Dreissigjähriges Jubiläum des European Center for Pharmaceutical Medicine (ECPM)

Am 20.06.2022 konnte das European Center for pharmaceutical Medicine der Medizinischen Fakultät der Universität Basel sein dreissigjähriges Jubiläum feiern. Der Tag war in einen mehr unterrichtenden Teil am Morgen, der den Erkenntnissen und Herausforderungen in der Entwicklung der Medizin in einer Helikopter-Synoptischen Übersicht gerichtet war, wie der Leiter des Zentrums, Prof. Dr. med. Thomas D. Szucs, in seiner Begrüssungsansprache, ankündigte. Der zweite Teil des Festtages war den zahlreichen Gruss- und Gratulationsbotschaften und einem Podiums­gespräch zum Thema gewidmet.

European Center for Pharmaceutical Medicine (ECPM)

Das ECPM Institut gehört zur Medizinischen Fakultät der Universität Basel und wurde 1991 als erste postgraduale universitäre Ausbildung in ganzheitlicher Pharmazeutischen Medizin eröffnet. Das ECPM hat sich europaweit als führende universitäre post-graduale Bildungsstätte entwickelt.

Das Institut verfügt über eine Ausbildungsplattform auf hohem Niveau, die den Austausch mit hochkarätigen Experten aus Behörde, Industrie, und Universitäten auf neutralem Grund ermöglicht. Mit Partnerinstituten in Washington und Peking stellt das ECPM die Bedürfnisse der global organisierten Pharmaindustrie sicher. Für die Zulassung zum Studiengang ist ein Hochschulabschluss und eine berufliche Einbindung im Gesundheitswesen und der Arzneimittelentwicklung erforderlich.

Mit bisher 2127 Absolventen hat das ECPM mit Abstand weltweit die höchste Anzahl post-gradualer Studenten auf diesem Gebiet ausgebildet. Zusätzlich leistet es den Theorieteil zum Facharzttitel FMH in Pharmazeutischer Medizin. Daneben hat sich das ECPM zu einem führenden Forschungsinstitut für Gesundheitsökonomie entwickelt. Es verfasst zudem Gutachten für das BAG und die Industrie und beschäftigt sich mit Grundlagenforschung. Für seine Verdienste in der universitären Lehre und Forschung wurde das ECPM bereits 2012 und 2018 von der PharmaTrain Federation, dem internationalen Netzwerk für die Ausbildung auf diesem Gebiet, mit dem Prädikat «Center of Excellence» ausgezeichnet.

Plädoyer für eine starke biomedizinische Forschung und innovative pharmazeutische Medizin

Die Moderne Medizin stellt eine faszinierende Herausforderung dar. Sie befasst sich mit dem wissenschaftlichen Verständnis von Krankheiten , der Translation dieser Erkenntnisse in Evidenz-basierte Behandlungen bis zur Pflege des individuellen Patienten, so Dr. med. Dieter Scholer, Basel, ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der medizinischen Forschung und der pharmazeutischen Medizin, der nach dem Medizinstudium in Basel und der Weiterbildung in Genf und einem Forschungsaufenthalt in San Francisco verschiedene Führungspositionen bei Ciba und Novartis innehatte und beim Aufbau des Start-up Unternehmens Speedel AG beteiligt war.

Dr. Scholer war lange Zeit Mitglied der Schweiz Akademie der medizinischen Wissenschaften und Mitglied des Universitätsrats der Universität Basel.

Die Voraussetzungen für eine qualitativ hochstehende Medizin sind einerseits wissenschaftlicher, medizinischer und technischer Fortschritt, der zu neuen Behandlungen und Präventionsstrategien führt und eine hohe Lebensqualität und Lebenserwartung ermöglicht. Andrerseits braucht es einen soziopolitischen Konsens für die Zuweisung von Mitteln für das Gesundheitswesen, womit ein kosteneffektives Gesundheitssystem ermöglicht wird. Die Determinanten der Qualität der Medizin sind die Ausbildung von Ärzten, Pflegepersonal und weiteren Dienstleistungserbringern im Gesundheitswesen, die Infrastruktur (Spitäler, Ambulatorien und Privatpraxen), das Gesundheitswesen selbst (öffentliche Mittel, Versicherungen, Beitrag der Patienten), und der Zufluss von biomedizinischer Innovation. Erfolgsfaktoren für Innnovation, Fortschritt und wirtschaftlichen Erfolg sind hochwertige Forschung und Entwicklung, offene transdisziplinäre Interaktionen, wettbewerbsfähige Human- und Finanzressourcen. Die Synergie zwischen experimenteller und klinischer Forschung öffnet den Weg zu besseren Behandlungen. Von ausserordentlicher Bedeutung ist das Zusammenspiel zwischen Grundlagenforschung und klinischer Forschung, die zu neuen Zielen für die Entdeckung von Medikamenten und von Geräten führt.

Der menschliche Faktor und engagierte Führung

Ein multidisziplinärer Dialog und eine produktive Zusammenarbeit werden von Wissenschaftlern, Klinikern und Managern erleichtert, die in ihrer eigenen Biografie verschiedene Disziplinen durchlaufen haben, z.B. experimentelle Forschung, Grundlagenforschung, Arznei­mittelentdeckung, klinische Forschung und klinische Medizin. Vorbilder in diesem Bereich waren für den Referenten Izzy Edelman (San Francisco), Alex F. Müller, Robert Veyrat, Michel Vallotton (Genève), Alfred Pletscher, Max M Burger, Werner Stauffacher, Peter Meier-Abt, und Fritz R. Bühler (Basel). Prof. Fritz R. Bühler spielte eine herausragende Rolle in Bezug auf das ECPM. Er hatte vor 30 Jahren die Vision, die intellektuellen und verwaltungstechnischen Fähigkeiten und die Ausdauer, um das ECPM als Schlüsselinstitution zu etablieren, die sich auf die Entwicklung von Arzneimitteln in der Lehre konzentriert, aufzubauen.

Registrationen und ethische Gesichtspunkte

Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat die folgenden Überlegungen in Bezug auf den Kontext der klinischen Forschung und der Medikamentenentwicklung herausgegeben: Wissenschaftliche Integrität, keine Interessenkonflikte, Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Industrie: Eine korrekte Zusammenarbeit ist unerlässlich zur Sicherung des medizinischen Fortschritts und der wirtschaftlichen Prosperität der Schweiz. Die Unabhängigkeit des Wissenschaftlers und alle wissenschaftlichen und ethischen Anforderungen müssen strikt beachtet werden.

Life Sciences Cluster Basel
Nach dem Motto «von der Wissenschaft für die Wissenschaft» trägt die Handelskammer beider Basel den Life Sciences Cluster Basel zusammen mit führenden Unternehmen, Spitälern, Hochschulen und nationalen Branchenverbänden. Der Cluster umfasst die innovative Grundlagenforschung, die angewandte Forschung & Entwicklung, sowie ihre Umwandlung in Produkte, Dienstleistungen und Arzneimittel. Der Referent machte dafür ein Beispiel: die Entwicklung des innovativen Krebsmedikaments Glivec für die Behandlung der chronischen myeloischen Leukämie, eine Entwicklung aus der Grundlagenforschung über spezifische Kinasen am Friedrich Miescher Institut und das Projekt der Entwicklung von Kinasen-Medikamenten bei Novartis.

Die zentralen Erfolgsfaktoren des Life Sciences Cluster Basel sind die stimulierende Ko-Existenz zwischen erstklassiger Grundlagenforschung an den Universitäten, den Fachhochschulen, leistungsstarken Forschungs- und Entwicklungsunternehmen, Start-ups, und Global Playern und Science Transfer Machines. Die Synergie zwischen privatem und öffentlichem Sektor und dem Nutzen von gut funktionierenden regionalen, nationalen, tri-nationalen und internationalen Netzwerken.

Das ECPM ist in die aufregende Welt der pharmazeutischen Forschung und Entwicklung und Überlegungen zur pharmazeutischen Medizin eingebettet. Es verfügt über eine etablierte Plattform für Unterricht, Austausch relevanter Pharma- und Medizin-Information, sowie kritischen Reflexionen. Der Referent wünschte dem ECPM eine ebenso erfolgreiche Zukunft wie es die Vergangenheit war.

Pharmazeutische Innovation ausserhalb der Akademie

Ich hatte gute Lehrer (Prof Kurt Wüthrich, Nobelpreis 2002, Sir Gregory Winter, Nobelpreis 2018) und gute Studenten (Professor an der ETU Zürich, ERC Advanced Grant , CoFounder von Philogen, einige meiner Studenten haben erfolgreiche Firmen gegründet (z.B. Bicycle Therapeutics, Covagen…), stellte Prof. Dr. Dario Neri, Philogen, Siena, fest. Der Referent ist Mitbegründer des schweizerisch-italienischen Biotechnologieunternehmens Philogen, das 1966 mit der Mission gegründet wurde, die Behandlung von Krebs und anderen schweren Erkrankungen zu innovieren. Die Strategie des Unternehmens besteht darin, bioaktive Wirkstoffe mithilfe von Antikörperm oder kleinen organischen Liganden an den Ort der Erkrankung zu liefern, wodurch ihre therapeutische Aktivität erhöht und normales Gewebe geschont wird. Das Unternehmen hat seinen Hauptsitz in Siena und besitzt eine Tochtergesellschaft namens Philochem in Otelfingen bei Zürich. Prof. Neri präsentierte zwei Beispiele aus der Forschung von Philogen, eine Antikörper-Zytokin-Fusion im klinischen Stadium (Antikörper-basierte Verabreichung von Tumor-Nekrose-Faktor). Das Konjugat wurde an Patienten mit Glioblastom erfolgreich getestet. Das zweite Beispiel war OncoFAP, ein niedermolekularer Radiotracer mit ultrahoher Affinität zum Fibroblasten-Aktivierungsprotein (FAP). Er eignet sich für den nicht-invasiven Nachweis einer Vielzahl von metastasierenden soliden Tumoren.

