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Krankenhausergebnisse einer in der Gemeinschaft erworbenen Infektion mit der SARS-CoV-2 Omicron-Variante im Vergleich zu Influenza-Infektionen in der Schweiz

Angesichts der laufenden COVID-19-Pandemie ist es von entscheidender Bedeutung, die aktuelle Krankheitslast durch die SARS-CoV-2-Omicron-Variante bei Krankenhauspatienten zu bewerten, um die geeigneten Massnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit durch Vergleiche mit den besser bekannten saisonalen Grippeinfektionen können. Eine kürzlich veröffentlichte Studie aus der Schweiz hatte zum Ziel, die stationären Ergebnisse von Patienten, die mit der SARS-CoV-2 Omicron-Variante infiziert waren, mit Patienten mit Influenza-Infektion zu vergleichen.

Design und Teilnehmer

Diese Kohortenstudie basierte auf einem nationalen COVID-19- und Influenza-Register. Krankenhauspatienten im Alter von 18 Jahren und älter mit einer in der Gemeinschaft erworbenen Infektion mit der SARS-CoV-2-Omicron-Variante, die zwischen dem 15. Januar und dem 15. März 2022 aufgenommen wurden (zu einem Zeitpunkt, wo die B.1.1.529 Omicron-Vorherrschaft >95 % betrug), und hospitalisierte Patienten mit Influenza A- oder B-Infektion wurden eingeschlossen. Patienten ohne Studienergebnis bis zum 30. August 2022, wurden zensiert. Die Studie wurde an 15 Spitälern in der Schweiz durchgeführt.

Expositionen

Gemeinschaftlich erworbene SARS-CoV-2 Omicron-Variante vs. gemeinschaftlich erworbene saisonale Influenza A oder B.

Hauptergebnisse und Massnahmen

Primäre und sekundäre Ergebnisse wurden definiert als Sterblichkeit im Krankenhaus, Sterblichkeit im Krankenhaus und Aufnahme auf die Intensivstation bei Patienten mit der SARS-CoV-2 Omicron Variante oder Influenza. Die Cox-Regression (ursachenspezifische und Fine-Gray-Unterverteilungs-Hazard-Modelle) wurde verwendet, um die Zeitabhängigkeit und konkurrierende Ereignisse zu berücksichtigen, bei einer inversen Wahrscheinlichkeitsgewichtung zur Berücksichtigung von Störfaktoren mit Rechtszensierung an Tag 30.

Ergebnisse

Von 5212 Patienten aus 15 Krankenhäusern hatten 3066 (58,8 %) eine SARS-CoV-2 Omicron Variante und 2146 Patienten (41,2 %) in 14 Zentren waren an Influenza A oder B erkrankt. Von den Patienten mit der SARS-CoV-2-Omicron-Variante waren 1485 (48,4 %) weiblich, während 1113 Patienten mit Influenza (51,9 %) weiblich waren (P = .02). Patienten mit der SARS-CoV-2-Omicron-Variante waren jünger (mittleres [IQR]-Alter, 71 [53-82] Jahre) als die Patienten mit Influenza (mittleres [IQR]-Alter, 74 [59-83] Jahre; P < .001). Insgesamt starben 214 Patienten mit der SARS-CoV-2 Omicron-Variante (7,0 %) während des Krankenhausaufenthalts gegenüber 95 Patienten mit Influenza (4,4 %; P < .001). Die endgültige bereinigte Subdistribution Hazard Ratio (sdHR) für den Tod im Krankenhaus für die SARS-CoV-2 Omicron-Variante gegenüber Influenza betrug 1,54 (95% CI, 1,18-2,01; P = .002). Insgesamt wurden 250 Patienten mit der SARS-CoV-2 Omicron Variante (8,6 %) gegenüber 169 Patienten mit Influenza (8,3 %) auf die Intensivstation eingeliefert (P = .79). Die SARS-CoV-2-Omicron-Variante war nicht signifikant mit einer vermehrten Einweisung in die Intensivstation gegenüber der Influenza- Infektion assoziiert (sdHR, 1,08; 95% CI, 0,88-1,32; P = .50).

Schlussfolgerungen

In dieser Kohortenstudie mit 5212 Patienten, die mit der SARS-CoV-2 Omicron-Variante oder Influenza A oder B in der Schweiz hospitalisiert wurden, war die SARS-CoV-2 Omicron Variante mit einem 1.5-fach höheren Risiko für 30 Tage Gesamtmortalität im Spital im Vergleich zu Influenza assoziiert. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Pa­tienten mit der SARS-CoV2 Omicron Variante trotz der Virusevolution und den verbesserten Managementstrategien ein höheres Risiko für Mortalität im Spital haben als diejenigen mit einer Influenzainfektion.

Quelle: Portmann Lea et al. Hospital Outcomes of Community-Acquired SARS-CoV-2 Omicron Variant Infection Compared With Influenza Infection in Switzerland. JAMA Network Open. 2023;6(2):e2255599. doi:10.1001/jamanetworkopen.2022.55599

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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Risikofaktoren für Herpes Zoster; Sollen Patienten mit Asthma oder COPD geimpft werden?

Herpes Zoster (HZ) oder Gürtelrose ist eine durch Impfung vermeidbare Krankheit, die durch die Reaktivierung des latenten Varizella-Zoster-Virus (VZV) verursacht wird, das bei >95% der Erwachsenen≥40 Jahre vorhanden ist. Das Lebenszeitrisiko einer Gürtelrose liegt bei >30% derjenigen, die nicht gegen HZ geimpft sind [1-3]. Auch wenn inzwischen hochwirksame Impfstoffe zur Verfügung stehen, sind die Gürtelrose und ihre Komplikationen mit schätzungsweise 1 Million Fällen pro Jahr in den Vereinigten Staaten eine bedeutende Ursache für die Morbidität [4].

Vor der Einführung von Impfprogrammen traten Komplikationen bei fast jedem vierten HZ-Patienten auf [5]. Die häufigste Komplikation ist die postherpetische Neuralgie (PHN), die die Lebensqualität über Monate oder Jahre erheblich beeinträchtigen kann. Sie tritt bei 5-30% aller HZ-Fälle auf, wobei das Risiko mit dem Alter zunimmt; 80% aller PHN-Fälle treten bei Personen im Alter von ≥50 Jahren auf [6, 7]. HZ ophthalmicus (HZO) ist die zweithäufigste Komplikation von HZ, die in bis zu 10% der Fälle auftritt und zu schweren Folgen wie Erblindung führen kann [8]. Chronische Erkrankungen oder Komorbiditäten erhöhen das Risiko einer Person, an HZ zu erkranken [9, 10]. Im Durchschnitt besteht ein um 30% erhöhtes Risiko für eine akute HZ bei Personen mit mindestens einer der folgenden Erkrankungen: Asthma, chronische Herzerkrankung, chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD), Depression und rheumatoide Arthritis (11) [14]. Sowohl Asthma als auch COPD wurden auch mit einem erhöhten Risiko für PHN in Verbindung gebracht (12) [11).

Trotz des gut dokumentierten erhöhten Risikos für HZ und PHN bei Personen mit Asthma oder COPD werden in den aktuellen Leitlinien für HZ-Impfprogramme diese Atemwegserkrankungen oft nicht ausdrücklich in die Liste der chronischen Erkrankungen aufgenommen, die für eine Impfung in Betracht gezogen werden sollten; daher werden Personen mit Atemwegserkrankungen in den aktuellen Impfempfehlungen möglicherweise nicht berücksichtigt (13, 14). Eine kürzlich publizierte Studie (15) untersuchte die Belastung durch HZ bei Erwachsenen mit Asthma oder COPD. Es werden Informationen zusammengefasst, die bei der Entwicklung künftiger Impf- und Krankheitsrichtlinien hilfreich sein können. Es wurden Daten und Belege aus verschiedenen Ländern verwendet, um das HZ-Risiko bei Erwachsenen mit Asthma oder COPD zu beschreiben und Aspekte zu erörtern, wie diese Bevölkerungsgruppen von einer HZ-Prävention profitieren könnten Ohne Impfung wird schätzungsweise 1 von 3 Personen im Laufe ihres Lebens an Herpes Zoster (HZ) erkranken. Ein erhöhtes HZ-Risiko wird auf eine gestörte zellvermittelte Immunität zurückgeführt, wie sie bei altersbedingter Immunoseneszenz oder bei Personen mit geschwächtem Immunsystem aufgrund von Krankheiten oder immunsuppressiven Behandlungen beobachtet wird. Die meisten Impfrichtlinien empfehlen die HZ-Impfung für alle Erwachsenen≥50 Jahre, obwohl Shingrix® durch Swissmedic im Oktober 2021 in der Schweiz für Personen im Alter von≥18 Jahren zugelassen wurde, die aufgrund einer Immunschwäche oder Immunsuppression durch bekannte Krankheiten oder Therapien ein erhöhtes HZ-Risiko haben oder haben werden.

Chronische Atemwegserkrankungen sind ebenfalls Risikofaktoren für HZ. Eine neue Meta-Analyse berichtet über ein um 24% bzw. 41% erhöhtes Risiko für HZ bei Personen mit Asthma und chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen. Asthma und COPD erhöhen das Risiko für HZ und damit verbundene Komplikationen in jedem Alter und können bei Personen, die inhalative Kortikosteroide erhalten, weiter erhöht sein. Trotz des erhöhten Risikos gibt es Hinweise darauf, dass die HZ-Impfquote bei Personen im Alter von≥50 Jahren mit COPD im Vergleich zur altersgleichen Allgemeinbevölkerung niedriger ist, was möglicherweise auf ein mangelndes Bewusstsein für HZ-Risikofaktoren bei Klinikern und Patienten hinweist. Der Bericht der Global Initiative for Chronic Lung Disease 2022 erkennt an, dass die Centers for Disease Control and Prevention empfehlen, Personen im Alter von≥50 Jahren gegen HZ zu impfen, obwohl die Gesundheitssysteme die Einbeziehung aller Erwachsenen mit Asthma oder COPD in ihre HZ-Impfprogramme in Betracht ziehen sollten. Weitere Forschungen zur Wirksamkeit und Sicherheit des HZ-Impfstoffs in jüngeren Bevölkerungsgruppen sind erforderlich, um Impfempfehlungen zu erarbeiten. Highlights – Die Reaktivierung des latenten Varizella-Zoster-Virus manifestiert sich als Herpes Zoster (HZ), der mit belastenden Symptomen einhergeht und zu Komplikationen führen kann – Risikofaktoren für HZ sind häufig mit einer Abnahme der zellvermittelten Immunität verbunden, wie sie im Alter, bei geschwächtem Immunsystem, unter immunsuppressiver Therapie und bei chronischen Erkrankungen, die das Immunsystem beeinträchtigen, beobachtet wird Meta-Analysen haben ein erhöhtes Risiko für HZ bei Menschen mit Asthma oder COPD [9, 10] im Vergleich zu Menschen ohne Asthma oder COPD eindeutig nachgewiesen. Die Daten zeigen auch, dass die Einnahme von ICS ein separater Risikofaktor für HZ bei Patienten mit diesen Erkrankungen sein kann. Wie in der Allgemeinbevölkerung ist auch bei Asthma- oder COPD-Patienten das zunehmende Alter ein Risikofaktor (16, 17). Die Empfehlungen für die HZ-Impfung stimmen mit den Daten überein und beziehen sich auf Personen im Alter von ≥50 Jahren, die – möglicherweise zufällig – die Patientengruppen mit dem höchsten Risiko bei Asthma und COPD umfassen. Es ist jedoch besorgniserregend, dass die Impfung gegen HZ bei Patienten mit Atemwegserkrankungen aufgrund des mangelnden Bewusstseins von Klinikern und Patienten für HZ-Risikofaktoren gering sein könnte (18), obwohl sich dies nach der kürzlich erfolgten Aufnahme der HZ-Impfung in die GOLD-2022-Empfehlungen für COPD verbessern könnte (19) .Eine Impfung gegen HZ könnte für Menschen mit Asthma oder COPD in einer Vielzahl von Altersgruppen, von jungen Erwachsenen bis hin zu älteren Menschen, von Vorteil sein.

