Highlights vom EASD 2022

Die Innovationskraft in der Diabetologie ist ungebrochen. Dies zeigt die Fülle an neuen wissenschaftlichen Daten, wie sie auf der diesjährigen Tagung der European Society for the Study of Diabetes (EASD: 19.-23.9.2002 in Stockholm) präsentiert wurden.

Diabetisches Fußsyndrom: Proaktive Operation lohnt sich

Bei ca. 25% aller Typ-2-Diabetiker entwickelt sich im Krankheitsverlauf ein diabetisches Fußsyndrom, die Hälfte der Betroffenen verstirbt daran und bei 70% muss innerhalb von fünf Jahren eine Amputation durchgeführt werden. Diese Zahlen belegen, dass das diabetische Fußsyndrom eine besondere Herausforderung darstellt und deshalb auch ein interdisziplinäres Vorgehen erfordert. Ein früher proaktiver operativer Eingriff mit dem Ziel einer mechanischen Entlastung des Fußes beschleunigt die Abheilung des Ulkus, verhindert Komplikationen insbesondere eine Sepsis oder Amputation und spart Kosten im Vergleich zum konservativen Vorgehen. Dies ist das Ergebnis einer klinischen Studie.

„Obwohl das Verfahren relativ einfach ist, so verspricht es doch eine revolutionäre Verbesserung bei der Therapie des diabetischen Fußsyndroms“, so der Studienautor Dr. Adrian Heald, Salford. Verglichen wurde das Outcome von 19 operierten Patienten, die alle auch eine diabetische Polyneuropathie hatten, mit dem von 15 konservativ behandelten Patienten. Bei allen operierten Patienten konnte das Ulkus zur Abheilung gebracht und eine Sepsis verhindert werden. In der konservativ behandelten Gruppe kam es nur bei 36% zur Abheilung und bei 46% zu einem septischen Verlauf. Während bei den operierten Patienten nur bei 10% eine Amputation unumgänglich war, betrug die Amputationsrate bei konservativem Vorgehehen 66%. Von den operierten Patienten verstarb keiner, in der konservativ behandelten waren es 6 Patienten.

Bei dem operativen Eingriff ging es darum, durch einen plastischen Eingriff an den Sehnen den mechanischen Druck auf die Ulkus-Läsion zu minimieren, um so die Abheilung zu beschleunigen. Bei 9 Patienten mit einem Ulkus an der Fußsohle wurde die Achillessehne verlängert und bei 10 Patienten mit einem Ulkus an einer Zehenspitze mit Beteiligung der Flexoren-Sehnen wurden die Strecksehnen verlängert, um eine Streckung der Zehen zu ermöglichen.

Tee und Ballaststoffe reduzieren das Diabetes-Risiko

Tee oder Kaffee? Mit welchem alltäglichen Getränk kann man der Manifestation eines Typ-2-Diabetes entgegenwirken? Darüber wird seit vielen Jahren durchaus kontrovers diskutiert. Aktuelle Daten sprechen eindeutig für Tee, genauer gesagt für den schwarzen oder chinesischen Oolong-Tee.

Ausgewertet wurden die Daten in einer Metaanalyse von 19 Kohortenstudien mit über 1 Million Teilnehmern. Das Ergebnis auf einen kurzen Nenner gebracht lautet: Wer bis zu vier Tassen Tee pro Tag trinkt, reduziert damit sein Diabetes-Risiko um 17% innerhalb von 10 Jahren. „Diese Daten zeigen, dass man ohne besondere Anstrengungen und ohne tiefgreifende Veränderung seiner Lebensgewohnheiten auf relativ einfache Weise etwas im Kampf gegen den Diabetes tun kann“, so Dr. Xiaying Li, Wuhan. Welche Inhaltsstoffe für diese günstige Wirkung verantwortlich sein dürften, darüber ist noch wenig bekannt. Aber die bioaktiven Polyphenole dürften eine wichtige Rolle spielen.

In einer anderen Studie erwies sich ein moderater Verzehr von Milchprodukten als protektiv gegen den Typ-2-Diabetes, während rotes Fleisch das Diabetesrisiko steigerte. Und der Verzehr von Getreidekörnern, faserreichen Produkten und auch Omega-3-Fettsäuren reduzierte das Sterberisiko bei Typ-2-Diabetikern.

COVID-19 bei Diabetikern: Gewicht ist entscheidend

Dass Typ-2-Diabetiker ein erhöhtes Risiko tragen, um schwer an COVID-19 zu erkranken oder ein Long-COVID-Syndrom zu entwickeln, ist unbestritten. Aber woran liegt das? Ist es der erhöhte Blutzuckerwert oder ist die mit der Diabeteserkrankung oft assoziierte Adipositas das eigentlich Gefährliche?

Dieser Frage ist man im Rahmen einer Observationsstudie nachgegangen. Analysiert wurden die Daten von 30.000 Patienten mit einer COVID-19-Infektion aus 9 prospektiven Kohortenstudien und zwar in Bezug auf HbA1c-Wert, BMI und Hüftumfang. In 9 Studien fand sich eine Korrelation zwischen dem BMI und dem COVID-19-Risiko. Dieses stieg um 7% pro 5 kg/m2 und war bei einem BMI von 30 kg/m2 und mehr sogar um 16% erhöht. Ähnliches gilt für das Long-COVID-Syndrom. Pro 5 kg/m2 stieg das Risiko um 20%. „Doch bei Diabetikern fand sich keine Korrelation zwischen dem COVID-19-Risiko und dem HbA1c-Wert“, so die Studienautorin Dr. Annika Knuppel, London.

Krebsleiden sind führende Todesursache bei Diabetikern

Die letzten Jahre haben gezeigt, dass zwischenzeitlich die malignen Erkrankungen als häufigste Todesursache kardiovaskuläre Erkrankungen abgelöst haben. Dies dürfte einer im Hinblick auf das kardiovaskuläre Risiko besseren antidiabetischen Therapie und einer damit einhergehenden Lebensverlängerung geschuldet sein. Eine aktuelle Studie zeigt, dass Typ-2-Diabetiker mit einem Krebsleiden (Mamma, Prostata, Darm oder Lunge) früher sterben, wenn sie rauchen oder körperlich inaktiv sind. Dies ist das Ergebnis einer Registerstudie bei ca. 500.000 Patienten. Innerhalb von sieben Jahren entwickelten 32.000 dieser Diabetiker ein Brust-, Prostata-, Darm- oder Lungenkarzinom.

Als die entscheidenden Risikofaktoren für einen vorzeitigen Tod bei diesen Patienten erwiesen sich Rauchen und körperliche Inaktivität. Nikotinabusus erhöhte das Sterberisiko um das 2,15-fache, körperliche Inaktivität um das 1,6-fache. „Dies dürfte aber auch für Diabetiker ohne Malignom gelten“, so der Studienautor Tinne Lautberg, Aarhus.

