Pflege braucht Zeit

Gute Pflege braucht Zeit – da sind sich alle einig. Doch viele Pflegende klagen über Zeitmangel und Zeitdruck, auch in der Onkologiepflege. Am diesjährigen Onkologiepflege-Kongress ging es in den meisten Referaten um den Aspekt der Zeit: Wie können sich Onkologiepflegende genügend Zeit nehmen, um den Patientinnen und Patienten die bestmögliche Pflege zu bieten?

«Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
Wir ziehen durch sie hin;
Sie ist eine Karawanserei,
Wir sind die Pilger drin.» (Gottfried Keller)

Mit diesem Zitat startete Dr. Marianne Rabe, freiberufliche Dozentin und Trainerin für Ethikberatung, Berlin (D), ihr Referat: «Es zeigt uns mit ganz einfachen Worten auf, dass nicht die Zeit rennt, sondern wir in der Zeit.» Der Ablauf der Zeit und die Zeitempfindung gehören zum Menschsein. Dabei gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen der Zeit, zum Beispiel das zyklische Zeitbewusstsein, das den Abläufen in der Natur entspricht (Jahreszeiten, Tag und Nacht etc.), das lineare Zeitbewusstsein, bei dem jedes Ereignis einmalig ist und Ereignisse sich aneinanderreihen, oder das Zeitbewusstsein der Beschleunigung: Obwohl man Zeit «spart», empfindet man immer mehr Zeitnot. Heutzutage wird die Zeit immer mehr «bewirtschaftet». Sie wird verdinglicht, zu einer Ware, ganz gemäss dem Motto «Zeit ist Geld». Dementsprechend ist Langeweile, das sinnlose Verstreichen von Zeit, negativ bewertet. Wichtige Menschen haben keine Zeit, und Zeitvergeudung ist eine Sünde. Das «Zeitmanagement» wird auch im persönlichen Bereich und in der Freizeit immer wichtiger.

Zeichen der Zeit in der Pflege

Pflegende müssen im Alltag verschiedene Zeitverständnisse synchronisieren: das ereignis- und gegenwartsbezogene Zeitbewusstsein der Patientinnen und Patienten und das lineare und beschleunigte Zeitbewusstsein der Institution. «Das ist oft nicht einfach», betonte Dr. Rabe. «Keine Zeit zu haben für die Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, kann bei den Pflegenden Scham- und Schuldgefühle auslösen.» Umgekehrt schämen sich manche Patientinnen und Patienten dafür, dass sie so langsam sind und so viel Zeit der Pflegenden beanspruchen. Zeitdruck in der Pflege hat oft mit mangelnder Organisation zu tun, beispielsweise unklaren Aufgabengebieten und Arbeitsanweisungen, schlecht koordinierten Abläufen, ineffizienten Teambesprechungen oder schlecht geführten Patientendokumentationen. Ein anderer Aspekt des «Zeitmanagements» in der Pflege sind Standardisierung und die Aufteilung der Pflegetätigkeit in Einzelschritte. «Doch das ist es nicht, was eine gute Pflege ausmacht», meinte die Referentin. «Das Begleiten, Ermutigen, Trösten und Motivieren lassen sich nicht erfassen und sind eigentlich zeitlos.» Pflegende in der Onkologiepflege sind zudem in besonderem Mass mit der Endlichkeit konfrontiert. Dr. Rabe plädierte für mehr Gelassenheit, die seit der Antike eine moralische Qualität ist. Heutzutage spreche kaum jemand von der Wichtigkeit der Gelassenheit, da in der modernen Welt Handeln, Entscheiden und rasche Problemlösung viel stärker im Fokus stünden.

Zeit für die Familienangehörigen

Prof. Anne-Sylvie Ramelet, Institut für Pflegewissenschaften, Universität Lausanne, stellte das Pflegekonzept der patient- and family-centered care (PFCC) vor (www.ipfcc.org). Darunter versteht man einen Ansatz, bei dem die Gesundheitsversorgung auf Partnerschaften zwischen Gesundheitsdienstleistern, Patientinnen und Patienten sowie Familien beruht. Der Schwerpunkt liegt auf der Zusammenarbeit von Menschen aller Altersgruppen, aller Versorgungsebenen und in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung. Fachpersonen arbeiten nicht für oder an Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen, sondern mit ihnen.

Im Zentrum der PFCC stehen die Familien. «Darunter versteht man nicht nur Eltern mit ihren Kindern, sondern auch weitere Angehörige und Personen, die für die Familie wichtig sind», sagte Prof. Ramelet. In der Schweiz leben mehr als 75% aller Kinder mit beiden Elternteilen zusammen, 13% der Kinder mit einem Elternteil, meistens mit der Mutter. Die Diversität von Familien hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen: Es gibt immer mehr Einelternfamilien, Patchworkfamilien, Familien mit gleichgeschlechtlichen Partnern resp. Partnerinnen, unverheiratete Eltern etc. Diese Diversität hat auch Auswirkungen auf das Gesundheitspersonal.

Im Bereich der Onkologie stehen Familien vor allem dann im Mittelpunkt, wenn ein Kind an Krebs erkrankt oder wenn ein Elternteil mit minderjährigen Kindern Krebs hat. Die Krebserkrankung eines Kindes ist nicht nur emotional belastend, sondern hat auch enorme Auswirkungen auf die Aufgaben, die von Familienmitgliedern übernommen werden (Arztbesuche, Begleitung im Spital, Recherchen etc.), die Paarbeziehung und auf die sozioökonomischen Umstände. Dadurch steigt auch die Belastung des betroffenen Kindes und der Geschwister. Für die Unterstützung von Geschwisterkindern gibt es am Universitätsspital Lausanne (CHUV) eine Betreuungsstruktur für Brüder und Schwestern von krebskranken Kindern.

Kinder und Jugendliche, deren Mutter oder Vater an Krebs erkrankt ist, sind mit emotionalen Problemen sowie dem Verlust der normalen Tagesstruktur und des normalen Familienlebens konfrontiert. Oft ändert sich auch die Rolle der Kinder innerhalb der Familie: Sie werden zu Pflegenden und müssen mehr Verantwortung tragen. «Hier ist es wichtig, den Eltern zu erklären, wie sie mit ihren Kindern transparent kommunizieren können», meinte die Referentin. «Für Jugendliche hat oft ein Peer-Support-Netzwerk grosse Bedeutung.»
Für die Unterstützung von betroffenen Familien wurden verschiedene Massnahmen entwickelt, zum Beispiel eine eintägige kognitiv-verhaltenstherapeutische Familientherapie (Surviving Cancer Completely Intervention Program, SCCIP) oder das FAMOS (Family-Oriented Support), eine familiensystemische und kognitiv-verhaltenstherapeutische Theorie.

