Neuaufnahme von Leitlinien zur Dosisanpassung aufgrund kardialer Toxizitäten sowie Aktualisierung der Leitlinien bei nicht-kardialen Toxizitäten
Die Zulassungsinhaberin informiert:
Zusammenfassung der neu aufgenommenen Leitlinien zur Dosisanpassung bei kardialen Toxizitäten sowie der Aktualisierung der Leitlinien bei nicht-kardialen Toxiziäten
Bei Patienten mit einer Herzinsuffizienz vom Grad 2 ist die Behandlung mit IMBRUVICA® mit einer niedrigeren Dosis fortzusetzen (d.h. die Dosis ist um 140 mg pro Tag zu reduzieren).
Bei Patienten mit Herzrhythmusstörungen vom Grad 3 ist eine Nutzen-Risiko-Bewertung durchzuführen und bei Wiederaufnahme der Behandlung mit IMBRUVICA® ist eine niedrigere Dosis anzuwenden (d.h. die Dosis ist um 140 mg pro Tag zu reduzieren).
Bei Patienten mit einer Herzinsuffizienz vom Grad 3 oder 4 oder mit Herzrhythmusstörungenvom Grad 4 ist die Behandlung mit IMBRUVICA® beim ersten Auftreten abzubrechen.
Bei Patienten mit nicht-kardialen Ereignissen vom Grad 3 oder 4 ist eine Nutzen-RisikoBewertung durchzuführen und bei Wiederaufnahme der Behandlung mit IMBRUVICA® ist dieselbe oder eine niedrigere Dosis anzuwenden (d.h. die Dosis ist um 140 mg pro Tag zu reduzieren).
Arzneimittel (Pulver) zur Fünftlinien-Behandlung des multiplen Myeloms bei Erwachsenen
Hinweise zur Zulassung
Das Arzneimittel Blenrep enthält den Wirkstoff Belantamab mafodotin und ist ein Pulver zur Herstellung einer Infusionslösung.
Blenrep wird eingesetzt zur Behandlung des multiplen Myeloms bei Erwachsenen, die bereits mindestens 4 vorangehende Therapien erhalten haben, die nicht ausreichend wirksam waren. Die Krankheit dieser Patientinnen und Patienten ist gegenüber vorangehenden
Therapien refraktär(1) und schreitet unter der zuletzt verabreichten Therapie weiter fort.
Das Multiple Myelom (MM) ist eine seltene Krebsart, welche etwa 1-2 Prozent aller Krebserkrankungen ausmacht. Die Häufigkeit an Neuerkrankungen an MM liegt in der Schweiz bei 9.6 pro 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die Erkrankung ist gekennzeichnet durch eine übermässige Vermehrung der Plasmazellen, einer Unterart der weissen Blutkörperchen. Die Plasmazellen vermehren sich unkontrolliert im Knochenmark, was häufig zu einer Schädigung der Knochen führt.
Für die Beurteilung des Zulassungsgesuchs für das Arzneimittel Blenrep hat Swissmedic bei gewissen Aspekten, wie die klinischen Daten, die Bewertungen der europäischen Arzneimittelagentur (EMA), und teilweise auch der amerikanischen Arzneimittelagentur (FDA) sowie die entsprechenden Pro-duktinformationen berücksichtigt.
Da die Bewertung der klinischen Daten auf Grundlage der Beurteilungsberichte der ausländischen Partnerbehörde erfolgte, liegen die Voraussetzungen für einen SwissPAR (Swiss Public Assessment Report) und einen darauf aufbauenden Public Summary SwissPAR nicht vollständig vor. Swissmedic verweist auf die Zulassung der ausländischen Vergleichspräparate.
www.ema.europa.eu / www.fda.gov
Da es sich bei dieser Krankheit um eine seltene und lebensbedrohende Krankheit handelt, wurde Blenrep als «Orphan Drug» zugelassen. Mit «Orphan Drug» werden wichtige Arzneimittel für seltene Krankheiten bezeichnet.
Das Arzneimittel Blenrep wurde in der Schweiz befristet zugelassen (Art. 9a HMG), da zum Zeitpunkt der Zulassung noch nicht alle klinischen Studien vorliegen oder abgeschlossen waren. Die befristete Zulassung ist zwingend an die zeitgerechte Einreichung der von Swissmedic verlangten Daten gebunden. Nach Erfüllung dieser Zulassungsauflagen kann die befristete Zulassung bei positiver Nutzen-Risiko Beurteilung der Resultate in eine ordentliche Zulassung umgewandelt werden.
(1) Refraktär: Refraktär bedeutet in Bezug auf eine Krebserkrankung, dass der Krebs gegenüber der Behandlung resistent ist und sich die Erkrankung trotz Behandlung nicht zurückbildet und sogar weiter fortschreiten kann.
Indikationserweiterung in der Schweiz: 30.06.2022 Arzneimittel (Infusion) zur Zweitlinien-Behandlung von inoperablem und/oder metastasiertem HER2-positivem Brustkrebs
Über das Arzneimittel
Enhertu ist ein Krebsmedikament mit dem Wirkstoff Trastuzumab-Deruxtecan und wird als Infusion in die Vene verabreicht.