Der Diabetes raubt Lebensjahre

Trotz großer Fortschritte bei der Diabetestherapie ist der Typ-2-Diabetes weiterhin eine Erkrankung, die mit einer Verkürzung der Lebenserwartung assoziiert ist. Insbesondere bei Frauen, jungen Patienten und Rauchern ist die Prognose quo ad vitam wesentlich schlechter als bei Stoffwechselgesunden.

In einer neuen Studie mit fast 12.000 Patienten (55% Männer und medianes Alter 66,2 Jahre) war die Lebenserwartung bei Frauen um 60% und bei Männern um 44% verkürzt. „Diabetische Frauen leben im Durchschnitt fünf Jahre und Männer mit Diabetes 4,5 Jahre kürzer“, so Dr. Adrian Heald, Salford. Besonders gefährdet sind Raucher. Ihnen wurden durch die unheilige Allianz von Diabetes und Rauchen sogar 10 Lebensjahre geraubt. Auch fand sich eine Korrelation zwischen dem Sterberisiko und dem Alter, in dem der Diabetes diagnostiziert wurde. Je früher die Erkrankung erkannt wurde umso schlechter die Prognose. Wurde der Diabetes in einem Alter unter 65 Jahren entdeckt, dann ging dies mit einer um 8 Jahre verringerten Lebenserwartung einher. Als weitere Risikofaktoren für ein vorzeitiges Ableben erwiesen sich ein niedriger sozioökonomischer Status und Deprivation.

Typ-1-Diabetes: Mehr Probleme bei Mädchen

Beim Typ-1-Diabetes gibt es durchaus relevante geschlechtsspezifische Unterschiede. Kurzum: Mädchen haben schlechtere Karten. Sie zeigen eine schlechtere Blutzuckereinstellung, müssen häufiger wegen Komplikationen wie Hypoglykämien oder Ketoazidosen hospitalisiert werden, benötigen höhere Insulindosen und beklagen eine stärkere Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität vor allem in der Adoleszenz. Dies ist das Ergebnis einer großen Metaanalyse bei 89.700 Kindern und Jugendlichen mit einem Typ-1-Diabetes. „Auch war der BMI bei Mädchen höher als be Jungen“, so Dr. Silvia de Vries, Amsterdam.

Je schlechter der BZ umso mehr Angst

Angststörungen sind bei Diabetikern häufiger als bei Stoffwechselgesunden. Sie gehören zu den häufigsten Komorbiditäten. Dies gilt sowohl für Typ-1- als auch für Typ-2-Diabetiker. Und dabei besteht eine Korrelation zwischen der Güte der Stoffwechselkontrolle und dem Ausmaß der Angstgefühle. Dies ist das Ergebnis einer europäischen Studie bei 3.077 Patienten.

Besonders betroffen waren vor allem Frauen und jung Diabetiker unter 45 Jahre. Beim weiblichen Geschlecht lag die Angstinzidenz bei 63% im Vergleich zu 51% bei Männern. „Diese Patientengruppen sollten als besonders vulnerabel angesehen werden und bedürfen entsprechender Zuwendung“, so die Studienautorein Dr. Evelyn Cox, San Francisco. Je schlechter die Stoffwechselkontrolle umso mehr Angstgefühle entwickelten die Patienten. Bei einem HbA1c-Wert über 7% gaben 13% moderate Angstgefühle und 6 % starke Angstgefühle an. Die Vergleichszahlen bei einem HbA1c-Wert unter 7% waren 6% bzw. 4%. „Eine gute Blutzuckereinstellung kann vor Angst schützen“ so Cox.

Quelle: Pressekonferenzen im Rahmen des EASD, 19.-23.9.2022 in Stockholm

Dr. med.Peter Stiefelhagen

SGLT2-Inhibitor wirkt unabhängig von der Auswurffraktion

Für die HFpEF stand bisher im Unterschied zur HFrEF keine überzeugende Therapie zur Verfügung. Im Rahmen der EMPEROR-Preserved-Studie konnte jetzt gezeigt werden, dass der SGLT2-Inhibitor Empagliflozin (Jardiance®) auch bei der HFpEF die Prognose verbessert, was zu einer Erweiterung der Zulassung geführt hat.

Die Herzinsuffizienz gehört mit einer Inzidenz von 20 % zu den häufigsten Erkrankungen unserer Zeit. Bei über 65-Jährigen ist die Herzinsuffizienz auch der häufigste Grund für eine stationäre Behandlung. 30 % sterben dann innerhalb von 1 Jahr und 30 % müssen innerhalb von 90 Tagen erneut stationär behandelt werden.
Bei der Hälfte der Fälle mit Herzinsuffizienz ist die Auswurffraktion nicht beeinträchtigt, man spricht von einer Herzinsuffizienz mit erhaltener Pumpfunktion (HFpEF). Die Prognose der HFpEF ist vergleichbar mit der bei der systolischen Herzinsuffizienz (HFrEF). «Betroffen sind vor allem Hypertoniker mit einer linksventrikulären Hypertrophie», so Professor Otmar Pfister, Basel. Die aortale Steifigkeit sei ein wichtiger Prädiktor und die Hypertrophie ein wichtiger prognostischer Faktor.

Die Therapie der systolischen Herzinsuffizienz hat in den letzten Jahren auch durch die Einführung der SGLT2-Inhibitoren wesentliche Fortschritte erfahren. Dies wurde auch bei der Aktualisierung der ESC-Leitlinie 2020 berücksichtigt. Danach wird die frühe gleichzeitige Gabe aller vier Prognose-verbessernden Substanzen (ACE-Hemmer/ARNI, Betablocker, SGLT2-Inhibitoren, MRA) empfohlen.

Empagliflozin verbessert auch bei der HFpEF die Prognose

«Doch für die HFpEF stand bisher keine überzeugende, Evidenz-basierte medikamentöse Therapie zur Verfügung», so Professor Otmar Pfister, Basel. Jetzt konnte erstmals in einer klinischen Studie (EMPEROR-Preserved-Studie) gezeigt werden, dass der SGLT2-Inhibitor Empagliflozin (Jardiance®) auch bei der HFpEF die Prognose verbessert.

Aufgenommen in diese randomisierte Studie wurden fast 6.000 Patienten mit einer EF ≥ 40 %. Durch Empagliflozin konnte der kombinierte primäre Endpunkt aus kardiovaskulärem Tod und der Notwendigkeit für eine Hospitalisation um 21 % gesenkt werden. In der Placebo-Gruppe erreichten 8,7 Patienten pro 100 Patientenjahre diesen Endpunkt, in der Empagliflozin-Gruppe waren es 6,9 Ereignisse pro 100 Patientenjahre. Dies entspricht einer NNT über 26 Monate von 31.

Dr. med.Peter Stiefelhagen

So nicht!

