Nicht nur nach Rom führen viele Wege

Der Monte Bar zwischen der Val Colla und der Val d’Isone ist ein herrlicher Aussichtsberg, der uns zu allen Jahreszeiten immer wieder anzieht. Dieses Mal ist es der 4. Januar und nur gerade auf dem Gipfel liegt ein wenig Schnee. Die zahlreichen Wege, die im Rahmen der Aufforstungen im Tal erstellt wurden, erlauben die unterschiedlichsten Aufstiegsvarianten. Wir beginnen unseren Aufstieg in Signôra und verlassen das Dorf am oberen Ende über ein Fahrsträsschen in nordnordöstlicher Richtung.

Diesem folgen wir bis unmittelbar nach der dritten Kehre, wo bergwärts in nordnordwestlicher Richtung ein Weg abgeht und in ein steiles bewaldetes Tälchen führt. Noch bevor wir dessen Bach erreichen, zweigen wir nach Südwesten auf einen Pfad ab, über den wir, an zwei länglichen Gebäuden vorbei und über einige weite Kehren, den Geländepunkt 1400 Meter erreichen. Hier erwartet uns ein Rastplatz mit Brunnen. Nun haben wir die Wahl, entweder östlich durch den schattigen Wald oder westlich über die sonnigen Alpweiden zum Torrettone aufzusteigen. Von dort aus ist es nicht mehr weit bis zum Forsthaus von Piandanazzo, das wir entlang des oberen Randes der Valle di Scareglia erreichen. Wer militärhistorisch interessiert ist, der wendet sich vor dem Aufstieg zum Monte Bar nach Osten in Richtung der Cima Moncucco. Auf deren Westseite finden sich noch Überreste von befestigten Stellungen aus dem 1. Weltkrieg.

Über den Ostgrat des Monte Bar führt uns schliesslich eine Pfadspur zum Gipfel. Die weite Rundsicht über die Berge des Sotto- und Sopraceneri, die Walliser, Berner, Urner und Bündner Alpen bis hin zu den Bergen rund um den Lario (Lago di Como) lädt zum Verweilen ein, wenn man das Glück eines seltenen windstillen Tages hat (Abb. 1 und 2). Allzu oft ist der Berg jedoch seiner exponierten Lage wegen heftigen Winden aus einem der vier Himmelsrichtungen ausgesetzt, sodass man bald einmal in die gastfreundliche Capanna Monte Bar hinuntergetrieben wird (Abb. 3). Auch diesmal kehren wir dort ein und lassen uns kulinarisch verwöhnen. Dabei sollte man nicht vergessen, dass die Hütte im Winter vom 28. November bis 30. April nur von Freitag bis Sonntag bewartet ist. Zusätzlich ist sie an Festtagen und während der Schulferien geöffnet.

Für den weiteren Abstieg wenden wir uns der östlichen Begrenzung der Weiden von Pian Carasso zu und steigen entlang der Westkante der Valle di Scareglia bis zum ersten, kein Wasser mehr führenden Weidebrunnen ab. Dort stossen wir auf einen Pfad, der in wenigen Kehren zu einem Weg hinunterführt, der nordwärts zwei Bäche quert und zur Costa del Bello hinüberleitet. Gleich nach dem zweiten Bach zweigt auf der Talseite ein Pfad ab, der teilweise von Sträuchern überwuchert ist, uns aber auf direktem Weg zur Hütte von La Spessa bringt. Wir folgen dem Waldsträsschen taleinwärts bis zu dessen Ende. Hier stossen wir beim Bach auf die frisch angelegte Trasse eines alten Weges, über die wir auf der Ostseite der wilden Valle di Scareglia zu den Häusern von I Barche gelangen. Anstatt nach Scareglia abzusteigen, wenden wir uns vorerst eben aus nach Osten bis zu einem letzten kleinen Gebäude und einer länglichen Ruine von I Sass Gross. Nun steigt der Pfad im Wald noch etwas an, bevor wir wieder unsere Aufstiegsroute erreichen, über die wir nach Signôra zurückfinden (Abb. 4).

Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo

Riedstrasse 9
6430 Schwyz

christian.besimo@bluewin.ch

Geburtseinleitung

Die Geburtseinleitung betrifft 25% aller Schwangerschaften. Ziel einer vorzeitigen Induktion von Kontraktionen ist es, das bestmögliche Outcome für Mutter und Kind zu erreichen. Wir unterscheiden die medizinisch indizierte Geburtseinleitung und die Wunscheinleitung. Aus Einleitungsindikation, Anamnese, Parität, Schwangerschaftsalter, Reifegrad der Zervix und dem Wunsch der Patientin setzt sich die Entscheidungsfindung zusammen, die immer schriftlich dokumentiert werden soll. Zur Einleitung verwenden wir medikamentöse, mechanische und alternative Methoden. Misoprostol oral stellt bei unreifer Zervix das effektivste Verfahren mit geringsten Risiken dar.

Labor induction affects 25% of all pregnancies. The aim of premature induction of contractions is to achieve the best possible outcome for mother and child. We distinguish between medically indicated induction of labor and desired induction. The decision-making process, which should always be documented in writing, is based on the induction indication, medical history, parity, gestational age, degree of cervical maturity and the patient’s wishes. For induction we use medicinal, mechanical and alternative methods. Misoprostol orally represents the most effective procedure with the least risks in immature cervix.
Key Words: Einleitungsindikationen, Einleitungsmethoden, Misoprostol

Die Geburtseinleitung – die Triggerung von zervixwirksamen Kontraktionen vor physiologischem Geburtsbeginn – betrifft heute ein Viertel aller Schwangerschaften. Obwohl eine gute Evidenz besteht, ist die Geburtseinleitung sowohl bei Schwangeren als auch bei betreuenden Personen eher negativ belegt. Es gilt im Folgenden, die Indikationen, Methoden mit deren Vor- und Nachteilen, das Outcome, aber auch rechtliche und psychologischen Aspekte rund um die Geburtseinleitung darzustellen.

Epidemiologie

Nach den aktuellen Daten, die dem BAG vorliegen, wurden 2015-2017 mehr als 25% aller Schwangerschaften durch eine Geburtseinleitung beendet. Die regionale Verteilung schwankt stark (Abb. 1). Im Vergleich zum Zeitraum 2012-2014 ist die Einleitungsrate in praktisch allen Kantonen gestiegen, mit Ausnahme der Kantone Jura, Luzern, Obwalden und St. Gallen (1).

Einleitungsindikationen

Grundsätzlich unterscheiden wir die medizinisch indizierte Geburtseinleitung, bei der das Risiko zur Fortführung der Schwangerschaft die Nachteile dieser medizinischen Intervention übersteigt, von der Wunscheinleitung. In beiden Situationen gilt es, den Nutzen der Intervention gegen die Risiken abzuwägen und im Einvernehmen mit der Schwangeren als Behandlungsteam eine Entscheidung zu treffen, die zu einem besseren perinatalen Outcome führt, als bei Zuwarten zu erwarten wäre. Tabelle 1 liefert einen Überblick über die Indikationen.