Quelle: Safonova E et al. Risk factors for herpes zoster : should people with asthma or COPD be vaccinated ? Respir Res. 2023 ; 24 : 35. Doi10.1186/s12931-022-02305-1.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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1. Insinga RP et al. The incidence of herpes zoster in a United States administrative database. J Gen Intern Med. 2005;20:748–53.
2. Harpaz R et al, Advisory Committee on Immunization Practices (ACIP) Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Prevention of herpes zoster: recommendations of the Advisory Committee on Immunization Practices (ACIP). MMWR: Recommendations and Reports. 2008;57:1–30.
3. Brisson Met al. Epidemiology of varicella zoster virus infection in Canada and the United Kingdom. Epidemiol Infect. 2001;127:305–14.
4. Centers for Disease Control and Prevention. Shingles (Herpes Zoster): clinical overview. https://www.cdc.gov/shingles/hcp/clinical-overview. html. Accessed 1 Dec 2021
5. Yawn BP et al. A population-based study of the incidence and complication rates of herpes zoster before zoster vaccine introduction. Mayo Clin Proc. 2007;82:1341–9.
6. Kawai K, Gebremeskel BG, Acosta CJ. Systematic review of incidence and complications of herpes zoster: towards a global perspective. BMJ Open. 2014;4: e004833
7. Yawn BP, Gilden D. The global epidemiology of herpes zoster. Neurology. 2013;81:928–30
8. Yawn BP et al. Herpes zoster eye complications: rates and trends. Mayo Clin Proc. 2013;88:562–70
9. Marra F et al. Risk factors for herpes zoster infection: a meta-analysis. Open Forum Infect Dis. 2020;7:ofaa005
10. Kawai K, Yawn BP. Risk factors for herpes zoster: a systematic review and meta-analysis. Mayo Clin Proc. 2017;92:1806–21
11. Forbes HJ et al. Quantifcation of risk factors for postherpetic neuralgia in herpes zoster patients: a cohort study. Neurology. 2016;87:94–102. 12. Hope-Simpson RE. Postherpetic neuralgia. J R Coll Gen Pract. 1975;25:571–5
12. Government of Canada. Herpes zoster (shingles) vaccine: Canadian immunization guide. https://www.canada.ca/en/public-health/services/ publications/healthy-living/canadian-immunization-guide-part-4-activevaccines/page-8-herpes-zoster-(shingles)-vaccine.html. Accessed 15 Nov 2021
13. Gobierno de España. Ponencia de Programa y Registro de Vacunaciones—Recomendaciones de vacunación frente a herpes zóster [Presentation of the immunization program and records—vaccination recommendations against herpes zoster]. https://www.mscbs.gob.es/en/ profesionales/saludPublica/prevPromocion/vacunaciones/programasD eVacunacion/docs/HerpesZoster_RecomendacionesVacunacion.pdf. Accessed 15 Nov 2021
14. Johnson RW. Herpes zoster and postherpetic neuralgia: a review of the efects of vaccination. Aging Clin Exp Res. 2009;21:236–43. 14. Batram M, Witte J, Schwarz M, Hain J, Ultsch B, Steinmann M, Bhavsar A, Wutzler P, Criee CP, Hermann C, et al. Burden of herpes zoster in adult patients with underlying conditions: analysis of German claims data, 2007–2018. Dermatol Ther. 2021;11:1009–26.
15. Safonova E et al. Risk factors for herpes zoster : should people with asthma or COPD be vaccinated ? Respir Res. 2023 ; 24 : 35. Doi10.1186/s12931-022-02305-1.
16. Kwon HJet al. Asthma as a risk factor for zoster in adults: a population-based case-control study. J Allergy Clin Immunol. 2016;137:1406–12.
17. Thompson-Leduc P et al. COPD is associated with an increased risk of herpes zoster: a retrospective analysis of a United States claims database from 2013–2018. Chest. 2020;158:A1771–2.
18. Yawn Ber al. Comparative vaccine hesitancy in people with COPD. Chest. 2021;160:A1850–1
19. Global Initiative for Chronic Obstructive Lung Disease. Global strategy for the diagnosis, management, and prevention of chronic obstructive pulmonary disease. https://goldcopd.org/wp-content/uploads/2021/12/ GOLD-REPORT-2022-v1.1-22Nov2021_WMV.pdf. Accessed Dec 2021.

RETO KRAPFs Medical Voice

Frisch ab Presse:

Debatte

Immer Sommerzeit oder immer Winterzeit?

Sie wissen vielleicht, dass am Tag resp. den Tagen nach der Umstellung auf die Sommerzeit mit Schlafdeprivation von etwa einer Stunde kardiovaskuläre Ereignisse, inkl. die damit verursachte Mortalität und Arbeitsplatz-assoziierte Unfälle signifikant (allerdings mit kleiner Effektgrösse) gehäuft sind. Über das Jahr korrigiert sich dies aber, da am Tag nach der Umstellung auf die Winterzeit kardiovaskuläre Ereignisse und Unfälle weniger häufiger auftreten. Nun will man diese Zeitumstellungen, wahrscheinlich ab 2024, nicht mehr. Die Frage ist also: immer Winterzeit oder immer Sommerzeit?

Medizinstimmlich sind die längeren, hellen Abende – wie Umfragen auch in repräsentativen Populationen mehrheitlich zeigen – subjektiv ein Gewinn an Lebenszeit- und Lebens­qualität. Nicht so sicher ist, wie sich die «Sommerzeit» im Winter, mit der an den kürzesten Tagen erst um 0900h zu erwartenden Dämmerung anfühlen würde. Viele medizinische Fachgesellschaften argumentieren gegen eine – sozusagen – ganzjährige Sommerzeit: Die längeren Abende und die morgendlichen Dunkelstunden würden zu einer Dissoziation des sozialen, gesellschaftlichen vom individuellen, durch die biologische Uhr verlangten Rhythmus führen. Die innere Uhr wird in der Tat durch den Licht (Sonnen-)Zyklus moduliert. Dieser Dissoziation werden signifikante gesundheitsschädigende Einflüsse wie die bereits erwähnten, aber zusätzlich auch Depressionen zugeschrieben. Für die
perenniale Winterzeit spricht, dass wir uns alle vor dem Hin und Her zwischen Sommer- und Winterzeit schon langfristig an nur eine Zeit, nämlich die Winterzeit, adaptiert hatten.

JAMA 2023, doi:10.1001/jama.2023.0159, verfasst am 09.03.2023

Erfolgsstories für Aldosteron-Antagonisten: Positive Wirkungen auf 1. kardiovaskuläre Ereignisse, 2. Progression der chronischen Niereninsuffizienz und 3. Kontrolle refraktärer Hypertonien

Von den klassischen Aldosteron-Antagonisten wie die steroidalen Spironolakton (Aldakton®) und Eplerenon (Inspra®) war bekannt, dass sie antihypertensive, kardioprotektive und nephroprotektive Eigenschaften aufweisen. Von einem neuen, nicht-steroidalen Antagonist (Finerenon, Kerendia®) wurde gezeigt, dass er kardiovaskuläre Ereignisse bei chronischer Nieren­insuffizienz mit oder ohne Diabetes Typ 2 verringert und die Progression der Niereninsuffizienz selber signifikant verlangsamt (1, 2). Während diese 3 Antagonisten den Aldosteron-Rezeptor blockieren (somit die endogenen Aldosteronkonzentrationen erhöhen), blockiert ein neues Medikament (Baxdro­stat, ein sogenannter «small molecule inhibitor») ein Enzym der Nebennieren, die sogenannte Aldosteronsynthase. Die erste Evaluation dieses Medikamentes wurde für die refraktäre (oder Therapie-resistente) Hypertonie Plazebo-kontrolliert vorgenommen (3). «Refraktäre Hypertonie» war in dieser Studie wie folgt definiert: Blutdruckwerte > 130/80 mmHg, trotz 3-monatiger Vorbehandlung mit 3 Antihypertensiva unterschiedlicher Wirkungsklassen.

Der Effekt war sehr gross: Mehr als 11 mmHg Reduktion des systolischen Blutdruckes im Vergleich zu Plazebo! Da in Studien in aller Regel auch die Betreuung der PatientInnen in der Plazebogruppe intensiviert wird, ist der Abfall des systolischen Blutdruckes um 9 mmHg in der Plazebogruppe nicht erstaunlich, aber quantitativ überraschend. Baxdrostat ist in der Schweiz noch nicht erhältlich, alle Medikamente mit Interferenz mit der Aldosteronsynthese oder Aldosteronwirkung, so auch die hier erwähnten, können eine Hyperkaliämie verursachen, die aber bei sorgfältiger Beachtung in den Griff bekommen werden kann. Siehe auch nachstehend «Hintergrundswissen in weniger als einer halben Minute»

1. NEJM 2020, DOI: 10.1056/NEJMoa2025845, 2. NEJM 2021, DOI: 10.1056/NEJMoa2110956, 3. NEJM 2023, DOI:10.1056/NEJMoa2213169, verfasst am 05.03.2023

Ikonoklastische klinische Forschung

Ist Hydrochlorothiazid unwirksam in der sekundären Prävention von kalzium-haltigen Nierensteinen?