Vielleicht ist es Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, schon ähnlich ergangen wie mir: Gelegentlich kommentiere ich beim Lesen von Zeitschriften einen Artikel so laut, dass meine Frau reagiert. Nicht selten entwickelt sich daraus eine Diskussion und öfters beenden wir das Gespräch mit der Feststellung: «Man sollte eigentlich reagieren und eine Replik schreiben». Aber fast immer bleibt es dabei.

Vor kurzem habe ich aber nun im Swiss Medical Forum (SMF) ein Interview mit dem Verleger der Schwabegruppe und somit auch Teilhaber an der Zeitschrift SMF, Prof. Dr. med. L.T. Heuss, gelesen. Anlass ist das 20-jährige Jubiläum der Zeitschrift. Auch meinerseits herzliche Gratulation und viel Erfolg an die Redaktion mit einer persönlichen Hoffnung: dass mir und uns die Rubrik «kurz und bündig» von Reto Krapf noch lange erhalten bleibe!

Im besagten Interview provozierten mich die Antworten und Begründungen auf die Frage, wo es noch Potential gebe, um die Zeitschrift SMF selbsttragend aufzustellen, umgehend zu akustischen Reaktionen. Im Verbund mit der Ärztezeitung, so der Verleger, sei das FSMF selbsttragend. «Im SMF wollten wir uns immer unterscheiden von anderen Heften, in denen man zuerst ein Inserat, eine Anzeige verkauft, und dann den Artikel schreibt…»und weiter: «Wenn man niemandem, keiner Agentur und keiner Pharmafirma nach dem Mund schreiben muss, kann man unabhängig die Autorinnen und Autoren wählen und das Themensetting betreiben. Das kann nur garantiert werden in Form eines Verbundes. Das ist das grosse «Asset», die grosse Wichtigkeit, die Verbindung mit der SÄZ… Die Unabhängigkeit sollte, meine ich, den Ärztinnen und Ärzten durchaus etwas wert sein…. Es würde der Ärzteschaft gut anstehen, vom doch grosszügigen jährlichen Mitgliederbeitrag einen bescheidenen Teil von 20 oder 50 Franken… zur Verfügung zu stellen… Es ist ein grosses Problem und ein grosses Risiko, wenn man die Kommunikation und Themen der Weiterbildung der Ärzteschaft finanziell ausschliesslich auf Zahlungen und Anzeigen der pharmazeutischen Pharmazie ablegt. Das birgt die Gefahr unguter Abhängigkeiten».

So ist es also: Nur wer keine Inserate an Pharmafirmen verkauft, ist in seiner Themenwahl frei, nur so kann unabhängig und glaubhaft eine gute Weiter- und Fortbildung betrieben werden. Die Kosten für die Realisierung solcher Printmedien sollen vom «Verbund», sprich vom Ärzteverband, getragen werden. Wirklich?
Die Fachzeitschrift «der informierte arzt» lesen Sie, weil diese primär für Hausärztinnen und Hausärzte, also für Sie, gemacht wird und Ihnen mit relevanten Themen eine praxisbezogene Weiter- und Fortbildung anbietet. Dafür bezahlen Sie freiwillig und ohne Verbandzugehörigkeit ggf. ein Abonnement und finanzieren so die Zeitschrift mit. Selbstredend finanzieren diese Einnahmen keine Zeitschrift vollumfänglich. Oder kennt der «Herr Verleger» Zeitungen und Zeitschriften, welche auf Inserate verzichten können und die Abonnementskosten dennoch bezahlbar bleiben? Unsere Zeitschrift wird von den Inseraten unserer pharmazeutischen Partner mitfinanziert. Aber: Was ist bitte daran schlecht und verwerflich? Wir haben ein Editorial- und ein Herausgeberboard, welche von Kolleginnen und Kollegen der Allgemeinen Inneren Medizin betreut werden und in der Auswahl der Themen und der Verfasser der Beiträge völlig unabhängig sind. Es gibt zwischen den Partnern der pharmazeutischen Industrie und Ihren Kolleginnen und Kollegen in der Redaktion oder den Boards keine Abmachungen oder Verpflichtungen. Wenn der «Herr Verleger» insinuiert, dass es bei den anderen Printmedien, welche im gleichen Geschäftsfeld wie er tätig sind, alles nach dem Sprichwort: «Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing» verläuft, ist das eine doch recht üble Unterstellung.

Und ausserdem: Wer finanziert dann die hochkarätigen und mit Credits wohlgefüllten Weiter- und Fortbildungsveranstaltungen unserer Fachgesellschaften? Das sind auch unsere Pharmapartner, die solche Events überhaupt möglich machen. Ich spreche von Pharma-Partnern. Ja sie sind unsere Partner in unserem medizinischen Geschäft, tagaus, tagein. Wir sind gegenseitig voneinander abhängig. Es wäre gut, diesen Partnern auf Augenhöhe zu begegnen. Eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses Ärzteschaft und Pharmabranche dient der Sache mehr, als Pauschalverdächtigungen in die Welt zu setzen.

Das musste gesagt sein, auch so laut, dass es meine Frau auch hörte. Ihr Kommentar: Muss der Herr Verleger vielleicht mit seinen Aussagen davon ablenken, dass seine Zeitschrift eben doch nicht ganz so selbsttragend ist…?

Dr. med. Christian Häuptle

Dr. med. Christian Häuptle

Otmarweg 8, 9200 Gossau

haeuptle@hin.ch

Von einer Waldstätte zur andern

Wir starten unsere Rundwanderung bei der Bushaltestelle in Gerra Verzasca Paese, wo sich früher die kleine Poststelle des Dorfes befand. Gegen Süden führt ein gepflasterter Treppenweg zur Kirche hinauf. Dort beginnt zwischen dieser und dem langgezogenen Wohn- und Gemeindehaus der Bergweg nach Vèld oder Valdo di Gerra. Auch wenn Valdo, Veld, Valdign, Valdasc oder Valditt Flurnamen sind, die auf Wald hinweisen, so hatte die Valle Verzasca noch zu Beginn des 20. Jahrhundert ein völlig anderes Aussehen. Die Berghänge des Haupttales waren bis weit hinauf gerodet und wurden für Getreideanbau und Viehwirtschaft genutzt. Nur in den unwegsamsten Gebieten konnte sich Wald behaupten. Dies förderte die Bodenerosion und begünstigte Steinschlag, Muren und Schneelawinen. Deshalb wurde im Tal mit fortschreitendem Niedergang der traditionellen Landwirtschaft nach den Weltkriegen wieder aufgeforstet, so auch unterhalb Valdo di Gerra in der Piantagione della Monda.