Mit Enhertu werden Erwachsene mit einem speziellen Brustkrebs behandelt, dem sogenannten HER2-positiven Brustkrebs. HER2 ist die Abkürzung für human epidermal growth factor receptor 2 und bezeichnet Bindungsstellen (Rezeptoren) für Wachstumsfaktoren, die die Krebszelle zur Teilung antreiben. Der zu behandelnde Brustkrebs ist entweder soweit fortgeschritten, dass er nicht entfernbar ist (inoperabel) und/oder er hat bereits gestreut und sich auf andere Körperteile ausgebreitet (metastasiert).
Vor der Behandlung mit Enhertu müssen die Patientinnen und Patienten mindestens zwei medikamentöse Vortherapien für die Behandlung des HER2-positiven Brustkrebses erhalten haben, die nicht ausreichend wirksam waren.
Wirkung
Enhertu enthält den Wirkstoff Trastuzumab–Deruxtecan. Dieser Wirkstoff kombiniert einen Antikörper (ein Protein), der den HER2-Rezeptor auf den Brustkrebszellen erkennt und sich an ihn binden kann, mit einer gegen bösartige Tumore wirksamen Substanz, einem sogenannten Topoisomerase-1-Inhibitor. So wird die DNA der Tumorzellen geschädigt, was zum Absterben der Krebszellen führt.
Anwendung
Enhertu ist rezeptpflichtig und als Einzeldosis-Durchstechflasche mit 100 mg Trastuzumab-Deruxtecan Pulver zugelassen. Das Pulver wird in sterilem Wasser aufgelöst, mit Glukose-Lösung entsprechend verdünnt und über die Vene langsam verabreicht.
Die empfohlene Dosierung beträgt 5.4 mg/kg Körpergewicht einmal alle drei Wochen. Die erste Dosis sollte als 90-minütige Infusion gegeben werden. Wenn die vorausgegangene Infusion gut vertragen wurde, kann die Infusionsdauer auf 30 Minuten verkürzt werden.
Wirksamkeit
Enhertu zeigte in einer einarmigen (1) Studie U201 klinisch relevante Wirksamkeit bei 184 vielfach vorbehandelten Patientinnen mit inoperablem und/oder metastasiertem HER2-positivem Brustkrebs.
Der Anteil der Patientinnen mit einer objektiv festgestellten Tumorverkleinerung (objective response rate, ORR) war mit 61% hoch. Bei über der Hälfte der Patientinnen (57 %) blieb dieser Effekt nach 18 Monaten bestehen.
Unter der Therapie mit Enhertu besteht die Gefahr einer Lungenerkrankung (interstitielle Lungenerkrankung, ILD), welche potentiell tödlich verlaufen kann. Die Patientinnen und Patienten sind hinsichtlich Atemwegssymptomen zu überwachen.
Einige weitere sehr häufige unerwünschte Wirkungen nach Verabreichung von Enhertu sind Infektionen und Erkrankungen der Atemwege, Veränderungen des Blutbildes, Übelkeit, Erschöpfung, Erbrechen, Haarausfall, Verstopfung, verminderter Appetit und Kopfschmerzen.
Alle Vorsichtsmassnahmen, Risiken und weitere mögliche unerwünschte Wirkungen sind in der Fachinformation aufgeführt.
Begründung des Zulassungsentscheids
Der Bedarf nach einer Behandlungsmöglichkeit für bereits massiv vorbehandelte Patientinnen und Patienten mit inoperablem und/oder metastasierendem HER2-positivem Brustkrebs ist sehr hoch. Bei der beschriebenen Studie U201 konnte eine klinisch bedeutsame Ansprechrate beobachtet werden, die höher liegt als von historischen Daten mit bisher zugelassenen Medikamenten erwartet werden kann. Eine kontrollierte Studie (U301) mit einem Vergleichsarm läuft bereits.
Unter Berücksichtigung aller vorliegenden Daten überwiegen die Vorteile von Enhertu die Risiken. Das Arzneimittel Enhertu wurde in der Schweiz befristet zugelassen (Art. 9a HMG), da zum Zeitpunkt der Zulassung noch nicht alle klinischen Studien abgeschlossen waren. Die befristete Zulassung ist zwingend an die zeitgerechte Einreichung der von Swissmedic verlangten Daten gebunden. Nach Erfüllung dieser Zulassungsauflagen kann die befristete Zulassung bei positiver Nutzen-Risiko Beurteilung der Resultate in eine ordentliche Zulassung umgewandelt .
Weitere Informationen zum Arzneimittel
Information für medizinisches Fachpersonal: Fachinformation Enhertu® auf www.swissmedicinfo.ch
Weitere Fragen beantworten Gesundheitsfachpersonen.
(1) Einarmig: die Studie wird ohne Vergleichsgruppe (z.B. mit einem anderen Arzneimittel oder einer Placebo therapierten Gruppe) durchgeführt.
Der Stand dieser Information entspricht demjenigen des SwissPAR. Neue Erkenntnisse über das zugelassene Arzneimittel fliessen nicht in den Public Summary SwissPAR ein.
In der Schweiz zugelassene Arzneimittel werden von Swissmedic überwacht. Bei neu festgestellten unerwünschten Arzneimittelwirkungen oder anderen sicherheitsrelevanten Signalen leitet Swissmedic die notwendigen Massnahmen ein. Neue Erkenntnisse, welche die Qualität, die Wirkung oder die Sicher- heit dieses Medikaments beeinträchtigen könnten, werden von Swissmedic erfasst und publiziert. Bei Bedarf wird die Arzneimittelinformation angepasst.