Patientinnen und Patienten nach Passage eines kalziumhaltigen Nierensteines wird häufig zur Sekundärprophylaxe das Diuretikum Hydrochlorothiazid verschrieben. Eine gut durchgeführte, Plazebo-kontrollierte Schweizer Studie fand – im Gegensatz zu Lehrbuchmeinungen – keinen signifikanten Effekt von 12.5, 25 oder 50 mg Hydrochlorothiazid auf die Nierensteinrezidive. Wieder einmal ein gutes Beispiel dafür, dass wir vieles als gegeben annehmen, das es gar nicht ist. Wie bei jeder chronischen Intervention für eine Krankheit ohne aktuelle Symptome (z.B. bei Osteoporose, Hypertonie u.a.m) war die Compliance weit von der Perfektion entfernt. Die gut siebzigprozentige Befolgung der Therapieanweisungen ist zwar nicht schlecht und im Rahmen, was in solchen Situationen und auch gemäss anderen Studien generell zu erwarten ist. Dass mehr als 25% der Studienteilnehmer die Medikamente nicht oder nicht korrekt einnahmen, könnte aber zu einer Unterschätzung des Hydrochlorothiazideffektes geführt haben. Diese Complianceprobleme dürften aber auch in der Praxis in vergleichbarem Masse vorhanden sein. Für eine weisse, vorwiegend männliche Schweizer Bevölkerung (die Hauptpopulation in dieser Studie) gibt es aber auf Grund dieser Resultate wenig Grund auch in Zukunft generell Hydrochlorothiazid weiter zur Rezidivprophylaxe von kalziumhaltigen Nierensteinen zu verschreiben.

NEJM 2023, DOI: 10.1056/NEJMoa2209275, verfasst am 09.03.2023

Hintergrundswissen: In weniger als einer halben Minute ….

Aldosteron: Lebensversicherung und Übeltäter!

Aldosteron, in der zona glomerulosa der Nebennierenrinde als Antwort auf einen Salz- oder Volumenmangel (via Angiotensin II) oder auf einen Anstieg des Plasmakaliums gebildet, ist überlebenswichtig: Es diktiert der Niere (und dem Kolon sowie den Schweiss- und Speicheldrüsen) Natrium (im Sammelrohr) rückzuresorbieren und somit z.B. in den Sommermonaten, nach Schwitzen beim Sport oder extrarenalen Salzverlusten wie beim Erbrechen oder Durchfall, das Extrazellulärvolumen und den Blutdruck so weit wie möglich konstant zu halten. Aldosteron ist auch unsere Lebensversicherung gegen bedrohliche Hyperkaliämien, denn in den sog. mineralokortikoidsensitiven Geweben (die oben erwähnten Sammelrohre der Nieren, das Kolon sowie die Schweiss- und Speicheldrüsen) führt Aldosteron zu einer erhöhten Kaliumsekretion (oder –elimination). Minime Schwankungen des Plasmakaliums (bei ca 0,1 mmol/L) können signifikante Änderungen der Aldosteronsekretion induzieren!

Die vorhin erwähnten mineralokortikoiden Gewebe, sind die klassischen Zielorgane des Aldosterons. Dieses hat aber auch nicht-klassische «Zielscheiben», nämlich u.a. Endothelien, glatte Gefässmuskelzellen, Entzündungszellen und Bindegewebe-produzierende Zellen (Fibroblasten).

Der Netto-Effekt dieser Aldosteronwirkungen ist ein entzündlicher, profibrotischer Zustand. Aldosteron ist selbst bei Normokaliämie und Euvolämie in diversen klinischen Situationen – leider aus noch wenig definierten Gründen – erhöht. Dazu gehören namentlich die chronische Niereninsuffizienz, schon in frühen Stadien, und die essentielle Hypertonie. Die positiven Effekte der Hemmung der Aldosteronaktivität, sei es durch Rezeptorantagonisten oder Synthesehemmung sind starke Argumente für diese «nicht-klassischen» Aldosteroneffekte. Wir sind gespannt, ob der Aldosteron-Synthase Hemmer (Baxodrostat und allfällige Folgeprodukte) seine Schutzwirkung auch gegen kardiovaskuläre Ereignisse und die Progression der chronischen Niereninsuffizienz beweisen kann, wie wir es auf Grund des Gesagten eigentlich erwarten würden.

Und zum Schluss: Warum wirkt ein Aldosteron-Synthase-Hemmer anscheinend stärker als Aldosteron-Rezeptor-Antagonisten (siehe den unerwartet hohen Blutdruckeffekt des Aldosteron-Synthase-Hemmers Baxdrostat)? Bei Rezeptor-Antagonisten wird die Aldosteron-Konzentration steigen, weil dieses ja weiterhin seine Aufgabe erfüllen will. Die Restaktivität am Rezeptor wird also mutmasslich nie ganz Null sein, sondern dadurch bestimmt, wieviele Aldosteronmoleküle durch die gegebene Konzentration des Antagonisten vom Rezeptor verdrängt werden. Die Hemmung der Aldosteron-Synthese andererseits kann theoretisch die Restsynthese auf Null hinunterschrauben.

Verfasst am 12.03.2023

Medizinische Krimis

1. Havanna-Syndrom
Über Monate wurde über eigenartige Symptome bei Angestellten der US-Botschaft in Havanna (Kuba) berichtet, die sich in einem anderweitig nicht erklärten Symptomenkomplex von u.a. Konzentrationsstörungen, Schlaflosigkeit, Hörverlust, Schwindel und Kopfschmerzen äusserten. Dieses schnell «Havannasyndrom» genannte Phänomen wurde nicht näher bezeichneten, aber bekannten «Schurkenstaaten» angelastet, wobei namentlich eine Ultrabeschallung vermutet wurde. Diese Woche gaben amerikanische Geheimdienste Entwarnung, das Phänomen sucht also eine andere Erklärung oder Ursache.

2. Ursprung der Pandemie
Das FBI andererseits favorisiert neu – wie wir schon seit längerem – von den zwei möglichen Ursachen der Pandemieentstehung die Entweichung eines manipulierten, mutierten Coronavirus aus einem Labor für experimentelle Mikrobiologie in Wuhan. Dies gegenüber der Alternative einer Übertragung von SARS-CoV-2 aus einem tierischen Reservoir in einem hygienisch bedenklichen Wuhan Nahrungsmittelmarkt. Das FBI glättet gleich die Wogen wieder etwas und hält fest, dass es sich nicht um eine Entwicklung einer biologischen Waffe (?) gehandelt habe. Mit 7 Millionen Todesfällen würde sich China ja auch einer sehr teuren Verursacherrolle schuldig machen, aber auf Grund der globalen Kräfteverhältnisse gleichwohl nicht für die astronomischen Kosten der Pandemie zahlen (müssen) und wie bei anderen Gelegenheiten üblich andere Länder inkriminieren. Da die USA das genannte Labor mit Forschungsförderung unterstützten, sind sie allerdings selber auch nicht aus dem Schneider.

3. Todesursache von Pablo Neruda
Im Verlaufe des Pinochet-Putsches 1973 mit Stürmung des Präsidentenpalastes hatte sich der linke Staatpräsident, Salvador Allende, suizidiert. Sein Freund, Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda, wollte aus Chile fliehen. Kurz davor wurde er durch die revolutionierenden Militäreinheiten aufgegriffen und in ein Spital eingeliefert und starb kurz darauf, offiziell wegen einem metastasierenden Prostatakarzinom und Unterernährung. Gemäss Resultaten einer erneuten gerichtsmedizinischen Untersuchung nach Exhumierung vor 10 Jahren, die nun öffentlich wurden, wurde Neruda jedoch durch eine Botulinus-Toxin Applikation ermordet. Die lange Zeit seit der Tat und die vielen Kratzer am Bild des Schriftstellers (u.a. hatte er – von ihm zugegeben – eine tamilische Angestellte vergewaltigt) halten offensichtlich die Empörung darüber etwas unter dem Deckel.

Quellen: verschiedene Tageszeitungen in der Woche des 27. Februar (The Guardian, NZZ, New York Times). Verfasst am 4. März 2023

Grenzgebiete zur Medizin

«Work or Life», «Work and Life» oder gar «Life in Work»?

Das Thema der «Work-Life-Balance» nimmt seit geraumer Zeit in der Medizin einen wichtigen Stellenwert ein, und zwar bei allen Gesundheitsberufen, unbesehen ob die Mitglieder in der Aus- und Weiterbildung engagiert sind oder diese bereits absolviert haben. Cézanne sagte zwar: «Le meilleur des loisirs est toujours encore le travail!» Ein Künstler kann schön darüber reden, werden Sie vielleicht denken. Die gegenwärtige Diskussion zeigt aber, dass vor allem die jüngeren Ärztinnen und Ärzte (1) die Haltung erfahrener Ärztinnen und Ärzte (2) nicht mehr verstehen. Letztere haben ihrerseits etwas Mühe mit den jüngeren Kolleginnen und Kollegen und beklagen auch die verpassten Chancen als Folge einer strikten «Work-Life-Balance» oder besser einer Ab- oder Ausgrenzung des «Lebens» von der «Arbeit». Dankbar dürfen wir zur Kenntnis nehmen, dass das Thema im Sinne der Vermittlung und einem Credo gegen die strikte Abgrenzung der Frei- oder Privatzeit («Life») von der Arbeit («Work») auf das Niveau der Vernünftigkeit, um nicht zu sagen der Vernunft gehoben wurde (3). Ein lesenswerter Artikel! Die moderne Arbeits- und Freizeitwelt ist geprägt durch multiple Möglichkeiten und Angebote und Lebenspläne («embarras de richesse»). Mehr als nur oft treten diese einzelnen Möglichkeiten miteinander in Konflikt und verursachen – wenn sie parallel weiter «gepflegt» werden – Unzufriedenheit und Stress. Wie schaffen wir es wieder, uns auf nur einige wenige Hauptaufgaben zumindest während einer definierten, gegebenen Lebensphase zu konzentrieren? Dass die Inhalte, die Wertschätzung, aber auch die eigene Begeisterung eine solche Aufgabe ausgezeichnet zu erledigen, erfüllt sein müss(t)en, ist selbstredend. Wir alle wissen, dass hier Verbesserungsbedarf besteht….

1. Kellerhals, Tamara, SAEZ 2023; 103(10): 27, 2. Fey, Martin, SAEZ 2023; 103(04): 17-18, 3. Schmid, Birgit, NZZ 2023, Ausgabe 11.03.2023, Seite 40, www.nzz.ch/feuilleton/work-life-balance-trennung-von-leben-und-arbeit-eine-illusion-ld.1729061 (Eine PDF-Version dieses Artikels finden Sie hier – Wir bedanken uns herzlich bei der Autorin, Frau Birgit Schmid, für die Gewährung des Copyrights.) Verfasst am 12.03.2023

Prof. Dr. med. Reto Krapf

krapf@medinfo-verlag.ch

Rettet uns der Fachkräftemangel?