Fetale Indikationen

Terminüberschreitung

Wichtig ist der anhand biometrischer Daten gesicherte Gestationstermin (Korrektur ab 5 Tagen abweichender SSL bei 11-14 SSW). Ausnahme bilden IVF Schwangerschaften (Entbindungszeitpunkt= Transferdatum+266 Tage-Embryoalter in Tagen) (2). Eine Metaanalyse zeigte bei einer Geburtseinleitung ab vollendeter 41 SSW eine deutliche Reduktion der perinatalen Mortalität (risk ratio (RR) 0.31, 95% confidence interval (CI) 0.15-0.64). Demnach wurde mit 544 Einleitungen ein perinataler Tod verhindert. Zudem wurde durch die Intervention die Sektiorate gesenkt (RR 0.90, 95% CI 0.85-0.95) und die Rate an vaginaloperativen Entbindungen blieb nahezu unverändert (RR 1.03, 95% CI 0.96-1.10) (3). Somit wird in der deutschsprachigen Leitlinie ab 40+0 SSW eine engmaschigere Überwachung zur frühzeitigen Erkennung von Risiken empfohlen, ab 41+0 SSW kann eine Geburtseinleitung angeboten werden. Ab 41+3 SSW sollte diese empfohlen werden, ab 42+0 SSW dringend (4).

Vorzeitiger Blasensprung

Ein vorzeitiger Blasensprung vor dem Einsetzen regelmässiger Wehen (PROM) am Termin zeigt sich in 8-10 % aller Schwangerschaften. Das Risiko für ein Amnioninfektionssyndrom nimmt ab 24 Stunden signifikant zu (5). So wird eine Geburtseinleitung spätestens nach 24 Stunden empfohlen (4). Gemäss Metaanalyse reduziert aktives Management das Intervall bis zur Geburt um 10 Stunden (95% CI 12-8), das Auftreten einer Chrorionamnionitis/ Endometritis (RR 0.49, 95% CI 0.33-0.72) und das Risiko einer kindlichen Verlegung auf die Neonatologie (RR 0.75, 95% CI 0.66-0.85). Sektiones waren nicht häufiger nötig (RR 0.84, 95% CI 0.69-1.04) (6).

Oligohydramnion

Die Diagnose eines Oligohydramnion wird sonographisch mittels AFI<5cm oder dem grössten vertikalen Depot (single deepest pocket <2cm) gestellt und betrifft 2-10% der Schwangerschaften in der 40-42 SSW (7, 8). Die AFI-Methode führt dabei häufiger zur Geburtseinleitung aufgrund eines Oligohydramnions ohne das Outcome zu verbessern. Auf keinen Fall vor, aber auch nach 37+0 SSW ist ein isoliertes Oligohydramnion eine Indikation zur Einleitung. Ab 39+0 kann diese bei Vorliegen weiterer Risikofaktoren grosszügiger gestellt werden – auch wenn hierfür keine eindeutige Evidenz vorhanden ist (4).

Intrauterine Wachstumsretardierung

IUGR (intrauterine Wachstumsrestriktion) ist mit einer erhöhten fetalen Morbidität und Mortalität vergesellschaftet. Hingegen sind SGA (small for gestational age) Feten konstitutionell bedingt klein und haben ein normales perinatales Outcome. Bei einem IUGR steigt mit zunehmender SSW das Risiko eines IUFTs, so dass bei pathologischem Doppler A. umbilicalis (PI>95. Perzentile) eine Schwangerschaftsbeendigung ab 37+0 SSW angestrebt werden sollte. Bei isoliertem SGA sollte die Einleitung ab 38+0 SSW mit der Patientin diskutiert und eine Terminüberschreitung vermieden werden (4, 9).

Fetale Makrosomie

Die fetale Makrosomie (>95. Perzentile) ist ein Risikofaktor für Schulterdystokie und andere kindliche und mütterliche Risiken. So kann gemäss der spärlichen Datenlage durch eine Geburtseinleitung ab 39+0 SSW zwar keine Sektio (RR 0.91, 95% CI 0.76-1.09) oder vaginaloperative Entbindung (RR 0.86, 95% CI 0.65-1.13) vermieden werden, doch das Risiko einer Schulterdystokie (RR 0.60, 95% CI 0.37-0.98) und Frakturen (RR 0.20, 95% CI 0.05-0.79) wird reduziert. Bei 60 Geburtseinleitungen wird eine fetale Fraktur verhindert. Bei noch früherer Einleitung überwiegt irgendwann das Risiko den möglichen Nutzen (10). Unter Berücksichtigung aller Aspekte sollte die Geburtseinleitung bei Verdacht auf einen LGA-Fetus >95. Perzentile ab 39+0 SSW angeboten werden (4).

Maternale Indikationen

Diabetes mellitus

Frauen mit Gestationsdiabetes haben ein erhöhtes Risko für Präe­klampsie, Polyhydramnion und Makrosomie. Trotzdem reicht die aktuelle Studienlage nicht aus, den optimalen Zeitpunkt für die Geburtseinleitung klar zu definieren (11). Der Zeitpunkt sollte anhand weiterer Risikofaktoren, der diabetogenen Stoffwechsellage und fetalen Kriterien gewählt werden. Generell sollte eine Einleitung <39+0 SSW vermieden werden. Ab 40+0 SSW soll diese bei insulinpflichtigem Gestationsdiabetes angeboten werden. Ein diätetisch gut eingestellter Gestationsdiabetes stellt keine Indikation zur Geburtseinleitung dar (4).

Schwangerschaftscholestase

Die intrahepatische Schwangerschaftscholestase ist mit einem erhöhten Risiko für kindliche Mortalität und Morbidität assoziiert (IUFT: RR 1.46, 95% CI 0.73-2.89, Verlegung auf die Neonatologie: RR 2.12, 95% CI 1.48-3.03). Die Auswirkungen korrelieren dabei mit der Gallensäurekonzentration im maternalen Blut (12). Auch bei niedrigen Werten <40 μmol/L ist trotz geringer Evidenz die Geburtseinleitung bei ≥37+0 SSW empfohlen. Bei hoher Konzentration von >100 μmol/L sollte die Beendigung der Schwangerschaft ab 34+0 SSW unter Berücksichtigung der Schwere der Symptome und Wünschen der Frau angestrebt werden (4).

Hypertonie

Bei einer Gestationshypertonie sollte ab 37+0 SSW, bei einer chronischen Hypertonie ab 38+0 SSW die Beendigung der Schwangerschaft empfohlen werden. Eine Terminüberschreitung sollte vermieden werden (4).

Präeklampsie

Bei einer Präeklampsie soll ab 34+0 SSW, spätestens ab 37+0 SSW die Beendigung der Schwangerschaft nach Abwägen der maternalen und neonatalen Risiken empfohlen werden (4).

Wunscheinleitung

Aktuelle Studien zeigen, dass eine Einleitung ab 39+0 SSW aus rein subjektiven Gründen durchaus eine Option darstellt. Dabei werden keine erhöhten Risiken für das Kind in Kauf genommen und die Rate an Sektiones wird sogar verringert (RR 0,84, CI 0,76-0,93) (13, 14).

Einleitungsmethoden

Aus Einleitungsindikation, Anamnese, Parität, Schwangerschafts­alter, Reifegrad der Zervix und dem Wunsch der Patientin setzt sich die Entscheidungsfindung zusammen (Tab. 2). Grundsätzlich unterscheiden wir medikamentöse von mechanischen Methoden. Auch die alternativen Einleitungsmethoden seien erwähnt, wobei die meisten dieser Verfahren jedoch noch unzureichend untersucht sind (Tab. 3). Beim Rizinusöl kommt es über seinen Wirkstoff, die Rizinolsäure, zu einem Effekt an den Prostaglandin-Rezeptoren der Muskelzellen in der Gebärmutter und des Darms, weshalb es zu einer uterinen Überstimulation kommen kann. Rizinusöl sollte deshalb nicht im ambulanten Setting zur Geburtseinleitung verwendet werden.