Randomisierte klinische Studien: Erforschung von Synergien

Einen Einblick in die Denkart, die in Toronto herrschte und wie Synergien genutzt werden können, gab Prof. Dr. med. Peter Jüni, Toronto. Als Beispiel präsentierte er Daten zur RECOVERY Studie. RECOVERY hat uns Dexamethason und Tocilizumab während der Pandemie gebracht. RECOVERY ist eine internationale klinische Studie, die Behandlungen identifizieren soll, die bei Patienten, die wegen vermuteter oder bestätigter COVID-19 hospitalisiert wurden. Die Studie umfasste 47697 randomisierte Teilnehmer aus 198 Zentren. Untersucht wurde, ob die folgenden Medikamente den Tod bei Patienten mit COVID-19 verhindern: Lopinavir-Ritonavir, Dexamethason, Hydroxychloroquin, Azithromycin. Die Idee war eine 5:1 Randomisierung. Anstelle einer Studie, die A mit B vergleicht und einer Studie, die A mit C vergleicht etc., wurde ein gemeinsamer Placebovergleich gewählt. Synergie Nummer 1: e verwende eine gemeinsame Placebogruppe, was wir eine Plattform-Studie nennen. Die Teilnehmer der Studie hatten so nur eine 20%ige Chance in der Kontrollgruppe zu landen. 80% erhielten ein aktives Medikament. Das Design von RECOVERY wird künftig nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein, so der Referent. Primärer Endpunkt ist die Gesamtmortalität, sekundäre Endpunkte Hospitalisierungsdauer, Notwendigkeit für Beatmung, Notwendigkeit für Nierenersatztherapie. Die RECOVERY-Studie brachte den ersten Durchbruch gegen das Coronavirus durch die Entdeckung, dass Dexamethason die Todesfälle durch COVID-19 um bis zu einem Drittel reduzierte. Es demystifizierte aber auch Hydroxychloroquin und zeigte, dass Lopinavir, Ritonavir und die weiteren Medikamente keinen Nutzen brachten. Die Studie brauchte von der ersten Idee bis zur Randomisierung des ersten Patienten nur 13 Tage. Ein wesentliches Thema war Zentralisierung, d.h. ein koordiniertes Vorgehen, koordinierter, kollaborativer Ansatz, eine einzelne Regulierungsbehörde, eine einzige Ethikkommission deckt das ganze Land ab. Ein gemeinsamer Vertrag und Priorisierung der Ressourcen, klinische Studien konzipiert als Teil der klinischen Versorgung.

In Bezug auf die Grundsätze von Good Clinical Practice (GCP) sind die Aufgaben zur Durchführung einer Studie die gleichen, wie sie täglich in der Klinik vorkommen. Es braucht also keine zusätzliche Ausbildung in GCP. Der «Informed Consent» sollte eine zweiseitige einfache Information und ein einseitiges Formular umfassen. RECOVERY nutzte ein einfaches Randomisierungskonzept und einen einfachen Follow-up. In 36 Tagen wurden in RECOVERY 7300 Patienten randomisiert. Wir müssen einfach und pragmatisch werden, Synergien nutzen und alles Überflüssige weglassen.

Fazit

Vermeidung von Verwechslungen bei der Verwendung von Erkenntnissen aus der realen Welt durch randomisierte Patienten oder Gruppen

Grosse, einfache Plattformen und innovative Einwilligungsdesigns verwenden

Bayes’sche Ansätze zur Berücksichtigung vorhandener historischer Daten in Betracht ziehen

Berücksichtigung von Cross-Over- und Stepped-Wedges-Designs bei der Verwendung von Cluster-Designs.

Forschung mit Datenbanken – warum ist dies für die pharmazeutische Industrie wichtig?

Über die Verknüpfung von Daten aus randomisierten Studien mit Daten aus Real World Studien (RWD) berichtete Prof. Dr. med. Sebastian Schneeweiss, Harvard Medical School, Boston. Daten aus der realen Welt können nützlich für ein effizientes Design von randomisierten kontrollierten Studien sein: Wichtige RCT Bereicherungsstrategien können durch Real World Evidence (RWE) unterstützt werden. Praktische Bereicherung durch Reduktion des Grundrauschens, prognostische Bereicherung durch Erhöhung der Ereignisrate, prädiktive Bereicherung durch Optimierung des Nutzen/Risiko-Verhältnisses. Kombination von RCT Daten mit RWD mittel Tokenisierung. Verbesserung der Langzeitbeobachtung von RCTs, Untersuchung von Ausfällen, Übertragung der Ergebnisse von RCTs in die klinische Praxis. Verbesserung von RWE-Studien: Validierung der RWD. Messqualität Bewertung des Erfolgs der Confounding-Kontrolle, Anstreben von inkrementellen Indikationen mit RWE. RWE zur Validierung wiederverwendeter Medikamente. Der Referent erinnerte an Daten für Indomethacin bei COVID-9.

Von Real World Daten zu Real World Evidence

Prof Schneeweiss präsentierte den Duplicate Trial, einer Nachahmung von randomisierten klinischen Studien mit nicht randomisierten Real World Studien. Die Resultate zeigten, dass die Übereinstimmung zwischen RCT- und RWE-Ergebnissen variiert, je nachdem, welcher Übereinstimmungsmassstab verwendet wird. Vorläufige Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Auswahl aktiver Vergleichstherapien mit ähnlichen Indikationen und Anwendungsmustern die Validität von RWE erhöht. Selbst im Zusammenhang mit aktiven Vergleichstherapien ist die Übereinstimmung zwischen RCT- und RWE-Ergebnissen nicht garantiert, was zum Teil daran liegt, dass die Studien nicht exakt nachgebildet werden. Um zu verstehen, wie oft und in welchen Zusammenhängen RWE-Ergebnisse mit RCTs übereinstimmen, sind weitere Studiennachbildungen erforderlich., merkten die Autoren der Studie an.

Wie können die Möglichkeiten, die «Real-World-Evidence» bieten kann, am besten genutzt werden?

Drei hochwertige Fälle mit hohem Wert für die translationale Wissenschaft:
1. externe Kontrollarme
2. Zulassungserweiterung, ergänzende Indikation, Kombinationstherapie
3. Anreicherung von Studien und Verknüpfung von Daten aus Studien und der realen Welt

Wesentliche Entwicklungen sind Verbesserung der Qualität von Sekundärdaten und stets die Prinzipien des Kausalschlusses im Design und in der Analyse befolgen (hier ist das Denken des Target Trial gefragt).

Die Rolle junger Firmen in der pharmazeutischen Innovation

Die derzeitigen pharmazeutischen Topfirmen und ihre Gründungsjahre sind GSK 1715, Sanofi 1718, Takeda 1781, Pfizer 1849, Novartis 1857, Bristol-Myers Squibb 1858, Bayer 1863, Eli Lilly 1876, Johnson & Johnson 1886, Abbvie 1888, Merck & Co 1891, Roche 1896, AstraZeneca 1913, CSL 1916, Novo Nordisk 1923, stellte Dr. Chandra P. Leo, HBM Partners AG Zug fest. Als junge Firmen bezeichnete er Amgen 1980, Gilead Sciences 1987, Regeneron 1988, Vertex 1989, Moderna 2010. Übernahmen von Firmen waren Genzyme von Sanofi 1981, Shire von Takeda 1988, Celgene von Bristol Myers-Squibb 1986, Actelion von Johnson & Johnson 1997, Genenetech von Roche 1978, Medimmune von AstraZeneca 1989, Immunex von Amgen 1981, Onyx von Amgen 1992, Pharmasset 1988 von Gilead Sciences, Kite von Gilead Sciences 2009 und Immunomedics von Gilead Sciences 1982.

Junge Firmen brauchen Finanzierung. Der Referent zeigte auf, dass von der Gründung bis zum ersten selbst vermarkteten Medikament durchschnittlich 10 Jahre vergehen. Risikokapital hat Hunderte von Biotech Firmen hervorgebracht. Aufstrebende Biopharma-Unternehmen sind in 72 % der Medikamenten-Pipeline involviert. Ihr Anteil nimmt stetig zu. Sie machen 42 % der bei der FDA eingereichten Produkte und 56% der weltweiten Markteinführungen von Medikamenten in den letzten 10 Jahren aus. Zwei Drittel der FDA Zulassungen stammen von kleinen Firmen. Pharmaunternehmen erhalten Zugang zu externen Innovationen durch Fusionen und Übernahmen.

Wodurch zeichnen sich Junge Unternehmen aus? Nähe zu akademischen Institutionen? Zugang zu Risikokapital? Geschwindigkeit und Agilität? Teamkultur? Risikotoleranz? Finanzielle Anreize? Fokus auf spezifische Ziele? Neue Modalitäten/Plattformen? Spezifische Indikationen? Als Beispiel für neue Ziele nannte der Referent die PARP Inhibitoren, welche 2005 als Mechanismus zur Behandlung von nBRCA-mutiertem Brustkrebs vorgeschlagen wurden. Dies führte dazu, dass eine Reihe von Bioctech Unternehmen sich auf die Entdeckung und Entwicklung von PARP Inhibitoren konzentrierten. Als Beispiel für den Fokus auf Modalitäten/Plattformen nannte der Referent Alnylam und die RNA Interferenz. Alnylam wurde 2002 gegründet und im Jahre 2018 wurde das erste auf RNA-Interferenz basierende Medikament von der FDA zugelassen. Seither wurden vier zusätzliche RNAi-Medikamente von der FDA zugelassen, die alle ursprünglich von Alnylam entwickelt worden sind.