Zeit für Qualität und Sicherheit

«Pflegende brauchen nicht nur Zeit, um ihre Arbeit sicher und in guter Qualität zu tun», erklärte Prof. Dr. David Schwappach, Direktor Stiftung für Patientensicherheit, Zürich. «Sie brauchen auch Zeit, um Qualitäts- und Sicherheitsdefizite oder deren Folgen abzufangen – und um sich mit Qualitäts- und Sicherheitsaspekten zu beschäftigen.» Zu den Sicherheitsaspekten der Arbeit gehören unter anderem die Information und Edukation der Patientinnen und Patienten, die Verlaufsdokumentation, mehrfache Identitätskontrollen etc. Damit hier eine hohe Qualität gewährleistet werden kann, ist es wichtig, dass die Pflegenden über «gute» Zeit verfügen, bei der alle drei Dimensionen der Zeit stimmen:

  • Zeit-Quantität: «Ich brauchte 3,45 Minuten, um Aufgabe XY zu erledigen.»
  • Zeit-Qualität: «Ich konnte 2 Minuten konzentriert arbeiten, dann wurde ich durch die Frage einer Kollegin unterbrochen.»
  • Zeit-Geschwindigkeit resp. Pace: «Ich musste die Aufgabe schnell und unter Zeitdruck erledigen.»

Prof. Schwappach betonte, dass besonders Unterbrechungen für Sicherheit und Qualität fatal seien. Mehr als die Hälfte aller Medikamenten-Verabreichungen wird unterbrochen, was zu einem Anstieg der prozeduralen und klinischen Fehler führt (ohne Unterbrechung: 25% klinische Fehler; mit Unterbrechung: 39% klinische Fehler) (1). Eine Studie bei Onkologinnen und Onkologen zeigte, dass sie bei sicherheitsrelevanten Aufgaben rund 19% der Zeit für Unterbrechungen aufwenden (2). Von 100 sicherheitsrelevanten Dokumentationstätigkeiten werden 18 unterbrochen. Die Unterbrechungen werden nur selten abgewehrt, sondern führen in der Regel zu Multitasking.

Auch das Abfangen oder Korrigieren von Sicherheits- oder Qualitätsdefiziten braucht enorm viel Zeit. So werden beispielsweise ärztliche Verordnungsfehler häufig durch Pflegende abgefangen, die für das Nachfragen viel Zeit aufwenden (3). Bei der Doppelkontrolle von Chemotherapien werden ebenfalls häufig Inkonsistenzen gefunden, was Tätigkeiten wie Nachfragen, Nachschauen, Korrigieren oder Ersetzen notwendig macht (4). «Eigentlich sollte man für die Verabreichung von Chemotherapien Checklisten einführen, so wie das in der Chirurgie schon Standard ist», sagte der Referent. Für ihn ist wichtig, dass Pflegende im Arbeitsalltag genügend Zeit haben, um sich mit Qualitäts- und Sicherheitsfragen zu beschäftigen (z.B. CIRS-Meldungen machen, Massnahmen ableiten, Teamsitzungen, Q-Projekte). Auch in den Institutionen und Abteilungen solle man sich systematisch mit diesen Fragen auseinandersetzen. Beispiele für solche Meta-Skills sind:

  • Aufbau spezifischer Expertise bezüglich Patientensicherheit,
  • Systemische Veränderung der Arbeitsorganisation und «Zeitkultur»,
  • Kritische Reflexion über eigene Praktiken, z.B. Unterbrechungen oder Dokumentation.

Zeit für Zusammenarbeit

Dr. Sylvie Rochat, Patientin aus Neuchâtel, plädierte für eine verbesserte Zusammenarbeit von Patientinnen, Patienten und Fachpersonal. Das Ziel dabei ist, dass Patientinnen und Patienten freie und informierte Entscheidungen treffen können, dass sie Mitglied des Pflegeteams sind und dass ihr Erfahrungswissen anerkannt und mobilisiert wird. Allerdings bestehen auf Seiten des Gesundheitspersonals oft viele Widerstände gegen den partnerschaftlichen Ansatz. «Für wenig gebildete Patienten ist das nicht geeignet», «Dafür haben wir keine Zeit», «Das ist nicht effizient» oder «Das wird dazu führen, dass die Patienten ungeeignete Behandlungen fordern» sind nur einige der Gegenargumente. Eine partnerschaftliche Pflege hat aber viele positive Auswirkungen auf die Patientinnen und Patienten (Tab. 1). Informierte Patienten verfügen ausserdem über Ressourcen, die auch für die Verbesserung des Gesundheitssystems genutzt werden können – zum Beispiel, wenn Betroffene ihr Wissen und ihre Erfahrungen an andere Betroffene weitergeben und ihnen damit eine höhere Lebensqualität ermöglichen. Weiterhin können sich Patientinnen und Patienten an der Ausbildung von Studierenden der Gesundheitsberufe beteiligen oder als Co-Forschende das Wissen im Bereich Gesundheit vergrössern.

Zeit für Symptommanagement

Das Symptommanagement beruht auf vier Säulen: Prävention, Assessment, Behandlung und Evaluation. Es lohnt sich, in jeden dieser Schritte genügend Zeit zu investieren, denn Symptome sind bei Krebsbetroffenen sehr häufig. Im Durchschnitt bestehen unter Therapie 14 unterschiedliche Symptome, betonte Dr. Lynn Leppla, Institut für Pflegewissenschaft, Universität Basel und Universitätsklinikum Freiburg (D). «Allerdings ist die Belastung durch die Symptome sehr unterschiedlich», sagte sie. «Zu den belastendsten Symptomen gehören Schmerzen, Verstopfung, Schluckbeschwerden und Schlafstörungen.»

Präventive Massnahmen können die Stärke von Symptomen reduzieren. Zu den typischen Beispielen gehören orale Kryotherapie zur Vorbeugung von oraler Mukositis, körperliche Bewegung zur Reduktion von Fatigue und Antiemese, um Übelkeit und Erbrechen zu verhindern.

Das Assessment von Symptomen ist deshalb so entscheidend, weil sich nur wenige Symptome objektiv messen lassen (z.B. Erbrechen oder Diarrhö). Dies führt dazu, dass 50-80% der Symptome von den Gesundheitsfachpersonen nicht erkannt oder als zu gering eingeschätzt werden. Ein gutes Instrument für das Assessment sind patient reported outcomes (PRO), also Berichte von den Patientinnen und Patienten selbst über ihren Gesundheitszustand. Der Einsatz von PRO verbessert Symptomkontrolle, Lebensqualität und Patientenzufriedenheit, erhöht die Überlebensraten und senkt beispielweise die Rate an notfallmässigen Hospitalisationen oder den Verbrauch von Antidepressiva.
Die Behandlung und Evaluation von Symptomen verbessert nicht nur die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten. «Symptome führen auch zu einer erhöhten Mortalität, Therapieverzögerungen und gehäuften Rehospitalisierungen und damit auch zu höheren Kosten», erklärte die Referentin.