Mechanische Methoden:

Gemeinsamer Wirkungsmechanismus dieser Methoden ist die Stimulation der Prostaglandinsynthese durch lokale Freisetzung von proinflammatorischen Zytokinen. Diese induzierten Prozesse gleichen den physiologischen Vorgängen. Kontraindikationen für die physikalischen Geburtseinleitungen: tiefliegende Plazenta, vorzeitiger Blasensprung, antepartale Blutungen, vaginale Infekte.

Eipollösung

Dabei wird der innere Muttermund zirkulär gedehnt und das Amnion vom unteren Uterussegment abgelöst. Eine Cochrane-Metaanalyse konnte im Vergleich mit exspektativem Vorgehen einen häufigeren Geburtsbeginn (RR 1,21, 95% CI 1,08-1,34) und weniger Geburtseinleitungen (RR 0,73, 95% CI 0,56-0,94) zeigen (15). So kann die Eipollösung den Schwangeren am Termin angeboten werden (4).

Amniotomie

Wegen der Gefahr eines Nabelschnurvorfalls sollte der Kopf Bezug zur Zervix haben. Die Begünstigung von Infektionen muss ebenfalls bedacht und Vasa praevia ausgeschlossen werden. Obwohl es eine häufige Intervention ist, gibt es kaum aktuelle Studien ausreichender Qualität zur alleinigen Anwendung einer Amniotomie zur Geburtseinleitung (16), so dass sie in Leitlinien oft nicht empfohlen wird (4). Persönliche Erfahrungen sind positiv. Die Kombination mit Oxytocin kann die Effektivität deutlich steigern, so dass verglichen mit Plazebo die Rate an vaginaloperativen Entbindungen signifikant reduziert werden kann (RR 0.18, CI 0.05-0.58) (17).

Ballonkatheter

Durch den mit dem Ballon aufgebauten Druck auf die Zervix, kommt es zur lokalen Freisetzung von Prostaglandinen. Die Effektivität bei unreifem Zervixbefund entspricht der medikamentösen Gabe von Prostaglandinen. Dabei scheint die Rate an uterinen Überstimulationen oder pathologischem CTG im Vergleich zur Medikamentengabe reduziert zu sein. Die simultane Anwendung von Ballonkathetern und medikamentösen Verfahren verkürzt die Zeit bis zur Geburt und führt im Vergleich zur alleinigen Medikamentengabe zu weniger Überstimulationen (4, 18).

Zervixdilatoren

Hygroskopische Zervixdilatatoren werden in die Cervix uteri eingelegt und führen über eine osmotische Dehydratation des Gewebes und Freisetzung von Prostaglandinen zur Dilatation der Zervix. Sie können zur Geburtseinleitung bei unreifem Zervixbefund und auch nach vorherigem Kaiserschnitt verwendet werden (4).

Medikamentöse Methoden:

Oxytocin

Oxytocin erhöht über Rezeptoren das intrazelluläre Kalzium im Myometrium und führt so zu Kontraktionen. Ein Vorteil ist bei kurzer Halbwertszeit von 3-6 Minuten die gute Steuerbarkeit. Welches der beschriebenen Dosisregime das Beste ist, ist durch die aktuelle Studienlage nicht geklärt (18). Erreicht werden sollte eine regelmässige Wehentätigkeit. Dabei sollte Oxytocin nur bei reifem Zervixbefund oder nach Blasensprung zur Geburtseinleitung verwendet werden. Nach 6h ohne deutlichen Geburtsfortschritt sollte die Oxytocininfusion pausiert und ggf. andere Methoden evaluiert werden (4).

Prostaglandine E2 (Dinoproston)

Neben wehenauslösenden Mechanismen bewirken Prostaglandine über einen Kollagenumbau eine Auflockerung des Zervixgewebes und können deshalb anders als Oxytocin auch bei unreifem Zervixbefund eingesetzt werden. Bei Dinoproston sollte dabei die vaginale Verabreichung der intrazervikalen vorgezogen werden (4).

Prostaglandine E1 (Misoprostol)

Misoprostol ist das wirksamste Medikament zur Geburtseinleitung bei unreifem Zervixbefund. Die Applikation sollte oral erfolgen. Aus Vorsicht sollten Erstgaben von > 50 μg vermieden werden. Verglichen mit der vaginalen Anwendung von Dinoproston führt oral gegebenes Misoprostol – bei leicht verlängerter Zeit bis zur Geburt – zu weniger Sektiones (RR 0.84, 95% CI 0.78 to 0.90) bei geringerem Risiko für eine uterine Überstimulation (RR 0.49, 95% CI 0.40 to 0.59). Auch verglichen mit mechanischen Methoden bietet Misoprostol Vorteile. Es führt zu einer erhöhten Rate an vaginalen Geburten innerhalb von 24h (RR 1.32, 95% CI 0.98 to 1.79) bei wohl reduzierter Sektiorate (RR 0.84, 95% CI 0.75 to 0.95) ohne die Rate an Komplikationen wie Überstimulation mit Auswirkung auf die kindlichen Herztöne zu erhöhen (RR 1.31, 95% CI 0.78 to 2.21) (20, 21).

Rechtliche und psychologische Aspekte

Wie schon erwähnt, sollte der Entscheid zur Einleitung nach Ausschluss möglicher Kontraindikationen für eine vaginale Geburt immer im gemeinsamen Einvernehmen des Behandlungsteams, der Schwangeren und ihrem Partner erfolgen. Mütterlicher und fetaler Zustand (Ableitung eines CTGs vor Interventionsbeginn) sollten die Anforderungen an eine vaginale Geburt erfüllen.

Grundsätzlich sollte die sorgfältige Aufklärung über die Indikation, die Methode und die zu erwartenden Risiken schriftlich dokumentiert werden. Im Falle von Zusatzrisiken wie Adipositas, St.n. Sektio, IUGR, Geminischwangerschaft und Beckenendlage empfiehlt es sich, die mütterliche Unterschrift einzuholen.

Werdende Eltern müssen gründlich über die Einleitungsindikation aufgeklärt werden. Es ist wichtig, dabei den zeitlichen Rahmen einer Einleitung von mehreren Tagen zu erwähnen. Ziel dieser Intervention muss das Wohlergehen von Mutter und Kind prä-, intra- und postpartal sein! Dazu tragen wir als Behandler insbesondere durch unsere transparente Aufklärung und unser zugewandtes Verhalten bei.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Oliver Rautenberg

Kantonsspital St.Gallen
Frauenklinik Geburtshilfe
Rorschacher Strasse 95
9007 St.Gallen

Dr. med.Tina Fischer

Kantonsspital St.Gallen
Frauenklinik Geburtshilfe
Rorschacher Strasse 95
9007 St.Gallen

tina.fischer@kssg.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Ziel: Erreichen eines besseren perinatalen Ergebnisses für Mutter und Kind als durch Zuwarten
◆ Mechanische Methoden:
– Untere Eipollösung: Kann angeboten werden
– Amniotomie: Meist nicht als alleinige Einleitungsmethode
– Doppelballonkatheter: Effektiv, geringere Rate an Überstimulation
als Prostaglandine
– Hygroskopische Dilatatoren: Können verwendet werden, wenig Daten
◆ Medikamentöse Methoden:
– Oxytocin: Zugelassen bei reifer Zervix, ggf. Kombination mit
Amniotomie, steuerbar
– Dinoproston: Effektiv, zur Einleitung bei unreifem Zervixbefund,
vaginal
– Misoprostol: Wirksamstes Medikament bei unreifem Zervixbefund
◆ Alternative Methoden: Wenig Evidenz
◆ Gemeinsame Entscheidungsfindung: Kritische Indikationsstellung, Nutzen-Risiko-Abwägung, Beratung