Fazit

In den letzten 50 Jahren hat das Aufkommen von Risikokapital eine wachsende Zahl junger Unternehmen im Biopharma-Sektor angekurbelt. Heute sind diese jungen Unternehmen für die Mehrheit aller klinischen Arzneimittelentwicklungsprogramme und Zulassungen neuer Medikamente verantwortlich. Junge Unternehmen haben oft einen starken Fokus, z. B. auf neuartige Modalitäten oder Plattformen, was es ihnen ermöglicht, die etablierten Pharmaunternehmen zu überholen. Zell- und Gentherapien sind aktuelle Beispiele für neuartige Modalitäten, auf die etablierte Pharmaunternehmen später durch Lizenzvergabe und Fusionen zugreifen.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Lernen von jedem Patienten – über das Stopfen von Evidenzlücken

Die Entwicklung der Methodologien zur Evidenzgenerierung in der Medizin war getrieben von einem aufklärerischen Grundgedanken, der unter Zuhilfenahme von Mathematik und Statistik und unter Ausgrenzung von Einzelerfahrungen die Königstreppe der Evidenz zimmerte: Vom dunklen Keller der Expertenmeinung bis zum gleissend hellen Leuchtturm der Meta-Analysen randomisierter Studien.

Nun, wir wissen alle, wie aufwändig und hürdenreich die Durch­führung klinischer Studien ist. An der Anzahl pfiffiger und relevanter Studienideen mangelt es nicht, hingegen bilden die Rekrutierung genügend grosser Patientenzahlen und die Finanzierung all der notwendigen Ressourcen schon deutlich höhere, mitunter unüberwindbare Barrieren. So ist der Euphorie beim Anblick des methodologischen Turmwerks medizinischer Evidenz schon bald die bittere Erkenntnis gefolgt, dass die Wissensgenerierung in der Medizin Ressourcen-, sprich Interessens-abhängig ist und somit immer relevante Lücken aufweisen wird.

Für Fragestellungen, für deren Beantwortung wenig finanzstarkes industrielles Interesse besteht, sind die Lücken tendenziell grösser. Es mag daher kein Zufall sein, dass die Thematik «Learning from every patient» zentrales Leitmotiv war an einem Kongress der Radio-Onkologie, nämlich am Jahreskongresses der ESTRO 2022 in Kopenhagen. In verschiedenen Keynote Vorträgen und Spezialsessions wurde der Frage nachgegangen, welche zusätzlichen Wege der Wissensgenerierung gegangen werden können. Neben der Integration der PREMs und PROMs in die Routine-Nachsorge, wurde der Diskussion von grossen Patientenkohorten breiten Raum gegeben. So gesammelte Daten können umso besser ausgewertet werden, je höher der Anteil Guideline-konformer Behandlungs­konzepte ist und je einheitlicher die zur Dokumentation verwendete Begrifflichkeit gehandhabt wird. Im Feld der Radio-Onkologie sind grosse internationale Initiativen unter Miteinschluss der industriellen Keyplayers unterwegs, diese sogenannte semantische Inter­operabilität zu erarbeiten.

Im Rahmen der Digitalisierung der Medizin wird zuweilen inflationär mit Schlagworten wie «real world data», «data science», «machine learning» und «artificial intelligence» hantiert. Als Sahnehäubchen wird dann noch «natural language processing» dazugegeben, eine Technologie, die uns je nach Grad der Heilsversprechung vom mühsamen Geschäft der Patientendokumentation, wenn nicht ganz befreien, so doch wesentlich darin unterstützen soll. Nun – es wird kein Weg daran vorbeiführen, dass wir uns der unabdingbaren Voraussetzung für die Ernte all der versprochenen Daten-Früchte annehmen müssen: die systematische, qualitativ hochstehende, semantisch konsensuell vereinbarte und technisch interoperable Dokumentation von Patientendaten. Das ist mühsam – und das kostet Geld. Aber nur dann wird es uns gelingen, subsidiär zu prospektiven Interventionsstudien von jedem einzelnen Patienten Evidenz-generierend zu lernen und so zum Stopfen von Wissens­lücken beizutragen.

 

Prof. Dr. med. Daniel Aebersold
daniel.aebersold@insel.ch

Prof. Dr. med. Daniel M. Aebersold

Inselspital
Universitätsspital Bern
Universitätsklinik für Radio-Onkologie
Freiburgstrasse
3010 Bern

Fertilität nach Krebs – Unterstützungsangebote

Junge Krebspatient:innen sind nicht nur mit einer lebensbedrohlichen Diagnose konfrontiert, sondern möglicherweise auch mit einer aus der Behandlung resultierenden Beeinträchtigung ihrer Fertilität. Heutzutage stehen diverse Methoden zur Fruchtbarkeitserhaltung zur Verfügung. Diese Möglichkeiten sind den Betroffenen zwar willkommen, verlangen ihnen aber zusätzliche anspruchsvolle Entscheidungen ab. Die Patient:innen brauchen spezifische Aufklärung zu den vorhandenen Angeboten. Darüber hinaus wünschen sich vor allem weibliche Krebsbetroffene Unterstützung bei der Entscheidungsfindung. Die von uns entwickelte Online Entscheidungshilfe www.fertionco.ch hat sich als hilfreiche Ergänzung zur fachärztlichen Beratung erwiesen. FertiOnco beinhaltet Informationsvermittlung und unterstützt die werte-basierte Entscheidungsfindung. Das frei zugängliche und interaktive online Tool soll dazu beitragen, dass Betroffene eine für sie längerfristig zufriedenstellende Wahl in Bezug auf fertilitätserhaltende Massnahmen treffen können.

Young cancer patients are not only confronted with a life-threatening diagnosis, but also with the potential loss of fertility due to their cancer treatment. Nowadays, various options to preserve fertility are available. Having these options at disposition may be positive for patients on one hand, but the decision regarding fertility preservation is perceived as very challenging on the other hand. Patients need specific information about the available offers. In addition, female cancer patients in particular, would like to receive more support in decision-making. The online decision aid www.fertionco.ch developed by us has proven to be a helpful supplement to specialist counselling. FertiOnco provides information and supports value-based decision-making. The freely accessible and interactive online tool, which is available in German and French, is intended to help patients concerned to make a choice regarding fertility-preserving measures that is satisfactory for them in the long term.
Key Words: Fertility, Decision-making, Decision Aid, Psychooncology

Krebs und Fertilität

Dank Fortschritten bei der Behandlung sind die Überlebenschancen nach einer Krebsdiagnose heutzutage hoch und das Thema Lebensqualität nach Krebs wird immer wichtiger. Ganz zentral ist diesbezüglich die Fertilität. Die Familienplanung ist bei jungen Krebspatient:innen meist noch nicht abgeschlossen und der potentielle Verlust der Fruchtbarkeit durch die bevorstehende Krebstherapie kann eine zusätzliche Belastung für die Patient:innen sein.

Studien der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Fertilität einen hohen Stellenwert bei jungen Krebspatientinnen hat (1, 2). Nebst den Fortschritten in der Krebstherapie, verzeichnet man gleichzeitig auch grosse Fortschritte in der Entwicklung und Etablierung von fertilitätserhaltenden Massnahmen. So stehen Patientinnen mittlerweile verschiedene Optionen, wie das Einfrieren von befruchteten und unbefruchteten Eizellen oder von Eierstockgewebe, zur Verfügung (3). Allerdings muss die Entscheidung, für oder gegen eine dieser fertilitätserhaltenden Massnahmen, unter enormem Zeitdruck und in einer psychologisch höchst belastenden Situation getroffen werden. Gleichzeitig ist die Tatsache, dass das Leben nach dem Krebs und die Möglichkeit, die Familienplanung dann gleichwohl angehen zu können, thematisiert wird, auch eine Hoffnung, die Patient:innen durch diese belastende Zeit tragen kann.

Für eine zufriedenstellende Entscheidung für oder gegen eine der zur Verfügung stehenden Methoden bedarf es der notwendigen Informationen und Aufklärung aber auch einer Klärung und Bewusstmachung der persönlichen Werte und Einstellungen diesbezüglich. Bisherige Studien zeigten, dass die deutliche Mehrheit der Patientinnen eine positive Einstellung gegenüber fertilitätserhaltenden Massnahmen hat, ihre Kenntnisse darüber aber beschränkt sind. Dies erhöht das Risiko, dass ein signifikanter Entscheidungskonflikt entsteht. Patientinnen berichten, dass sie sich Unterstützung bei der Entscheidungsfindung wünschen.

FertiOnco: Online Entscheidungstool

Die Entscheidungshilfe FertiOnco (www.fertionco.ch) wurde im Rahmen eines langfristig angelegten Forschungsprojekt, welches sich für die spezifischen Bedürfnisse und Wünsche von Patientinnen rund um Fertilität und Krebs interessiert, entwickelt. Ferti­Onco hat zum Ziel betroffene Krebspatientinnen umfassend zu informieren und ihnen eine wertvolle Unterstützung in ihrem Entscheidungsprozess zu bieten. Die Forschung zu und Entwicklung von www.fertionco.ch wurde durch die Krebsforschung Schweiz finanziert. Das Online Tool umfasst einen Informationsteil mit Erläuterungen zur Behandlung und zu den Auswirkungen auf die Fertilität bei verschiedenen Krebsarten sowie zu den zur Verfügung stehenden fertilitätserhaltenden Massnahmen vor der Therapie oder Alternativen dazu, wenn solche nicht möglich oder nicht erwünscht waren. Alle Texte wurden von Fachpersonen des jeweiligen Gebiets verfasst und sollen den Frauen einen umfassenden und fachlich korrekten Überblick geben. Im interaktiv gestalteten Entscheidungsteil des Online Tools haben die Frauen die Möglichkeit, zu den von ihnen ausgewählten Massnahmen sogenannte Balance Sheets auszufüllen. Dies bedeutet, dass sie für jede Massnahme vorgegebene Pro- und Contra-Argumente nach ihrer persönlichen Wichtigkeit einschätzen. Sie können zudem auch eigene Argumente für oder gegen die einzelnen Optionen hinzufügen und zum Schluss ihr Bauchgefühl auf einer Skala einordnen. Daraus ergibt sich abschliessend eine individuelle Auswertung über alle von der Patientin ausgesuchten Optionen, was als Wegweiser für die Entscheidungsfindung genutzt werden kann. Die Zusammenfassung hilft der Patientin zu erkennen, ob sie der entspre-chenden Massnahme eher positiv oder negativ gegenübersteht. Die ausgefüllten Balance Sheets inklusive individueller Auswertung können abgespeichert / ausgedruckt und beispielsweise zum nächsten Arztgespräch mitgenommen oder mit dem Partner besprochen werden.