Der Weg folgt bergwärts einer Geländerippe. Im Wald kommen wir an einer kleinen Wegkapelle und dem grossen Stallgebäude von Saree vorbei, das früher auf freier Weide lag. Am Rand der Lichtung des Maiensässes Vèld oder Valdo di Gerra treffen wir auf dessen erste Häusergruppe mit verfallendem Wohnhaus und Stall, die bereits wieder vom vordrängenden Wald eingenommen ist. Die weiteren Maiensässgruppen finden sich über die Lichtung verstreut, die mehr als 200 Höhenmeter den Hang hinaufzieht (Abb. 1). Der Weg steigt zuerst in westlicher Richtung zu Häusern auf, die dicht am Geländeeinschnitt des Riale della Conscina liegen. Hier lohnt der kurze Abstecher zur Abbruchkante mit Blick in die Schlucht und zu den gegenüberliegenden Maiensässen. Der Riale della Conscina ist bei anhaltendem Starkregen wegen seiner alles zerstörenden Murgänge gefürchtet. Schon mehrmals hat er die Talstrasse unten im Dorf verschüttet. Auf den offenen Wiesen von Valdo droht bei Gewittern der Blitzschlag, der hier auch schon einmal in einen Kamin eingeschlagen hat. Ein wildes Tal, dessen Naturgewalten nicht unterschätzt werden sollten.

Bei den nächsten, etwas höher unter mächtigen Bäumen gelegenen Häusern wählen wir den Hangweg zum nördlichen Rand der Lichtung und den Häusern von A scima ar Córt. Bei der Bergstation der Materialseilbahn biegt der Pfad in die Schlucht des Riale di Motóm ein, quert hinüber zum Bachbett der Valletta und weiter nach Valdone bzw. Valdo di Frasco. Auch der Valletta-Bach kann bei starkem Niederschlag gefährlich werden. Durch dessen Rinne fahren in schneereichen Wintern zudem mächtige Lawinen zu Tal, die hoch oben an der Cresta di Cazzai anreissen.

Auch auf der weiten Lichtung von Valdo di Frasco liegen die Maiensiedlungen weit verstreut (Abb. 2). Die Häuser wurden eng aufeinandergebaut, um möglichst wenig der ohnehin kargen landwirtschaftlichen Nutzflächen zu beanspruchen. Über den beiden Waldstätten liegen noch weitere Maiensiedlungen, Conscina mit mehreren Stufen auf dem Gemeindegebiet von Gerra, Cazzai auf jenem von Frasco. Schaut man hier bergwärts, erkennt man nur eine hohe Felsstufe, auf der man keine Siedlung mehr vermuten würde. Der Weg dort hinauf windet sich luftig über Felsbänder.

Wir wenden uns diesmal talwärts Richtung Osten nach Valdign und Valdasc. Der Pfad windet sich in engen Kehren durch den heute dichten Buchenwald. Nach Kastanienbäumen hält man hier vergeblich Ausschau. Das Klima in der hinteren Valle Verzasca ist für diese zu rau. Die Bevölkerung von Gerra, Frasco und Sonogno war früher auf den Besitz von Kastanienbäumen ausserhalb des Tals an den Hängen über der Magadinoebene angewiesen, oder musste ihre Kinder Kastanien in Zehntelspacht in Hainen anderer Gemeinden sammeln lassen, um dieses wichtige Grundnahrungsmittel über den Winter in ausreichender Menge zur Verfügung zu haben.

Über ein kurzes Stück alsphaltierten Fahrweges erreichen wir die Talstrasse, der wir bis nach Croce folgen, der nördlichsten Fraktion von Gerra. Hier zweigen wir Richtung Fluss ab und queren diesen auf einer Hängebrücke zum Dorfteil Cortasc (Abb. 3). Es lohnt sich, hier Halt zu machen und die leider verfallenden Häuser näher anzusehen. Sie sind beredte Zeugen eines harten, aber erfindungsreichen Lebens im Kontext einer unerbittlichen Natur. Wenig später erreichen wir die südlich gelegene Fraktion Lorentino, wo wir über eine weitere Brücke zum Ausgangspunkt unserer Rundwanderung zurückkehren können (Abb. 4). Diese weit verstreute Anlage von Dörfern ist typisch für die Täler des Nordtessins. Die karge Natur zwang den Menschen, seine Siedlungen in der Nähe der wenigen nutzbaren Flächen anzulegen, was zu einer verstreuten Anlage der Dorfteile führte. Wer mehr über das Leben in diesen Tälern erfahren möchte, dem seien die Bücher Der Stammbaum von Piero Bianconi, Nicht Anfang und nicht Ende von Plinio Martini oder Die Kraft der Düra aus eigener Feder zur Lektüre empfohlen.

Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo

Riedstrasse 9
6430 Schwyz

christian.besimo@bluewin.ch

Nephroprotektion

Zahlreiche tierexperimentelle und klinische Studien zeigen, dass eine Reduktion des intraglomerulären Drucks mit Verminderung von Albuminurie/Proteinurie über die reine Senkung des systemischen Blutdrucks hinaus die Nierenfunktion bei chronischer Nephropathie länger aufrechterhält. Dies ist Folge einer verminderten Endozytose glomerulär filtrierten Albumins in den Tubuluszellen, was die toxische proinflammatorisch/profibrotische Aktivität der endozytierten Albuminmoleküle reduziert und damit dem beschleunigten Untergang von Nephronen entgegenwirkt. Nephroprotektion bedeutet demnach Nierenfunktions­erhaltung über die reine systemische Blutdrucksenkung hinaus. Die dazu zwingend nötige Senkung des intraglomerulären Drucks wird klinisch durch Dilatation der efferenten glomerlulären Arteriole (ACE-Hemmer, Angiotensin II-Rezeptorantagonisten, Nicht-Dihydropyridin-Kalziumantagonisten oder Lercandipin) oder – via tubulo-glomerulären Feedback – durch Konstrik­tion der afferenten glomerulären Arteriole (SGLT2-Hemmer, Reduktion der Zufuhr von tierischem Eiweiss) erreicht. Die haemodynamisch vermittelte Senkung des intraglomerulären Drucks führt akut immer zu einer Reduktion der glomerulären Filtrationsrate resp. einem Anstieg des Serumkreatinins um 10-15%, stabilisiert aber längerfristig die Nierenfunktion auf höherem Niveau. Dies bedeutet für die Patienten mehr Lebensjahre ohne Nierenersatzverfahren.