In der klinischen Praxis wird das Symptommanagement aus zeitlichen Gründen oft reduziert. Bei einer Umfrage bei Onkologiepflegenden in Deutschland zeigte sich, dass die Befragten bei Zeitdruck vor allem auf die zeitgerechte Verabreichung von Medikamenten und die Überwachung von Vitalparametern fokussieren (5). 25-33% sparen Zeit ein, indem sie die Mund- und Hautpflege nicht ausführen, rund 50% verzichten auf die Beratung oder Anleitung von Patientinnen und Patienten, und am häufigsten (54-68%) wird an Zuwendung und Patientengesprächen «gespart». Eine Möglichkeit, das Symptommanagement zu unterstützen, besteht in E-Health.

E-Health-gestütztes Symptommanagement

Die Chancen und Grenzen des Symptommanagements mit Hilfe von E-Health stellten Dr. Lynn Leppla und Dr. Sabine Valenta, Institut für Pflegewissenschaft, Universität Basel, und Klinik für Hämatologie, Universitätsspital Basel, im Rahmen eines Seminars vor. Momentan sind mehr als 100 Apps und andere Technologien für Krebsbetroffene auf dem Markt. Bei der Erfassung von Symptomen und anderen Parametern (z.B. Aktivität, Medikamenteneinnahme, Vitalparametern, Lebensqualität) über eine App gelangen die Daten auf einen zentralen Server und von da zu einer medizinischen Fachperson. Hier besteht die Möglichkeit, die Daten zu interpretieren und dem Patienten – je nach Situation – Empfehlungen, Verordnungen, Termine etc. zu vermitteln. Dieses Feedback einer Fachperson wird im europäischen Raum allerdings nicht gemacht, da die App dann von Gesetzes wegen als Medizinprodukt gelten würde.

Weitere Möglichkeiten der E-Health sind Telemedizin, also eine Konsultation per Videokonferenz, automatisierte Entscheidungsunterstützung durch Apps oder auch Peer Support, z.B. «Zauberbaum» für Kinder mit krebskranken Eltern oder «Mutperlen» für krebskranke Kinder und Jugendliche. Eine weit fortgeschrittene App aus Deutschland ist «Mika» (www.mitmika.de), die als erste solche App als Medizinprodukt verordnet werden kann. Mika wird für die digitale Therapiebegleitung für Patientinnen und Patienten mit Krebs eingesetzt. «E-Health bietet viele Möglichkeiten, es gibt aber auch eine Kehrseite der Medaille», gab Dr. Valenta zu bedenken (Tab. 2). Problematisch ist vor allem, dass die wenigsten Produkte evidenzbasiert sind.

Das SMILe-Projekt

An der Universität Basel wurde in Zusammenarbeit mit anderen Universitätsspitälern im In- und Ausland das «Integrierte Versorgungsmodell für Patienten mit allogener Stammzelltransplantation begleitet durch eHealth-Technologie» (SMILe) entwickelt (https://smile.nursing.unibas.ch) (6). SMILe besteht aus den Komponenten SMILeApp, die vom Patienten bedient wird, und aus SMILeCare, einem Dashboard, das einer Fachperson im Transplantationszentrum die Patientendaten aufzeigt. Die Patienten erfassen mit der App Vitalzeichen, Symptome (und deren Stärke) und Parameter des Gesundheitsverhaltens. Im Transplantationszentrum kontrolliert eine APN täglich die eingehenden Daten. Ist sichtbar, dass sich der Gesundheitszustand eines Patienten verschlechtert, wird er kontaktiert. Die APN kann dann Hilfestellung beim Selbstmanagement geben oder den Patienten zu einer Pflegevisite einladen. Die SMILe-Daten sind auch wichtige Informationen für die regulären Pflegevisiten, die im ersten halben Jahr nach der Transplantation jeden Monat und im nächsten halben Jahr zweimonatlich stattfinden.

SMILe wird momentan evaluiert. «Die App ist eine Art Nabelschnur zu den Patienten», sagte Dr. Leppla. «Sie nutzen die App regelmässig, vor allem in der ersten Zeit nach der Transplantation. Viele sagen, sie fühlen sich mit der App sicherer.» Ziele der App sind unter anderem, vermeidbare Rehospitalisierungen zu verhindern, das Symptommanagement zu verbessern und passgenaue Interventionen zu ermöglichen. Die Entwicklung und Bedienung der App ist allerdings zeitaufwändig und benötigt zusätzliche Ressourcen und Fachwissen. Dafür wurde im Universitätsspital Basel eine neue Stelle für eine APN geschaffen, die auch nach Studienabschluss bleibt.

Dr. med. Eva Ebnöther, Medical Writing

Quelle: 24. Schweizer Onkologiepflege-Kongress, 31. März 2022, Bern

Erstveröffentlichung des Artikels in der Zeitschrift Onkologiepflege 2/22

Westbrook JI, et al.: Association of Interruptions With an Increased Risk and Severity of Medication Administration Errors. Arch Intern Med 2010; 170(8): 683-690.
Trbovich PL, et al.: The Effects of Interruptions on Oncologists’ Patient Assessment and Medication Ordering Practices. J Healthc Eng 2013; 4(1): 127-144.
Fischer S, Schwappach D, et al.: Effizienz und Patientensicherheit von Klinikinformationssystemen. SAEZ 2021; 102(46): 1516–1520.
Pfeiffer Y, Schwappach D: What do double-check routines actually detect? BMJ Open 2020; 10:e039291.
Personalsituation Pflege – Auswertung der Umfrage zur Pflegepersonalausstattung in hämatologischen und onkologischen Krankenhausbereichen (Band 18), DGHO 2021; www.dgho.de/publikationen/schriftenreihen/pflege/dgho_gpsr_b18_pflege_web.pdf.
Leppla L, et al.: Development of an integrated model of care for allogeneic stem cell transplantation facilitated by eHealth-the SMILe study. Support Care Cancer 2021; 29(12): 8045-8057.

Wissenschaft und Verantwortung

In seiner ausführlichen Darstellung der Schäden, welche die Wissenschaft, respektive deren Glaubwürdigkeit, während der COVID-19 Krise durch schnell produzierte und bezüglich Integrität fragliche Publikationen zugefügt wurden, legt Franz Eberli den Finger auf die zentrale Frage der Verantwortung der Wissensproduzierenden in einer Krise. Anhand einiger beindruckenden Beispiele zeigt er schonungslos, wie einige Vertreter der akademischen Welt, wahrscheinlich sowohl unter gesellschaftlichem und politischen Druck, aber eben auch in der egozentrischen Hoffnung, sich damit einen raschen Vorteil zu holen, grundlegende Regeln der wissenschaftlichen Arbeit verletzt haben
und damit zweifellos zu Falschinformation und einem diffusen Misstrauen gegenüber der Wissenschaft beigetragen haben. Dieser Image-Schaden ist um so frustrierender, als dass dank dieser Wissenschaft in sehr kurzer Zeit hervorragende Vakzine hervorgebracht werden konnten und viele Wissenschaftler somit eine zentrale Rolle in Bekämpfung dieser Pandemie eingenommen haben.