FertiOnco ist mittlerweile in den zwei Sprachen Deutsch und Französisch verfügbar und die Informationen sind länderspezifisch für die Schweiz, Deutschland und Österreich formuliert, so dass das Tool für Patientinnen aus allen drei Ländern nutzbar ist.

Der Nutzen von FertiOnco wurde im Rahmen einer randomisiert kontrollierten Studie mit Patientinnen aus der Schweiz und Deutschland evaluiert, wobei die Interventionsgruppe (Nutzung von FertiOnco im Anschluss an das Beratungsgespräch mit einem Reproduktions-Mediziner) mit einer Kontrollgruppe (nur Beratungsgespräch) verglichen wurde (4). Es zeigte sich ein signifikant geringerer Entscheidungskonflikt über den Untersuchungszeitraum bis ein Jahr nach Diagnose in der Interventionsgruppe (5), ebenso eine geringere Entscheidungsreue (6). Eine grosse Mehrheit der Studienteilnehmerinnen (>85%) würde FertiOnco anderen Patientinnen weiterempfehlen. Demzufolge kann FertiOnco als eine hilfreiche und wertvolle zusätzliche Unterstützung zum Beratungsgespräch mit einem/r Reproduktionsmediziner:in angesehen werden.

Anwendung in der Praxis

Die Entscheidungsfindung wird von den Patientinnen als belastend und herausfordernd erlebt. FertiOnco hat sich als hilfreiche Ressource erwiesen, um diesen Prozess begleitend zu unterstützen. Das Entscheidungstool kann vor oder nach dem Beratungsgespräch zur Anwendung kommen, in dem es einerseits zur Vorbereitung auf das Gespräch dienen und andererseits auch zur Nachbereitung genutzt werden kann, um zum Beispiel mit den Angehörigen oder z.B. der mitinvolvierten Psychoonkolog:in die wichtigsten Punkte nochmals durchzugehen und nachzulesen. Sowohl Onkolog:innen wie auch Reproduktionsmediziner:innen, aber auch Psychoonkolog:innen können das Tool den Patientinnen empfehlen oder in der Sprechstunde anwenden.

… und die Männer?

FertiOnco wurde spezifisch für Frauen mit Krebs entwickelt. Bei den Frauen sind die Optionen zur Fertilitätserhaltung vielfältiger aber auch aufwändiger als bei den Männern. Die auf den ersten Blick einfachere Ausgangslage bei den Männern, macht die Situation aber nicht weniger belastend und auch diese wünschen sich gemäss den wenigen vorhandenen Studien gebührend Unterstützung. Allerdings steht dabei weniger eine Hilfe bei der Entscheidungsfindung im Vordergrund, sondern vielmehr validierte Informationen generell zum Thema Fertilität und Krebs, wie eine von uns durchgeführte Studie mit männlichen Krebspatienten zeigte (Ehrbar et al, 2022 (7)). Zudem bekundeten sie den Wunsch nach Vernetzung mit anderen Patienten und / oder Fachpersonen.

Fazit

Über Möglichkeiten des Fertilitätserhalts trotz Krebs nachzudenken, kann sowohl eine zusätzliche Belastung wie auch eine neue Hoffnung für Patient:innen darstellen. Studien haben gezeigt, dass Fertilität sowohl bei weiblichen wie auch männlichen jungen Krebsbetroffenen einen hohen Stellenwert hat und eine fachspezifische Begleitung dazu explizit gewünscht wird. Während von Krebs betroffene Männer sich mehr Informationen und Austauschmöglichkeiten wünschen, bekunden Krebspatientinnen Unterstützungsbedarf bei der Entscheidungsfindung. Im Vordergrund steht immer eine individuelle Beratung beim Spezialisten, allerdings hat sich FertiOnco als wertvolle zusätzliche Unterstützung bei der Entscheidungsfindung erwiesen. FertiOnco ist für alle frei zugänglich und aktuell das einzige deutschsprachige und schweiz-spezifische online Unterstützungsangebot.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. phil. Verena Ehrbar

Frauenklink Universitätsspital Basel
Abt. Gyn. Sozialmedizin & Psychosomatik
Spitalstrasse 21
4031 Basel

verena.ehrbar@usb.ch

Prof. Dr. med. Sibil Tschudin

Frauenklink Universitätsspital Basel
Abt. Gyn. Sozialmedizin & Psychosomatik
Spitalstrasse 21
4031 Basel

sibil.tschudin@usb.ch

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

◆ Fertilität ist für junge Krebspatient:innen ein wichtiges Thema, da die Familienplanung oft noch nicht abgeschlossen ist.
◆ Die Entscheidung für oder gegen fertilitätserhaltende Massnahmen muss unmittelbar nach Diagnosestellung der Krebserkrankung erfolgen, was für die Betroffenen eine Herausforderung darstellt.
◆ Mit FertiOnco steht Patientinnen eine online Entscheidungshilfe zur Verfügung, die sie ergänzend zum Beratungsgespräch mit einer Fachperson nutzen können.
◆ FertiOnco setzt sich zusammen aus einem Informationsteil sowie einem interaktiven Teil, der eine wertebasierte Entscheidung unterstützt.
◆ FertiOnco ist für alle betroffenen Patientinnen frei verfügbar und hat sich für die Entscheidungsfindung als hilfreich erwiesen.

1. Tschudin S, Bunting L, Abraham J, Gallop-Evans E, Fiander A, Boivin J. Correlates of fertility issues in an internet survey of cancer survivors. J Psychosom Obstet Gynaecol. 2010;31(3):150-7.
2. Klosky JL, Simmons JL, Russell KM, Foster RH, Sabbatini GM, Canavera KE, et al. Fertility as a priority among at-risk adolescent males newly diagnosed with
cancer and their parents. Support Care Cancer. 2015;23(2):333-41.
3. Anderson RA, Amant F, Braat D, D’Angelo A, Chuva de Sousa Lopes SM,
Demeestere I, et al. ESHRE guideline: female fertility preservation. Hum Reprod Open. 2020;2020(4):hoaa052.
4. Ehrbar V, Urech C, Rochlitz C, Dallenbach RZ, Moffat R, Stiller R, et al. Fertility Preservation in Young Female Cancer Patients: Development and Pilot Testing of an Online Decision Aid. J Adolesc Young Adult Oncol. 2018;7(1):30-6.
5. Ehrbar V, Urech C, Rochlitz C, Zanetti Dallenbach R, Moffat R, Stiller R, et al. Randomized controlled trial on the effect of an online decision aid for young
female cancer patients regarding fertility preservation. Hum Reprod. 2019.
6. Ehrbar V, Germeyer A, Nawroth F, Dangel A, Findeklee S, Urech C, et al. Long-term effectiveness of an online decision aid for female cancer patients regarding fertility preservation: Knowledge, attitude, and decisional regret. Acta Obstet Gynecol Scand. 2021;100(6):1132-9.
7. Ehrbar V, Scherzinger L, Urech C, Rochlitz C, Tschudin S, Sartorius G. Fertility preservation in male cancer patients: A mixed methods assessment of experiences and needs. Urol Oncol. 2022 Aug;40(8):385.e19-385.e25.
doi: 10.1016/j.urolonc.2022.05.027. Epub 2022 Jun 25. PMID: 35764444.

Digitale Hilfsmittel in der Palliative Care: Quo vadis?

Der Nutzen von digitalen Hilfsmitteln erscheint auf den ersten Blick in der Palliative Care nicht naheliegend. In Ländern mit grossen geographischen Distanzen werden sie bereits flächendeckend eingesetzt. Die häufigsten klinischen Anwendungsgebiete sind die direkte Kommunikation zwischen Fachperson und Patient:in (virtuelle Visiten), und die Koordination (virtuelle Besprechungen z.B. Tumorboards, interprofessionelle Kommunikation). Vorteile sind Verbesserung der Kommunikation und Koordination, Reduktion von Symptomen durch rasche Beratung und geringerer Aufwand durch Vermeidung von Wegzeiten. Andere Anwendungen wie digitale Apps und psychologische Unterstützung mittels virtueller Realität werden auch bereits klinisch eingesetzt. Zwangsläufig hat die digitale Medizin in der Onkologie und Palliative Care während der COVID-Pandemie einen Aufschwung erhalten; ob dieser Aufschwung anhält, ist unklar.