Der Fachkräftemangel ist in aller Munde. Das Problem ist echt und existiert nicht nur in den Medien und der Politik. Dort wird es allerdings kräftig bewirtschaftet, auch zur Durchsetzung von Partikularinteressen.

Die Ursachen sind vielfältig und das Gesundheitswesen belegt den Branchenmangel-Rang 1 noch vor der IT-Branche (Adecco in SRF1, 10 vor 10, 28.11.2022). Treiber sind vor allem die Demographie und die hohen Berufsabgänge. Die Arbeitsbedingungen in den Mangelberufen werden als nicht so attraktiv angesehen wie früher und wie in den anderen Berufen, oder andere Arbeitgeber haben schlicht das attraktivere Paket für Mitarbeiter. Die Pflegevertreterverbände fordern denn auch nicht primär mehr Lohn, sondern attraktivere Bedingungen. Dies ist gut nachvollziehbar- auch im Arztberuf, wenn man mit Kollegen spricht und ich mich mit meinen Kindern unterhalte. Auch ein Kollege und ehemaliger Doktorand, der jetzt eine Hausarztpraxis, noch die einzige im Quartier, übernommen hat, schildert fast verzweifelt seine Lage. Er nimmt keine neuen Patientinnen und hat eine Warteliste von 18 Monaten, wenn denn jemand warten will. Er beginnt seine Hausbesuche nach 20 Uhr. So musste er auch meine Bitte abweisen, als ich helfen wollte, einen Hausarzt für Bekannte zu suchen. (MAS-Erhebung SAeZ 2022,103:28-29).

Man baut jetzt auf Ausbildungsinitative. Das ist richtig, weil wir Jahrzehnte lang vom anscheinend nie versiegenden, billigen Import (und auf Kosten anderer Länder) gelebt haben, wie übrigens auch bei anderen kritischen Gütern, beispielsweise bei Strom und Arzneimittel. Mehr Auszubilden genügt nicht, die Arbeitgeber werden bei Arbeitsplatzattraktivität ein paar Briketts in ihren
Personalofen einwerfen müssen, vor allem um die guten Arbeitskräfte in ihrem Betrieb und im Beruf halten zu können. Das ist billiger, einfacher und auch effizienter als das Problem durch neue Ressourcen für zusätzliche Auszubildende bereit zu stellen und zu betreiben, die dann wieder gehen. Wohlverstanden, der Personalofen soll wärmen, zum Bleiben, nicht als Durchlauferhitzer betrieben werden.

Die selbstverschuldete Krise hilft uns aber vielleicht die erkannten, notwendigen Reformen im Gesundheitswesen – und anderswo – endlich an die Hand zu nehmen wie beispielsweise die Versorgungssicherheit von und der gerechte Zugang zu Pharma- und MedTech-Produkten oder das Kompetenzgerangel (oder ist es das Schwarzpeter-Spiel?) zwischen Kantonen und Bund bei den Überkapazitäten zu klären. Oder dort, wo die Umsetzung begonnen hat, richtig vorwärts zu machen wie beispielsweise bei der HSM (Martin Fey SAeZ 2022 103:34-36). Oder beim Elektronischen Patienten Dossier, wo berechtigterweise der Einbezug der Ärzte in die Gestaltung verlangt wird (Saez 2022: 103: 16-19), um nutzerorientiert vorwärts zu machen, damit dieses eine Hilfe wird und nicht nur eine ungeordnete, kaum hilfreiche pdf-Befundsablage bleibt, die mit Zwang eingeführt werden soll. Hier könnte der Fachkräftemangel helfen endlich den Digitalisierungs- und Standardisierungsrückstand im Gesundheitswesen aufzuholen. In all diesen Feldern müssen sich täglich Fachkräfte im Gesundheitswesen mit Problemen abmühen, die nicht ihrer Kernaufgabe entspricht. Dies baut mehr und mehr Frustration auf, bis zur inneren oder tatsächlich realisierten Kündigung. Zudem entzieht dies die fehlende Fachkompetenz dort, wo sie dringend gebraucht würde.

Der Fachkräftemangel könnte auch die längst notwendige Strukturbereinigung im ambulanten Bereich (Hausarztmedizin statt Notfallstationen, Entlastung der Ärzte von Administration und Bürokratie) aber vor allem im Spitalwesen beschleunigen (und erst noch viel Geld sparen): Ungenügende Zusammenarbeit der Kantone, Überkapazität an Betten und Operationssälen und Speziallabore (Koronarangiographie) haben Hunderte von Millionen verdunstet, gerade auch in meiner geographischen Umgebung, und sind exemplarische Probleme, die vor sich hergeschoben wurden und immer noch werden, wohl weil einfach noch zu viel Geld im System vorhanden ist. Der Abbau von Betten könnte Fachkräfte für die ambulante Versorgung freisetzen und wäre eine Chance für attraktivere Arbeitsbedingungen in den Mangelberufen. Die Thematik wurde auch in der Schweizerischen Ärztezeitung wiederholt behandelt (SAeZ 2022, 103: 26-27).
In einer Umfrage unter 23’000 Ärzten in Deutschland war die Mehrheit über fehlende Wertschätzung durch die Politik und Krankenkassen gestört und 60% denken an einen Berufswechsel in den nächsten 2 Jahren nach. Beanstandet wurden auch die falschen Anreizsysteme, welche die Arbeit für technische Leistungen bevorzugen. Reden mit dem Patienten sei, finanziell gesehen, kontraproduktiv. Geldbegehren liegen bei den Ärzten aber nicht auf den vordersten Rängen der Forderungen (übrigens auch nicht in der Pflege). In ihrer täglichen Arbeit steht als Ursache ihrer Frustration die ausufernde Bürokratie (86%) ganz vorne, gefolgt von Problemen verursacht durch nicht funktionierende oder nicht benutzerfreundliche Digitalisierung. Die langen Arbeitszeiten liegen abgeschlagen auf dem 7. Platz (https://medizinio.de/blog/frust-in-der-arztpraxis-2022).

Hier soll jetzt korrigiert werden: Die Strukturreform soll an die Hand genommen und Fehlanreize bei der stationären Versorgung beseitigt werden. Der Bundesminister wurde in der Covid-Pandemie unterschiedlich wahrgenommen, aber wo er recht hat, hat er recht: «Patientinnen und Patienten sollen sich darauf verlassen können, dass sie überall, auch in ländlichen Regionen, schnell und gut versorgt werden, sowie medizinische und nicht ökonomische Gründe ihre Behandlung bestimmen. Dafür müssen wir das Fallpauschalen-System überwinden. Wir haben die Ökonomie zu weit getrieben. Eine gute Grundversorgung für jeden muss garantiert sein und Spezialeingriffe müssen auf besonders gut ausgestattete Kliniken konzentriert werden. Momentan werden zu oft Mittelmass und Menge honoriert. Künftig sollen Qualität und Angemessenheit allein die Kriterien für gute Versorgung sein.» (https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/regierungskommission-legt-krankenhauskonzept-vor.html)

Was der fehlende Geldmangel nicht schafft, schafft vielleicht der Fachkräftemangel?

Prof. Dr. med. Beat Thürlimann

Prof. Dr. med. Beat Thürlimann

Brustzentrum, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St.Gallen

Was bedeutet das für Verschreibende und Medizinfachpersonen?

Seit August 2022 können Cannabisarzneimittel von Ärztinnen und Ärzten ohne Ausnahmebewilligung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) verschrieben werden. Allerdings ist neben nötigem Fachwissen die Kostenübernahme nach wie vor eines der Hauptprobleme, woran die neue Gesetzgebung leider kaum etwas zu ändern vermag. Der vereinfachte Zugang zu Medizinalcannabis lässt eine höhere Anzahl an Patientinnen und Patienten erwarten, welche diese Therapieoption in Anspruch nehmen möchten. Verschreibende und Pflegefachpersonen sollten auf die Gesetzesänderung durch gezielten Wissenstransfer, Fortbildungen und interprofessionellen Austausch vorbereitet werden.

Since August 2022, cannabis medicinal products can be prescribed by doctors without an exceptional authorisation from the Federal Office of Public Health (FOPH). However, apart from the necessary expertise, the assumption of costs is still one of the main problems, which the new legislation will unfortunately hardly be able to change. This simplified access to medicinal cannabis leads us to expect a higher number of patients who would like to make use of this therapeutic option. Prescribers and caregivers should be prepared for this change through targeted knowledge transfer, training and interprofessional exchange.
Key Words: medicinal cannabis, legislation, therapeutic option, interprofessional

Was führte zur Gesetzesänderung?

Die Motion Kessler, (nach Margrit Kessler, einer St. Galler Intensivpflegefachfrau und ehemaligen Nationalrätin) ebnete den Weg für das neue Medizinalcannabis Gesetz. Bis August 2022 zählte Cannabis gemäss Betäubungsmittelgesetz zu den verbotenen Substanzen. Cannabis durfte für medizinische Zwecke von Ärztinnen und Ärzten mit einer Ausnahmebewilligung des BAG verschrieben werden (i.d.R als Formula Magistralis). Vor etwa 5 Jahren gab es gem. BAG ca. 3000 solcher Ausnahmebewilligungen mit steigender Tendenz. Bei 12’000 Sonderbewilligungen im Jahre 2021 konnte man kaum noch von Ausnahmebewilligungen ausgehen und eine Gesetzes­änderung drängte sich auf, um der Realität besser zu entsprechen.

Deshalb wurde ein interprofessionelles Fachgremium eingesetzt, welches durch eine grossangelegte Stakeholderbefragung im Auftrag des BAG einen Handlungsbedarf belegen konnte, dem diese Gesetzesänderung nun auch grösstenteils Rechnung trägt.
Ärztinnen und Ärzte können neu Cannabisarzneimittel mit einem Betäubungsmittelrezept verschreiben, ohne zusätzlichen Antrag beim BAG – das bedeutet, Entscheidungsfreiheit (keine limitierten Indikationen mehr) und Therapieregime liegen nun vollständig in den Händen der Ärzteschaft. Die zuständige regulierende Behörde ist neu Swissmedic. Diese hat eine obligatorische Meldepflicht zur verordneten Therapie und zum Therapieverlauf über das im BAG verortete, digitale Meldesystem MeCanna eingeführt. Man erhofft sich prospektiv Daten generieren zu können, welche langfristig für Forschungsfragen und für etwaige Gesetzesanpassungen wertvoll sein können.