Numerous animal and clinical studies show that reduction of intraglomerular pressure with reduction of albuminuria/proteinuria beyond mere reduction of systemic blood pressure maintains renal function longer in chronic nephropathy. This is a consequence of decreased endocytosis of glomerular filtered albumin in tubule cells, which reduces the toxic proinflammatory/profibrotic activity of endocytosed albumin molecules, thereby counteracting accelerated nephron demise. Nephroprotection thus means preservation of renal function beyond mere systemic blood pressure reduction. The necessary reduction of intraglomerular pressure is clinically achieved by dilatation of the efferent glomerular arteriole (ACE inhibitors, angiotensin II receptor antagonists, non-dihydropyridine calcium antagonists or lercandipine) or – via tubulo-glomerular feedback – by constriction of the afferent glomerular arteriole (SGLT2 inhibitors, reduction of animal protein intake). The hemodynamically mediated reduction of intraglomerular pressure always leads acutely to a reduction of the glomerular filtration rate or an increase in serum creatinine by 10-15%, but stabilizes renal function at a higher level in the longer term. This means more years of life for patients without renal replacement procedures.
Key Words: Erhaltung der Nierenfunktion, systemischer Blutdruck vs. intraglomerulärer Druck, tubulo-glomerulärer Feedback, Albuminurie/Proteinurie

Progression chronischer proteinurischer Nephropathien

Chronische proteinurische Nephropathien gehen wegen zunehmendem Verlust intakter Glomeruli mit progredientem Funktionsverlust einher (1). Tierexperimentell zeigen die verbleibenden intakten Nephronen eine ausgeprägte Hypertrophie und eine intraglomeruläre Hypertonie/Hyperfiltration. Dadurch hält die reduzierte Anzahl funktionierender Nephronen möglichst viel Nierenfunktion aufrecht (2). Vermehrt gebildetes Angiotensin II erhöht durch Kontraktion der efferenten glomerulären Arteriole (Abb. 1) den Filtrationsdruck und erweitert die glomerulären Filterporen. Dies führt zu vermehrter Ultrafiltration von Proteinen, in erster Linie Albumin. Die vermehrte Proteinurie/Albuminurie hat sich in zahlreichen tierexperimentellen und klinischen Studien als entscheidender Progressionsfaktor einer proteinurischen Nephropathie erwiesen: Die Endozytose von deutlich vermehrt filtriertem Albumin in den nachgeschalteten Tubuluszellen induziert toxische proinflammatorische und profibrotische Signale (2, 3). Die Folge sind tubulointerstitielle Schäden und letztendlich der Untergang von Nephronen, wodurch sich die Nierenfunktion zunehmend verschlechtert (2, 3).

Wegweisende tierexperimentelle Studien konnten zeigen, dass die Normalisierung allein des systemischen Hochdrucks mit althergebrachten Antihypertensiva den fortschreitenden Nierenfunktionsverlust und die progrediente Proteinurie nicht verhindern kann, wohl aber die gleichzeitige Senkung des intraglomerulären Hochdrucks durch den ACE-Hemmer Enalapril, welcher die efferente glomeruläre Arteriole dilatiert und dadurch den intraglomerulären Druck normalisiert (4).

Blutdruckeinstellung, Proteinurie und Nieren – was ist Nephroprotektion?

Eine nicht adäquat behandelte arterielle Hypertonie begünstigt eine hypertensiv-ischaemische Nierenschädigung (5). Bei den Ziel-Blutdruckwerten muss unterschieden werden zwischen Hypertonikern ohne Zusatzpathologien und solchen mit chronischer Niereninsuffizienz und/oder Diabetes mellitus (6). Ohne Zusatzpathologien sollte ein Blutdruck von < 140/90 mmHg angestrebt werden (6). Eine zu rigorose Blutdrucksenkung auf systolisch < 120 mmHg bewirkt vermehrt Nierenfunktionsverschlechterungen, wie anhand einer Subgruppe von 3304 Patienten aus der SPRINT-Studie (7) mit einer eGFR > 60 ml/min./1.73 m2 gezeigt werden konnte (8).

Bei chronischer Nierenerkrankung mit Hypertonie und Albuminurie/Proteinurie sollte der Blutdruck gegen 130/80 gesenkt werden (7), bei chronischer Niereninsuffizienz Stadium 3 und Proteinurie > 1 g/d auch unter 130/80 mmHg (6, 9). Wie schon tierexperimentell haben auch klinische Studien gezeigt, dass die Reduktion von Albuminurie/Proteinurie infolge Senkung des intraglomerulären Drucks der wichtigste nephroprotektive Faktor zur Verlangsamung der Krankheitsprogression darstellt (3, 6, 9). Die damit verbundene Reduktion der Endozytose glomerulär filtrierten Albumins in den nachgeschalteten Tubuluszellen reduziert die proinflammatorisch/profibrotische Aktivität und damit den beschleunigten Untergang von Nephronen. Ziel ist, den Abfall der Nierenfunktion über die Zeit abzuflachen/zu stoppen und so den Patienten möglichst lang eine Nierenersatztherapie zu ersparen. Nephroprotektion ist also nicht nur simple Blutdrucksenkung!

Welches sind Nephroprotektoren?

Die Senkung des Drucks in den Glomeruli kann durch Drosselung der Blutzufuhr in die Glomeruli hinein (Konstriktion der afferenten Arteriole) und durch Erhöhung des Blutabflusses aus den Glomeruli heraus (Dilatation der efferenten Arteriole) erzielt werden (Abb. 2).

Dilatation der efferenten glomerulären Arteriole

ACE-Hemmer

In einer Metaanalyse klinischer Studien mit 1610 Diabetikern mit Hypertonie und Albuminurie > 30mg/Tag zeigte sich, dass ACE-Hemmer bereits bei einer Blutdrucksenkung von Null eine Reduktion von Albuminurie/Proteinurie um 28% bewirken, während konventionelle Antihypertensiva erst ab einer Blutdrucksenkung > 5% antiproteinurisch wirken. Gleiches zeigte bei Nicht-Diabetikern mit proteinurischer Nephropathie auch die REIN-Studie (11). Dies spricht klar für eine über die Blutdrucksenkung hinaus gehende intrinsisch-renale Wirkung durch Reduktion des intraglomerulären Drucks (Abb. 2) mit geringerer Albuminurie/Proteinurie (2, 3). Die Reduktion dieses «protein traffic» ist entscheidend für die Aufrechterhaltung der Nierenfunktion durch ACE-Hemmer (2, 6).

Angiotensin II-Rezeptorenblocker

Auch für diese Stoffklasse war bereits vor Jahren eine Aufrechterhaltung der GFR bei signifikanter Reduktion der Proteinurie, wiederum wegen intraglomerulärer Drucksenkung, beschrieben worden (12).

Kalziumantagonisten

Nicht-Dihdropyridin-Kalziumantagonisten (Verapamil, Diltiazem) senken die Proteinurie bei Nephropathien um 30%, während bei vergleichbarer Blutdrucksenkung unter Dihydropyridin-Kalzium­antagonisten (Nifedipin, Nicardipin, Amlodipin, Nisoldipin, Isradipin, Felodipin) die Proteinurie um 2% ansteigt (13). Dihydro­pryridin-Kalziumantagonisten erhöhen durch Dilatation der afferenten glomerulären Arteriole den intra-glomerulären Druck, während Nicht-Diydropyridine auch die efferente Arteriole erweitern und die Permeabilität der glomerulären Basalmembran reduzieren (13).

Bei den Dihydropyridinen scheint das Drittgenerationsmolekül Lercanidipin eine Ausnahme zu sein: tierexperimentell dilatiert Lercanidipin sowohl afferente als auch efferente Arteriolen (14). In einer Vergleichsstudie über 9-12 Monate bei hypertensiven Typ 2-Diabetikern mit Mikroalbuminurie senkte Lercanidipin bei vergleichbarer Blutdrucksenkung die Proteinurie im gleichen Umfang wie der ACE-Hemmer Ramipril (15).