Das molekulare Tumorboard ist eine organübergreifende, interdisziplinäre Tumorkonferenz. Das Board hat die Aufgabe, zusätzliche zielgerichtete Therapiemöglichkeiten für Patient*innen nach Ausschöpfung der leitliniengerechten Behandlung aufzuzeigen. Hierzu werden molekularpathologische Untersuchungen auf mögliche prädiktive Biomarker analysiert. Die klinische Klassifikation der Mutationen hilft, rationale, evidenzbasierte, molekular-pathologisch gestützte Behandlungsentscheidungen abzugeben.
The molecular tumourboard is a non-organ-specific, interdisciplinary tumour conference. The board has the task of identifying additional targeted therapy options for patients after guideline-based treatments have been exhausted. For this purpose, molecular pathological examinations are analysed for possible predictive biomarkers. The clinical classification of mutations helps to make rational, evidence-based, molecular pathologysupported treatment decisions. Key Words: molekulares Tumorboard, ESCAT, Variante, Mutation, Klassifikation
Seit Anfang der 2000er Jahre hat die Onkologie ausserordentliche Veränderungen erfahren. Die Entschlüsselung der menschlichen Genomsequenzen, deren erster Entwurf im Jahr 2001 veröffentlicht wurde, gab der Forschung einen wichtigen Impuls. Seitdem wurden viele Gene, Proteine und Signalwege identifiziert, die an der Krebsentwicklung beteiligt sind. Die Fortschritte beim Verständnis der Krebsbiologie und die technologischen Innovationen erleichtern und beschleunigen fortlaufend die Suche nach Mutationen. Heutzutage können wir mit dem «next generation sequencing» (NGS) 20 bis 500 Gene gleichzeitig untersuchen, die auf Grund ihrer diagnostischen, therapeutischen und prognostischen Bedeutung ausgewählt wurden. Die molekularpathologischen Untersuchungen dienen in erster Linie dazu, prädiktive Biomarker für zugelassene Therapien nachzuweisen. Es ist jedoch unvermeidbar, dass man auch mit Varianten konfrontiert wird, die zwar als prädiktive Biomarker vielversprechend gelten, jedoch für eine Zulassung noch nicht genügend geprüft sind. Es kann zudem vorkommen, dass eine Mutation an Tumorzellen auf eine zugrundeliegende Keimbahnmutation hinweist. Je nach Literatur werde bei der NGS-Untersuchung von Tumoren bei bis zu 15% der Patienten solche pathogene Keimbahnvarianten gefunden (1,2). Die Bestätigung einer hereditären Veranlagung erfolgt dann separat in der Sprechstunde für genetische Beratung.
Es entsteht somit eine grosse Menge an Daten, die auf ihre prädiktive Bedeutung interpretiert werden muss.
Das molekulare Tumorboard
Um der Komplexität der Bedeutung molekularbiologischer Veränderungen gerecht zu werden, haben die University of Michigan (USA) vor etwa 10 Jahren und danach verschiedene universitäre Kliniken weltweit das molekulare Tumorboard (MTB) eingeführt. Das Ziel des MTB ist, auf der Grundlage von molekular-pathologischen Untersuchungen alle potenziellen therapeutischen Strategien zu erkennen und zu diskutieren, die eine zusätzliche Option für den Patienten sein könnten (3,4).
Das MTB besteht aus einem fachärztlichen Kern aus Onkologen und Molekularpathologen. Dazu können auch Genetiker, medizinische Biologen und Bioinformatiker anwesend sein, wobei die personelle Zusammensetzung von Klinik zu Klinik sehr unterschiedlich sein kann. Am häufigsten werden Daten aus NGS-Analysen besprochen.Aber auch Resultate aus Whole Genome Sequencing (WGS), Whole Exome Sequencing (WES), RNA-Sequenzierung, Sanger Sequenzierung, Array Comparative Genomic Hybridization (aCGH), Immunhistochemie und Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) werden in die Diskussion miteinbezogen (3). Da ein internationaler Konsens für die Datenauswertung noch aussteht, stützen sich Interpretation und Empfehlung auf lokale Protokolle, sowie Anwendung von Datenbank- und Literaturrecherchen. Die akribische molekulare Charakterisierung der genomischen Aberrationen und die Kenntnisse über die Zuverlässigkeit der Evidenz der klinischen Studien sind unerlässlich für die therapeutische Entscheidung.
Nomenklatur und funktionelle Klassifikation einer Variante
Die Identifikation von Varianten aus einer NGS-basierten Untersuchung wird heutzutage durch Anwendung von Softwares erleichtert. Jede Variante wird in Bezug auf ihre Genposition und Auswirkung auf die Aminosäuresequenz beschrieben. Die Annotation erfolgt basierend auf einer einheitlichen Standard-Nomenklatur nach Vorgabe der Human Genome Variation Society (HGVS) (5).