1. Bundesamt für Statistik (BFS) Medizinische Statistik der Krankenhäuser. Entbindungen und Gesundheit der Mütter im Jahr 2017. Neuchâtel, Mai 2019.
2. Standardkommission für Schwangerschaftsultraschall der Schweizerischen Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (SGUM). Empfehlungen zur Ultraschalluntersuchung in der Schwangerschaft. 4. Auflage Bern 2019.
3. Middleton P, Shepherd E, Flenady V, et al. Planned early birth versus expectant management (waiting) for prelabour rupture of membranes at term (37 weeks or more). Cochrane Database Syst Rev 2017; 1:CD005302.
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5. Quist-Nelson J, de Ruigh AA, Seidler AL, van der Ham DP, Willekes C, Berghella V, et al. Immediate Delivery Compared With Expectant Management in Late Preterm Prelabor Rupture of Membranes: An Individual Participant Data Meta-analysis. Obstet Gynecol. 2018;131(2):269-79.
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7. Kehl S, Schelkle A, Thomas A, Puhl A, Meqdad K, Tuschy B, et al. Single deepest vertical pocket or amniotic fluid index as evaluation test for predicting adverse pregnancy outcome (SAFE trial): a multicenter, open-label, randomized controlled trial. Ultrasound Obstet Gynecol. 2016;47(6):674-9.
8. Morris JM, Thompson K, Smithey J, et al. The usefulness of ultrasound assessment of amniotic fluid in predicting adverse outcome in prolonged pregnancy: a prospective blinded observational study. BJOG 2003; 110:989.
9. Intrauterine growth restriction. Guideline of the German Society of Gynecology and Obstetrics (S2k, AWMF-Registry-No: 15/080, October 2016.
10. Boulvain M, Irion O, Thornton JG. Induction of labour at or near term for suspected fetal macrosomia. Cochrane Database of Systematic Reviews 2016, Issue 5. Art. No.: CD000938.DOI: 10.1002/14651858.CD000938.pub2.
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16. Bricker L, Luckas M. Amniotomy alone for induction of labour. Cochrane Database Syst Rev. 2000(4):CD002862.
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18. de Vaan MD, Ten Eikelder ML, Jozwiak M, Palmer KR, Davies-Tuck M, Bloemenkamp KW, et al. Mechanical methods for induction of labour. Cochrane Database Syst Rev. 2019;10:CD001233.
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21. Surbek D. et al. Misoprostol zur Geburtseinleitung. Expertenbrief Nr. 63, Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe.

Schweizer Gesundheitssystem Quo vadis? – Reflexionen einer Hausärztin

Unser hochgelobtes Schweizer Gesundheitswesen scheint am Ende zu sein. Die Spatzen, nein die Kassen, pfeifen es von den Dächern. Die Prämien sind dieses Jahr um durchschnittlich 6,6 % gestiegen. Gibt es Schuldige? Wenn das Verursacherprinzip angewandt wird, so wie es die Kostenträger tun, wird sofort klar, wer daran schuld ist: die Ärztinnen und Ärzte. Die sollen für den Schaden aufkommen.

Vergessen wird, dass wir Patienten behandeln. Negiert wird eine grassierende Inflation, von der auch wir Ärzte betroffen sind. Nicht berücksichtigt wird die Tatsache, dass die Lebens­erwartung in den letzten 20 Jahren erfreulich zugenommen hat, was bei Personen, die am Ende ihrer Lebensspanne angekommen sind, zu einer zunehmenden Kumulation an Gesundheitskosten führt. Ferner, und dies ist entscheidend, sind neue, höchst innovative Therapien, welche klinisch eingeführt und zugelassen wurden, im Einsatz. Diese erhöhen die Lebensqualität und in bestimmten Fällen retten sie Leben.

Was können wir Hausärztinnen und Hausärzte dafür tun? Die konventionelle Hausarztmedizin, bei der ein Grundversorger mit seiner Kenntnis Patienten umfassend und ganzheitlich behandelt und dabei auf sein Fachwissen zurückgreift, hat nicht ausgedient. Sogenannte Billigmodelle hindern Patienten daran, sich direkt beim Spezialisten zu melden. Schliesslich aber müssen sie doch den Hausarzt aufsuchen, damit dieser eine bereits getätigte Spezialisten-Behandlung im Nachhinein rechtfertigt.

Solche Modelle sind auch kostentreibend. Und was kostet die Kassen das jährliche gegenseitige Abwerben von Versicherten? Wir Grundversorger sind nicht die Kostenverursacher, sondern wollen eine moderne Medizin anbieten, die auf unsere Klientel abgestimmt ist und mit der sie zufrieden ist. Der gezielte, niederschwellige Beizug der Spezialisten gehört auch dazu, nach dem Motto: Auf eine gute Fragestellung kommt auch eine gute Antwort.

Es ist so, wir müssen die Probleme beim Schopf packen und selber hartnäckig auf reflektierte Lösungen pochen. Das Einführen eines neuen Tarifsystems gehört dazu, die Ausbildung von mehr Personal gehört dazu, der Einbezug der studentischen Lehre in die Arztpraxen gehört dazu. Wir sind bereit die Probleme anzugehen und haben Lösungen bereit.

Trotz der Administration, die sich auftürmt, bin ich Vollbluthausärztin, die Betreuung meiner anvertrauten Patienten erfüllt mich und macht Freude. Die Begleitung der Menschen und die Kommunikation bleibt für mich prioritär.

Dr. med. Astrid Lyrer

Dr. med. Astrid Lyrer-Gaugler

Basel

RETO KRAPFs Medical Voice

Frisch ab Presse:

«Neuroprothese» zur Korrektur von Sprechstörungen

Hier scheint sich ein grosser Fortschritt anzubahnen! Motorische Sprechstörungen z.B. bei neurodegenerativen Erkrankungen wie der Amyotrophen Lateralsklerose, bei ­Myopathien oder Hirnstamminsulten (im extremen Fall einem «locked-in» Syndrom) sind ein wichtigerer Faktor der Isolation und Vereinsamung. In die (intakten) Sprachareale implantierte Elektroden können die elektrische Aktivität bei versuchtem Sprechen aufnehmen und an einen dem Patienten subkutan implantierten Sensor übermitteln. Via diesen kann ein Rechner dann die im Hirn entstehende Wortbildung interpretieren* und sie via Smartphone oder PC visuell oder stimmlich umsetzen. Die Qualität dieser Methode ist massiv besser geworden: Pro Minute sind jetzt etwa 60 Worte mit einer Fehlerquote von lediglich etwa 10% möglich (1)! Das System funktioniert unbesehen davon, ob der Patient ein Wort zu sprechen versucht oder es stumm – in der Vorstellung sozusagen – formuliert. Neue Methoden verwenden nicht mehr eine transkranielle Implantation der Elektroden, sondern – weniger invasiv – die Einschwemmung der Elektroden, die sich in einem Stent-ähnlichen Maschenwerk befinden, via die Hirnvenen (1). Auf der angegebenen «youtube» Adresse finden Sie ein instruktives Video über diese faszinierende Methode (2).