Cannabinoide und ihr Potential

Durch die bahnbrechende Entdeckung des Endocannabinoid-Systems (ECS, Abb. 1) in den 1990er Jahren war es erstmals möglich, Einblick in die Wirkweise des Cannabis, besonders des Hauptwirkstoffes THC (Tetrahydrocannabinol) zu bekommen. Dem folgte ein regelrechter, immer noch anhaltender Forschungsboom. Fankhauser und Eigenmann beschreiben das Endocannabinoidsystem als «ein hochkomplexes körpereigenes Regulationssystem, das im Nervensystem und in vielen weiteren Organen wichtige biologische Funktionen ausübt (Fankhauser und Eigenmann, S. 67). Das ECS ist daran beteiligt, das Gleichgewicht (Homöostase) des Organismus aufrecht zu erhalten. Es wird bei Bedarf (zum Beispiel bei Stress) aktiviert:

  • um zu entspannen
  • um zu ruhen
  • um sich anzupassen und zu vergessen (Erholung von internem und externem Stress)
  • um zu schützen (Reduktion von Entzündungen und übermässiger Aktivität von Neuronen)
  • um zu essen (Erhöhung von Hunger, Essen, Energiespeicher)

Die Aktivierung des ECS erfolgt durch die Aktivierung von Cannabinoid-Rezeptoren (CB, Abb. 2 und 3) durch körpereigene Substanzen (sogenannte Endocannabinoide), durch von aussen zugeführte Cannabinoide wie THC oder Cannabinoid-Mimetika.

Vincenzo die Marzo (Forschungsdirektor am Institute of Biomolecular Chemistry of the National Research Council (ICB-CNR) Pozzuoli, Neapel) fasst es so zusammen: «Das ECS ist lebenswichtig, es vernetzt Prozesse, die steuern, wie wir ausruhen, essen, vergessen und uns schützen.»

Das ECS ist also ein körpereigenes System, welches reguliert, stabilisiert und das Gleichgewicht erhält.
Die bekanntesten der über 140 Cannabinoide, wissenschaftlich untersucht und in der Praxis eingesetzt, sind THC und CBD (Tab. 1). THC und CBD können zur symptomatischen Therapie einer Vielzahl von Erkrankungen eingesetzt werden. Die wissenschaftliche Evidenz ist sehr unterschiedlich (siehe dazu Therapieempfehlungen aus der und für die Praxis auf der Webseite der SGCM sowie unter «Medikamente» eine (nicht vollständige) Auswahl an Magistralrezepturen, THC/CBD, THC only und CBD only)

Die Wirkung von Cannabispräparaten ist sehr individuell und dosisabhängig. Die Non-Responder-Rate für THC-haltige Cannabispräparate beträgt ca. 30%. Gemäss aktuellem Wissensstand resp. der vorhandenen Literatur kann eine Cannabismedikation nicht als First-Line Behandlung empfohlen werden. Jede Anwendung ist zum aktuellen Zeitpunkt als ein individueller Therapieversuch zu betrachten, wenn die Guideline-konforme Behandlung nicht wirksam ist oder aufgrund von Nebenwirkungen nicht toleriert wird.

Kontraindikationen

Als absolute Kontraindikationen für medizinische Cannabispräparate gelten eine Allergie oder Überempfindlichkeit auf Cannabis, THC bzw. CBD oder herstellungsbedingte Begleitstoffe (z.B. Erdnussöl bei Sativaöl 1%, Sesamöl bei Epidyolex®).
Bei THC ist zudem eine strenge Indikationsstellung angebracht bei:

  • schwerwiegenden kardiovaskulären Erkrankungen
  • (manifeste koronare Herzkrankheiten, Herzrhythmusstörungen, Angina pectoris, Herzinfarkt, u.a.)
  • schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankungen
    (v. a. Psychosen und Panikattacken, auch in der Anamnese)
  • manifeste oder ehemalige Suchterkrankung
  • Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren

Von einer Anwendung von THC oder CBD in der Schwangerschaft und Stillzeit wird abgeraten. Die medizinische Fachinformation ist bezüglich Kontraindikationen, Nebenwirkungen etc. zwingend zu konsultieren bei registrierten Präparaten.

Applikationsformen und Eindosierungsregime

Bei der oralen Applikationsform trägt der first-pass-Effekt dazu bei, dass dies die kostspieligste Option ist, da ein grosser Teil der Wirksubstanz durch die Leber abfiltriert und inaktiviert wird. Besonders aus Kostengründen und schnellerem Wirkungseintritt wird aktuell tendiert, Cannabislösungen sublingual zu verabreichen. Die Erfahrungen damit sind sehr gut und interessanterweise zeigt sich in der Praxis, v.a. bei Hochaltrigen oder moribunden Patienten, dass Microdosing (tgl. 1-3mg THC pro Tag) schon effektiv sein können.

Die Behandlung mit medizinischen Blüten, welche in einigen Ländern bereits zugelassen ist, birgt etliche Fragen und Stolpersteine. Häufig wissen Patienten nicht richtig, wie sie die Cannabisblüten anwenden sollen (Einnahme als Tee oder in Form von Keksen, Einatmen als Dampf wie beim Rauchen oder «Basteln eines Öles»). Dies und der mangelnde Wirkeffekt führen oft dazu, dass ihre behandelnden Ärztinnen und Ärzte diese Option als nutzlos einstufen und davon abraten. Die Option «Blüten verdampfen» kann für eine bestimmte Patientengruppe sehr effizient sein, ist aber meist für ältere Menschen wegen des schnellen Wirkungseintrittes eher mit Nebenwirkungen behaftet. Wichtig zu wissen bei Verdampfen:

  • Wirkungseintritt innert weniger Minuten
  • Max. Wirkung innerhalb 5 Min. (gut bei einschiessender Spastik u/o Muskelkrämpfen, wenn eine Dauertherapie mit Lösungen nicht gewünscht wird oder nicht finanzierbar ist)
  • Schneller Wirkungsabfall nach 2-3 h
  • Beim Rauchen (Kiffen): Inhalation von toxischen Verbrennungsstoffen – Cellulose verbrennt bei ca. 240 Grad
  • Beim Inhalieren: keine Verbrennungsstoffe freigesetzt, da nur verdampft – bei ca. 200 Grad (Lösungstemperatur für Cannabinoide)
  • Es können auch andere Pflanzen «inhaliert» werden (sofern Verdampfungstemperatur bekannt ist)
  • kontrollierte Therapie erschwert – schnelles Anfluten der Cannabinoide, kein konstanter Wirkspiegel, nach 2-3 Std. Wirkung am Abklingen
  • Handling aufwändig
  • kleiner Inhalator oder (medizinisch zugelassener) Volcano oder Mighty nötig, Kosten ca. 200.- bis 500.-

Bei der Eindosierung von medizinischen Cannabislösungen gilt «start low, go slow, stay low», das heisst, täglich in kleinen Schritten aufdosieren, bis die individuell wirksame Dosis erreicht ist. Es kann auch nach 2-3 Monaten eine «Therapiepause» gemacht werden und danach, falls nötig, wieder wie zu Beginn eindosiert werden. Oft kann dann eine geringere Dosis schon genügen.

Interaktionen

Wichtig sind in der Medizinalcannabis Anwendung eine strenge Indikationsstellung, eine Monitorisierung und der Einbezug der Patienten mit ihren Angehörigen, damit diese gut beobachten können wegen möglicher Interaktionen.

Wichtig zu wissen:

  • Wirkungsverstärkung von Opiaten, sedierenden Substanzen, Antidepressiva, Alkohol
  • Betablocker können Herzfrequenzsteigerung durch THC blockieren
  • THC kann antiepileptische Wirkung der Benzodiazepine verstärken
  • kann augeninnendrucksenkende Medikamente verstärken
  • kann antipsychotische Wirkung von Neuroleptika reduzieren, ev. bessere Ansprechbarkeit durch besseren Wachheitszustand
  • Suchtentwicklung bei medizinisch indizierter Anwendung: vernachlässigbar!

Vorsicht:

  • NSAR und Aspirin können THC-Wirkung beeinträchtigen
  • in Kombination mit Amphetaminen, Adrenalin, Kokain, Atropin → Pulsanstieg möglich
  • INR kann schwerer einstellbar sein unter CBD

Der Einsatz von Medizinalcannabis kann, wie eine Arbeit aus den USA zeigt, dazu beitragen nebenwirkungsbehaftete Medikamente und eventuell deren Abusus zu reduzieren (Abb. 4).

Nebenwirkungen

Nebenwirkungen sind dosisabhängig und individuell verschieden. International werden Benommenheit und Schwindel als häufigste Nebenwirkung angegeben. Daneben werden Mundtrockenheit, Übelkeit, Kopfweh, Herzrasen, Zunahme des Appetits, gesteigerte Sinnesempfindungen bis Halluzinationen (individuell variabel), reduzierter oder erhöhter Antrieb, Einschränkung der Fahrtüchtigkeit (bei Cannabis gilt ein formelles Fahrverbot), Euphorie oder Dysphorie, Angst und Panik bei stärkerer Überdosierung als Nebenwirkungen genannt.

Was kann getan werden: bei gleicher Dosierung bleiben, 1-2 Tage mehr ausruhen, ausreichend essen und trinken, wodurch die Nebenwirkungen verschwinden können. Wenn nicht, kann die Tagesdosis um 1mg THC reduziert werden.

Wildwest, Goldgräberstimmung und Gefahren im Cannabismarkt Schweiz

Das Potenzial von Cannabisarzneimitteln, die Lebensqualität vor allem im Kontext chronischer Erkrankungen massiv zu verbessern, haben Patientinnen und Patienten schon vor längerer Zeit entdeckt und Hunderte von Foren zeigen den regen Austausch der verschiedenen Gruppen untereinander. Der bislang erschwerte Zugang sowie die exorbitant hohen Kosten von Medizinalcannabis (Magistralrezepturen) führten allerdings dazu, dass sich Pa­tientinnen und Patienten oftmals notgedrungen illegal mit Cannabis versorgten und in vielen Fällen immer noch versorgen müssen. Die gesundheitlichen Konsequenzen daraus können gravierend sein. In den vergangenen Jahren führte der Bezug über Illegalität/Schwarzmarkt die Patientinnen und Patienten zu Produkten, die oft verunreinigt waren (Pestizide, Fungizide, Herbizide, Schwermetalle) und bei denen es nicht immer möglich war, genau dosieren zu können, da entsprechende Angaben zu Qualität, Inhaltsstoffen und Konzentration medizinisch wirksamer Bestandteile fehlten. Dies weil cannabishaltige Tinkturen unter dem Chemikaliengesetz (günstig) hergestellt wurden und somit nicht für den medizinischen Gebrauch zugelassen waren. Die nötigen Anforderungen für die medizinische Inverkehrssetzung wurden also gar nicht erfüllt und oft konnte man auf den diversen Produktverpackungen auch «Nicht einnehmen» lesen. Ganz davon abgesehen gab es viele Hersteller, welche die schweizerische Limite von 1% THC (relevant für BtM) geringfügig unterschritten und so Tinkturen verkauften, welche bis zu 0.9% THC enthielten und es gerade bei uninformierter Anwendung in etlichen Fällen zu gesundheitlichen Schäden kam. Es durfte auch nicht informiert werden, da es untersagt war, unter dem Chemikaliengesetz hergestellte Cannabislösungen als Heilmittel/Medikament zu verkaufen und eine Beratung anzubieten. In der Realität geschah genau das, in grossem Stil durch Hunderte von neuen CBD-Firmen und CBD-Shops im Pseudo-Apotheken Outfit. Dies zeigte sich v.a. bei älteren Personen in schwindelbedingten Stürzen mit Oberschenkelfrakturen/Schädelverletzungen, Kopfschmerzen, Übelkeit etc., da sie nicht realisierten (nicht realisieren konnten, da nur deklariert war THC <1%), dass ihr «Schlaf- oder Schmerzöl» THC enthielt und dies bei falscher Dosierung Nebenwirkungen mit Folgen haben könnte.