Die Auswirkung einer Mutation auf die biologischen und funktionellen Eigenschaften eines Proteins bestimmt die Pathogenität. Bei der Auswertung der Pathogenität werden unter anderem Kriterien wie Häufigkeit der Mutation in der Population, ihre evolutionäre Konservierung, ihr Einfluss auf die Proteinstruktur und –funktion berücksichtigt. Für die Analyse stehen eine Vielfalt an öffentlichen, privaten oder kommerziellen Databanken und «In-silico»-Tools zur Verfügung (Tab. 1). Der Einbezug eines Bioinformatikers ist allgemein empfohlen, aber vor allem bei der Auswertung von komplexeren Varianten indiziert. Basierend auf den Ergebnissen erfolgt die Einteilung nach der international anerkannten American College of Medical Genetics and Genomics (ACMG) Klassifikation in (i) pathogen, (ii) wahrscheinlich pathogen, (iii) ungewisse Bedeutung, (iv) wahrscheinlich gutartig, oder (v) gutartig (5, 6). Lediglich die Varianten die als pathogen oder wahrscheinlich pathogen klassifiziert werden, sind auch als therapierelevant einzuschätzen. Solche Varianten müssten in jedem molekular-pathologischen Bericht aufgeführt werden.
Klassifikation einer Variante nach der klinischen Evidenz
Die funktionelle Rolle eines Proteins wird durch unzählige Einflüsse reguliert, die sehr gewebespezifisch sind. Deshalb ist die prognostische und prädiktive Relevanz einer Variante von Tumor zu Tumor sehr unterschiedlich und sie wird ausschliesslich von den publizierten genomisch-gestützten Studien bestimmt. Biomarker-assoziierte Therapien mit einem statistisch signifikanten und klinisch relevanten Überlebensvorteil in einer klinischen Studie gelten meistens als «standard of care» und werden früh in der Behandlung eingesetzt. Für alle anderen molekularen Biomarker mit einer schwächeren Datenlage gibt es keine Richtlinien für die optimale Behandlungssequenz.
Heutzutage stehen diverse Klassifikationen für die klinische Interpretation von somatischen Varianten zur Verfügung: sie klassifizieren die Varianten in Abhängigkeit der wissenschaftlichen Evidenz und des potentiell klinischen Nutzens. Das erleichtert die Datainterpretation und unterstützt die Therapieauswahl, indem diejenige mit der höchsten Evidenzlage bevorzugt wird. Zu den bekanntesten Klassifikationen zählen:
Joint Consensus Recommendation (JCR) der Association for Molecular Pathology (AMP), des American College of Medical Genetics and Genomics (ACMG), der American Society of Clinical Oncology (ASCO) und des College of American Pathologists (CAP): diese US-amerikanische Klassifikation teilt die pathogenen Varianten in 4 Evidenzlevels (engl. tiers) basierend auf den klinischen und prä-klinischen Daten von Studien und unter Berücksichtigung der FDA (Federal Drug Administration) Zulassung ein (7).
ESMO Scale for Clinical Actionability of Molecular Targets (ESCAT): diese Klassifikation wurde 2018 von der Europäischen Gesellschaft für Medizinische Onkologie (ESMO) eingeführt (8).
OnkoKB (Precision Oncology Knowledge Base), die erste FDA-anerkannte Tumormutationsdatenbank, die durch das Memorial Sloan Kettering Cancer Center kuratiert wird und die Varianten basierend auf der klinischen Bedeutung und Resistenzstufe einteilt (9).
NCT-Klassifikation, die für die MTBs innerhalb des Deutschen Krebskonsortiums (DKTK) entwickelt wurde und am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg und anderen deutschen Spitälern angewandt wird (10, 11).
Trotz unterschiedlicher Einstufung sind die Klassifikationssysteme vergleichbar (Tab. 2). Von besonderem Interesse ist der ESCAT Score, weil die Einteilung lediglich auf dem klinischen Evidenzgrad und unabhängig vom internationalen Zulassungsstatus aufgebaut ist. Zum Beispiel, eine PIK3CA-Hotspot-Mutation wird bei Brustkrebs als ESCAT I-A, bei Prostatakrebs als ESCAT II-A und bei nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (NSCLC) als ESCAT III-A eingestuft.
Obwohl dieser Score weltweit zunehmend eingesetzt wird, ist seine Anwendung durch das Fehlen eines interaktiven Portals erschwert. Sowohl die Klassifizierung der Varianten als auch die dazugehörige Literatur müssen individuell recherchiert werden, was mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden ist.
In-Label/Off-Label Therapien und klinische Studien
Sowohl die Verfügbarkeit als auch die Kosten müssen bei der therapeutischen Empfehlung im Rahmen des MTB berücksichtigt werden. Bei zielgerichteten Therapien mit nachgewiesenem klinischem Vorteil (z.B. ESCAT I) sind die betroffenen Medikamente im Allgemeinen zugelassen und werden von der Krankenkasse rückvergütet. Für gezielte Therapien mit niedrigerer Evidenzlage (z.B. ab ESCAT II) kann es sein, dass die Substanz nur im «off-label»-Einsatz verfügbar ist. In diesem Fall ist der Patient auf die Gutwilligkeit der Krankenkasse oder der Pharmafirma angewiesen.
Die Teilnahme an klinischen Studien ist grundsätzlich sinnvoll. Auf diese Weise wird die klinische Evidenz erhärtet und der Zugang zu vielversprechenden aber noch nicht erhältlichen Medikamenten kann gewährleistet werden.
Das molekulare Tumorboard ermöglicht unseren Patienten nach Ausschöpfung der Standarttherapien zusätzliche Therapieoptionen. Patient*innen und Therapeut*innen setzen oft viel Hoffnung auf solche Behandlungen, und effektiv scheinen Empfehlungen der MTBs, die klinischen Ergebnisse für Krebspatienten zu verbessern (12–14).