*Man spricht fachmännisch von einer Gehirn-Computer-Schaltstelle, einer «brain-computer-interface» oder BCI

1. bioRxiv, 2023, doi.org/10.1101/2023.01.21.524489
2. https://www.youtube.com/watch?v=7Fiaew7nDmE

Metabolische Azidose bei chronischer Niereninsuffizienz oder nach Nierentransplantation

Chronisch kranke oder transplantierte Nieren haben oft eine stark eingeschränkte Fähigkeit, metabolisch produzierte Säuren auszuscheiden, sodass eine Blutübersäuerung (chronische metabolische Azidose, definitionsgemäss ein primärer Abfall der Blutbikarbonatkonzentration unter 22 mmol/L, normal um 25 mmol/L) resultiert. Eine chronische metabolische Azidose bei der Niereninsuffizienz scheint die Progression der Erkrankung zu beschleunigen, eine Korrektur derselben (durch Bikarbonat), kann diese Progression verlangsamen. Dies gilt auf Grund einer ausgezeichneten, multizentrischen Schweizer Studie aber leider nicht für transplantierte Nieren von erwachsenen PatientInnen. Die Basenzufuhr verfehlte es trotz dokumentierter Korrektur der Uebersäuerung bei eingeschränkter Nierenfunktion nach Transplantation, die eGFR über 2 Jahre signifikant zu stabilisieren. Also keine Basenzufuhr? Die Effekte der Azidose auf die Abnahme Muskel- und Knochenmasse sind Argumente gegen einen Verzicht, auch wenn hier kein Effekt auf den eGFR Verlauf gefunden wurde. Der alleinige Verlass auf die nicht durch perfekte Genauigkeit bekannte eGFR führt zur Frage, ob diese negative Studie in der Tat auch biologisch nicht signifikant war. Könnten eine längere Therapiedauer und genauere Clearancemessungen andere Resultate bringen? Die ungeklärte Diskrepanz zum Effekt bei chronischer Niereninsuffizienz (ohne oder vor Transplantation) ist ebenfalls Anlass, die Therapie noch nicht ganz abzuschreiben, aber Aufruf, sie noch weiter zu studieren. Siehe auch unten: «Hintergrundswissen: In weniger als einer halben Minute…»

The Lancet 2023, doi.org/10.1016/S0140-6736(22)02606-X

Demenzverlangsamung und Lebensstil

Wenn man etwas länger in der Medizin arbeitete, wird man sich vieler, eher kurzlebiger Erkenntnisse bewusst. So gab es in den 90 Jahren fast keine offizielle Kontraindikation mehr, ja sogar eine universelle Empfehlung für einen Oestrogen-Ersatz in der Menopause und Alkoholkonsum (in schwierig zu definierenden Mengen) wurde geradezu als Langlebigkeitsfaktor zelebriert. Die Diskussionen widmeten sich mehr den Fragen: Bier, Schnaps oder Wein und von demselben eher rotem als weissem. Bezüglich der Demenzentwicklung bei älteren Menschen scheint letzterer nach heutiger Ansicht einen negativen Effekt aufzuweisen. Laut einer chinesischen, prospektiven Kohortenstudie mit etwa 29 000 im Durchschnitt 72 jährigen TeilnehmerInnen und 10 jähriger Beobachtungszeit, war neben Alkoholkarenz auch ein fehlender oder aufgegebener Nikotinkonsum schützend vor dem Auftreten einer kognitiven Einschränkung/Demenz. Erwartetermassen waren folgende 4 Lebensstilfaktoren protektiv: «Gesunde» Ernährung, regelmässige körperliche Aktivitäten, aktivere Sozialkontakte und selbst initiierte kognitive Beschäftigungen (z.B. die Lektüre der «medical voice»…..). Interessant ist, dass die Effekte auch bei Vorliegen eines wichtigen Alzheimer-Risikogens (ApoE epsilon 4) nachweisbar waren. Der Effekt der absoluten Alkoholkarenz ist schwierig zu glauben, aber so meinen es nun halt die Resultate in dieser chinesischen Population.

BMJ 2023, doi.org/10.1136/bmj-2022-072691

Torasemid (Torem) oder Furosemid (Lasix) bei Herzinsuffizienz und Hydrochlorothiazid (Esidrex und in verschiedene Kombinationspräparate) oder Chlorthalidon (Hygroton) bei essentieller Hypertonie?

Oft bleibt es für die Praktikerinnen und Praktiker auch bei schon lange zugelassenen Medikamenten unklar, ob in der gleichen Klasse Vor- oder Nachteile der Einzelsubstanzen zu beachten sind. Schleifendiuretika (Furosemid, Torasemid) sind unverzichtbare Basis der Akutbehandlung einer dekompensierten Herzinsuffizienz, während Thiazide wie Hydrochlorothiazid oder Thiazid-verwandte Diuretika wie Chlorthalidon (ein Sulfonamid) fester Bestandteil der Therapie bei essentieller Therapie sind oder sein sollten. Sind sie in den genannten Indikationen vergleichbar oder sollte man eines dem anderen vorziehen? Nein, für die Hypertonie-Indikation waren die Medikamente (Hydrochlorothiazid mit einer Halbwertszeit von 6-12h, Chlorthalidon mit einer solchen von 40-60 h) über fast 2 ½ Jahre identisch in bezug auf die Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse (1). Erleichterung also, denn Chlorthalidon (Hygroton) wurde in der Schweiz 2014 aus dem Markt, ausser in Kombinationspräparaten, zurückgezogen. Auch zwischen dem kürzer wirkenden Furosemid und Torasemid gab es in den ersten 12 Monaten nach Hospitalisation wegen einer akuten Herzinsuffizienz keine Unterschiede auf die Sterblichkeit (2).

1. NEJM 2023, DOI: 10.1056/NEJMe2215744; 2. JAMA 2023, DOI: 10.1001/jama.2022.23924

Auch gut zu wissen

Neuer Impfplan 2023 ist publiziert

Ende Januar wurde der neue Impfplan auf der BAG Website (siehe 1) publiziert. Er kann als PDF auf D, F und I heruntergeladen werden. Die aktuellen Impfempfehlungen gegen Covid-19 und Affenpocken müssen jedoch separat auf den entsprechenden Webseiten des BAG nachgeschaut werden.
Die empfohlenen Basisimpfungen gegen Varizellen (9-12 Monate alte Kleinkinder, vorzugsweise kombiniert im quadrivalenten Impfstoff, MMRV, Masern, Mumps, Röteln, Varizellen) und die Auffrischimpfungen (13 Monate bis zum 40. Geburtstag) werden durch die Grundversicherung übernommen. Auch gegen einen zusätzlichen Serotyp der Meningokokken (Typ B) kann/soll geimpft werden. Die Kostenübernahme ist auf bestimmte Risikogruppen beschränkt (siehe Kapitel 3g des Dokumentes).

1. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/gesund-leben/gesundheitsfoerderung-und-praevention/impfungen-prophylaxe/schweizerischer-impfplan.html

Welche Differentialdiagnose zur Migraine stellen Sie in diesen Situationen?