Angesichts der Bedrohung durch das Unbegreifliche haben sich die Menschen schon immer Lieferanten von einfachen und falschen Erklärungen zugewandt. So haben im 14. Jahrhundert Bürger von einigen angesehenen Städten in der Schweiz angesichts des Schreckens der schwarzen Pest den Verdacht, dass die Juden die Brunnen vergifteten, anstandslos aufgenommen und somit zugelassen, dass ganze Judengemeinden auf brutale Weise ausgelöscht wurden. Heute ist das immer noch so, neu ist die Gewalt der verschiedenen Medien und die fehlende Kontrolle der über Social Media verbreiteten Falschnachrichten. In einer Krise wie der Covid-Pandemie sind deshalb die Zuverlässigkeit der zur Verfügung stehenden Informationen und das Vertrauen in die zuständigen Behörden und deren Experten zentrale Pfeiler der kollektiven Krisen-Resilienz.

Selbstverständlich gibt es in der Schweiz und in der Welt viele kompetente und ehrliche Wissenschaftler, aber gerade weil Wissen sich rollend entwickelt und weil trotz Fortschritten unvermeidlich Lücken in diesem Wissen bestehen, müssen Wissenschaftler und Experten ihre gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und mit Informationen sorgfältig(er) umgehen. Zuviele haben sich plötzlich als Epidemiologen und Virologen geoutet und sich selbstgefällig ihren kleinen Telerealitätsmoment geholt, damit aber auch Ungereimtheiten oder nur marginal glaubwürdige Informationen verteilt. Es wurden nicht nur mangelhaft kontrollierte Daten publiziert, fast täglich wurden auch zum Teil düstere Modellierungen und Katastrophenszenarien als zuverlässig dargestellt, obwohl auch ein gutes Computerprogramm nur so gut ist wie die eingespiesenen Daten (rubbish in, rubbish out). Experten sind nicht diejenigen, die vieles oder alles wissen, sondern diejenigen, die die Grenzen ihres Wissens kennen und zeigen. Experten sollten erst sprechen – und noch viel mehr – erst an die Öffentlichkeit gelangen, wenn sie sicher sind, dass sie etwas Relevantes und Handfestes zu kommunizieren haben. Die Publikation von unsauber kontrollierten Daten oder von pseudowissenschaftlichen Modellprognosen schadet der Glaubwürdigkeit der wissenschaftlichen Gemeinschaft und gibt den Verschwörungstheoretiker und Verbreiter von falschen Nachrichten Aufwind.

Unwissen ist hart, aber falsches Wissen ist verheerend!

Dr. med. Urs Kaufmann
urs.kaufmann@hin.ch

Dr. med.Urs Kaufmann

Bolligen

urs.kaufmann@hin.ch

Der Schaden von COVID-19 an der Wissenschaft

Unerwartet hat die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus im März 2020 zu einer weltweiten Gesundheitskrise geführt. Um die Ausbreitung der Pandemie zu bremsen, wurden drastische gesellschaftliche Massnahmen ergriffen. Die Coronakrise hat auch zu einer Flut von medizinischen Publikationen geführt, welche zum Teil auf neuen und unerprobten Plattformen publiziert wurden. Die wissenschaftliche Qualität mancher Publikation war besorgniserregend schlecht. Gleichzeitig hat die Laienpresse scheinbar wichtige Nachrichten auch aus fragwürdigen Publikationen schnell verbreitet und die Social Media beluden sie mit Emotionen. Die Probe im Spannungsfeld vom Wunsch nach schnellen gültigen medizinischen Antworten auf die COVID-Krankheit und langsamer sorgfältiger wissenschaftlicher Arbeit hat die Wissenschaft nur zum Teil bestanden. Der angerichtete Schaden ist vor allem ein Verlust an Glaubwürdigkeit.

Unexpectedly, the spread of the SARS-CoV-2 virus in March 2020 has led to a global health crisis. Drastic societal measures were taken to slow the spread of the pandemic. The corona crisis also led to a flood of medical publications, some of which were published on new and unproven platforms. The scientific quality of some publications was worryingly poor. At the same time, the lay press quickly disseminated seemingly important news, even from questionable publications, and social media loaded them with emotion. The test in the tension between the desire for quick valid medical answers to COVID disease and slow careful scientific work was only partially passed by science. The damage done is above all a loss of credibility.
Key Words: SARS-CoV-2, ARDS, myocarditis, mRNA vaccination, endothelitis

Am 1. Dezember 2019 ist der erste Patient an einer neuen Form ei­ner viralen Pneumonie erkrankt. Am 15. Februar hat die WHO den Erreger als SARS-CoV-2 bezeichnet und der Krankheit den Namen COVID-19 gegeben. Am 22. Februar 2020 starben in Italien die ersten zwei europäischen Patienten. Am 11. März 2020 erklärte die WHO die COVID-19-Krankheit zur weltweiten Pandemie. Das schwere ARDS, das durch SARS-CoV-2 ausgelöst wird mit den anfänglich hohen Todesraten, wie wir sie im Falle von Italien und zum Teil dem Tessin hautnah miterlebt haben, veranschaulichte die Ernsthaftigkeit der Krankheit, machte Angst und resultierte in weitgehenden gesellschaftlichen Massnahmen, um die Ausbreitung der Pandemie zu bremsen. Die unerwartete Krise der Weltgesundheit hatte eine Flut von medizinischen Fachpublikationen in kurzer Zeit ausgelöst. So hat in den ersten sechs Monaten von 2020 die Zeitspanne vom Einreichen bis zur Publikation eines Artikels zur COVID-Krankheit in 16 renommierten Zeitschriften inklusive Nature oder Nature Medicine von 119 auf 20 Tage abgenommen (1). Zusätzlich sind Plattformen, welche eine Pre-Publication ohne Peer-review-Prozess erlaubten, z.B. MedRxiv oder researchsquare, rege genutzt worden. Selbstredend litt darunter die wissenschaftliche Qualität. So wurden viele Fallstudien und monozentrische retrospektive Kohortenstudien mit kleinen Patientenzahlen publiziert. Eine statistische Analyse der Daten wurde manchmal nur rudimentär durchgeführt und unvollständige Daten wurden zur Formulierung von neuen Hypothesen gebraucht. Verständlicherweise hatte die Bevölkerung ebenfalls das Bedürfnis, möglichst schnell, möglichst viel über COVID-19 zu erfahren. Die Laienpresse nahm deshalb jede scheinbar wichtige Nachricht auf, verbreitete sie global und machte eine Sensation daraus. Die Social Media haben das ihre dazu beigetragen, diese Nachrichten mit Emotionen zu beladen.

Einfache Antworten versus wissenschaftliche Sorgfalt

Es stellt sich die Frage, ob diese Kombination aus nachlässiger Wissenschaft und Hunger nach Informationen die Bewältigung der COVID-Krise erschwert und das Vertrauen der Bevölkerung in die medizinische Forschung und die Medizin reduziert hat. Denn betroffen war in der einen oder anderen Weise jeder von uns. Zum Beispiel hat das BAG auf Empfehlung der Fachgesellschaften PatientInnen mit Diabetes und Hypertonie oder mit kardiovaskulären Vorerkrankungen als HochrisikopatientInnen eingestuft und schon früh zu Home Office verpflichtet. Auf welcher Evidenz beruhte diese Empfehlung im März 2020?