Im Kontext der Schweiz sehen wir vor allen die folgenden Anwendungen als potentiell hilfreich: virtuelle Kommunikation (digitale interprofessionelle Besprechungen, virtuelle Visiten), Digitales Monitoring und Anwendungen der virtuellen Realität. Bei der virtuellen Kommunikation sind insbesondere die digitalen interprofessionellen Besprechungen interessant, da diese zu einer Verbesserung der interprofessionellen Koordination beitragen können. Beim digitalen Monitoring steht die Unterstützung der Patient:in im häuslichen Umfeld mittels automatischer Übermittlung von Gesundheitsdaten an die Fachpersonen im Vordergrund. Die virtuelle Realität zeigt ihr Potential in der psychologischen Unterstützung. Haupthindernisse sind aktuell die fehlende Standardisierung der Infrastruktur und die unvorhersehbare Akzeptanz bei den Fachpersonen und Patient:innen. Nicht zuletzt ist auch aus der Datenschutzperspektive Skepsis bezüglich einer raschen Verbreitung in der Zukunft angebracht. Die drei aktuellen Einsatzbereiche der digitalen Hilfsmittel werden bezüglich ihres klinischen Nutzens im schweizerischen Kontext analysiert.

At first glance, the use of digital aids in palliative care does not seem obvious. In countries with large geographic distances, they are already being used extensively. The most common clinical applications are direct communication between specialist and patient (virtual visits) and coordination (virtual meetings, e.g. tumor boards, interprofessional meetings). Advantages are improvement of communication and coordination, reduction of symptoms through rapid consultation, and less effort by avoiding travel time. Other applications such as digital apps and psychological support using virtual reality are also already being used clinically. Inevitably, digital medicine in oncology and palliative care received a boost during the COVID pandemic; whether this boost will continue is unclear.

In the context of Switzerland, we see the following applications in particular as potentially helpful : virtual communication (digital interprofessional meetings, virtual visits), digital monitoring, and virtual reality applications. In the case of virtual communication, digital interprofessional meetings are of particular interest, as they can contribute to an improvement of interprofessional coordination. In digital monitoring, the focus is on supporting the patient in the home environment by means of automatic transmission of health data to the professionals. Virtual reality shows its potential in psychological support. The main obstacles are currently the lack of standardization of the infrastructure and the unpredictable acceptance by professionals and patients. Last but not least, skepticism is also warranted from a data protection perspective with regard to rapid dissemination in the future. The three current areas of application of digital aids are analyzed in terms of their clinical benefits in the Swiss context.
Key Words: Telemedicine, Digital health interventions, Palliative Care, Oncology Interprofessional Care

Telemedizin und Palliative Care erscheinen vordergründing nicht sehr kompatibel, da die Idee eines digital-elektronischen Werkzeugs in einem beziehungsbasierten Fachgebiet nicht naheliegend erscheint.

Eine breite Palette von digitalen Werkzeugen/Interventionen wird jedoch bereits in der Palliative Care angewendet. Diese reichen von der klassischen virtuellen Visite, über virtuelle Realität (beispielsweise 3-D-Reisen bis zu Entscheidungsfindung mittels künstlicher Intelligenz (1, 2)). Weitere Anwendungsgebiete der Telemedizin beziehen sich auf die digitale Überwachung des Gesundheits-zustandes, die Übertragung von Daten zur Fachperson und die Fallbesprechungen (Fachperson zu Fachperson) (3, 4). Bei onkologischen Patient:innen hat nicht zuletzt die Corona-Pandemie dazu beigetragen, dass Interventionen der Palliative Care vermehrt telemedizinisch erfolgen. Dies betrifft insbesondere die Beratung und das Monitoring bei der Symptombehandlung, aber auch die Instruktion und Koordination des betreuenden Netzwerks und der Angehörigen. Hier handelt die Palliative Care gemäss ASCO mit einem problem- und patientenbezogenen Vorgehen im Sinn der «Concurrent care», also in der Regel parallel zur krankheitsmodifizierenden Therapie mit supportiven Therapien (5).

Die Vorteile der Telemedizin, insbesondere der virtuellen Visite, zeigen sich vor allem im Bereich des erleichterten Zugangs zu Dienstleistungen, einer Verbesserung der Kommunikation durch rasche Erreichbarkeit, und dadurch nicht zuletzt einer Reduktion der psychischen Symptome, vor allem der Angst, und in geringeren Kosten (6). In Ländern mit grossen geographischen Distanzen wie Canada oder Australien ist die Akzeptanz bei den Patienten, aufgrund jahrzehntelanger Vorerfahrung, grundsätzlich sehr gut. Die Fachpersonen zeigen eine gesunde Skepsis gegenüber der Tele­medizin, akzeptieren diese aber gut, wenn sie die notwendige Logistik und Schulung erhalten (4, 7). Die Evidenz dafür basiert aber häufig auf Evaluationen von bestehenden Projekten, oder solchen aus der Notwendigkeit (geographische Distanz, Fachkräftemangel) entstandenen Projekte. Eine Bedürfnisabklärung bei allen Beteiligten vor der Planung und Implementation wurde nur sehr selten durchgeführt (7).

Die geographischen Distanzen existieren in der Schweiz nicht und die pandemiebedingten Zugangsbeschränkungen zum Gesundheitssystem sind und waren nicht sehr ausgeprägt.

Parallel dazu zeigte sich, dass sich einige der geplanten oder existierenden digitalen Hilfsmittel trotz des Digitalisierungsschubs während der Pandemie nur schleppend entwickelt haben. Das bekannteste Beispiel ist das elektronische Patienten-Dossier. Bei einigen sind sogar schwerwiegende Datenschutzlücken erkannt worden, man denke an das digitale Impfbuch oder das Organspende-
Register. So stellt sich die Frage aus Sicht der Palliative Care, in welchen Anwendungsbereichen der Einsatz telemedizinischer Vorgehensweisen in der Zukunft insbesondere aus Sicht der Patient:innen sinnvoll ist (8). Ein hoher Anspruch an den Datenschutz ist hierbei selbstverständlich.

Wir möchten in diesem Beitrag die telemedizinischen Hilfsmittel aus der klinisch-praktischen Perspektive der Palliative Care beleuchten und hinsichtlich der Zukunft kritisch hinterfragen.

Methoden

Die vorliegende Arbeit basiert auf einem Scoping review (7) und zwei Positionspapieren (4, 8) der Autoren. Die beschriebene Zukunftsperspektive basiert einerseits auf der klinischen Erfahrung/Einschätzung der Autoren, andererseits auf selektionierten Artikeln einer Literatursuche (Pubmed: Telemedicine AND Palliative Care, ab 2022).

Einsatzbereiche der digitalen Hilfsmittel

Im Folgenden werden wir den Nutzen und die Herausforderungen der verschiedenen digitalen Hilfsmittel in der Palliative Care aufzeigen. Tabelle 1 fasst die aktuellen Entwicklungen bezogen auf die Palliative Care zusammen.

Virtuelle Visite

Die virtuelle Visite, also eine Visite über eine Videokonferenz, ist die am weitesten verbreitete Form der Telemedizin. Sie ist gut akzeptiert, relativ einfach machbar und hat bewiesenermassen Vorteile für den Patienten auf der Ebene der Kommunikation, Symptomreduktion (teilweise) und der Reduktion von Reisezeit und -aufwand (4, 7). Wie oben erwähnt, gilt diese Evidenz aber nur für Länder mit geographischen Hindernissen/grossen Distanzen.

Die technologischen Grundvoraussetzungen sind in der Schweiz mehrheitlich gegeben. Mögliche Hindernisse orten wir in zwei Bereichen: in einer der Telemedizin gegenüber eher zurückhaltenden Einstellung der Patient:innen, Angehörigen und Fachpersonen, und die fehlende technische Standardisierung. Letztere (z.B. bei der Identifikation/Datenschutz/Interkompatibilität) führt zu einer schlechteren Benutzbarkeit, was die Motivation der Patienten nicht fördert.

Zusätzlich gibt es aktuell keine klar definierten Verrechnungsmöglichkeiten. Die Abrechnung als klassische Telefonkonsultation ist zwar möglich, bildet aber den Aufwand nur unzureichend ab, was eine nachhaltige Verwendung in der Zukunft insbesondere für den ambulanten Bereich erschwert (9).

Aus diesen Gründen sehen wir die Zukunft für eine virtuelle Visite zwiespältig: der Nutzen für schwerkranke Menschen, die möglichst viel Lebenszeit zuhause verbringen möchten und für die der Energieaufwand für eine externe Konsultation enorm ist, könnte sehr gross sein. Dies betrifft auch das Sicherheitsgefühl nicht nur für die Patient:innen sondern auch für die Angehörigen: der rasche «Kanal» zum Betreuungsnetz, nicht nur als schwer zuordenbare Stimme, sondern als sichtbare Person. Auf der anderen Seite stehen die regulatorischen Anforderungen, und die Zurückhaltung in der schweizerischen Gesellschaft, individuelle Daten preiszugeben unter Einschluss einer E-Mail-Adresse, die Voraussetzung für den telemedizinischen Link ist.

Interprofessionelle Kommunikation
Palliative Care gilt als eine der Vorreiterdisziplinen der Interprofessionalität. Eines der wichtigsten Elemente der Interprofessionalität ist die transparente Definition von gemeinsamen Zielen und die Koordination von verschiedenen Fachkompetenzen und -personen. Dies ist zeitlich und ressourcentechnisch eine sehr aufwändige Aufgabe. Deshalb erscheint die Telemedizin mit der Möglichkeit von Video-Konferenzen und einer zeitnahen, zentralen Dokumentation als ein interessanter Lösungsansatz (8).

Als Hindernis sehen wir hier wiederum die fehlende technische Standardisierung (Identifikation, Kompatibilität der Systeme) und das Fehlen eines funktionierenden, von der Bevölkerung akzeptierten digitalen Patient:innen-Dossiers.

Wie bei den virtuellen Visiten gibt es auch für diese Modalität keine spezifischen Verrechnungsmöglichkeiten im aktuellen Vergütungssystem.

Abgesehen von den technischen Hindernissen, sehen wir in dieser Art der Telemedizin im Bereich der Palliative Care ein grosses Potential: bei der Koordination der Betreuung der Patient:innen im häuslichen Umfeld, insbesondere bei der Interaktion im regionalen Palliativnetz zwischen Patient:innen, Angehörigen, Spitex und Hausärztin, sowie dem Mobilen Palliativdienst und den stationären Strukturen.