Etwa 15 % der Erwachsenen erleiden Migraineattacken in jedem Jahr. Migraine ist die Erkrankung mit der grössten Einschränkung im Alltag für Frauen zwischen 15 und 49 Jahren. Die genetische Prädisposition ist komplex (polygen bedingt). Der Beginn liegt meist im Adoleszenten- und jungen Erwachsenen-Alter. Bei Kindern sind Knaben 3 mal häufiger als Mädchen betroffen, ein Verhältnis, das sich nach Abschluss der Adoleszenz umkehrt. Bitte ordnen Sie die untenstehenden Kardinalsymptome, der wahrscheinlichsten Kopfschmerz Diagnose zu:

A Erstmalige Migraine nach dem 50. Lebensjahr
B Kopfschmerzen begleitet von transienten Doppelbildern, pulsatilem Tinnitus oder orthostatischer Hypotension
C Unilaterale, klopfende Kopfschmerzen, Nausea, Phonophobie und Photophobie, aber ohne Aura, jedoch mit Arbeitsunfähigkeit
D Bilaterale Kopfschmerzen von ½ h bis mehreren Tagen Dauer, nicht-pulsierend, Gefühl um den Schädel umklammert zu sein, keine Aggravation durch alltägliche Körperaktivitäten, nicht fit, aber trotzdem arbeitsfähig
E Schwere, strikt unilaterale Kopfschmerzen mit – auf der gleichen Seite – Tränenfliessen, Nasenfluss, Konjunktivitis oder Ptose
F Neu aufgetretene Kopfschmerzen mit schmerzhaften Temporalarterien, erhöhten Entzündungseiweissen und Kieferklaudikatio.

1 Verdacht auf sekundäre Ursache der Kopfschmerzen
2 Spannungskopfschmerzen
3 Arteritis temporalis
4 Autonome Trigeminuszephalgien, namentlich «Cluster» Kopfschmerzen
5 Intrakranielle Drucksteigerung
6 «Klassische Migraine»

Richtig sind die Kombinationen:
A1, B5, C6, D2, E4, F3

Annals of Internal Medicine 2023, doi.org/10.7326/AITC202301170

Hintergrundswissen:
In weniger als einer halben Minute….

Wie kann eine metabolische Azidose zur Progredienz der Niereninsuffizienz beitragen?

Progredienter Abfall der glomerulären Filtrationsrate und damit assoziierte Schädigungen des Nierentubulus führen zu einer progredienten Einschränkung der Niere, Säure auszuscheiden. Dabei ist vor allem die Ausscheidung von NH3/NH4 («Ammoniak») eingeschränkt. Bei gleichbleibender Säurezufuhr resp. Säureproduktion durch Diät und den endogenen Stoffwechsel, wird zu einem gegebenen Zeitpunkt die Säureausscheidung tiefer als die Summe von Säurezufuhr und Säureproduktion werden. Säure (Protonen) werden also retiniert und «konsumieren» Basen, was mit dem (tiefen) Bicarbonatspiegel im Blut erfasst wird. Die Säurebelastung erfolgt natürlich auch im Nierengewebe und stimuliert dort die profibrotischen und gefässaktiven Hormone Angiotensin II, Aldosteron und Endothelin. Von den erhöhten Ammoniakmengen ist gezeigt, dass sie via den alternativen Aktivierungsweg zur Complementaktivierung führen können. Zusätzlich findet man bei der metabolischen Azidose eine Reihe von Zytokinen erhöht. Zusammen induziert eine chronische metabolische Azidose also ein inflammatorisches-profibrotisches Milieu in den Nieren, was die progrediente Verschlechterung der Nierenfunktion (bei fehlender Basenzufuhr) miterklärt. Von der metabolischen Azidose ist auch bekannt, dass sie zu einer Hypertrophie des Nierengewebes führt, ein möglicher Einfluss derselben auf die Progressionsgeschwindigkeit ist aber nicht gut untersucht.

Prof. Dr. med. Reto Krapf

krapf@medinfo-verlag.ch

Impfen und Allergie – Mythen und Fakten

Schwere allergische Reaktionen auf Impfungen sind selten und schwierig vorherzusagen. Sie können durch die aktive Komponente oder durch Hilfsstoffe ausgelöst sein. Am häufigsten sind selbstlimitierende Lokalreaktionen, selten treten schwere Systemreaktionen vom Sofort- oder Spättyp auf. Aufgrund des wirksamen Schutzes und der hohen Bedeutung für die öffentliche Gesundheit sollten Impfungen auch Patienten mit einer Allergie in der Vorgeschichte wann immer möglich zugänglich sein. Hierfür sind eine sinnvolle Abklärung und Vorsichtsmassnahmen in der Verabreichung bei vorliegenden Allergien notwendig.

Serious allergic reactions to vaccines are rare and difficult to predict. They can be triggered by the active component or by excipients. Self-limiting local reactions are the most common, severe systemic reactions of the immediate or delayed type rarely occur. Due to the effective protection and the high importance for public health, vaccination should, whenever possible, also be accessible to patients with a history of allergy. This requires a reasonable diagnostic work-up and precautionary measures for administration in the context of existing allergies.
Key Words: allergy, egg allergy, vaccination, hypersensitivity reactions

In der Prävention von Infektionskrankheiten sind Impfungen hocheffizient und sicher. Die Zahl verdächtiger allergischer Reaktionen auf Impfungen ist viel höher als die Zahl bestätigter allergischer Reaktionen. Schwere allergische Reaktionen treten in ca. 1 Fall pro Million, Anaphylaxien in weniger als 1:100’000 Verabreichungen auf (1). Lokalreaktionen sind am häufigsten und werden von systemischen Reaktionen abgegrenzt (2).

Unterschieden wird zwischen Soforttypreaktionen, die innerhalb einer Stunde nach Verabreichung auftreten, und Spättypreaktionen, die innert Stunden bis Tagen auftreten. Soforttypreaktionen sind typischerweise IgE vermittelt, nebst nicht IgE vermittelten sogenannt anaphylaktoiden Reaktionen (direkte Aktivierung von Mastzellen, Basophilen oder Komplement). Spättypreaktionen sind meist nicht IgE vermittelt und können verschiedenen immunologischen Reaktionstypen nach Coombs und Gell zugeordnet werden. Die schwerste Form der IgE vermittelten Reaktion ist eine Anaphylaxie, die typischerweise innerhalb 30 Minuten und selten erst nach Stunden, dann meist weniger schwer, auftritt. Vaso-vagale und psychogene Reaktionen können eine Anaphylaxie imitieren. Schwere Sofort- und Spättypreaktionen können eine Kontraindikation für zukünftige Impfungen darstellen.

Komponenten der Impfung, die eine Allergie auslösen können

Impfstoffe beinhalten eine aktive Komponente, das mikrobielle Antigen (ganze Organismen, Teile davon oder inaktivierte Toxine), welches selten eine Hypersensitivitätsreaktion auslöst, sowie Zusatzstoffe, auf die die Mehrheit der Reaktionen zurückgeführt werden kann. Typische Beispiele sind Rückstände aus dem Herstellungsprozess wie Eiprotein und Antibiotika, Hilfsstoffe wie Gelatine, Polysorbat, das Konservierungsmittel Thiomersal und Wirkungsverstärker wie Aluminium. Eine Übersicht über Allergenquellen, Beispiele und klinische Relevanz gibt Tabelle 1.

Bezüglich einer Allergie auf Hühnerei gilt, dass Impfstoffe heutzutage meist nur einen sehr geringen Gehalt an Ovalbumin (Gal d2, das im Eiklar mengenmässig dominierende Majorallergen) aufweisen, so dass die Problematik der Impfung von Hühnereiallergikern mehr den Mythen zuzuordnen ist. Influenza-Impfungen mit tiefem Ovalbumin-Gehalt von <1,2 ug/mL (2) (zum Vergleich: eine Eiportion enthält ca. 130 ug Ovalbumin) können bei Hühnereiweissallergikern sicher verabreicht werden (Tab. 2). Einzige Kontraindikation ist eine bekannte lebensbedrohende Anaphylaxie nach Hühnerei-Genuss. Der Gelbfieber Impfstoff enthält mehrere Mikrogramm Ovalbumin, so dass ein Hauttest vor Verabreichung sinnvoll ist. Abbildung 1 dokumentiert die Pricktestung bei einem Patienten mit bekannter schwerer Hühnereiallergie mit positiver Reaktion auf Hühnerei und negativer Reaktion auf den Gelbfieberimpfstoff Stamaril®. Der Impfstoff wurde aufgrund der Testresultate in drei Fraktionen problemlos verabreicht.