Diese Gesetzeslücke wurde ebenfalls angegangen, da die unter dem Chemikaliengesetz hergestellten cannabishaltigen Lösungen nun neu vergällt werden müssen – um sie so für den medizinischen Gebrauch ungeniessbar zu machen, was aber nicht bedeutet, dass diese Lösungen nicht wirksam sein können. Sie erfüllen einfach die gesetzliche qualitative und sicherheitstechnische Voraussetzung (GACP, GMP, GDP, genaue Inhaltsangaben) für den medizinischen Einsatz nicht.

Patientinnen und Patienten haben sich organisiert

Der wachsende Wissensstand durch regen Austausch unter Patientinnen und Patienten im Bereich Cannabis als Medizin, gepaart mit der eingeschränkten Verfügbarkeit bedingt durch die hohen Kosten von Medizinalcannabis als Therapieoption und hohem Leidensdruck, führte zur Gründung des Medical Cannabis Vereins Schweiz (MEDCAN). Dieser von Patientinnen und Patienten initiierte und geführte Verein hat zum Ziel, den Austausch zwischen Betroffenen zu fördern, den Zugang und die Anwendung von Cannabisarzneimitteln zu erleichtern, sowie für das Thema gesellschaftlich und politisch zu sensibilisieren und es voranzubringen. Zudem fordert der Verein, dass Gesundheitsfachpersonen umfassend zum Thema Cannabis als Arzneimittel aus- und weitergebildet werden. Der Verein Medcan ist deshalb auch aktiv im Vorstand der SGCM vertreten.

Wer geht zu MEDCAN?

(Quelle: Interview mit Felix Iten, Vorstand MEDCAN Patientenorganisation in ZH, März 2022)
Verzweifelte, hoffnungslose P

  • Verzweifelte, hoffnungslose Patienten, die sich allein gelassen fühlen, mit enormem Leidensdruck, welchen gesagt wurde «man kann Ihnen nichts mehr bieten», «austherapiert, Sie müssen damit leben …»
  • letzte Option, um Hilfe zu bekommen bei der Patientenvereinigung, da «sonst niemand Bescheid weiss»
  • Positive Fallbeispiele der Wirksamkeit von Cannabis bei vielen Beschwerden und auch kausale Erfolge bei verschiedenen Krebsarten, «inoffizielle» Informationen wie zum Beispiel «hochdosiert THC als Rektalapplikation bei Prostata Carcinom half», Austausch und Hilfe in Forumsdiskussionen, Tipps aus Familie/Bekanntenkreis
  • Grosses Knowhow/Vernetzung/Solidarität vorhanden, meistens Nicht-Medizinalpersonen, welche teilweise erstaunlich wirksame Präparate (illegal) herstellen
  • «leichterer» Zugang zu Cannabis als Medizin mit entsprechenden Risiken (fragliche Qualität, keine Standardisierung, etc.)

Welche Schnittmengen gibt es mit der Onkologie?

Es gibt valide Gründe, die für den Einsatz von Medizinalcannabis bei onkologischen Patienten als Add-on-Therapie sprechen. Bei Chemotherapie kann es symptomatisch/adjuvant eingesetzt werden bei Übelkeit, Brechreiz, Appetitlosigkeit, Schmerzen, Abmagerung, Diarrhoe und Kopfschmerzen. Bei Tumor- oder Durchbruchschmerzen setzt der österreichische Arzt Dr. Kurt Blaas Medizinalcannabis ein. In der Praxis zeigte sich bei Nervenschädigungen und -schmerzen nach Chemotherapie, wie beim «burning hand and feet»-Syndrom, Medizinalcannabis (Tagesdosis 3-6mg THC) als eine der erfolgversprechendsten Optionen. Dies praktisch ohne Nebenwirkungen, was man bei vielen neurologischen Analgetika weniger sagen kann.

Der Einsatz von Medizinalcannabis kann die Lebensqualität vor, während und nach der Chemotherapie/Bestrahlung verbessern helfen. Es kann die Verarbeitung und Bewältigung der Situation erleichtern, durch innere Distanzierung und rationaleren Zugang (THC bedingt), den Schlaf besser initialisieren und die Schlafdauer und -tiefe verbessern, die Muskelentspannung fördern, den Appetit steigern, Übelkeit und Angst reduzieren. Im Vergleich zum potentiellen Benefit ist die Toxizität gering, das Nebenwirkungsprofil günstig und somit ein Therapieversuch gerechtfertigt.

Dr. Ethan B. Russo sieht cannabisbasierte Medikamente sogar als «First Line Treatment» in der Behandlung von Spastik und Chemotherapie-assoziierter Übelkeit und Erbrechen und erwartet, dass Cannabis schnell an Bedeutung in der Behandlung von therapieresistenter Epilepsie gewinnen wird (Fankhauser und Eigenmann, S. 201).

Bei therapiebedingten Hautproblemen (schmerzende Stellen, Rötungen) durch Bestrahlung kann zum Beispiel eine CBD-Creme 20% helfen Schmerzen oder Entzündungen zu reduzieren – dies war am diesjährigen Cannabis-Kongress in Basel zu erfahren.

Auch im Sterbeprozess kann Medizinalcannabis, rechtzeitig eingesetzt, Leiden reduzieren, so etwa bei Muskelkrämpfen, Spastik, Atemnot, Schlaflosigkeit, Angst. Am Basler Kongress beschrieb eine Pädiaterin das hilfreiche Potential von Medizinalcannabis bei sterbenden Kindern. Erfahrungen aus Spanien zeigten, dass der kausale Einsatz (als Add-on) von CBD bei Brusttumoren durch Hemmung von Frühmetastasierung bei bestimmtem Mamma Ca und bei bestimmten Hirntumoren erfolgversprechende Resultate in Pilotstudien präsentierten, welche Anlass zur Hoffnung geben.

Was in der Medizinalcannabis Beratung von onkologischen Patienten oft geäussert wird, ist die Angst, darüber mit den Onkologen zu sprechen. Betroffene verschweigen die Einnahme von Cannabis gegenüber den Onkologen aus Angst keine Therapie mehr zu bekommen bzw. nicht mehr betreut zu werden, weil ihre Behandelnden dagegen sind oder äussern, dass sie nur etwas einsetzen, das sie kennen. Ganz davon abgesehen kann die Einnahme von Cannabis ein Ausschluss-Kriterium für onkologische Studien sein, worauf die Betroffenen ihre ganze Hoffnung setzen. Es gibt in der Literatur jedoch Hinweise, dass Cannabis einen Einfluss auf die Wirksamkeit von Therapeutika haben kann im Sinne einer Wirkungsverstärkung oder aber, je nach Rezeptormechanismus des Tumors, auch kontraindiziert sein kann. In jedem Fall lohnt es sich, einen erfahrenen Cannabis-Pharmazeuten beizuziehen, um eine seriöse Abklärung vorzunehmen, wie die Praxis zeigt. Dies ergibt eine grössere Therapiesicherheit und beruhigt Betroffene.

Cannabisforschung

Obwohl die Anzahl der medizinischen Cannabis Publikationen in den letzten Jahren explodiert ist, gibt es immer noch enormen Forschungsbedarf. Eine der grossen Herausforderungen ist, dass Forschungsfragen anders gedacht werden müssen. Mechanistisches, binäres Denken führt, wie in der Vergangenheit gesehen, kaum zum Erfolg. Daneben ist das Interesse, in die Cannabisforschung zu investieren, eher gering, begründet auch durch die minime Chance auf einen potentiellen Blockbuster. Forschungsarbeiten zeigen zudem unpassende Designs, nicht standardisierte Lösungen, inhomogene oder zu kleine Populationen, unterschiedliche Applikationsformen und nicht angepasste Dosierungen. Dies führt zu einer Nichtvergleichbarkeit der Daten und steht oft in krassem Gegensatz zu den wachsenden, häufig vielversprechenden «real World Data», welche bisher aber nicht systematisch erfasst wurden. Diese Situation soll sich nun mit dem MeCanna-Erfassungstool des BAG zumindest datentechnisch verbessern.

Die Rolle der Pflegefachpersonen

Pflegefachpersonen waren bislang in ihrer klinischen Praxis unregelmässig mit der Anwendung von Cannabisarzneimitteln konfrontiert. Es kommt zwar je nach Setting immer wieder zu Betreuungssituationen, in denen sich Patientinnen und Patienten mit chronischen Erkrankungen mit Cannabis «selbst» therapieren, im Behandlungsplan wird dies aber oftmals ausgeklammert. Ein Grund dafür ist, dass auch Ärztinnen und Ärzte häufig über wenig Wissen zum Anwendungsgebiet sowie zur Indikation und Dosierung von Cannabisarzneimittel verfügen. Zudem finden sich bei Gesundheitsfachpersonen häufig Vorbehalte zur Anwendung der Substanz. Mit der eingangs erwähnten Gesetzesänderung und der verstärkten Forderung von Patientenseite ist davon auszugehen, dass die Verschreibungsrate von Cannabisarzneimitteln in den nächsten Jahren bedeutend zunehmen wird. Die Rolle der Pflegefachpersonen wird in diesem Kontext zunehmend wichtiger – vor allem in der Beratung von Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen können sie eine Schlüsselposition einnehmen. Aspekte der pflegerischen Beratung können u.a. Fragen rund um die Indikation, Dosierung und Einnahmeform von Cannabisarzneimitteln sein. Ferner können Pflegefachpersonen Verantwortung im Zuge des Monitorings der Cannabistherapie übernehmen, um beispielsweise unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu erfassen und frühzeitig entgegen treten zu können. Eine strukturierte interprofessionelle Abstimmung ist hier unerlässlich, sodass das Potenzial der Therapie ausgeschöpft werden kann und gleichzeitig auch die Verschreibenden entlastet werden könnten. Grundlage dafür ist allerdings eine fundierte Fortbildung. Vorstandsmitglieder der Schweizerischen Gesellschaft für Cannabis in der Medizin haben gemeinsam mit Vertreterinnen des Departements Gesundheit der OST-Ostschweizer Fachhochschule eine interprofessionelle Fortbildung entwickelt, die gezieltes Wissen zum Thema Cannabis als Arzneimittel vermittelt: Das Kompetenzzentrum OnkOs der Ostschweizer Fachhochschule bietet in regelmässigen Abständen gemeinsam mit Vorstandsmitgliedern der SGCM-SSCM die Online-Fortbildung: Cannabis als Arzneimittel «From plant to patient» an.