Die ersten Kohortenstudien aus China im Frühjahr 2020 berichteten, dass vermehrt PatientInnen in hohem Alter an COVID-19 erkrankt oder gestorben seien. Diese PatientInnen litten auch vermehrt an Hypertonie, Diabetes und kardiovaskulären Vorerkrankungen. Die Schlussfolgerungen waren, dass Hypertonie, Diabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen die Anfälligkeit für COVID-19 erhöhten und für schwere Verläufe der Krankheit zuständig seien. Viele Nachfolgestudien haben diese Assoziation weitergetragen, ohne dass eine Gewichtung der Risikofaktoren mittels einer multivariaten Analyse vorgenommen wurde, wie es sonst der Standard bei Beobachtungsstudien ist. Dabei hatte bereits die erste Metaanalyse aus China keine erhöhte Prävalenz dieser Vorerkrankungen in COVID-19-Patient­Innen im Vergleich zur Prävalenz in der nicht erkrankten Population gefunden (2). In einer der seltenen multivariaten Analysen blieb denn auch nur das Alter als prädisponierender Faktor übrig (3). Von der unglaublichen Anzahl an Publikationen zu diesem Thema und deren fragwürdiger Qualität zeugt eine Übersichtsanalyse (Umbrella Review) von 84 Metaanalysen (4). Nur eine dieser 84 Metaanalysen war von guter Qualität, während zwei Drittel qualitativ schlecht bis äusserst schlecht waren. Diese schlechten Daten scheinen zu belegen, dass Hypertonie, Diabetes und kardiovaskuläre Vorerkrankungen die Mortalität bei einer COVID-19-Erkrankung erhöhen (4). Die Autoren der Übersichtsanalyse warnen vor dieser Schlussfolgerung. Die nötigen multivariaten Analysen mit den adäquaten Variablen wie Alter, Ethnizität etc. waren nicht gemacht worden. Im Übrigen erinnern sie daran, dass «Beobachtungsstudien immer Evidenz mit wenig Gewicht liefern und niemals eine Kausalität beweisen können». Inzwischen ist bekannt, dass die immunologische Antwort und damit der Schweregrad der Covid-19-Erkrankung nicht nur durch das Alter (immunologische Seneszenz!), sondern auch durch mehrere genetische Faktoren bestimmt wird (5, 6, 7). Diese Faktoren sind der wahrscheinlichere Schlüssel zur Frage, warum die einen PatientInnen an COVID-19 sterben und die anderen mit den gleichen Risikofaktoren einen milden Verlauf erleben.

Hypothesen auf der Basis unvollständiger Daten

Zu Beginn der Pandemie wurden aufgrund von unvollständigen Daten Hypothesen bezüglich des Gefässbefalls und des myokardialen Schadens aufgestellt. Der direkte Befall des Endothels und des Myokards durch das Coronavirus und die daraus entstehende Endothelitis und Myokarditis wurde als grosse Gefahr dargestellt (8, 9). Insbesondere die mittels kardialem MRI festgestellten myokarditisähnlichen Veränderungen haben in der Presse ein nie dagewesenes Echo ausgelöst und zu grosser Verunsicherung, zu vielen unnötigen MRI-Untersuchungen und in Amerika fast zum Erliegen des Mittelschul- und Hochschulsports geführt. Da hat es auch nicht geholfen, dass kurz nach der Publikation die MRI-Studie über die Myokarditis wissenschaftlich in Frage gestellt wurde, die Autoren schliesslich die Aussagen korrigieren mussten und nun von nur geringen myokardialen Veränderungen nach COVID-19 sprachen. Ein Vergleich mit anderen ARDS-PatientInnen zeigte in der Folge, dass der myokardiale Schaden bei schwerer COVID-19 sich nicht von dem myokardialen Schaden bei anderen Formen des ARDS unterscheidet (10). Sorgfältige pathologische Studien und MRI-Untersuchungen haben zudem gezeigt, dass eine Myokarditis durch eine Corona-infektion sehr selten ist und praktisch nie zu einem klinisch relevanten Myokardschaden führt (11, 12, 13). Zudem konnte bis jetzt nie ein Befall der Myozyten durch das Coronavirus nachgewiesen werden (14). Die seltenen virusnegativen Myokarditiden könnten, wie die Myokarditis nach der mRNA-Impfung, durch immunologische Prozesse vermittelt sein (14).

Bezüglich der Endothelitis als wichtigem pathophysiologischem Faktor ist es ebenso im Verlauf der Pandemie zu einer Relativierung gekommen. Eine Studie fand, dass das SARS-CoV-2-Virus die Endothelzellen nicht befallen kann, weil Endothelzellen keine ACE-2-Rezeptoren aufweisen (15). Die Endothelitis-Hypothese wurde nach der Untersuchung von drei (!) PatientInnen aufgestellt (8). Die Autoren mussten in einer Nachfolgestudie eingestehen, dass sich in grossen Gefässen und den Kranzarterien keine Endothelitis fand (16).

Betrügereien in den Studien zu Ivermectin und Hydroxychloroquin

Es ist nicht verwunderlich, dass der Wunsch nach schnellen Antworten und die Vernachlässigung der Peer Review zu Betrügereien geführt hat. Diese haben enormen Schaden nicht zuletzt bei Patient­Innen verursacht. Als Beispiel seien die Betrügereien in den Studien zu Ivermectin und Hydroxychloroquin aufgeführt. Alle Studien, welche einen Behandlungserfolg mit Ivermectin zeigten, sind entweder vollständig erfunden, oder die Studien sind mit extremen Fehlern behaftet und die Resultate unglaubwürdig (17). Obwohl die Evidenz für einen Nutzen von Ivermetin in keiner Weise gegeben ist, sind aufgrund der fehlerhaften und betrügerischen Studien hunderttausende PatientInnen in Südamerika und Afrika mit Ivermectin bei COVID-19-Infektionen behandelt und potentiell gefährdet worden.