Diagnostik bei Patienten mit vermuteter Allergie auf Impfung

Bei der Festlegung der Diagnostik und etwaiger präventiver Massnahmen ist zu berücksichtigen, ob eine frühere Reaktion auf die Impfung stattgefunden hat oder ob eine vorbekannte Allergie auf einen Inhaltsstoff vorliegt. Bei Impfungen, die in Serie gegeben werden, kann die Bestimmung eines Impftiters hilfreich sein, um die Notwendigkeit einer erneuten Impfung abzuschätzen.

Die Diagnostik bei Soforttypreaktionen umfasst Hauttestungen mit dem Impfstoff und Zusatzstoffen. Die diagnostische Sensitivität von Prick- und Intrakutantests mit Impfstoffen ist bei anaphylaxieartigen Reaktionen sehr hoch. Der Impfstoff kann im Pricktest unverdünnt untersucht werden. Intrakutantestungen lösen gehäuft irritative Reaktionen aus, sie werden deshalb oft in der Konzentration 1% in NaCl 0,9% getestet. Intrakutantestungen lassen jedoch aufgrund der inhärenten immunaktivierenden Wirkung Spättyp­reaktionen erwarten, weshalb oft darauf verzichtet wird. Zusatzstoffe wie Hühnereiweiss, Formaldehyd, Aluminiumhydroxychlorid und je nach Fragestellung auch Gelatine, Saccharomyces Cerevisiae und Latex können mittels Prick und Intrakutantestung untersucht werden. Dazu können spezifische IgE z.B. gegen Ovalbumin, Gelatine, Latex und Saccharomyces Cerevisiae bestimmt werden (1).

Massnahmen bei Verabreichung bei Patienten mit vermuteter Allergie auf Impfung

Bei erneuter Verabreichung einer Impfung mit Anamnese einer stattgehabten Reaktion bei früherer Impfung muss nebst den Testresultaten immer der Schweregrad der Indexreaktion berücksichtigt werden. So bedingt das verzögerte Auftreten einer Urtikaria nach einer früheren Impfung weniger Vorsichtsmassnahmen als die Anamnese einer Anaphylaxie mit systemischen Symptomen. Bei negativer Hauttestung kann die Impfung normal verabreicht werden, wobei vorsichtshalber eine Überwachungszeit von mindestens 30 Minuten erfolgt. Bei positiver Hauttestung und Notwendigkeit erneuter Verabreichung erlaubt eine fraktionierte Verabreichung in den meisten Fällen eine erneute Impfung. Ein typisches Verab­reichungsschema in 5 Schritten ist in Tabelle 3 illustriert (3). Im Alltag kommt je nach Bewertung der Vorgeschichte und Test­befunde ein vereinfachtes Schema, z.B. mit einer zweistufigen Verabreichung, häufiger zum Einsatz (Tab. 3).

Allergische Reaktionen auf COVID-19-Impfungen

Vier COVID-19 Impfstoffe sind aktuell in der Schweiz zugelassen: messenger RNA BNT162b2 von Pfizer (Comirnaty®), messenger RNA-1273 von Moderna (Spikevax®), der Vektor Impfstoff Ad26.COV2.S von Janssen und Nuvaxovid®/NVX-CoV2373 von Novavax, ein Protein-basierter Impfstoff. Alle gelten als wirksam und sicher. Anaphylaxien sind mit mRNA basierten Impfungen möglicherweise häufiger als mit anderen Impfstoffen. In einer Metaanalyse zu mRNA-Impfungen lag die Inzidenz einer Anaphylaxie bei 7,91 Fällen pro Million Verabreichungen (4). Der Mechanismus, der den allergischen und anaphylaktischen Reaktionen zugrunde liegt, ist nicht geklärt. Das in den mRNA-Impfungen enthaltene Polyethylenglykol (PEG) ist selten Auslöser allergischer Reaktionen bei Anaphylaxien gegen Produkte und Medikamente, die PEG beinhalten. Die mRNA-Impfungen enthalten PEG 2000, welches ein niedrigeres Molekulargewicht hat als die üblich verwendeten PEG z.B. in Laxantien (typischerweise PEG 3350). Während eigentliche allergische Reaktionen sehr selten sind, sind Hautveränderungen wie das Auftreten einer chronischen Urtikaria für eine Woche bis Monate nach mRNA-Impfstoffen vor allem nach der Boosterimpfung gehäuft beobachtet worden (5). Die Vektor Vakzine enthält Polysorbat, welches strukturell ähnlich wie PEG ist und allergische Reaktionen auslösen kann. Es gibt jedoch keine Bestätigung, dass eine frühere allergische Reaktion auf PEG und Polysorbat das Risiko auf eine Reaktion auf die COVID-Vakzine tatsächlich erhöht. Eine Vorabklärung hinsichtlich einer Allergie auf Polyethylenglykol oder Polysorbat vor Verabreichung der COVID-19 Vakzine ist von fraglichem Nutzen und nicht routinemässig empfohlen (4). Zu berücksichtigen ist auch, dass eine orale Zufuhr von PEG eine andere immunologische Wirkung entfaltet als eine tief subkutane oder intramuskuläre Impfung mit kleinen Mengen PEG.

Dies kann erklären, weshalb auch Patienten mit Nachweis einer Sensibilisierung auf PEG im Hauttest oder Basophilen Aktivierungstest die Impfung trotzdem meist vertragen.

Bei Patienten mit allergischen Reaktionen nach COVID-Impfung ist eine Abklärung empfohlen. Die Hauttestung mit dem Impfstoff selber zeigt dabei eine gute Aussagekraft. Der Impfstoff wird mittels Prick getestet. Sollte zusätzliche eine Intrakutantestung erfolgen, muss die mRNA-Impfung nicht verdünnt werden (wie sonst bei Impfstoffen üblich), da sie als nicht irritativ gilt. Auch die in vitro -Testung mittels Basophilen-Aktivierungstest (BAT) auf Macrogole kann hilfreich sein. Präventionsmassnahmen bei erhöhtem Risiko umfassen die Prämedikation mit einem Antihistaminikum, Überwachung für 30 Minuten oder die fraktionierte Verabreichung.

An Spättypreaktionen wird oft eine verzögert auftretende Urtikaria beobachtet, die auf eine Immunreaktion mit Degranulation von Mastzellen zurückgeführt werden kann. Eine allergologische Abklärung ist hier nicht sinnvoll. Vor weiteren Gaben der Impfung ist eine Prämedikation mit einem Antihistaminikum empfohlen.

Häufig sind auch Lokalreaktionen vom Spättyp mit dolenten Rötungen und Schwellung. Künftige Impfungen können nach Lokalreaktion normal verabreicht werden, wobei eine Injektion in den anderen Arm vorzuziehen ist.

Spättypreaktionen (auch vereinzelt schwere beschrieben) können auf verschiedene immunologische Mechanismen zurückgeführt werden. Diskutiert wird je nach Manifestationsform ein molekulares Mimikry von humanen Proteinen mit dem Spike Protein (6), eine direkte Aktivierung von Toll-like Rezeptoren durch Lipid­nanopartikel (6) oder die mRNA (7) und eine Interaktion des Spike Proteins mit dem ACE-Rezeptor bei vaskulären Phänomenen (6).