Konstriktion der afferenten Arteriole

SGLT2-Hemmer

Wie in Abbildung 3A dargestellt, ist bei renaler Hyperfiltration im Rahmen z.B. einer diabetischen Nephropathie ein stark erhöhter Energieaufwand nötig, um vermehrt filtrierte Glukose und Natrium im proximalen Tubulus unter Einfluss von SGLT2 (Sodium-Glucose Transporter 2) zurückzugewinnen. Die selektive Hemmung von SGLT2 reduziert diesen Energieaufwand erheblich und hat via den sog. tubulo-glomerulären Feedback (TGF) direkte Auswirkungen auf die renale Haemo­dynamik (Abb. 3B). Die vermehrte Anlieferung von Natrium nach distal wird von den Zellen der Macula densa, welche im frühen distalen Tubulus direkt der afferenten glomerulären Arteriole anliegen und als Chemorezeptoren wirken, als «Natriumverlust» wahrgenommen. Via TGF wird der Tonus der afferenten Arteriole hochreguliert, so dass der intraglomeruläre Druck abgesenkt und die schädigende Wirkung der Hyperfiltration reduziert wird (16). Zusätzlich scheinen auch die Hemmung zusätzlicher tubulärer Transporter und profibrotischer Faktoren sowie die Aktivierung von protektiven Transkriptionsfaktoren nephroprotektiv (17). Insgesamt ist aber die Senkung des intra­glomerulären Drucks der wichtigste Mechanismus für die nephroprotektiven Eigenschaften der SGLT2-Hemmer (17). Dapagliflozin hat denn auch als erster SGLT2-Hemmer sowohl bei Diabetikern als auch Nicht-Diabetikern mit chronischer Niereninsuffizienz und Makroalbuminurie eine 44%-ige Reduktion des Risikos für den kombinierten Endpunkt (> 50% GFR-Verlust/Endstadium-Niereninsuffizienz/Tod aus renaler Ursache) gezeigt (18).

Ernährungstechnische Massnahmen

Eine Studie mit 9226 koreanischen Probanden ohne Nierenerkrankung und einer mittleren eGFR von 94 ml/min./1.73 m2 zeigte auf, dass das Risiko für eine renale Hyperfiltration in der höchsten Quartile der täglichen Proteinzufuhr (1.7 g/kg KG) gegenüber der tiefsten Quartile (0.6 g/kg KG) 3.5-fach erhöht und die stärkste Hyperfiltration mit dem schnellsten Nierenfunktionsverlust über die Zeit assoziiert waren (19).

Bei chronischen Nephropathien resultiert, wie in Abbildung 1 gezeigt, bereits nahrungsunabhängig eine glomeruläre Hyperfiltration mit intraglomerulärem Hochdruck. Übermässiger Konsum von Protein kann diesen Effekt verstärken. Die genauen Mechanismen scheinen vielfältig und beinhalten – zumindest tierexperimentell – vermehrte Expression proinflammatorischer Gene und eine verstärkte renale Fibrose (20). Auch der tubulo-glomeruläre Feedbackmechanismus ist involviert: hohe Proteinzufuhr dilatiert die afferente Arteriole (20). Mechanistisch gesehen führt die Verdauung hoher Mengen von tierischen Proteinen zu einer vermehrten gastrointestinalen Aufnahme von Aminosäuren ins Blut. Die glomerulär vermehrt filtrierten Aminosäuren müssen tubulär wieder rückresorbiert werden. Dieser Rückresorptionsprozess co-stimuliert die proximal-tubuläre Natriumrückresorption (21), was zu einer verminderten Natriumanlieferung nach distal führt und von den Macula densa-Zellen als «Natrium-Overload» wahrgenommen wird (Abb. 4). Zur Korrektur dieses Natriumüberschusses wird die afferente Arteriole dilatiert, um vermehrt Natrium zu filtrieren (21).

In Anlehnung an viele Studien, welche den nephroprotektiven Effekt einer Reduktion der Zufuhr tierischen Eiweisses gezeigt haben, wird deshalb eine «plant-dominant low protein diet» (PLADO) zur Vermeidung der glomerulären Hyperfiltration empfohlen (22). Sie beinhaltet:

  • täglich 0.6-0.8 g Protein pro KG Normalgewicht (80 kg KG: max. 64 g Protein/Tag)
  • davon 50-70% pflanzliches Protein (Gemüse, Früchte), weniger tierisches Protein (v.a. rotes Fleisch)
  • weniger als 10 g Salz pro Tag
  • mehr als 25 g faserreiche Produkte pro Tag

Hinweise für den klinischen Alltag

Abbildung 2 fasst die dargestellten echt nephroprotektiven Strategien (Stand 2022) zusammen. Im klinischen Alltag sollte bei PatientInnen mit chronischer Nephropathie und Albuminurie/Proteinurie der Effekt nephroprotektiver Massnahmen mindestens 1x jährlich durch Bestimmung von eGFR (CKD-EPI-Formel, siehe AGLA-Risikorechner) und Albuminurie/Proteinurie evaluiert werden. Für letzteres empfiehlt sich eine standardisierte Situation, z.B. nach Fasten über Nacht im 2. Morgenurin vor dem Frühstück (Vermeidung von Nahrungsinterferenzen). Es sollte dabei nicht bloss die Konzentration von Albumin/Protein, sondern eine Albumin/Kreatinin- oder Protein/Kreatinin-Ratio bestimmt werden. Werte von Urinalbumin/Kreatinin < 3 mg/mmol gelten als normal (23).
Zeigt sich im Verlauf eine Verschlechterung dieser zwei prognostisch entscheidenden Werte, müssen die nephroprotektiven Massnahmen reevaluiert werden. Dabei ist wichtig, dass alle Massnahmen, die den intraglomerulären Druck senken, initial immer zu einem haemo­dynamisch bedingten Abfall der GFR um 10-15% resp. zu einem Anstieg des Serumkreatinins führen. Dieser Effekt muss nachweisbar sein und ist effektiv der Beweis, dass der intraglomeruläre Druck erfolgreich gesenkt wird – Nephroprotektion! (18).

Zweitabdruck aus «der informierte arzt» 10-2022

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

PD Dr. med. Bernhard Hess

Innere Medizin & Nephrologie/Hypertonie
NierensteinZentrumZürich
Klinik Im Park
Bellariastrasse 38
8038 Zürich

bernhard.hess@hirslanden.ch

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Praktische Durchführung der Strain-Analyse und ihre Bedeutung bei verschiedenen Herzkrankheiten

Sowohl im Spital als auch in der kardiologischen Praxis ist die Strain-Analyse des linken Ventrikels (LV) eine fast ubiquitär verfügbare Technik der modernen Echokardiographie. Diese stellt ein äusserst hilfreiches Werkzeug dar, wenn sie technisch korrekt angewandt und die generierten Daten adäquat interpretiert werden. Diese kurze Übersichtsarbeit soll die praktische Anwendung und Beurteilung erläutern und als Hilfe im klinischen Alltag dienen.