Einige Tage nach Ausbruch von COVID-19 in Frankreich behauptete im März 2020 der Mikrobiologe Didier Raoult, aufgrund einer kleinen klinischen Studie, Hydroxychloroquin sei 100% wirksam gegen COVID-19 (Abb. 1). Präsident Macron besuchte ihn in Marseille und der brasilianische und amerikanische Präsident deklarierten Hydroxychloroquin zum Heilmittel, das die Pandemie zum Stillstand bringen werde. Zwei Monate später, im Mai 2020 publizierte The Lancet eine Studie der Surgisphere-Datenbank mit 96 032 PatientInnen, von denen angeblich 14 888 mit Hydroxychloroquin behandelt worden waren (18). In dieser Studie brachte Hydroxychloroquin nicht nur keinen Nutzen, sondern führte zu einem Anstieg der Mortalität. Aufgrund der negativen Resultate in dieser riesigen Beobachtungsstudie wurden sofort alle klinischen Studien zu Hydroxychloroquin, die dessen Wirkung in randomisierter Weise untersuchten, unterbrochen. Dumm und peinlich war, dass die gesamte Surgisphere-Studie mit allen Resultaten frei erfunden war. Der Editor-in-Chief des Lancet sprach von einem «monumentalen Betrug». Mit Daten aus der gleichen Surgisphere-Datenbank war bereits vorher eine Beobachtungsstudie zu kardiovaskulären Vorerkrankungen und deren Einfluss auf die Mortalität bei COVID-19 im New England Journal of Medicine publiziert worden (19). Auch hier war der Betrug offensichtlich und die Studie musste am 4. Juni 2020 zurückgezogen werden (Abb. 2). Damit war der Schaden, den diese Publikation der Wissenschaft zugefügt hatte, aber nicht behoben. Der im New England Journal zurückgezogene Artikel wurde im Verlauf des nächsten Jahres noch 652-mal zitiert (20). Nur 18% der Zitationen erwähnten den Rückzug. In den anderen Publikationen wurde dessen Schlussfolgerung zur Bestätigung einer eigenen Beobachtung gebraucht und in 17 Artikeln wurden die gefälschten Daten gar für eine neue Analyse eingesetzt (20).

Warum diese Verletzung der Integrität der medizinischen Literatur?

Über die Gründe der im Rahmen der Coronapandemie zum Teil so eklatant verletzte Integrität der medizinischen Literatur kann man nur spekulieren. Wahrscheinlich wurde die Publikationswelle von der Angst vor dem unvorhersehbaren Verlauf der Pandemie getrieben und dem Verlangen, diese unbekannte Krankheit und deren Bedrohung zu verstehen. Dies erklärt aber nicht, warum einige, aber lange nicht alle, wissenschaftlichen Zeitungen den Peer-review-Prozess praktisch aufhoben und die üblichen wissenschaftlichen Standards nicht eingefordert haben. Wollte man lieber schnelle und vielleicht fehlerhafte Antworten als keine Antworten auf brennende Fragen haben? Fehlte der Mut einzugestehen, dass man gewisse Aspekte der Krankheit schlicht noch nicht wissen konnte, weil der gesellschaftliche und politische Druck auf die «Wissenschaft» zu gross war? Die akademische Welt, welche ja von Natur aus nicht unumstössliche Fakten liefern kann, sondern durch das Überprüfen von verschiedenen Hypothesen eine Annäherung an mögliche Wahrheiten suchen muss, ist in der Coronapandemie in ein Spannungsfeld von Wunsch nach schnellen, gültigen Fakten und langsamer, sorgfältiger wissenschaftlicher Arbeit gekommen. Sie hat die Krise nicht ohne Schaden überstanden, wobei der teilweise Verlust der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft der offensichtlichste ist.

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Zweitabdruck des in «info@herz+gefäss» 01-2022 erschienenen Originalartikels.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. med. Franz R. Eberli

Stadtspital Zürich Triemli
Klinik für Kardiologie
Birmensdorferstrasse 497
8063 Zürich

franz.eberli@triemli.zuerich.ch

Der Autor deklariert, keine Interessenskonflikte im Zusammnehang mit diesem Artikel zu haben.

1. Barakat AF, Shokr M, Ibrahim J, Mandrola J, Elgendy iY. Timeline from receipt to online publication of COVID-19 original research articles. MedRxiv June 26,2020 DOI.org.10.1101/2020.06.22.20137653
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Thrombozytopenie als Zufallsbefund: Artefakt, erworben oder hereditär?

Die Vorgänge der Blutgerinnung werden durch ein faszinierendes Wechselspiel zwischen Zahl und Funktion der Blutplättchen und der plasmatischen Gerinnungskaskade bestimmt. Blutungsbilder in der Praxis sind häufig. Thrombozytopenien können häufig erworben oder selten angeboren sein, sich über Monate abzeichnen oder aber praktisch über Nacht zutage treten. Ein präanalytisches Problem soll neben den klinischen differentialdiagnostischen Überlegungen immer in Erwägung gezogen werden. In jedem Fall gilt es, sich eine Übersicht des gesamten Blutbildes zu verschaffen. Der Ort der Blutung (Haut, Schleimhaut), der auslösende Faktor (inadäquates Trauma oder spontan), die Form der Blutungsmanifestation (Petechien als Zeichen) und der Zeitfaktor (pathologisch verlängerte Blutung, Alter) lassen an eine thrombozytopenische Blutung denken.

The processes of blood coagulation are determined by a fascinating interplay between the number and function of platelets and the plasmatic coagulation cascade. Thrombocytopenias may be often acquired or in rare cases congenital, may become apparent over months, or may appear virtually overnight. A preanalytical problem should always be considered as a causative factor beside the clinical differential diagnosis. In any case, it is important to obtain an overview of the complete blood count and morphology. Bleeding patterns in practice are common. Site of bleeding (skin, mucosa), precipitating factor (inadequate trauma or spontaneous), form and signs of bleeding (purpura) and time factor (pathologically prolonged bleeding, age) suggest thrombocytopenic bleeding.
Key Words: Thrombocytopenia, autoimmune thrombocytopenia, congenital thrombocytopenia, hemostasis disorder, acquired and congenital bleeding tendency.

Erworbene Thrombozytopenien

Pseudothrombozytopenie / Satellitenbildung

Thrombozyten neigen in vitro dazu, Aggregate zu bilden. Begünstigend auf dieses Phänomen wirken Aktivierung der Plättchen durch traumatische Venenpunktionen, wobei auch die Art des Antikoagulans, mit dem das Blutröhrchen versehen ist, von Bedeutung ist. Plättchenklumpen können bei sämtlichen Monovetten vorkommen, sind im Citratblut aber um ein Vielfaches seltener als im üblicherweise für Blutbilder verwendeten EDTA-Röhrchen. Dieses Verklumpen führt zu falsch tiefen Plättchenzahlen in automatisierten Analysegeräten und geschieht unabhängig von dem gewählten Hämatologie-Analysesystem: Im Impedanzmessprinzip, wie es in den meisten Praxen Verwendung findet, werden Blutbestandteile in einer Volumenverteilungskurve aufgetragen, mit dem Nachteil, dass besonders grosse oder eben verklumpte Thrombozyten fälschlicherweise als kleine Erythrozyten oder als Lymphozyten registriert werden. In der hydrodynamischen Fokussierung mit Durchflusszytometrie (grosse Blutbildautomaten), wie sie in Spitälern angewendet werden, finden sich zwar integrierte Regelwerke, die auf eine mögliche Pseudothrombopenie durch Verklumpung hinweisen, aber der verlässlichste Weg, den Verdacht zu bestätigen, ist und bleibt die mikroskopische Beurteilung.

Die Satellitenbildung ist ein weiteres In-vitro-Phänomen, wie es hauptsächlich im EDTA-Blut vorkommt: Rosettenartig lagern sich dabei die Plättchen an die Membran der Neutrophilen (Abb. 1) mit folglich falsch tiefen Thrombozytenwerten.

