für transplantierte Nieren von erwachsenen PatientInnen. Die Basenzufuhr verfehlte es trotz dokumentierter Korrektur der Uebersäuerung bei eingeschränkter Nierenfunktion nach Transplantation, die eGFR über 2 Jahre signifikant zu stabilisieren. Also keine Basenzufuhr? Die Effekte der Azidose auf die Abnahme Muskel- und Knochenmasse sind Argumente gegen einen Verzicht, auch wenn hier kein Effekt auf den eGFR Verlauf gefunden wurde. Der alleinige Verlass auf die nicht durch perfekte Genauigkeit bekannte eGFR führt zur Frage, ob diese negative Studie in der Tat auch biologisch nicht signifikant war. Könnten eine längere Therapiedauer und genauere Clearancemessungen andere Resultate bringen? Die ungeklärte Diskrepanz zum Effekt bei chronischer Niereninsuffizienz (ohne oder vor Transplantation) ist ebenfalls Anlass, die Therapie noch nicht ganz abzuschreiben, aber Aufruf, sie noch weiter zu studieren. Siehe auch unten: «Hintergrundswissen: In weniger als einer halben Minute…»

The Lancet 2023, doi.org/10.1016/S0140-6736(22)02606-X

Demenzverlangsamung und Lebensstil

Wenn man etwas länger in der Medizin arbeitete, wird man sich vieler, eher kurzlebiger Erkenntnisse bewusst. So gab es in den 90 Jahren fast keine offizielle Kontraindikation mehr, ja sogar eine universelle Empfehlung für einen Oestrogen-Ersatz in der Menopause und Alkoholkonsum (in schwierig zu definierenden Mengen) wurde geradezu als Langlebigkeitsfaktor zelebriert. Die Diskussionen widmeten sich mehr den Fragen: Bier, Schnaps oder Wein und von demselben eher rotem als weissem. Bezüglich der Demenzentwicklung bei älteren Menschen scheint letzterer nach heutiger Ansicht einen negativen Effekt aufzuweisen. Laut einer chinesischen, prospektiven Kohortenstudie mit etwa 29 000 im Durchschnitt 72 jährigen TeilnehmerInnen und 10 jähriger Beobachtungszeit, war neben Alkoholkarenz auch ein fehlender oder aufgegebener Nikotinkonsum schützend vor dem Auftreten einer kognitiven Einschränkung/Demenz. Erwartetermassen waren folgende 4 Lebensstilfaktoren protektiv: «Gesunde» Ernährung, regelmässige körperliche Aktivitäten, aktivere Sozialkontakte und selbst initiierte kognitive Beschäftigungen (z.B. die Lektüre der «medical voice»…..). Interessant ist, dass die Effekte auch bei Vorliegen eines wichtigen Alzheimer-Risikogens (ApoE epsilon 4) nachweisbar waren. Der Effekt der absoluten Alkoholkarenz ist schwierig zu glauben, aber so meinen es nun halt die Resultate in dieser chinesischen Population.

BMJ 2023, doi.org/10.1136/bmj-2022-072691

Torasemid (Torem) oder Furosemid (Lasix) bei Herzinsuffizienz und Hydrochlorothiazid (Esidrex und in verschiedene Kombinationspräparate) oder Chlorthalidon (Hygroton) bei essentieller Hypertonie?

Oft bleibt es für die Praktikerinnen und Praktiker auch bei schon lange zugelassenen Medikamenten unklar, ob in der gleichen Klasse Vor- oder Nachteile der Einzelsubstanzen zu beachten sind. Schleifendiuretika (Furosemid, Torasemid) sind unverzichtbare Basis der Akutbehandlung einer dekompensierten Herzinsuffizienz, während Thiazide wie Hydrochlorothiazid oder Thiazid-verwandte Diuretika wie Chlorthalidon (ein Sulfonamid) fester Bestandteil der Therapie bei essentieller Therapie sind oder sein sollten. Sind sie in den genannten Indikationen vergleichbar oder sollte man eines dem anderen vorziehen? Nein, für die Hypertonie-Indikation waren die Medikamente (Hydrochlorothiazid mit einer Halbwertszeit von 6-12h, Chlorthalidon mit einer solchen von 40-60 h) über fast 2 ½ Jahre identisch in bezug auf die Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse (1). Erleichterung also, denn Chlorthalidon (Hygroton) wurde in der Schweiz 2014 aus dem Markt, ausser in Kombinationspräparaten, zurückgezogen. Auch zwischen dem kürzer wirkenden Furosemid und Torasemid gab es in den ersten 12 Monaten nach Hospitalisation wegen einer akuten Herzinsuffizienz keine Unterschiede auf die Sterblichkeit (2).