Zusammenfassung
Die klinische Klassifizierung der molekularen Varianten unterstützt die Entscheidungsfindung am molekularen Tumorboard: sie ermöglicht rationale, evidenzbasierte, molekular-pathologisch gestützte Behandlungsempfehlungen abzugeben und bei Vorliegen von mehreren Möglichkeiten die Therapie mit der höchsten Evidenzlage zu bevorzugen.
Die Autorin hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
◆ Die therapeutischen Entscheidungen am molekularen Tumorboard beruhen auf der molekularen Charakterisierung und der klinischen Klassifizierung der molekularen Varianten
◆ Für die Auswertung der Pathogenität stehen diverse öffentliche
«In-silico»-Tools zur Verfügung
◆ Die klinische Klassifikation der molekularen Variante ermöglicht,
die therapeutischen Entscheidungen nach der besten Evidenzlage zu steuern
◆ Beim ESCAT-Score basiert die Einteilung ausschliesslich auf dem klinischen Evidenzgrad, unabhängig vom internationalen Zulassungsstatus
1. Meric-Bernstam F, Brusco L, Daniels M, Wathoo C, Bailey AM, Strong L, et al. Incidental germline variants in 1000 advanced cancers on a prospective somatic genomic profiling protocol. Ann Oncol. 2016;27(5):795–800.
2. Lebedeva A, Shaykhutdinova Y, Seriak D, Ignatova E, Rozhavskaya E, Vardhan D, et al. Incidental germline findings during molecular profiling of tumor tissues for precision oncology: molecular survey and methodological obstacles. J Transl Med. 2022;20(1):1–14.
3. Luchini C, Lawlor RT, Milella M, Scarpa A. Molecular Tumor Boards in Clinical Practice. Trends in Cancer. 2020;6(9):738–44.
4. Koopman B, Anthonie, Van Der Wekken J, Arja Ter Elst, Jeroen ; T, Hiltermann N, et al. Relevance and Effectiveness of Molecular Tumor Board Recommendations for Patients With Non-Small-Cell Lung Cancer With Rare or Complex Mutational Profiles. JCO Precis Oncol. 2020. Vol. 4,
5. Richards S, Aziz N, Bale S, Bick D, Das S, Gastier-Foster J, et al. Standards and guidelines for the interpretation of sequence variants: A joint consensus recommendation of the American College of Medical Genetics and Genomics and the Association for Molecular Pathology. Genet Med. 2015 May 8;17(5):405–24.
6. Pereira R, Oliveira J, Sousa M. Bioinformatics and Computational Tools for Next-Generation Sequencing Analysis in Clinical Genetics. J Clin Med 2020 Jan 1;9(1)
7. Standards and Guidelines for the Interpretation and Reporting of Sequence Variants in Cancer: A Joint Consensus Recommendation of the Association for Molecular Pathology, American Society of Clinical Oncology, and College of American Pathologists. Vol. 19, Journal of Molecular Diagnostics. Elsevier B.V.; 2017. p. 4–23.
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13. Kato S, Kim KH, Lim HJ, Boichard A, Nikanjam M, Weihe E, et al. Real-world data from a molecular tumor board demonstrates improved outcomes with a precision N-of-One strategy. Nat Commun. 2020;11(1):1–9.
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Der frühe vorzeitige Blasensprung oder PPROM (Preterm prelabor rupture of membranes) vor der abgeschlossenen 37. Schwangerschaftswoche ist einer der wesentlichen Risikofaktoren für Frühgeburtlichkeit und neonatale Morbidität und Mortalität. Eine Verlängerung der Schwangerschaft mit dem Ziel des Erreichens der 34+0 SSW und darüber hinaus verringert nachweislich die kindliche Morbidität und Mortalität. Gleichzeitig nimmt man durch Zuwarten maternale und fetale Risiken in Kauf wie Triple I (Inflammation und Infektion, Amnioninfektsyndrom), maternale Sepsis, vorzeitige Plazentalösung und fetale bzw. neonatale Infektionen. Das Management beinhaltet die Sicherung der Diagnose, die stationäre Überwachung im Geburtszentrum, die Organreifeinduktion mit Glukokortikoiden, eine auf den Zeitraum der Lungenreifung limitierte Tokolyse und eine prophylaktische Antibiose. Gerade bei drohender sehr früher Frühgeburt ist der Konflikt zwischen Verlängerung der Schwangerschaft und Vermeidung eines kindlichen Infektes eine grosse Herausforderung für den Kliniker. Ein drohendes oder manifestes Triple I wird am besten durch Beurteilung mehrerer mütterlicher (C-reaktives Protein, Leukozytose, Fieber, purulenter vaginaler Ausfluss) und kindlicher Parameter (Tachykardie) diagnostiziert.