Beide Phänomene (Pseudothrombozytopenie und/oder Satellitenbildung) beruhen auf folgendem Mechanismus. EDTA als Kalzium-Chelator entnimmt Kalzium-Ionen aus der tertiären Struktur des Fibrinogenrezeptors GPIIb/IIIa auf der Plättchenmembran. Dies verändert die Symmetrie des Rezeptors so weit, dass ein kryptisches Epitop aufgedeckt wird. Dieses wird von zufälligen sonst nicht pathogenen Autoantikörpern (IgG-Moleküle) erkannt und gebunden, was zur Aneinanderhaftung der Plättchen (Plättchenaggregate) oder zu den Neutrophilen (Satellitenbildung) führt.

Autoimmunthrombopenie (ITP)

Die Immunthrombozytopenie, ITP auch Morbus Werlhof, wird im Kindesalter oft als vorübergehende Begleiterscheinung eines Infekts beobachtet. Mit zunehmendem Alter werden chronische Verlaufsformen häufiger (Prävalenz 1:10 000). Ursächlich zeichnen eine Vielzahl immunologischer Dysregulationen verantwortlich für diese Form des Plättchenmangels. Es handelt sich in der Regel um eine isolierte, nicht selten mittelschwer- bis schwergradige Thrombozytopenie, die durchaus mit Blutungskomplikationen einhergehen kann. Die ITP ist praktisch eine Ausschlussdiagnose und wird meistens erfolgreich medikamentös behandelt. Es haben sich diverse Neuerungen im Bereich der medikamentösen Therapie (Steroid-Stoss-Therapie, Thrombopoietin-Rezeptor-Agonisten) durchgesetzt, so dass eine Splenektomie als Behandlung sich nur in äusserst refraktären Fällen anbietet.

Medikamentenbedingte Thrombozytopenien

Zahlreiche Medikamente wurden als Auslöser einer Thrombozytopenie beschrieben. Am häufigsten wurden Reaktionen mit Chinidin, Chinin-haltigen Produkten, Penicillinen, Ranitidin, Methyl­dopa, Procainamid berichtet. Das Medikamentenmolekül wird durch Opsonisierung zum Antigen und ruft Antikörper hervor. Letztere erkennen zufällig Epitope auf den Membranrezeptoren der Plättchen, welche dann als «innocent bystanders» in der Peripherie schneller eliminiert werden. Das Absetzen des Medikamentes korrigiert die Thrombozytopenie und die Wiederaufnahme führt zu einem Rezidiv.

Die Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT) ist nach wie vor ein häufig anzutreffendes Phänomen im Klinikalltag und wird Antikörper-mediiert hervorgerufen, in der Regel durch das dort geläufigere unfraktionierte Heparin. Seltener, sind es niedermolekularen Heparine, die eine HIT auslösen können. Diagnostisch wird als erstes der spezifische 4T-Score für die Schätzung der klinischen Vortestprobalilität errechnet. Labortechnisch wird die Diagnose durch den Nachweis von anti-PF4/Heparin Antikörpern bestätigt. Therapeutisch wird auf alternative Antikoagulanzien wie Argatroban (Argatra®), danaparoid (Orgaran®), Fondaparinux (Arixtra®) oder direkte orale Antikoagulanzien (DOAC) umgestellt.

Andere Ursachen

Weitere Formen erworbener Thrombozytopenien stellen der Hypersplenismus bei Leberzirrhose, die Schwangerschaftsthrombopenie, die disseminierte intravasale Gerinnung (DIC), die mikroangiopathischen Thrombozytopenien (thrombotisch thrombozytopenische Purpura TTP, hämolytisch urämisches Syndrom HUS), wie auch maligne hämatologische Erkrankungen und die Tumor-spezifischen Chemotherapien dar (Tab. 1). Bei den mikroangiopathischen Thrombozytopenien besitzt die morphologische Erkennung der Fragmentozyten oder Schistozyten in der mikroskopischen Beurteilung des peripheren Blutausstriches grossen diagnostischen Wert.

Hereditäre Thrombozytopenien

Das Erkennen angeborener Formen der Thrombozytopenie ist von grosser Wichtigkeit, zum einen, um korrekte therapeutische Massnahmen (z.B. perioperative Gerinnungskontrolle) zu definieren, zum anderen, um die Betroffenen vor unnötigen diagnostischen Schritten oder unsachgemässen Therapieversuchen zu bewahren: Fälle von als «einfache» Immunthrombopenie verkannten angeborenen Thrombozytopenien mit folglich langjähriger Gabe immunsupressiver Agenzien bis hin zur infausten Splenektomie sind beschrieben (Tab. 1).

Makrothrombozytopenien

Bei der sogenannten Makrothrombozytopenie kann bereits aufgrund der mikroskopischen Analyse eines Blutausstrichs der Verdacht darauf geäussert werden: diverse Gendefekte im MYH9 Gen (Myosin-Gen, in den meisten Fällen autosomal dominant vererbt) führen zu verfrühtem Übertritt der Thrombozyten vom Knochenmark ins periphere Blut, mit sichtbaren Riesenthrombozyten und gegebenenfalls charakteristischen zytoplasmatischen Inklusionen in den Leukozyten. Im maschinellen Blutbild fällt das pathologisch erhöhte mittlere Plättchenvolumen (MPV) auf.

Zu den MYH9-assoziierten Makrothrombozytopenien gehören die May-Hegglin-Anomalie mit charakteristischen zytoplasmatischen Inklusionskörperchen in den Neutrophilen (Döhle Bodies), das Epstein-Syndrom, das sich mit Innenohrschwerhörigkeit und Nephritis klinisch äussert, das Fechtner-Syndrom, mit zusätzlicher Neigung zu präsenilem Katarakt, und das Sebastian-Syndrom. In den genannten Formen erreicht die Thrombozytenzahl in der Regel Werte zwischen 30 und 100 G/L. Klinisch dominieren entsprechend eher Blutergüsse, Ekchymosen und übermässige Regelblutungen.

Petechien sind untypisch. Nicht selten sind die Indexpatientinnen einer Familie mit hereditärer Makrothrombozytopenie junge Frauen in Abklärung eines Eisenmangels. Die vermehrte Blutungsneigung resultiert aus einem instabilen Plättchenthrombus. Der unauffällige zytomorphologische und histopathologische Befund im Knochenmark (durchreifende, allenfalls leicht gesteigerte Megakaryopoiese) ist mitunter Grund für Fehldiagnosen wie die der Immunthrombozytopenie. Eine Knochenmarkpunktion ist entsprechend nicht zielführend. Die Mikroskopie des peripheren Blutausstrichs ist umso mehr ein unerlässliches Mittel zum Screening. Zudem geben moderne Blutbildgeräte das mittlere thrombozytäre Volumen (MPV) erhöht an. In manchen Geräten werden die grossen Plättchen fälschlicherweise den Erythrozyten oder den Leukozyten zugeordnet. Plättchenfunktionstests (Plättchenaggregation nach Born), wie sie an grösseren Laboratorien angeboten werden, zeigen keine Auffälligkeiten bei MYH9-assoziierten Makrothrombozytopenien.