Both in the hospital and in cardiology practice, left ventricular (LV) strain analysis is an almost ubiquitously available technique of modern echocardiography. It is an extremely useful tool when used correctly from a technical point of view and when the data generated are adequately interpreted. This brief review is intended to explain the practical application and evaluation and to serve as an aid in everyday clinical practice.
Key Words: Ventricular Function, Left; Strain; Heart Failure; Cardiomyopathy; Hypertrophic; Hypertension

Technische Grundlagen

Die Strain-Analyse erfolgt auf der Basis des Konzepts des Speckle Trackings. Dies bedeutet, dass Software-Algorithmen in einem definierten Bildgebiet – der region of interest (ROI) – Schwarz-Weiss-Grau-Muster (Speckles) identifizieren und deren Bewegung über die Zeit (bzw. den Herzzyklus) verfolgen können, ohne dass eine Winkelabhängigkeit von der Position des Schallkopfs besteht (Abb. 1A). Die Speckles bewegen sich innerhalb der ROI relativ zueinander. Aus der festgestellten relativen Verschiebung berechnet der Algorithmus den Strain (entsprechend der Deformation) im jeweiligen myokardialen Segment gemäss der Formel ∆L/L₀ (Abb. 1B) (1).
Diese systolische Deformation kann für unterschiedliche Richtungen bestimmt werden (Tab. 1): longitudinal (Verkürzung entlang der Ventrikellängsachse), zirkumferenziell (Verkleinerung des LV-Cavums in der kurzen Achse) und radial (Verdickung des Myokards in der kurzen Achse). Während die systolischen Strain-Werte in longitudinaler und zirkumferenzieller Richtung negativ sind (Verkürzung) ist der radiale systolische Strain positiv (Verdickung) – entsprechend der oben genannten Formel. Diese drei Richtungen bilden unterschiedliche Muskelschichten/-faserrichtungen ab und haben unterschiedliche klinische/prognostische Bedeutung. Am etabliertesten in der klinischen Anwendung ist der longitudinale Strain. Der Strain wird meist als systolischer Maximalwert (longitduinal peak strain) für ein bestimmtes Segment oder gemittelt über alle Segmente (global longitudinal peak strain, GLPS) ange­geben. Die Änderung des Strains pro Zeiteinheit wird als Strain-Rate
(1/sec) bezeichnet (2).

Durchführung

Die Strain-Analyse erfolgt im Sinne eines post processings; es werden also erst die Aufnahmen akquiriert und danach die Strain-Analyse auf dem Echokardiographie-Gerät oder an einer Workstation durchgeführt. Die Vorgehensweise ist je nach Hersteller und Softwareversion etwas verschieden, folgt aber jeweils demselben Prinzip (3). Um einen longitudinalen Strain messen zu können, müssen möglichst hochwertige Loops von Vier-, Zwei- und Dreikammerblick aufgenommen werden. Hierbei ist insbesondere darauf zu achten, dass eine Verkürzung des linken Ventrikels vermieden wird und das Myokard möglichst frei von Artefakten in jedem Segment gut abgebildet wird. Translationale (atembedingte) Bewegungen sollten ebenfalls vermieden werden. Die Bildwiederholungsrate (frame rate) sollte dabei >60/sek sein (wobei heutige Programme oft auch tiefere Werte zulassen). Da der Algorithmus darauf angewiesen ist, die Phasen des Herzzyklus korrekt zu bestimmen, braucht es ein gutes EKG-Signal und je nach Software muss der Schluss der Aortenklappe zeitlich festgelegt werden (im Dreikammerblick).
Grundsätzlich ist eine Strain-Analyse auch bei Vorhofflimmern möglich, es muss jedoch auf ein möglichst einheitliches RR-Intervall in den Aufnahmen geachtet werden, damit der Algorithmus angewandt werden kann. Eine andere Möglichkeit ist, ein 3D-Volumen des linken Ventrikels aufzunehmen und die drei Schnittebenen daraus zu rekonstruieren. Die Herausforderung ist es jedoch, das 3D-Volumen mit der notwendigen Volumen-Rate
aufzunehmen.

Nun wählt man die drei gewünschten Loops aus. Die neuesten Software-Versionen sind teilweise in der Lage, selbständig die korrekten Schnitte zu erkennen und die technisch geeignetsten auszuwählen. Nun wird die Software gestartet und der Algorithmus detektiert die Endokardgrenzen selbständig und legt die ROI auf das LV-Myokard. Anschliessend ist es wichtig, die korrekte Lage und auch Breite der ROI zu überprüfen und gegebenenfalls im Jojo-Modus (automatische, zeitliche Oszillation, welche die visuelle Erkennung des Endokards vereinfacht) anzupassen. Hier ist es wichtig, darauf zu achten, dass das Perikard nicht innerhalb der ROI liegt, da dieses naturgemäss keine Deformation zeigt und daher zu falsch tiefen Werten führen kann. Die Software teilt nun visuell und rechnerisch das Myokard in ein 17-Segement-Modell (teilweise auch 16 oder 18 Segmente) ein und liefert Werte für die einzelnen Segmente und Mittelwerte für das gesamte Myokard. Klinisch am etabliertesten ist dabei der GLPS, welcher den Mittelwert für die maximale, longitudinale, systolische Deformation in allen Segmenten beschreibt. Es ist möglich, einzelne Segmente von der Analyse auszuschliessen, falls die Bildqualität dort keine verlässliche Analyse zulässt. Üblicherweise werden die Ergebnisse visuell als Werte und farbcodiert in den einzelnen Segmenten der ROI angezeigt (Abb. 2A). Weitaus mehr Information liefert das Diagramm der Strain-Werte über die Dauer des Herzzyklus, dargestellt mittels einer Kurve für jeweils jedes einzelne Segment (Abbildung 2B). Zusätzlich und am anschaulichsten wird das Resultat in einer sogenannten Bulls-Eye-Darstellung (oder polar map) dargestellt, bei der alle einzelnen Segmente in einer einzigen Ansicht ersichtlich sind (Abb. 2C). Hierbei ist insbesondere die farbliche Darstellung der Maximalwerte hilfreich, die eine instantane qualitative Beurteilung zulassen (Rot für negative, Weiss für neutrale und Blau für positive Werte).

Eine dunkelrote Färbung signalisiert also eine starke systolische longitudinale Verkürzung (Kontraktion), eine blaue eine systolische Verlängerung des Segmentes (Dilatation, Dyskinesie). Anstelle der maximalen Strain-Werte können auch die Strain-Rate oder die Zeit bis zur maximalen Kontraktion angezeigt werden.