1. NEJM 2023, DOI: 10.1056/NEJMe2215744; 2. JAMA 2023, DOI: 10.1001/jama.2022.23924

Auch gut zu wissen

Neuer Impfplan 2023 ist publiziert

Ende Januar wurde der neue Impfplan auf der BAG Website (siehe 1) publiziert. Er kann als PDF auf D, F und I heruntergeladen werden. Die aktuellen Impfempfehlungen gegen Covid-19 und Affenpocken müssen jedoch separat auf den entsprechenden Webseiten des BAG nachgeschaut werden.
Die empfohlenen Basisimpfungen gegen Varizellen (9-12 Monate alte Kleinkinder, vorzugsweise kombiniert im quadrivalenten Impfstoff, MMRV, Masern, Mumps, Röteln, Varizellen) und die Auffrischimpfungen (13 Monate bis zum 40. Geburtstag) werden durch die Grundversicherung übernommen. Auch gegen einen zusätzlichen Serotyp der Meningokokken (Typ B) kann/soll geimpft werden. Die Kostenübernahme ist auf bestimmte Risikogruppen beschränkt (siehe Kapitel 3g des Dokumentes).

1. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/gesund-leben/gesundheitsfoerderung-und-praevention/impfungen-prophylaxe/schweizerischer-impfplan.html

Welche Differentialdiagnose zur Migraine stellen Sie in diesen Situationen?

Etwa 15 % der Erwachsenen erleiden Migraineattacken in jedem Jahr. Migraine ist die Erkrankung mit der grössten Einschränkung im Alltag für Frauen zwischen 15 und 49 Jahren. Die genetische Prädisposition ist komplex (polygen bedingt). Der Beginn liegt meist im Adoleszenten- und jungen Erwachsenen-Alter. Bei Kindern sind Knaben 3 mal häufiger als Mädchen betroffen, ein Verhältnis, das sich nach Abschluss der Adoleszenz umkehrt. Bitte ordnen Sie die untenstehenden Kardinalsymptome, der wahrscheinlichsten Kopfschmerz Diagnose zu:

A Erstmalige Migraine nach dem 50. Lebensjahr
B Kopfschmerzen begleitet von transienten Doppelbildern, pulsatilem Tinnitus oder orthostatischer Hypotension
C Unilaterale, klopfende Kopfschmerzen, Nausea, Phonophobie und Photophobie, aber ohne Aura, jedoch mit Arbeitsunfähigkeit
D Bilaterale Kopfschmerzen von ½ h bis mehreren Tagen Dauer, nicht-pulsierend, Gefühl um den Schädel umklammert zu sein, keine Aggravation durch alltägliche Körperaktivitäten, nicht fit, aber trotzdem arbeitsfähig
E Schwere, strikt unilaterale Kopfschmerzen mit – auf der gleichen Seite – Tränenfliessen, Nasenfluss, Konjunktivitis oder Ptose
F Neu aufgetretene Kopfschmerzen mit schmerzhaften Temporalarterien, erhöhten Entzündungseiweissen und Kieferklaudikatio.

1 Verdacht auf sekundäre Ursache der Kopfschmerzen
2 Spannungskopfschmerzen
3 Arteritis temporalis
4 Autonome Trigeminuszephalgien, namentlich «Cluster» Kopfschmerzen
5 Intrakranielle Drucksteigerung
6 «Klassische Migraine»

Richtig sind die Kombinationen:
A1, B5, C6, D2, E4, F3

Annals of Internal Medicine 2023, doi.org/10.7326/AITC202301170

Hintergrundswissen:
In weniger als einer halben Minute….

Wie kann eine metabolische Azidose zur Progredienz der Niereninsuffizienz beitragen?

Progredienter Abfall der glomerulären Filtrationsrate und damit assoziierte Schädigungen des Nierentubulus führen zu einer progredienten Einschränkung der Niere, Säure auszuscheiden. Dabei ist vor allem die Ausscheidung von NH3/NH4 («Ammoniak») eingeschränkt. Bei gleichbleibender Säurezufuhr resp. Säureproduktion durch Diät und den endogenen Stoffwechsel, wird zu einem gegebenen Zeitpunkt die Säureausscheidung tiefer als die Summe von Säurezufuhr und Säureproduktion werden. Säure (Protonen) werden also retiniert und «konsumieren» Basen, was mit dem (tiefen) Bicarbonatspiegel im Blut erfasst wird. Die Säurebelastung erfolgt natürlich auch im Nierengewebe und stimuliert dort die profibrotischen und gefässaktiven Hormone Angiotensin II, Aldosteron und Endothelin. Von den erhöhten Ammoniakmengen ist gezeigt, dass sie via den alternativen Aktivierungsweg zur Complementaktivierung führen können. Zusätzlich findet man bei der metabolischen Azidose eine Reihe von Zytokinen erhöht. Zusammen induziert eine chronische metabolische Azidose also ein inflammatorisches-profibrotisches Milieu in den Nieren, was die progrediente Verschlechterung der Nierenfunktion (bei fehlender Basenzufuhr) miterklärt. Von der metabolischen Azidose ist auch bekannt, dass sie zu einer Hypertrophie des Nierengewebes führt, ein möglicher Einfluss derselben auf die Progressionsgeschwindigkeit ist aber nicht gut untersucht.

Prof. Dr. med. Reto Krapf

krapf@medinfo-verlag.ch