Datentransfer/remote Monitoring
Der Transfer von Daten über den Gesundheitszustand inklusive Daten über die aktuelle Lebensqualität (z.B. PROM’S) an Fachpersonen, entweder durch einen aktiven Prozess (Smartphone-Applikation/Internet basiert) oder passiv mit automatischer Informationsübermittlung («Wearables») wird seit einigen Jahren auch in der Palliative Care insbesondere bei Tumorpatienten untersucht (2, 10). Der Fokus liegt dabei auf den Symptomen oder der Sicherheit (Bewegungsmuster) mit den Zielen Reduktion von Unsicherheiten, Verbesserung des Selbst-Managements und Datengrundlagen für die Entscheidungsfindung (10).
Obwohl die Studien vielversprechend sind, müssen diese Technologien ihre Nützlichkeit und Akzeptanz in der Praxis noch beweisen (1).

Als Hindernis sehen wir hier drei Hauptpunkte. Die Machbarkeit steht zur Diskussion: Digitale PROMS benötigen eine relativ komplexe Mitarbeit des Patienten/Angehörigen. Ob diese möglich und gewünscht ist, insbesondere bei den vielen vulnerablen Menschen in der Palliative Care mit ausgeprägter Fatigue, muss noch bewiesen werden. Daneben geht es um die Akzeptanz einer standardmässigen Übermittlung von Gesundheitsdaten, sei es aktiv oder passiv. Und drittens, wie schon erwähnt, geht es auch hier um die fehlende technische Standardisierung. Diese Technologie macht nur Sinn, wenn die Fachpersonen einfach und schnell auf besorgniserregende Daten reagieren können. Grundlage hierfür wären ein einfacher und sicherer Zugang zu den Individualdaten und die notwendigen technischen und personellen Ressourcen für das Monitoring und die zeitgerechte Evaluation und Reaktion.

Andere digitale Hilfsmittel
Während der Pandemie standen und stehen digitale Kommunikationstools im gesellschaftlichen Fokus. Es ging und geht darum, schnell und pragmatisch eine Kommunikationsmöglichkeit für die Bevölkerung von der Schule bis zur Altersbetreuung herzustellen. Dies betrifft auch das Gesundheitswesen. Pilot-Projekte wurden ausgebaut, viele Spitäler planten und implementierten neue Telemedizinprogramme.

Zukunftsträchtige digitale Tools für die Palliative Care wurden kürzlich durch einen Delphiprozess definiert (1).

Grosses Interesse besteht aktuell für «virtual reality». Bei dieser Intervention wird der Patient durch eine Fachperson (meist eine Psychologin) auf einer virtuellen Reise mittels einer VR-Brille begleitet. Dies erlaubt es der betroffenen Person, zumindest kurzzeitig, der oft schwer erträglichen Realität zu entfliehen. Eine schweizerische Pilot-Studie von Seiler et al. zeigte kürzlich eine gute Akzeptanz und sehr vielversprechende Resultate bezüglich Symptom-Reduktion (11).

Künstliche Intelligenz, insbesondere im Zusammenhang mit grossen Datensätzen (Big Data) und Smart Home wird erforscht, hat aber noch keinen klinischen Stellenwert.

Big Data und Datamonitoring könnte allenfalls eine gewisse Hilfe­stellung bei der Prognosefindung und beim Monitoring von Risikofaktoren in der Prävention von schwierigen Symptomen wie einem Delirium bieten; aktuell steht hier immer noch die klinische Einschätzung im Vordergrund (1).

Die Frage nach dem digitalen Erbe ist mit dem rasanten Anstieg von Cloud-Diensten, sozialen Medien und anderen, physisch nicht greifbaren Dokumentationsarten sehr reell geworden. Das Bewusst­sein für diesen in der heutigen digitalen Zeit notwendigen Schritt der Vorausplanung ist bei den Patient:innen und Fachpersonen noch wenig vorhanden (12). Die persönliche und gesellschaftliche Frage, was mit personenbezogenen Daten nach dem Tod passiert, wird sicherlich immer wichtiger.

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Dr. med. Andreas Samuel Ebneter

Universitäres Zentrum für Palliative Care
Inselspital Bern
Freiburgstrasse
3010 Bern, Schweiz
HFR Tafers
Abteilung Innere Medizin
1712 Tafers

andreas.ebneter@h-fr.ch

Prof. Dr. med. Steffen Eychmüller

Chefarzt
Universitäres Zentrum für Palliative Care
Inselspital Bern, SWAN Haus
Freiburgstrasse 38
3010 Bern

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

◆ Digitale Hilfsmittel werden in der Palliative Care verwendet, im Vordergrund steht die digitale Kommunikation und Koordination.
◆ Die Bedürfnisse von Patienten, Angehörigen und Fachpersonen
hinsichtlich digitaler Tools sind in der Schweiz und in der klinischen Praxis nicht klar.
◆ Vielversprechend für die klinische Palliative Care sind: Digitale interprofessionelle Kommunikation/Koordination mittels Videokonferenzen und digitales Monitoring, sowie virtuelle Realitäts-Tools
◆ Hindernis für die Weiterentwicklung sind: a) fehlende technische
Standardisierung dieser Hilfsmittel, b) Fehlen eines zentralen,
verlässlichen und sicheren medizinischen Dossiers (elektronisches Patientendossier), und c) offene Fragen der Vergütung beziehungsweise Refinanzierung der apparativ-technischen Voraussetzungen.

1. 1Nwosu AC, McGlinchey T, Sanders J, Stanley S, Palfrey J, Lubbers P, et al. Identification of Digital Health Priorities for Palliative Care Research: Modified Delphi Study. JMIR Aging. 2022;5(1):e32075.
2. Amann M, Blum D. Digitale Palliative Care. Praxis. 2021;110(15):851-4.
3. WHO. WHO | Classification of digital health interventions v1.0 [Available from: http://www.who.int/reproductivehealth/publications/mhealth/classification-digital-health-interventions/en/.
4. Ebneter AS, Fliedner M, Trapp D, Ramseier F, Sauter TC, Eychmüller S. [Telemedicine in Palliative Care: Digital Communication in a Relationship-Based Speciality – Does It Make Sense?]. Praxis (Bern 1994). 2021;110(15):845-50.
5. Ferrell BR, Temel JS, Temin S, Alesi ER, Balboni TA, Basch EM, et al. Integration of Palliative Care Into Standard Oncology Care: American Society of Clinical Oncology Clinical Practice Guideline Update. Journal of Clinical Oncology. 2017;35(1):96-112.
6. Finucane AM, O’Donnell H, Lugton J, Gibson-Watt T, Swenson C, Pagliari C. Digital health interventions in palliative care: a systematic meta-review. NPJ Digit Med. 2021;4(1):64.
7. Ebneter AS, Sauter TC, Christen A, Eychmueller S. Feasibility, acceptability and needs in telemedicine for palliative care. Swiss Med Wkly. 2022;152(9-10).
8. Ebneter AS, Eychmueller S, Sauter TC, A. A. Einsatz von Telemedizin in der Palliative Care. SAEZ. 2022.
9. Tang M, Reddy A. Telemedicine and Its Past, Present, and Future Roles in Providing Palliative Care to Advanced Cancer Patients. Cancers (Basel). 2022;14(8).
10. Ansari N, Wilson CM, Heneghan MB, Supiano K, Mooney K. How technology can improve communication and health outcomes in patients with advanced cancer: an integrative review. Support Care Cancer. 2022.
11. Seiler A, Schettle M, Amann M, Gaertner S, Wicki S, Christ SM, et al. Virtual Reality Therapy in Palliative Care: A Case Series. Journal of palliative care.0(0):08258597221086767.
12. Coop H, Marlow C. Do we prepare patients for their digital legacy? A survey of palliative care professionals. Palliative Medicine. 2019;33(1):114-5.

Genexpressionstests beim lokalisierten Prostatakarzinom

In der Schweiz wird jedes Jahr bei mehr als 6000 Männern eine Prostatakrebsdiagnose gestellt. Die Krankheit ist sehr heterogen und reicht von indolenten Karzinomen, welche am besten beobachtet werden, bis zu aggressiven Karzinomen, welche rasch in eine metastasierte Situation übergehen. Im Arzt-Patienten Gespräch ist gerade bei der Neudiagnose eines lokalisierten Prostatakarzinoms eine realistische Risikoeinschätzung und Beratung bezüglich der möglichen Therapie-Optionen essentiell. Tradi­tionell beruht die Risikoklassifikation in der lokalisierten Situation auf PSA, Gleason/ISUP Grad und bildgebenden Informationen (MRI zum lokalen Staging, PSMA PET/CT fürs systemische Staging). In Zukunft können möglicherweise Genexpessionstests wichtige Zusatzinformationen liefern.

In Switzerland, more than 6000 men are diagnosed with prostate cancer each year. The disease is very heterogeneous and ranges from indolent carcinomas, which are best observed, to aggressive carcinomas, which rapidly progress to a metastatic situation. In the doctor-patient discussion, a realistic risk assessment and advice regarding the possible therapy options is of great importance, especially in the case of a new diagnosis of a localized prostate carcinoma. Traditionally, risk classification in the localized situation is based on PSA, Gleason/ISUP grade and imaging information (MRI for local staging, PSMA PET/CT for systemic staging). In future, gene expression tests may provide important additional information.
Key Words: Prostate cancer, Gene expression tests

Klinische Einordnung von Genexpressionstests

In den letzten Jahren sind im Bereich des lokalisierten Prostatakarzinoms verschiedene Genexpressionstests entwickelt, evaluiert und kommerzialisiert worden. Das übergeordnete Ziel: eine personalisierte Risikoeinschätzung, welche gezieltere Therapievorschläge erlaubt. Diese Tests untersuchen mRNA Expressions-Profile am Tumorgewebe und umfassen dabei 20-30 Gene. Verschiedene Tests sind aktuell vor allem in den USA verfügbar: Decipher®, Prolaris® und Oncotype Dx Prostate®.