Preterm prelabor rupture of membranes (PPROM) before the completed 37th week of pregnancy is one of the main risk factors for preterm birth and neonatal morbidity and mortality. Prolonging the pregnancy with the goal of reaching 34+0 weeks of gestation and beyond reduces infant morbidity and mortality. Expectant management however also implies acceptance of maternal and fetal risks such as Triple I (ascending infection, “amniotic infection syndrome”), maternal sepsis, premature placental abruption and fetal or neonatal infections. Management of PPROM includes securing the diagnosis, monitoring in a stationary setting, corticosteroids for pulmonary maturation, tocolysis limited to the period of lung maturation and prophylactic administration of antibiotics. The conflict between prolonging the pregnancy and avoiding an infection poses a major challenge for the clinician, especially in very early PPROM. Impending Triple I is best diagnosed by a combination of maternal (C-reactive protein, leukocytosis, fever, purulent discharge) and fetal parameters (tachycardia). Key Words: Preterm prelabor rupture of membranes, PPROM, preterm delivery, Triple-I, amniotic infection syndrome
Ein früher vorzeitiger Blasensprung (Preterm prelabor rupture of membranes, PPROM) betrifft ca. 3% aller Schwangerschaften und insgesamt 0,5% der Schwangerschaften vor der abgeschlossenen 27. Schwangerschaftswoche (SSW) (4). Die Risikofaktoren für einen PPROM sind dabei im Wesentlichen die gleichen wie für eine Frühgeburt im Allgemeinen. Ein PPROM in der Eigenanamnese ist mit einem relativen Risiko von 3.3 ein zusätzlicher relevanter Faktor für einen erneuten PPROM (5). Der PPROM selbst ist wiederum ein signifikanter Risikofaktor für eine bald folgende Frühgeburt. Die kumulative Entbindungsrate betrug in einer Studie 27% nach 48h, 56% nach 7 Tagen und 76% nach 14 Tagen (7).
Das primäre Konzept des Managements eines PPROM besteht aus dem konservativen Vorgehen zur Verlängerung der Schwangerschaft bei gleichzeitiger Minimierung fetaler oder maternaler Komplikationen. Die Balance zwischen Risiko und Chance ist dabei die eigentliche Herausforderung in dieser Hochrisikosituation. Für die Mutter liegt das Risiko für eine Chorioamnionitis oder eine postpartale Infektion bei 15-20% (6, 8). Besonders bei Quer- oder Beckenendlage besteht die Gefahr eines Nabelschnurvorfalls. Eine vorzeitige Plazentalösung tritt in 2-5% der Fälle auf, im Falle rezidivierender Blutungen oder eines schweren Oligohydramnions deutlich häufiger (8, 9). Keimaszension und Chorioamnionitis, aber auch sterile inflammatorische Reize bedeuten für den Feten die Gefahr einer systemischen inflammatorischen Reaktion (fetal inflammatory response syndrome, FIRS) bis hin zur neonatalen Sepsis (3, 28). Für das sog. Amnioninfektionssyndrom hat sich international die Bezeichnung Triple I eingebürgert (Intrauterine Inflammation oder Infektion oder beides), welche die unterschiedlichen Stadien einer intrauterinen Infektion berücksichtigt (Tab. 1, 14). Diese Definition zentriert stark auf dem Vorhandensein von maternalem Fieber und hat sich in der Schweiz in der geburtshilflichen Terminologie noch nicht durchgesetzt, kann aber evidenzbasiert Hilfe bei der Diagnosestellung geben.
Vor Erreichen der Lebensfähigkeit bzw. vor dem interdisziplinären Entschluss zur neonatalen Maximalversorgung liegt der Fokus auf der Überwachung der mütterlichen Gesundheit. Mit Erreichen dieser Grenze wird auch das Kind engmaschig überwacht und wenn nötig aus kindlicher Indikation entbunden.
Die Grenze der Lebensfähigkeit wird international sehr unterschiedlich zwischen 22+0 und 26+0 SSW interpretiert. Ein sehr früher PPROM vor 22+0 SSW stellt trotz schlechterer Prognose keinen Grund für einen Abbruch dar, jedoch ist eine sehr frühzeitige interdisziplinäre Information der Eltern zwingend. Die Grenzen des neonatologisch Machbaren, aber auch des ärztlicherseits Versuchten haben sich im Trend der letzten Jahrzehnte nach vorne verschoben. In der Schweiz äussert sich dazu der Expertenbrief der SGGG No. 56 (24) unter Berücksichtigung der Empfehlungen der AG Limit of Viability (1, 2). Dieser Expertenbrief weist darauf hin, dass die Lungenreifung – mit dem Zwecke einer Maximalversorgung des Kindes bei Geburt – vor 23+0 SSW keinen neonatalen Benefit gezeigt hat. Ab 23+0 SSW kann demnach aber unter günstigen Rahmenbedingungen (kein Verdacht auf fetale Infektion, zeitgerecht entwickelter Fetus ohne schwere Fehlbildung, abgeschlossene LRI) bei entsprechendem Elternwunsch eine Maximalversorgung des Kindes erwogen werden. Sobald eine Maximalversorgung des Kindes geplant ist, ändert sich auch das geburtshilfliche Vorgehen mit fetaler Überwachung per CTG und Entbindung bei fetaler Indikation. Essenziell ist in diesen sehr frühen Wochen eine vorgängige interdisziplinäre Beratung der Eltern durch Neonatologen und Geburtshelfer, in der mütterliche wie fetale Risiken und Chancen erörtert werden (1). Ab 24+0 SSW dürften die allermeisten zur Maximalversorgung ausgestatteten Geburtszentren internationaleine kindliche Überwachung und die Versorgung quo ad vitam für das Kind anbieten und empfehlen. Ab der 25+0 SSW würde nur in Fällen mit mehreren prognostisch ungünstigen Zusatzfaktoren im Einzelfall von einer intensivmedizinischen Versorgung eines Kindes Abstand genommen werden (1).