Die Fortbildung besteht aus zwölf Videolektionen sowie einem interaktiven Live-Online-Tag. Der Inhalt wird regelmässig auf den aktuellen Stand adaptiert und hat auch zum Ziel eine Schweizer Unité de Doctrine im Bereich Anwendung von Medizinalcannabis und ein landesweites Netzwerk zu fördern. Zum Zielpublikum gehören Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker sowie Fachpersonen aus den Bereichen Pflege, Physiotherapie und Psychologie. Die Weiterbildung ist von zahlreichen Fachgesellschaften akkreditiert.

Fazit

Die Therapie mit Cannabisarzneimitteln ist vielversprechend. Bei zahlreichen Erkrankungen und Symptomen konnte bereits eine Wirksamkeit zur Linderung nachgewiesen werden. Zu berücksichtigen ist, dass es sich um kein «Wundermittel» handelt, das bei jeder Patientin und jedem Patienten hilft. Durch die Änderung der Gesetzeslage sowie die zunehmende Forderung von Patientenseite wird die Therapie mit Cannabisarzneimitteln in den nächsten Jahren markant zunehmen. Vertieftes Wissen aller beteiligten Gesundheitsfachpersonen ist daher notwendig.

Danksagung: für die freundliche Überlassung von Informationen und Grafiken von Dr. Simon Nicolussi, Cannabisspezialisierter Pharmazeut, ic-cure.ch, simon.nicolussi@ic-cure.ch, Inputs von Prof. Andrea Kobleder, FH OST, andrea.kobleder@ost.ch

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Bea Goldman

MSc, Medical Cannabis Nurse, RN Intensive Care,
ALS Care Expertin
Gründungs-/Vorstandsmitglied SGCM
Ifangweg 5
9423 Altenrhein

goldman@caregiver-center.ch

Die Autorin hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Interprofessionalität ist wichtig
◆ gute Patienteninformation (auch an Angehörige), Angstreduktion
◆ Suchtpotential vernachlässigbar
◆ Therapietreue einfordern und Monitorisierung
◆ Frühzeitiges Abklären bzgl. Indikationen/Interaktionen
◆ Dosierungsregime: «Start low, go slow, stay low»
◆ Cannabis hat im Vergleich zur geringen Toxizität enormes Benefit Potential – auch zur Verbesserung der Lebensqualität der verbleibenden Zeit – und noch weiter zu entdeckendes kausales Potential

 

– Franjo Grotenhermen: Endogene Cannabinoide und das Endocannabinoidsystem. In: von Heyden M., Jungaberle H., Majić T. (eds) Handbuch Psychoaktive Substanzen. Springer Reference Psychologie. Springer, Berlin, Heidelberg, 2018, pp 411-420, doi:10.1007/978-3-642-55125-3_39, ISBN 978-3-642-55125-3
– E. B. Russo: Beyond Cannabis: Plants and the Endocannabinoid System.
In: Trends in pharmacological sciences. Band 37, Nummer 7, Juli 2016,
S. 594–605, doi:10.1016/j.tips.2016.04.005, PMID 27179600 (Review).
– T. T. Lee, B. B. Gorzalka: Evidence for a Role of Adolescent Endocannabinoid Signaling in Regulating HPA Axis Stress Responsivity and Emotional Behavior Development. In: International review of neurobiology. Band 125, 2015,
S. 49–84, doi:10.1016/bs.irn.2015.09.002, PMID 26638764.
– Raphael Mechoulam, Linda A. Parker: The Endocannabinoid System and the Brain. In: Annual Review of Psychology. 64, 2013, S. 21–47,doi:10.1146/annurev-psych-113011-143739
– Franjo Grotenhermen, Kirsten Müller-Vahl: Das therapeutische Potenzial von Cannabis und Cannabinoiden. In: Dtsch Arztebl Int 2012, 109(29-30),
S. 495–501, doi:10.3238/arztebl.2012.0495.
– Cannabis in der Medizin, Geschichte, Praxis, Perspektiven, Fankhauser & Eigenmann, 2020, Nachtschatten Verlag
– Handbook of Cannabis , R. Pertwee , 2014
– Cannabis – Was man weiss und was man wissen sollte, P. Cremer Schaeffer
– Online aktuell: in Überarbeitung, Handbuch Cannabismedizin www.praxis suchtmedizin.ch

Ausgewählte Studien zu soliden Tumoren

Mepitelfilm zur Prävention von akuter Strahlendermatitis bei Brustkrebs:
Eine randomisierte multizentrische offene Phase-III-Studie

Quelle: Behroozian T et al. Mepitel film for the prevention of acute radiation dermatitis in breast cancer: a randomized multicenter open-label phase III study. J Clin Oncol 2022, doi:10.1200/JCO.22.01873, Online ahead of print

Strahlendermatitis (RD) tritt häufig bei Patientinnen auf, die sich einer Bruststrahlentherapie unterziehen. Mepitelfilm (MF) kann RD reduzieren, aber die Ergebnisse von zwei randomisierten kontrollierten Studien sind widersprüchlich. Das Ziel war es, eine bestätigende randomisierte kontrollierte Studie bei Patientinnen mit RD-Risiko durchzuführen.

Methodik

Die Patientinnen wurden nach dem Zufallsprinzip MF oder Standardversorgung zugeteilt (Verhältnis 2:1). Patientinnen mit grossen Brüsten nach Lumpektomie (BH-Grösse ≥ 36 Zoll oder Körbchengrösse ≥ C) oder nach Mastektomie waren berechtigt. Zu den Stratifizierungsfaktoren gehörten die Art der Operation, die Dosisfraktionierung und die Verabreichung von Boost/Bolus. Der primäre Endpunkt war Grad (G) 2 oder 3 RD unter Verwendung der Common Terminology Criteria for Adverse Events v5.0. Sekundäre Endpunkte waren von Patienten und Ärzten berichtete Ergebnisse.

Resultate

Zwischen Januar 2020 und Mai 2022 wurden 376 Patientinnen in die modifizierte Intention-to-Treat-Analyse eingeschlossen. Die Inzidenz von G2 oder 3 RD war bei MF-Patientinnen im Vergleich zur Standardversorgung signifikant niedriger (n=39/251, 15,5%; 95% CI, 11,3 bis 20,6% v n=57/125, 45,6%; 95% CI, 36,7 bis 54,8%, Odds Ratio (OR): 0,20, P < 0,0001). Der Nutzen der MF blieb signifikant bei Patientinnen, die G3 RD (n=7, 2,8%; 95% CI, 1,1 bis 5,7% v n=17, 13,6%; 95% CI, 8,1 bis 20,9%, OR: 0,19) und feuchte Desquamation (n=20, 8,0%; 95% CI, 4,9 bis 12,0% v n=24, 19,2%; 95% CI, 12,7 bis 27,1%, OR: 0,36) entwickelten. Bei der Bewertung des kombinierten Patientinnen- und Gesundheitsdienstleister-Scores anhand der Radiation-Induced Skin Reaction Assessment Scale hatte der MF-Arm signifikant niedrigere Werte (P < 0,0001). Gemäss berichteten Ergebnissen von Patientinnen und von Ärzten wurde der MF auch bei einzelnen Items der Radiation-Induced Skin Reaction Assessment Scale bevorzugt. Blasenbildung/Peeling, Erythem, Pigmentierung und Ödeme waren im MF-Arm signifikant reduziert. Drei Patientinnen entfernten den Film vorzeitig wegen Hautausschlag (n=2) und übermässigem Pruritus (n=1).

Schlussfolgerung

MF reduziert signifikant RD bei Patientinnen, die sich einer Bruststrahlentherapie unterziehen.

Kommentar

Diese wirksame Massnahme kann vor allem bei Frauen mit grosser Brust, eine bekannte Risikokonstellation für Radiodermatitis, an kritischen Stellen (Umschlagfalte, tangentiale Hautbestrahlung z.B. im axillären Ausläufer) hilfreich sein. Wirksam und billig, wo gibt es das noch in der Krebsmedizin?

Erste Phase-I-Studie am Menschen mit Milademetan, einem MDM2-Inhibitor, bei Patienten mit fortgeschrittenem Liposarkom, soliden Tumoren oder Lymphomen

Quelle: Gounder MM et al. A First-in-Human Phase I Study of Milademetan, an MDM2 Inhibitor, in Patients With Advanced Liposarcoma, Solid Tumors, or Lymphomas. Journal of Clinical Oncology DOI: 10.1200/JCO.22.01285. Published online January 20, 2023.

Diese Studie untersuchte die Sicherheit, Pharmakokinetik, Pharmakodynamik und vorläufige Wirksamkeit von Milademetan, einem niedermolekularen murinen Doppelminuten-2 (MDM2)-Inhibitor, bei Patienten mit fortgeschrittenem Krebserkrankungen.

Patienten und Methoden

In dieser ersten Phase-I-Studie am Menschen erhielten Patienten mit fortgeschrittenen soliden Tumoren oder Lymphomen Milademetan oral einmal täglich als erweiterte/kontinuierliche (Tage 1-21 oder 1-28 alle 28 Tage) oder intermittierende (Tage 1-7, oder Tage 1-3 und 15-17 alle 28 Tage). Das primäre Ziel war die Bestimmung der empfohlenen Phase-II-Dosis und -Schema zu ermitteln. Zu den sekundären Zielen gehörte das Ansprechen des Tumors gemäss den Standardbewertungskriterien. Es wurden vordefinierte Analysen nach Tumortyp durchgeführt. Sicherheits- und Wirksamkeitsanalysen umfassten alle Patienten, die Milademetan erhielten.