Beim lokalisierten Prostatakarzinom sind mehrere Fragestellungen interessant, für die Genexpressionstests eine relevante Zusatzinformation bringen können:

  • Bei lokalisiertem Prostatakarzinom mit niedrigem Risiko:
    Welche Patienten sollten aktiv überwacht werden, welche benötigen eine aktive Therapie?
  • Bei lokalisiertem Prostatakarzinom mit intermediärem Risiko: Welche Patienten benötigen eine Hormontherapie zusammen mit der Strahlentherapie, bei welchen reicht eine alleinige Radio­therapie?
  • Bei Prostatakarzinom nach radikaler Prostatektomie: Welche Patienten mit Risikofaktoren profitieren von einer adjuvanten Strahlentherapie mit oder ohne Hormontherapie und welche können überwacht werden?
  • Beim biochemischen Rezidiv nach radikaler Prostatektomie: Welche Patienten profitieren bei der Salvage Radiotherapie von einer zusätzlichen Hormontherapie?

Die NCCN-Guidelines haben diese Genexpressionstests bereits als Option in die Algorithmen als zusätzliche Information für die Entscheidungsfindung aufgenommen. Die europäischen Guidelines (EAU) äussern sich noch zurückhaltend zum Einsatz dieser Tests. Wenn Genexpressionstests angewendet werden, dann sollten unbedingt alle anderen klinischen Faktoren auch berücksichtig werden und ein Therapieentscheid nicht rein auf die molekulare Diagnostik gestützt werden.

Limitationen der Genexpressionstests sind zum aktuellen Zeitpunkt: Die Mehrheit der Daten stammt aus retrospektiven Studien – grosse, randomisierte prospektive Studien sind aber bereits lanciert worden. Langzeitdaten, vor allem zu onkologisch relevanten Endpunkten wie Gesamtüberleben, fehlen. Wichtig ist auch zu beachten, dass Gewebe-basierte genomische Tests eine allfällige
intratumorale Heterogenität nur ungenügend abbilden können und zum Beispiel primär am Gewebe einer Stanzbiopsie gemacht werden, ohne die übrigen Biopsien zu berücksichtigen.

Patientenbeispiel

Anamnese
Ein 64-jähriger Mann wird abgeklärt bei PSA Erhöhung auf 7.5 ohne Auffälligkeiten bei der Miktion.

In der klinischen Untersuchung zeigt sich die Prostata nicht vergrössert und ohne palpable Indurationen. Relevante Nebendiagnosen liegen nicht vor.

Die multiparametrische MRI-Untersuchung ergibt: Prostata­volumen 28ml, eine auffällige Läsion in der peripheren Zone links (PI-RADS 4), keine weiteren Auffälligkeiten, die PSA-Dichte ist mit 0.27 ng/ml/cc deutlich erhöht.

Die MRI-TRUS Fusionsbiopsie zeigt mittels 16 Biopsien (gezielt und systematisch) folgendes Resultat:

4 positive Biopsien:

  • Links: Gleason 3+3, ISUP Gruppe 1, Zylinderbefall 10%
  • Links: Gleason 3+3, ISUP Gruppe 1, Zylinderbefall 15%
  • Rechts: Gleason 3+3, ISUP Gruppe 1, Zylinderbefall 30%
  • Rechts: Gleason 3+3, ISUP Gruppe 1, Zylinderbefall 60%

Die zusätzlich durchgeführte PTEN-Analyse ergibt immunhistochemisch keinen Anhaltspunkt für PTEN-Verlust.

Therapie-Empfehlung
Zusammengefasst liegt ein lokalisiertes Prostatakarzinom vor. Die TNM-Klassifikation stellt aber bereits eine Herausforderung dar:

Nach klassischen Kriterien wäre der Tumor als T1c einzustufen, nach MRI-Kriterien als T2a und in der Biopsie wurde letzten Endes ein Prostatakarzinom bilateral in der Prostata gefunden. Je nach T-Stadium fällt der Patient mit den übrigen oben erwähnten Kriterien in eine low-risk oder sogar eine high-risk Kategorie und entsprechend variieren auch die Therapie-Empfehlungen. Wichtig ist hier aber zu betonen, dass nach aktuellen Guidelines für das T-Staging nur die digital rektale Untersuchung (DRU) verwendet wird und die MRI-Information noch nicht. Insgesamt wurde dem Patienten bei Vorliegen aller Befunde eine aktive Therapie im Sinne einer radikalen Prostatektomie beziehungsweise einer Radiotherapie der Prostata mit oder ohne begleitende Hormontherapie über 6 Monate empfohlen.

Patientenwunsch
Aktive Überwachung und zurzeit keine aktive Therapie.

Können Genexpressionstests in dieser Situation hilfreich sein?

Die Genexpressionstests könnten hier helfen, eine bessere Einteilung vorzunehmen. In einer kürzlich veröffentlichten Arbeit wurden lokalisierte Prostatakarzinome anhand der vorhandenen klinischen und pathologischen Variablen in die klassischen 6 Risiko-Kategorien nach NCCN eingeteilt. Die Integration des mRNA-Ex­pressionsprofils am Prostatakarzinomgewebe mittels Decipher Score zusammen mit den klinischen Variablen hat zu einer Reklassifizierung innerhalb der 6 NCCN-Risikogruppen in 67% der Patienten geführt (Spratt et al. J Clin Oncol 36:581-590). Am ASCO 2022 wurde eine Arbeit vorgestellt, in welcher der Decipher Score retrospektiv an Tumorgewebeproben einer grossen Phase III Studie mit lokalisiertem Prostatakarzinom (intermediate risk) untersucht wurde. Der Decipher Score konnte als unabhängiger prognostischer Wert bestätigt werden (Spratt et. al. J Clin Oncol 40, 2022 suppl 6; Abstr 269).

Ein genetischer Test wie beispielsweise «Prolaris» könnte im oben erwähnten Fall als Entscheidungshilfe hinzugezogen werden. Wichtig ist zu beachten, dass diese Tests nur zusätzliche prognostische Informationen liefern und nicht prädiktiv sind für eine spezifische Therapiemodalität. Der Prolaris Molecular Score (CCP) wird mit dem CAPRA-Score des Patienten kombiniert. Daraus resultiert der Combined Clinical Cell Cycle Risk (CCR)-Score, der alle verfügbaren prognostischen Informationen als Prognose-Faktoren vereint. Bei einem CCR-Score von >0.8 hätte der Patient ein geschätztes Risiko von knapp 10-15% an seinem Prostatakarzinom innerhalb von 10 Jahren zu versterben, bei einem CCR-Score von <0.8 wäre das Risiko am Prostatakarzinom innerhalb von 10 Jahren zu versterben bei geschätzt 2%.

Grosse, randomisierte Phase III Studien sind aktiviert worden (z.B. PREDICT-RT, G-MAJOR, ERADICATE, G-MINOR, NRG GU 008), welche diese neuen Tests in verschiedenen Krankheitssituationen prospektiv, untersuchen. Bis erste Resultate vorliegen wird es aber noch einige Jahre dauern.

In den EAU Guidelines wird diskutiert, dass diese Tumor­gewebe basierten Genexpressionstest die prognostische Sicherheit von multivariablen Modellen zur Identifikation von Patienten, welche eher von einer aktiven Überwachung profitieren, beziehungs­weise eher von einer aktiven Therapie, deutlich verbessern. Da onkologische Langzeitdaten (Gesamtüberleben) fehlen, wird der Einsatz dieser Tests zurzeit nicht routinemässig empfohlen. Bei Fällen, welche zum Beispiel grenzwertig für die aktive Überwachung qualifizieren, kann als Zusatzinformation zu den bereits verfügbaren klinisch-pathologischen Variablen aber ein Einsatz der Tests in Betracht gezogen werden.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

PD Dr. med. Aurelius Omlin

Onkozentrum Zürich
Seestrasse 259
8038 Zürich

PD Dr. med. univ. Thomas Winder, PhD

Onkozentrum Zürich
Seestrasse 259
8038 Zürich

Dr. med. Stephan Bauer

Zentrum für Urologie Zürich, Klinik Hirslanden
Witellikerstrasse 40
8032 Zürich

stephan.bauer@hirslanden.ch

Die Autoren haben keinen Interessenskonflikt in
Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Beim lokalisierten Prostatakarzinom, in der postoperativen Situation und im biochemischen Rezidiv, stehen verschiedene Therapie-Optionen zu Verfügung.
◆ Die verfügbaren klinischen Faktoren sind oft unbefriedigend für die Risiko­einschätzung und Entscheidungsfindung in der individuellen Patienten-Situation.
◆ Tumorgewebe-basierte Genexpressionstests, welche die mRNA-Expression von 17-31 Genen untersuchen (Decipher®, Prolaris®, Oncotype Dx Prostate®)
sind entwickelt worden und werden zunehmend Einzug halten in die
klinische Praxis.
◆ Die Guidelines empfehlen zurzeit noch keinen routinemässigen Einsatz
dieser Tests, aber im Einzelfall kann die genetische Information einen Zusatznutzen erbringen im Sinne einer besseren Risiko­einschätzung und personalisierten Therapieempfehlung, insbesondere beim lokalisierten Prostatakarzinom in den Kategorien «low risk» und «intermediate risk».
◆ Die Information eines genetischen Tests ersetzt nicht die sorgfältige Beratung und Risiko-Abwägung im Rahmen eines fachärztlichen Gesprächs.