Diagnose
Die Diagnose des PPROM stellt sich häufig schon aus der Klinik. Selbst bei klinisch eindeutigem Bild muss aber per steriler Speculumeinstellung ein Status erhoben und ein vaginaler mikrobiologischer Abstrich sowie ein vaginal-rektaler Abstrich auf Streptokokken der Gruppe B abgenommen werden. Typisch ist die Ansammlung von Fruchtwasser im hinteren Scheidengewölbe (pooling), welche durch einen Hustentest provoziert werden kann. Ist klinisch der Blasensprung bereits als absolut sicher anzunehmen, muss kein weiterer Test durchgeführt werden. Bei Unklarheiten sollte ein biochemischer Test zum Einsatz kommen. Dabei werden entweder IGFP-1, PAMG-1 oder eine Kombination aus AFP und IGFP-1 nachgewiesen, die Sensitivität und Spezifität liegt bei weit über 90% (11, 12). Bei starker Kontamination mit Blut ist die Aussagekraft der Tests dagegen eingeschränkt.
Eine sonographisch reduzierte Fruchtwassermenge oder eine chorioamniale Separation alleine sind suggestiv, aber nicht beweisend für einen PPROM. In einer prospektiven Studie hatten nur 67% der Patientinnen bei Diagnose einen AFI <5cm (10). Andersherum würde eine «normale» Fruchtwassermenge ebenso wenig einen PPROM ausschliessen.
Eine vaginale pH-Testung zur Diagnose eines PPROM kann ergänzend durchgeführt werden, hat aber eine relevante Rate an falsch-positiven wie falsch-negativen Resultaten und ist als einziges diagnostisches Kriterium nicht ausreichend (16, 20). Der mikroskopische Test auf ein Farnkrautphänomen ist den biochemischen Tests ebenso klar unterlegen und dürfte kaum noch Anwendung finden. Die diagnostische Indigocarmininstillation per Amniocentese und vaginale Tupfereinlage («Blauprobe») dürfte nur noch absoluten Einzelfällen vorbehalten sein.
Nicht oft genug wiederholt werden kann, dass auf eine digitale vaginale Untersuchung verzichtet werden soll, solange keine direkten Geburtsbestrebungen bestehen, da durch Einbringen von Bakterien die weitere Dauer der Schwangerschaft verkürzt wird (13). Es gibt keine ausreichende Datenlage zu Sicherheit und Risiken des transvaginalen Ultraschalls, ideal sollte die Cervix uteri nur per Speculum und per transabdominalem Ultraschall beurteilt werden.
Management
Ist der PPROM gesichert, soll die Patientin unbedingt spätestens in der 23+0 SSW, unabhängig von drohenden Geburtsbestrebungen, in ein dafür geeignetes Geburtszentrum mit angeschlossener neonatologischer Intensivstation verlegt werden (1, 2). Die weitere Betreuung erfolgt primär stationär. Einzelne Zentren, darunter auch Luzern, setzen beim klinisch stabilen PPROM in stabiler Situation alternativ auf ein ambulantes Management. Die Kriterien für ein homecare-Vorgehen wurden von der Gruppe um Céline Petit in Lille 2018 gut zusammengefasst (31).
Die antenatale Applikation von Steroiden zur Lungenreifungsinduktion (LRI) ist bei PPROM zwischen 24+0 SSW und 33+6 SSW klar indiziert und reduziert die kindliche Morbidität wie Mortalität signifikant (24). Auch vor 24+0 SSW kann eine LRI durchgeführt werden, wenn eine Maximaltherapie für das Kind besprochen wurde. Zwischen 22+0 und 23+6 SSW würde jedoch nur die neonatale Mortalität reduziert, einen signifikanten positiven Einfluss auf die Morbidität beweist die Datenlage in diesem Gestationsalter nicht (6, 15). Der Expertenbrief der SGGG hält entsprechend so auch fest, dass eine LRI vor 23+0 SSW nicht mit gesichertem kindlichen Benefit einhergeht (24).
Für den Zeitraum der LRI darf und sollte eine Tokolyse gegeben werden. Nach Ablauf dieser 48h sollte die Tokolyse gestoppt werden (6). Eine evidenzbasierte Empfehlung zum Einsatz eines favorisierten Medikaments ist nicht möglich, die Auswahl richtet sich nach den üblichen Kriterien bei drohender Frühgeburtlichkeit. Bei klinischem Bild eines Triple I oder in bereits fortgeschrittener Eröffnungsperiode ist jeder Versuch, eine Geburt tokolytisch «verhindern» zu wollen, entweder mit einem erhöhten Risiko eines neonatalen Infekts assoziiert oder schlicht frustran und soll unterbleiben. Interessant ist dabei die Datenlage zum Einsatz der Tokolyse bei PPROM: gemäss Cochrane-Analyse lässt sich bei eher tiefer Studienqualität zwar die Rate an Geburten innert der ersten 48h um 45% senken, jedoch fanden die Autoren keine signifkante Verbesserung der kindlichen Mortalität und Morbidität (19).