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Claude Luder

Universitätsspital Zürich
Allergiestation, Dermatologische Klinik
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Dr. med. Susann Hasler

Universitätsspital Zürich
Allergiestation, Dermatologische Klinik
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Prof. Dr. med. Peter Schmid-Grendelmeier

Universitätsspital Zürich
Allergiestation, Dermatologische Klinik
Rämistrasse 100
8091 Zürich
www.dermatologie.unispital.ch

peter.schmid@usz.ch

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Impfungen sind eine entscheidende Errungenschaft in der Pflege der öffentlichen Gesundheit. Allergische Reaktionen sind sowohl bei herkömmlichen Impfstoffen als auch bei mRNA-Impfungen selten. Bei korrekter Einschätzung etwaiger Reaktionen auf Impfungen, unter Zuhilfenahme der verfügbaren diagnostischen Mittel und Einsatz von Vorsichtsmassnahmen kann die Sicherheit der Patienten optimal gewährt werden.

1. Nilsson L et al. Vaccination and allergy: EAACI position paper, practical aspects. Pediatr Allergy Immunol. 2017 28(7):628-640.
2. Sarti L et al. Diagnosis and management of hypersensitivity reactions to vaccines. Expert Rev Clin Immunol. 2020;16(9):883-896.
3. Kelso JM et al., Adverse reactions to vaccines practice parameter 2012 update. J. Allergy Clin Immunol. 2012;130:25-43
4. Greenhawt M et al. The Risk of Allergic Reaction to SARS-CoV-2 Vaccines and Recommended Evaluation and Management: A Systematic Review, Meta-Analysis, GRADE Assessment, and International Consensus Approach. J Allergy Clin Immunol Pract. 2021;9(10):3546-3567.
5. Prasad S et al. Cutaneous reactions following booster dose administration of COVID-19 mRNA vaccine: A first look from the American Academy of Dermatology/International League of Dermatologic Societies registry. JAAD Int. 2022;8:49-51.
6. Trougakos IP et al. Adverse effects of COVID-19 mRNA vaccines: the spike
hypothesis. Trends Mol Med. 2022;28(7):542-554.
7. Teijaro JR, Farber DL. COVID-19 vaccines: modes of immune activation and future challenges. Nat Rev Immunol. 2021;21(4):195-197.

Der anaphylaktische Schock

Der folgende Fall bezieht sich auf eine nahezu tödliche Anaphylaxie mit 24-minütiger Asystolie bei einem 35-jährigen Mann mit Mastozytose nach einem Bienenstich, trotz 5-jähriger spezifischer Immuntherapie. Eine erfolgreiche kardio-pulmonale Reanimation wurde 32 Minuten lang durchgeführt.

Fallvignette

Ein 35-jähriger Mann arbeitet als Gärtner und ist gegenüber Insektenstichen entsprechend exponiert. Nach einem Bienenstich erlitt der Patient eine schwere anaphylaktische Reaktion mit Hypotonie und Bewusstseinsverlust (Reaktion des Grades IV) (1). Darauf wurde 2008 eine Immuntherapie mit Bienengift eingeleitet, die vom Patienten gut toleriert wurde. Eine Nachkontrolle fast fünf Jahre später ergab einen Tryptase-Wert von neu 20.5 µg/l sowie die Diagnose einer kutanen Mastozytose (TMEP). Da der Mann weiterhin als Gärtner arbeitete, stellte sich die Frage, ob er wirklich geschützt war.

Stichprovokation mit lebender Biene unter Intensiv-Überwachung (Inf, EKG, RR, O2)

Die Stichprovokation wurde unter Einhaltung aller erforderlichen Vorsichtsmassnahmen durchgeführt. Vier Minuten nach dem Stich entwickelte der Patient folgende Symptome: Flush, Dyspnoe, Erbrechen, Verwirrtheit; sofortige Gabe von 2 Amp (4mg) Clemastin (Tavegyl®), 250mg SoluMedrol®, 2 Adrenalininjektionen mittels Autoinjektor Epipen® a je 0.3 mg Adrenalin subkutan. Dennoch innert Minuten fortschreitend zu Bewusstlosigkeit, Herzkreislaufversagen, Asystolie während >20 Minuten. Total 6mg Adrenalin iv, 6000 ml PPL, 4-malige Defibrillation, mechanische CPR während 35 Minuten. Hämatokrit 1h nach Rea 56% trotz 8l Volumen (Zeichen der Hämokonzentration infolge des durch Histamin induzierten Capillary leak), SR, eigene Herzaktivität, 3 -Tage induziertes Hypothermie-Koma. Patient erwacht, initial delirös, zunehmende Erholung. Demissio 14 Tage nach der Stichprovokation, weitgehend ohne Residuen.

Api m 10 (Icarabin) – Sensibilisierung

Api m 10 (Icarabin) wurde als ein Hauptallergen von Honigbienengift (HBV) mit potenziell hoher Relevanz für die Diagnostik und Therapie von Giftallergien beschrieben. Icarabin könnte Grund für das Versagen der spezifischen Immuntherapie sein («Mismatch» auf molekularem Niveau zwischen Extrakt und Bienengift).

Therapie

Omalizumab (Xolair®) 300mg jede 4. Woche
Weiterhin SIT mit Bienengift ALK Alutard® 100’000 SQ-E
Aufdosierung mit BG Pharmalgen® wässrig 200 µg
nun total 300’000 SQ-E (total 300µg BG) alle 4 Wochen

Antihistaminikum (Xyzal®) 2/Tag (aktuell noch 1/Tag)
H2-Blocker (Zantic®) 300mg/d (gestoppt 2017)
Chromoglykate (Nalcrome®) 3 x 200mg/d

Follow Up

Der Patient arbeitet wieder als Gärtner. 2019 erneut ein Bienenstich. Ausser Angst ohne Befund. 2020 zwei Bienenstiche: keine Reaktion.

Fazit

Das Beispiel zeigt, dass bei einer Anaphylaxie mit Herz-Kreislauf-Stillstand eine verlängerte kardio-pulmonale Reanimation von bis zu 40 Minuten angemessen sein kann, um die Halbwertszeit des massiv freigesetzten Histamins zu überwinden. Das Scheitern der spezifischen Immuntherapie war möglicherweise auf eine Sensibilisierung gegenüber dem Allergen Api m 10 zurückzuführen, das in kommerziellen Bienengiftextrakten möglicherweise unterrepräsentiert ist.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. med. Peter Schmid-Grendelmeier

Universitätsspital Zürich
Allergiestation, Dermatologische Klinik
Rämistrasse 100
8091 Zürich
www.dermatologie.unispital.ch

peter.schmid@usz.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Anaphylaxie entwickelt sich rasch
◆ f(Tempo)= Gefährlichkeit.
◆ Adrenalin und Volumen sind vital
◆ Reanimieren lange (>30 Min.) um Halbwertszeit von Histamin
(20-30 Min) zu überdauern
◆ Serum-Tryptase kann Anaphylaxie spiegeln

1. Micaletto et al. CASE REPORT Honey bee venom re-challenge during specifc immunotherapy: prolonged cardio-pulmonary resuscitation allowed survival in a case of near fatal anaphylaxis Sara Micaletto1 et al. Allergy, Asthma & Clinical Immunology (2022) 18:44 https://doi.org/10.1186/s13223-022-00687-x