Interpretation

Für die meisten erhobenen Parameter sind Normwerte verfügbar. Als Faustregel kann ein GLPS-Wert von kleiner (negativer) als -18% als normal angenommen werden; da die Normwerte je nach Hersteller und Softwareversion jedoch variieren, muss der genaue Wert immer beim Herzsteller erfragt werden (4). Im Gegensatz zur am häufigsten angewandten Methode zur Quantifizierung der systolischen LV-Funktion – der Bestimmung der Auswurffraktion (LVEF) nach Simpson – zeigt die Bestimmung des GLPS eine niedrigere Inter- und Intraobserver-Variabilität und stellt daher einen sehr robusten Parameter dar. Ausserdem hat sich in vielen Studien gezeigt, dass der GLPS die systolische Funktion des LV zuverlässiger bestimmen und bereits subklinische Veränderungen, welche von der LVEF noch nicht erfasst werden, detektieren kann. Dies hat dazu geführt, dass sich die Bestimmung des GLPS bei PatientInnen mit kardiotoxischen Chemotherapeutika bereits als Standard etabliert hat (5).

Strain-Muster

Die Bulls-Eye-Darstellung des maximalen longitudinalen Strains ermöglicht eine intuitive visuelle Erfassung der globalen und regionalen Deformation. Insbesondere bei PatientInnen mit LV-Hypertrophie (Abb. 3) können diese Strain-Muster in der Bulls-Eye-Darstellung von differentialdiagnostischer und prognostischer Bedeutung sein (6).

Bei der hypertensiven Herzerkrankung zeigt sich beispielsweise häufig eine Einschränkung des longitudinalen Strains im Bereich des basalen Septums (7). Ausserdem ist ein pathologischer GLPS-Wert (bei normaler LVEF) mit einer besonders lange bestehenden und/oder unkontrollierten arteriellen Hypertonie assoziiert (8).

Die hypertrophe Kardiomyopathie (HCM) zeigt interessanterweise meist am Ort der ausgeprägtesten Hypertrophie die am stärksten eingeschränkte longitudinale Deformation (9). Während die LVEF bei PatientInnen mit HCM und gesunden Kontrollpersonen vergleichbar ist, zeigt der GLPS eine signifikante Einschränkung, welche zudem bei der HCM mit dem Auftreten von ventrikulären Arrhythmien korreliert (10).

Bei der Speicherkrankheit Morbus Fabry findet typischerweise ein schleichender fibrotischer Umbau im basalen infero-lateralen LV-Myokard statt. Passend dazu finden sich häufig eingeschränkte longitudinale Strain-Werte im entsprechenden Segment bereits in sehr frühen Stadien der Erkrankung, wenn die visuelle Kontraktilität des entsprechenden Segments noch normal erscheint und die Fibrose kaum ausgeprägt ist (11).

Besonders auffällig ist das Strain-Muster bei der kardialen Amyloidose. Hier zeigt der Strain einen typischen und meist stark ausgeprägten baso-apikalen Gardienten mit stark pathologischen (bis hin zu positiven) longitudinalen Strain-Werten in den basalen Segmenten und einer graduellen Normalisierung zum Apex hin. Dieses Muster wird als apical sparing (oder auch cherry on top) bezeichnet. Der GLPS ist dabei pathologisch (12). Dieses Bild findet sich sowohl bei der Transthyretin (TTR)- als auch bei der AL-Amyloidose. Ein ähnliches aber trügerisches Bild kann entstehen, wenn bei einem Amyloidose-freien Herzen verkürzte Schnittbilder für die Analyse verwendet werden, da sich dann falsch hohe (negative) Strain-Werte apikal ergeben können; der GLPS ist in diesem Fall meist normal.

PatientInnen mit schwerer Aortenstenose und normaler LVEF haben tiefere (weniger negative) GLPS-Werte als gematchte Kontrollpersonen (13). Falls dabei ein apical-sparing-Muster auffällt, muss an eine zusätzliche TTR-Amyloidose gedacht werden, da mehrere Studien eine Koinzidenz der TTR-Amyloidose bei 10% oder mehr der PatientInnen mit schwerer Aortenstenose beobachtet haben (14).

Regionale Wandbewegungsstörungen im Rahmen einer koronaren Herzkrankheit können mithilfe der Strain-Analyse objektiviert werden. Dies ist insofern von grossem Wert, dass der Strain die aktive Kontraktion (Deformation) im einzelnen Myokardabschnitt erfasst und passive Bewegung durch Zug angrenzender, kontraktiler Segmente nicht einfliessen. Trotzdem müssen die Werte in einzelnen Segmenten mit Vorsicht interpretiert werden, da einerseits nicht alle Hersteller gleich verlässliche Werte liefern und insbesondere lokale Einschränkungen der Bildqualität (beispielsweise durch Artefakte) die segmentalen Strain-Werte zurzeit noch anfällig machen, sodass hier nicht dieselbe Reproduzierbarkeit besteht wie für die GLPS-Bestimmung (15).

Auch für die herausfordernde Diagnose des Sportler-Herzens kann die Strain-Analyse hilfreich sein. Hier zeigen sich üblicherweise trotz allenfalls eingeschränkter LVEF normale (oder höchstens leicht eingeschränkte) GLPS-Werte (16). Sind diese relevant vermindert muss zwingend eine andere Erkrankung gesucht werden.

Weiterführende Anwendungen

Auch die anderen Herzkammern können mithilfe der Strain-Analyse untersucht werden (17). Die Deformation der freien rechtsventrikulären Wand ist eine etablierte Methode zur Bestimmung der systolischen RV-Funktion und hat bei verschiedenen Erkrankungen eine prognostische Bedeutung gezeigt. Ebenso können die Vorhöfe mittels Strain-Analyse untersucht werden: hier werden der Reservoir-Strain als Parameter der Compliance (positive Werte) und der Kontraktions-Strain (negative Werte) unterschieden. Neben der 2D-Strain-Analyse, die in diesem Artikel behandelt wird, besteht auch die Möglichkeit, ein einem 3D-Datensatz die Bewegung der Speckles nicht in einer definierten Ebene, sondern im Raum zu verfolgen und zu quantifizieren. Die Verlässlichkeit dieser Analyse hängt naturgemäss davon ab, ob es gelingt einen 3D-Datensatz mit genügender Qualität in allen Segmenten und ausreichender Volumen-Rate zu akquirieren (18).

Zusammenfassung

Die Strain-Echokardiographie hat sich als nützliches und anwendbares Werkzeug im klinischen Alltag etabliert. Sie liefert wertvolle Informationen bezüglich der systolischen LV-Funktion, welche über die Aussagekraft der LVEF hinausgehen. Zusätzlich werden differentialdiagnostische Überlegungen durch das Erkennen typischer Strain-Muster unterstützt, welche dank der anzunehmenden technologischen Entwicklungen in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen werden.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

PD Dr. med. Simon Stämpfli, MSc

Leitender Arzt Kardiologie
Leiter Ambulatorium und Echokardiographie
Herzzentrum Luzern
Luzerner Kantonsspital

simon.staempfli@luks.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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