In allen Situationen, in denen eine Maximaltherapie gewünscht wird, soll nach Diagnose des PPROM ein einmaliger Antibiosezyklus von 5-10 Tagen gegeben werden (6). Die signifikanten Vorteile für Mutter und Kind sind klar evidenzbasiert. Sowohl das Risiko einer Chorioamnionitis (RR= 0,66), als auch einer Geburt binnen 48h (RR= 0,71) und für eine neonatale Infektion (RR= 0,67) kann hierdurch reduziert werden (21). Schwieriger ist die Frage nach dem optimalen Antbiotikum, da die Studienlage kein favorisiertes Antibioseschema ermitteln konnte (23). Gute Daten gibt es für den Einsatz von u.a. Ampicillin gefolgt von Amoxicillin, Pencillin G, Erythromycin, Cefuroxim oder der Kombination aus Clindamycin und Gentamicin. Die Kombination aus Amoxicillin und Clavulansäure wird bei PPROM wegen erhöhter Raten an Nekrotisierender Enterocolitis in der ORACLE-I-Studie nicht mehr empfohlen (21, 22). Eine Einmalgabe eines Makrolids (z.B. 1g Azithromycin) erweitert das Spektrum auf Chlamydien und Mykoplasmen.
Eine Neuroprotektion mit intravenösem Magnesium ist erst dann indiziert, wenn zwischen 24+0 und 32+0 SSW eine Geburt unmittelbar bevorsteht und damit nicht obligater Bestandteil der Initialtherapie.
Vaginales oder rektales Progesteron und 17-Hydroxyprogesteroncaproat i.m. verlängern die Latenzzeit nach PPROM nicht (18). Eine bereits begonnene vaginale Progesterongabe sollte bei PPROM beendet werden. Eine therapeutische serielle Amnioninfusion ist nicht empfohlen (6, 25). Genauso wenig ist die diagnostische Amniocentese zur Diagnostik auf Triple I mit z.B. Bestimmung des Interleukin-6 (IL-6) derzeit für die Routine geeignet. Auch der interessante Ansatz der Messung der IL-6-Konzentration im Vaginal-sekret bedarf weiterer Untersuchungen in Studien (26).
Die maternale und fetale Überwachung variiert sicher nach «Hausstandard». Empfehlenswert sind engmaschige Kontrollen des CTG (1-2x/d mit Fokus auf Anstieg der baseline über 160 bpm oder um mehr als 15%), der mütterlichen Temperatur und von mütterlichen Symptomen (Wehen, uterine Druckdolenz, Beschaffenheit der Fruchtwasserabgänge) und Laborkontrollen (Blutbild, CRP). Die Wertigkeit des CRP ist dabei kritisch zu diskutieren, ein isolierter CRP-Anstieg sollte nicht zur Entbindungsindikation führen (28).
Entbindungszeitpunkt
Generell ist bei PPROM bis 33+6 SSW ein exspektatives Vorgehen der internationale Standard (6, 16, 17). Tabelle 2 zeigt die Ergebnisse einer Metaanalyse, welche die Resultate einer geplanten frühen Entbindung mit dem abwartenden Vorgehen verglichen hat. Zuwarten trägt demnach – wie der klinischen Erfahrung entsprechend – ein höheres Risiko einer neonatalen Sepsis, reduziert aber die kindliche Mortalität und die Beatmungsnotwendigkeit (27).
Bei Anzeichen auf ein Triple I, fetalen distress, vorzeitige Plazentalösung oder drohenden Nabelschnurvorfall besteht die Indikation zur sofortigen Entbindung. Die grösste klinische Herausforderung besteht bei der sehr frühen Frühgeburtlichkeit im rechtzeitigen Erkennen eines drohenden Amnioninfekts. Hier sollte nicht aufgrund eines einzelnen Parameters entbunden werden, sondern aufgrund einer Kombination maternaler (CRP, Fieber, Leukozytose, purulenter Fluor) und fetaler (Tachykardie) Faktoren. Kommt es weder zu einer unmittelbaren fetalen oder maternalen Gefährdung noch zu einem spontanen Wehenbeginn, darf zugewartet werden. Ab der 34+0 SSW kann entbunden werden. Die Cochrane-Analyse von 2017 hat hierzu gezeigt, dass die Ergebnisse eines exspektativen Vorgehens unabhängig sind vom Zeitpunkt des Blasensprungs vor oder nach 34 SSW (27). Daher dürfte prinzipiell bei Blasensprung vor 34 SSW – ähnlich wie beim PPROM >34+0 SSW unter der Voraussetzung eines negativen GBS-Abstrichs – weiter zugewartet werden bis maximal 37 SSW, um die Folgen der late-preterm-Geburt für das Kind zu minimieren (27, 29, 30).
Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
◆ Beim frühen vorzeitigen Blasensprung (SSW) ist das primäre Ziel die Fortsetzung der Schwangerschaft unter engmaschiger maternaler und fetaler Überwachung an einem Zentrum mit entsprechend ausgestatteter Neonatologie.
◆ Pfeiler des Managements sind ein an die Schwangerschaftswoche angepasstes Vorgehen, in sehr frühen Wochen der Einbezug des Elternwunsches per informed consent und die Minimierung maternaler und fetaler Risiken durch intensive maternale und fetale Überwachung, Lungenreifungsinduktion und Antibiose.
◆ Tokolyse sollte nur für den Zeitraum der Lungenreifung gegeben werden.
◆ Der Entscheid zur Entbindung bei V.a. Chorioamnionitis/Triple I sollte nicht aufgrund einzelner, sondern aufgrund einer Kombination maternaler und fetaler Faktoren erfolgen (CRP, Leukozytose, purulenter
Fluor, Fieber, fetale Tachykardie).
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