Resultate

Zwischen Juli 2013 und August 2018 wurden 107 Patienten eingeschlossen und erhielten Milademetan. Die häufigsten arzneimittelbedingten unerwünschten Ereignisse vom Grad 3/4 waren Thrombozytopenie (29,0%), Neutropenie (15,0%) und Anämie (13,1%). Die entsprechenden Raten bei der empfohlenen Dosis und dem empfohlenen Behandlungsschema (260 mg einmal täglich an den Tagen 1-3 und 15-17 alle 28 Tage, d.h. 3/14 Tage) waren 15%, 5% und 0%. Über alle Kohorten hinweg (n=5107) betrug die Krankheitskontrollrate 45,8% (95% CI, 36,1 bis 55,7) und das mediane progressionsfreie Überleben 4,0 Monate (95% KI 3,4 bis 5,7). In der Untergruppe mit dedifferenzierten Liposarkomen lagen die Krankheitskontrollrate und das mediane progressionsfreies Überleben 58,5 % (95 % KI, 44,1 bis 71,9) und 7,2 Monate insgesamt (n=553) und 62,0 % (95 % KI, 35,4 bis 84,7,CI 35,4 bis 84,8) bzw. 7,4 Monate mit dem empfohlenen intermittierenden Schema (n=516).

Schlussfolgerung

Ein intermittierendes Dosierungsschema von 3/14 Tagen Milademetan mildert dosislimitierende hämatologische Anomalien bei gleichbleibender Wirksamkeit. Die bemerkenswerte Aktivität von Milademetan als Einzelwirkstoff bei dedifferenzierten Liposarkomen hat zu einer randomisierten Phase-III-Studie (MANTRA) geführt.

Kommentar

Ein Traum für Onkologen taucht am therapeutischen Horizont auf. TP53 ist der häufigste Resistenzmechanismus bei Krebserkrankungen und weil die Aberrationen einen Verlust der Tumorsuppression bewirken, ist die pharmakologische Therapie ein bisher weitgehend erfolgloses Unterfangen geblieben. TP53 galt als «non-drugable». Ein erster, indirekter Schritt mit dieser First-in-Man-Studie ist jetzt gemacht.

Auch beim zweitmeisten verbreiteten Resistenzmechanismus, Aberrationen des RAS (meist K-RAS) Gens, sind lang ersehnte und erstaunliche Fortschritte gemacht worden, die bereits in die Klinik angekommen sind. Wir leben in einer spannenden Zeit.

Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der bildgebenden Überwachung und den Ergebnissen nach einer chirurgischen Behandlung von Lungenkrebs im Frühstadium

Quelle: Heiden BT et al. Association between imaging surveillance frequency and outcomes following surgical treatment of early-stage lung cancer. J J Natl Cancer Inst 2022 Nov 29;djac208. doi: 10.1093/jnci/djac208. Online ahead of print

Jüngste Studien deuten darauf hin, dass häufigere postoperative Überwachungsaufnahmen mittels Computertomographie nach einer Lungenkrebsresektion die Ergebnisse nicht verbessern. In einer kürzlich veröffentlichten Studie wurde versucht, diese Ergebnisse anhand eines einmalig zusammengestellten Datensatzes der Veterans Health Administration, dem grössten integrierten Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten, zu überprüfen.

Methoden

Die Autoren führten eine retrospektive Kohortenstudie von Veteranen mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs im pathologischen Stadium I durch, die sich einer Operation unterzogen hatten (2006-2016). Sie untersuchten den Zusammenhang zwischen der Überwachungshäufigkeit (Computertomographie der Brust innerhalb von 2 Jahren nach der Operation) und dem rezidivfreien Überleben sowie dem Gesamtüberleben.

Resultate

Von den 6171 Patienten unterzogen sich 3047 (49,4%) und 3124 (50,6%) einer niedrigfrequenten (<2 Scans pro Jahr; alle 6-12 Monate) bzw. hochfrequenten (≥2 Scans pro Jahr; alle 3-6 Monate) Überwachung. Zu den Faktoren, die mit einer hochfrequenten Überwachung assoziiert waren, gehörten: ehemaliger Raucher (vs. aktueller Raucher; bereinigte Odds Ratio (aOR) = 1,18, 95% Konfidenzintervall (CI) = 1,05 bis 1,33), eine Keilresektion (vs. Lobektomie; aOR = 1. 21, 95 % KI = 1,05 bis 1,39) und eine Nachsorge durch einen Onkologen (aOR = 1,58, 95 % KI = 1,42 bis 1,77). Bei einer medianen Nachbeobachtungszeit (Interquartilbereich) von 7,3 (3,4-12,5) Jahren wurde bei 1360 (22%) Patienten ein Rezidiv festgestellt. Eine hochfrequente Überwachung war nicht mit einem längeren rezidivfreien Überleben (bereinigte Hazard Ratio = 0,93, 95% CI = 0,83 bis 1,04, P = .22) oder Gesamtüberleben (bereinigte Hazard Ratio = 1,04, 95% CI = 0,96 bis 1,12, P = .35) verbunden.

Schlussfolgerungen

Die Autoren stellten fest, dass eine hochfrequente Überwachung die Ergebnisse bei chirurgisch behandeltem nicht-kleinzelligem Lungenkrebs im Stadium I nicht verbessert. Künftige Leitlinien für die Behandlung von Lungenkrebs sollten weniger häufige bildgebende Überwachungsuntersuchungen bei Patienten mit einer Erkrankung im Stadium I vorsehen.

Kommentar

Ein weiterer Schritt in Deeskalation scheint fällig. Interessant ist, dass der grösste Risikofaktor überflüssige Bildgebungen zu erhalten dadurch bedingt ist, dass der Patient nach Behandlung (im Stadium I) bei einem Onkologen «in Kontrolle» war. Vielleicht spielen hier die (moderaten) aber bis dahin nicht gesehenen Therapiefortschritte in der metastasierten Situation eine Rolle, aber eben: Was ist das Gegenteil von gut….?

Hemikolektomie versus Appendektomie bei Patienten mit appendizitischen neuroendokrinen Tumoren von 1-2cm Grösse

Quelle: Nest C et al. Hemicolectomy versus appendectomy for patients with appendiceal neuroendocrine tumours 1-2 cm in size: a retrospective, Europe-wide, pooled cohort study. Lancet Oncol 2023 Feb;24(2):187-194. doi: 10.1016/S1470-2045(22)00750-1. Epub 2023 Jan 11.

Das Bewusstsein für die mögliche globale Überbehandlung von Patienten mit neuroendokrinen Tumoren der Appendix (ANETs) von 1–2 cm Grösse durch onkologische Resektionen nimmt zu. Doch die Seltenheit dieses Tumors hat bisher klare Empfehlungen verhindert. Das Ziel einer kürzlich publizierten Studie war die Beurteilung des malignen Potenzials von ANETs von 1–2 cm Grösse bei Patienten mit oder ohne rechtsseitige Hemikolektomie.

Methodik

In dieser retrospektiven Kohortenstudie wurden Daten von 40 Krankenhäusern in 15 europäischen Ländern bei Patienten jeden Alters mit einem histopathologisch bestätigten ANET von 1–2 cm Grösse, die eine vollständige Resektion des Primärtumors zwischen dem 1. Januar 2000 und dem 31. Dezember 2010 hatten, untersucht. Die Patienten hatten entweder nur eine Appendektomie oder eine Appendektomie mit onkologischer rechtsseitiger Hemikolektomie oder ileozökaler Resektion. Vordefinierte primäre Endpunkte waren die Häufigkeit von Fernmetastasen und die tumorbedingte Mortalität. Zu den sekundären Endpunkten gehörten die Häufigkeit regionaler Lymphknotenmetastasen, der Zusammenhang zwischen regionalen Lymphknotenmetastasen und histo­pathologischen Risikofaktoren sowie Gesamtüberleben mit oder ohne rechtsseitige Hemikolektomie. Cox proportionale Hazards Regression wurde verwendet, um das relative Gesamtmortalitätsrisiko mit der rechtsseitigen Hemikolektomie im Vergleich zur Appendektomie allein zu schätzen. Diese Studie ist bei ClinicalTrials.gov, NCT03852693, registriert.

Resultate

Es wurden 282 Patienten mit Verdacht auf Blinddarmtumoren identifiziert, davon wurden 278 mit einem ANET von 1–2 cm Grösse eingeschlossen. 163 (59%) hatten eine Appendektomie und 115 (41%) hatten eine rechtsseitige Hemikolektomie, 110 (40%) waren Männer, 168 (60%) waren Frauen, und das Durchschnittsalter bei der ersten Operation betrug 36,0 Jahre (SD 18,2). Die mediane Nachbeobachtung betrug 13,0 Jahre (IQR 11,0–15,6). Nach zentralisierter histopathologischer Überprüfung wurden die ANETs bei 2 (1%) von 278 Patienten als möglicher oder wahrscheinlicher Primär­tumor mit Peritonealmetastasen und bei 2 (1%) von 278 Patienten mit Fernmetastasen in der Leber eingestuft. Alle Metastasen wurden synchron diagnostiziert, ohne tumorbedingte Todesfälle während des Follow-ups. Regionale Lymphknotenmetastasen wurden bei 22 (20%) von 112 Patienten mit rechtsseitiger Hemikolektomie und verfügbaren Daten gefunden. Auf der Grundlage histopatho­logischer Risikofaktoren schätzten die Autoren, dass 12,8% (95% KI 6,5–21,1) der Patienten, die sich einer Appendektomie unterziehen, wahrscheinlich regionale Restlymphknotenmetastasen hatten. Das Gesamtüberleben war ähnlich zwischen Patienten mit Appendektomie und rechtsseitiger Hemikolektomie (adjustiertes Risiko-Verhältnis 0,88 [95% KI 0,36–2,17]; p=0,71).

Schlussfolgerung

Diese Studie liefert Hinweise darauf, dass eine rechtsseitige Hemikolektomie nach vollständiger Resektion eines ANET von 1–2 cm Grösse durch Appendektomie nicht indiziert ist, dass regionale Lymphknotenmetastasen von ANETs klinisch irrelevant sind, und dass ein zusätzlicher postoperativer Ausschluss von Metastasen und histopathologische Beurteilung von Risikofaktoren durch die hier vorgestellten Ergebnisse nicht unterstützt wird. Diese Ergebnisse sollten in den Konsens der Best-Practice-Richtlinien für diese Pa-tientenkohorte einfliessen.

Kommentar

Die Frage wurde seit Längerem kontrovers diskutiert (auch im Zusammenhang, ob die Lymphknoten immer entfernt werden müssen). Dies ist ein weiteres Beispiel für Deeskalation, auch und gerade in der Krebsmedizin. Und für gute europäische Zusammenarbeit. Bereits bei der Achsel-Lymphknoten­chirurgie des Mammakarzinoms haben wir diese intuitiv schwierig zu akzeptierende Vorgehensweise seit Längerem eingeführt: Die führende US-Chirurgin Monica Morrow sagte dazu: What we had to learn as surgeons is that it is ok to leave tumor behind in the lymphnodes. Natürlich muss jede Deeskalation sorgfältig untersucht werden, bevor diese in die Praxis übernommen wird. Was uns freut: der Support der Swiss Cancer Foundation, der das möglich machte.

Prof. Dr. med. Beat Thürlimann

Brustzentrum, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St.Gallen