Ausgewählte Studien zu soliden Tumoren

Ergebnisse der randomisierten Phase-III-Studie EMERALD – Elacestrant (ein oraler selektiver Östrogenrezeptor-Abbauer) im Vergleich zur endokrinen Standard Therapie bei Östrogenrezeptor-positivem, HER-2-negativem fortgeschrittenem Brustkrebs

Bidard FC et al. Elacestrant (oral selective estrogen receptor degrader) Versus Standard Endocrine Therapy for Estrogen Receptor–Positive, Human Epidermal Growth Factor Receptor 2–Negative Advanced Breast Cancer: Results From the Randomized Phase III EMERALD Trial. J Clin Oncol 2022; in press. DOI https://doi.org/10. 1200/JCO.22.00338

Die endokrine Therapie, entweder mit Aromatasehemmern (AI) oder Fulvestrant, plus einem Cyclin-abhängigen Kinase 4/6 (CDK4/6)-Inhibitor ist die empfohlene Erstlinienbehandlung Standardtherapie (SOC) für lokal fortgeschrittenen oder metastasierten Östrogenrezeptor (ER)-positiven/humanen epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor 2 (HER2)-negativen (1-3). Ein späteres Fortschreiten der Erkrankung ist mit einer endokrinen Resistenz verbunden, die die Entwicklung von erworbenen Mutationen in einer Vielzahl von Genen wie der erb-b2-Rezeptor-Tyrosinkinase 2 (ERBB2), Neurofibromin 1 (NF1) und Östrogenrezeptor 1 (ESR1).4-6 Mutationen in ESR1 führen zu Östrogen-unabhängigen ER-Aktivierung und folglich zu einer Resistenz gegen AIs, aber nicht gegen ER-Inhibitoren (z.B. selektiven ER-Degradierer [SERDs] und selektiven ER Modulatoren) (4,7). Aktuelle Behandlungsrichtlinien empfehlen eine sequentielle endokrine Therapie, wenn keine viszerale Krise vorliegt oder bis alle endokrinen Therapieoptionen ausgeschöpft sind. Tamoxifen mit oder ohne Everolimus ist eine weitere Option für eine spätere Therapie (1-3,8). Bei Patientinnen, die zuvor eine CDK4/6- oder eine mTOR-Hemmung erhalten haben, ist die klinische Wirksamkeit der endokrinen Monotherapie jedoch begrenzt, mit einem medianen progressionsfreien Überleben (PFS) von etwa 2 Monaten. einen grossen ungedeckten klinischen Bedarf in diesem Bereich (9-12).

Patientinnen mit vorbehandeltem Östrogenrezeptor (ER)-positivem/humanem epidermalem Wachstumsfaktor-Rezeptor 2 (HER2) – negativem fortgeschrittenem Brustkrebs haben also eine schlechte Prognose. Elacestrant ist ein neuartiger, oraler selektiver ER-Degradierer, der sich in frühen Studien als wirksam erwiesen hat.

In der vorliegenden randomisierten, offenen Phase-III-Studie (13), nahmen Patientinnen mit ER-positivem/HER2-negativem fortgeschrittenem Brustkrebs teil, die eine Ein- oder Zweilinien endokrine Therapie erhalten hatten, eine Vorbehandlung mit einem zyklusunabhängigen Kinase-4/6-Inhibitor benötigten und eine Chemotherapie der Stufe 1 erhielten. Die Patientinnen wurden nach dem Zufallsprinzip auf Elacestrant 400 mg oral einmal täglich oder einer endokrinen Standard-Monotherapie (SOC) zugeteilt. Primäre Endpunkte waren das progressionsfreie Überleben (PFS) durch verblindete unabhängige zentrale Überprüfung bei allen Patienten und Patienten mit nachweisbaren ESR1 Mutationen.

Ergebnisse

Die Patientinnen wurden nach dem Zufallsprinzip Elacestrant (n 5 239) oder Standard Of Care SOC (n 5 238) zugewiesen. Bei 47,8 % der Patienten wurde eine ESR1-Mutation festgestellt, und 43,4 % hatten bereits zwei endokrine Therapien erhalten. Das PFS verlängerte sich bei allen Patienten (Hazard Ratio HR= 0.70; 95% CI, 0.55 to 0.88; P = 002) und bei Patientinnen mit ESR1-Mutationen (HR = 0.55; 95% CI, 0.39 to 0.77; P =0.0005). Behandlungsbedingte unerwünschte Ereignisse vom Grad 3/4 wurden bei 7,2 unter Elacestrant und 3,1 % unter SOC festgestellt. Behandlungsbedingte unerwünschte Ereignisse, die zum Abbruch der Behandlung führten, traten in der Elacestrant-Gruppe bei 3,4 % und in der SOC-Gruppe bei 0,9 % auf. Übelkeit jeglichen Grades trat bei 35,0 % unter Elacestrant und 18,8 % unter SOC auf (Grad 3/4, 2,5 % bzw. 0,9 %).

Schlussfolgerungen

Elacestrant ist der erste orale selektive ER-Degradierer, der eine signifikante Verbesserung des PFS gegenüber SOC sowohl in der Gesamtpopulation als auch bei Patientinnen mit ESR1-Mutationen, bei überschaubarer Sicherheit in einer Phase-III-Studie für Patientinnen mit ER-positivem/HER2-negativem fortgeschrittenem Brustkrebs ergab.

Überleben mit Cemiplimab bei rezidivierendem Gebärmutterhalskrebs

Quelle : Tewari KS et al Survival with cemiplimab in recurrent cervical cancer. Ne Engl J Med 2022;186:544-555

Patientinnen mit rezidivierendem Gebärmutterhalskrebs haben eine schlechte Prognose. Cemiplimab, der vollständig humane, den programmierten Zelltod 1 (PD-1) blockierende Antikörper, der zur Behandlung von Lungen- und Hautkrebs zugelassen ist, hat bei dieser Patientengruppe eine vorläufige klinische Wirksamkeit gezeigt.

Methoden

In diese Phase-3-Studie wurden Patienten aufgenommen, deren Erkrankung nach einer platinhaltigen Chemotherapie in der Erstlinie fortgeschritten war, unabhängig von ihrem PD-L1-Status (Programmed Cell Death Ligand 1). Die Frauen wurden nach dem Zufallsprinzip (1:1) entweder mit Cemiplimab (350 mg alle 3 Wochen) oder mit einer Chemotherapie nach Wahl des Prüfarztes als Monotherapie behandelt. Der primäre Endpunkt war das Gesamtüberleben. Auch das progressionsfreie Überleben und die Sicherheit wurden untersucht.

Ergebnisse

Insgesamt wurden 608 Frauen in die Studie aufgenommen (304 in jeder Gruppe). In der gesamten Studienpopulation war das mediane Gesamtüberleben in der Cemiplimab-Gruppe länger als in der Chemotherapie-Gruppe (12,0 Monate gegenüber 8,5 Monaten; Hazard Ratio für Tod 0,69; 95 % Konfidenzintervall [KI], 0,56 bis 0,84; zweiseitiger P<0,001). Der Gesamtüberlebensvorteil war in beiden histologischen Untergruppen (Plattenepithelkarzinom und Adenokarzinom [einschliesslich adenosquamöses Karzinom]) gleich. Auch das progressionsfreie Überleben war in der Cemiplimab-Gruppe länger als in der Chemotherapie-Gruppe in der Gesamtpopulation (Hazard Ratio für Krankheitsprogression oder Tod, 0,75; 95% CI, 0,63 bis 0,89; zweiseitiger P<0,001). In der Gesamtpopulation kam es bei 16,4 % (95 % CI, 12,5 bis 21,1) der Patienten in der Cemiplimab-Gruppe zu einem objektiven Ansprechen, verglichen mit 6,3 % (95 % CI, 3,8 bis 9,6) in der Chemotherapie-Gruppe. Ein objektives Ansprechen trat bei 18% (95% CI, 11 bis 28) der mit Cemiplimab behandelten Patienten mit einer PD-L1-Expression von mehr als oder gleich 1% und bei 11% (95% CI, 4 bis 25) der Patienten mit einer PD-L1-Expression von weniger als 1% auf. Insgesamt traten bei 45,0 % der Patienten, die Cemiplimab erhielten, und bei 53,4 % der Patienten, die eine Chemotherapie erhielten, unerwünschte Ereignisse des Grades 3 oder höher auf.

Schlussfolgerungen

Das Überleben von Patientinnen mit rezidivierendem Gebärmutterhalskrebs nach einer platinhaltigen Erstlinien-Chemotherapie war mit Cemiplimab signifikant länger als mit einer Monotherapie. (Finanziert von Regeneron Pharmaceuticals und Sanofi; EMPOWER-Cervical 1/GOG-3016/ENGOT-cx9 ClinicalTrials.gov-Nummer, NCT03257267. öffnet in neuem Tab.)

Prof. Dr. med. Beat Thürlimann

Brustzentrum, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St.Gallen

Literatur:
1. National Comprehensive Cancer Network: NCCN Clinical Practice Guidelines in Oncology: Breast Cancer. Version 8.2021. https://www.nccn.org/professionals/physician_gls/pdf/breast.pdf
2. Gennari A et al: ESMO Clinical Practice Guideline for the diagnosis, staging and treatment of patients with metastatic breast cancer. Ann ´Oncol 32:1475-1495, 2021
3. Burstein HJ et al: Endocrine treatment and targeted therapy for hormone receptor-positive, human epidermal growth factor receptor 2-negative metastatic breast cancer: ASCO guideline update. J Clin Oncol 39:3959-3977, 2021
4. Jeselsohn R et al: Emergence of constitutively active estrogen receptor-a mutations in pretreated advanced estrogen receptorpositive breast cancer. Clin Cancer Res 20:1757-1767, 201
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