Bernard Soulier Syndrom (BSS)

Auf andere Weise kommt es beim BSS zu einer Blutungsneigung: Durch den fehlenden Glykoprotein Ib/IX-Rezeptor auf den Plättchen sind diese nicht dazu in der Lage, über den von Willebrand Faktor an das verletzte Gefässendothel anzuheften (Adhäsion). Die Plättchengrösse kann erhöht sein, die Thrombozytopenie ist aber eher mild mit 100 bis 120 G/L. Plättchenfunktionstests erlauben die Unterscheidung von MYH9-bedingten Makrothrombozytopenien (normale Funktion) und von Willebrand Syndromen (abnorme Funktion). Die Diagnose wird durchflusszytometrisch als Fehlen der GPIb/IX-Komplexe auf der Plättchenmembran bzw. molekulargenetisch bestätigt. Besonders tückisch sind die heterozygoten Formen, weil sie wegen der normalen Plättchenfunktion fälschlicherweise als ITP diagnostiziert werden können, wenn nicht gezielter abgeklärt wurde.

Gray platelet Syndrom

Diese wie das BSS autosomal rezessiv vererbte Thrombozytopenie will an dieser Stelle erwähnt sein, um den Stellenwert des Blutausstrichs noch einmal speziell hervorzuheben. Die vergrösserten und in ihrer Anzahl verminderten Plättchen sind vollständig degranuliert, was das charakteristische blassgraue Erscheinungsbild und die entsprechende Namensgebung erklärt. Vorsicht ist hier geboten, dem seltenen Artefakt eines «pseudo-gray platelet syndroms», welches durch Degranulierung der Plättchen wegen prolongierter Wirkung des EDTA im Blutentnahmeröhrchen hervorgerufen wird. Meistens sind aber diese Plättchen nicht derart vergrössert wie im echten Syndrom.

Behandlungsmöglichkeiten

Die Wege zur Optimierung der Hämostase bei hereditären Thrombozytopenien im Sinne eines Konzepts bei Bedarf, reichen von rein prophylaktischen Massnahmen (Verzicht auf Plättchenaggregations-hemmende Medikamente) über supportive und medikamentöse Möglichkeiten (Desmopressin zur Steigerung der Koagulabilität, Tranexamsäure zur Aufhebung der endogenen und lokalen Fibrinolyse).

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Adrian Bachofner

Klinik für Hämatologie, Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

adrian.bachofner@usz.ch

Prof. Dr. med. Dimitrios A. Tsakiris

 SYNLAB Suisse SA
Alpenquai 14
6002 Luzern

dimitrios.tsakiris@usb.ch

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Die isolierte Thrombozytopenie ist ein erklärungsbedürftiger Befund.
◆ Eine «Pseudothrombozytopenie» soll immer proaktiv ausgeschlossen werden.
◆ Die Autoimmunthrombozytopenie ITP, eine nicht seltene Form der Thrombozytopenie im Alltag, ist praktisch eine Ausschlussdiagnose.
◆ Neben zahlreichen benignen erworbenen Gründen kann die Thrombozytopenie auch Erstmanifestation einer malignen hämatologischen Erkrankung sein.
◆ Die seltenen hereditären Makrothrombozytopenien werden manchmal als Autoimmunthrombozytopenien verkannt und entsprechend unnötigerweise als solche behandelt.

 

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Aktuelles zur Nahrungsmittelallergie

Für die Abklärung einer Nahrungsmittelallergie sind IgE-Bestimmungen auf rekombinante Allergene, nebst der Anamnese und den Prick-Hauttesten, nicht mehr wegzudenken. Für den Spezialisten bedeutet der Einsatz der ISAC-Technologie, welche die spezifischen IgE-Antikörper gegen 103 Allergen-Komponenten im Serum bestimmt, eine neue Ära. Diese Methode ermöglicht einen detaillierten Einblick in das Sensibilisierungsprofil des Patienten und liefert Informationen über spezifische und kreuz­reaktive Sensibilisierungen, die die Diagnose, die Risikoeinschätzung und die Therapieempfehlung erleichtern. Im EU-Projekt EuroPrevall konnten Sensibilisierungsmuster auf die wichtigsten Nahrungsmittel in Europa, inklusive der Schweiz (Zürich), ermittelt werden sowie Faktoren, welche die Entwicklung einer Nahrungsmittelsensibilisierung begünstigen oder hemmen. Neuere Studien konnten lokale Mechanismen identifizieren, welche beim Reizdarm (Colon irritabile) die gastro-intestinale Symptomatik bei sonst negativer allergologischer Abklärung erklären, was neue therapeutische Möglichkeiten bei diesen Patienten erlauben würde.

For the clarification of a food allergy, IgE determinations to recombinant allergens, in addition to the anamnesis and the prick skin tests, can no longer be thought away. For the specialist, the use of ISAC technology, which determines the specific IgE antibodies against 103 allergen components in serum, represents a new era. This method allows a detailed insight into the sensitisation profile of the patient and provides information about specific and cross-reactive sensitisations, which facilitate diagnosis, risk assessment and therapy recommendations. The EU project EuroPrevall has identified sensitisation patterns to major foods in Europe, including Switzerland (Zurich), and factors that promote or inhibit the development of food sensitisation. Recent studies have identified local mechanisms that explain the gastrointestinal symptoms of irritable bowel syndrome (colon irritabile) in the case of otherwise negative allergological clarification, which would allow new therapeutic options in these patients.
Key Words: food allergy, IgE determinations, ISAC technology, EuroPrevall

Bekanntlich begann Anfangs der siebziger Jahre eine neue Ära für die Allergologie, insbesondere für die Diagnostik der Nahrungsmittelallergie, mit der Einführung des «Radio Allergo Sorbent Test» (RAST) für die Bestimmung der allergen-spezifischen Serum IgE. Auch wurde in diesen Jahren die Hauttestung mit der Prick-Methode mit nativen Nahrungsmitteln (insbesondere Früchte und Gemüse) eingeführt. In den achtziger Jahren wurden die verschiedenen Syndrome der pollenassoziierten Nahrungsmittelallergien, insbesondere das «Beifuss-Sellerie-Gewürz-Syndrom», beschrieben. In den skandinavischen Ländern war die Allergie auf Frischobst und Frischgemüse mit einer Birkenpollensensibilisierung assoziiert und das klinische Bild entsprach häufig einem «Oralen Allergiesyndroms». In der Dekade 1990-2000 wurde als neues Phänomen eine ganze Serie von tödlichen allergischen Reaktionen auf Nahrungsmittel publiziert, auch Einzelfälle in der Laienpresse. Diagnostisch etablierte sich als «gold standard» die doppelblinde, Placebokontrollierte orale Nahrungsmittelprovokation (DBPCFC). Viele, auch bedrohliche allergische Reaktionen auf «versteckte» Allergene in der Nahrung oder als ungewöhnliche Auslösewege konnten ermittelt werden, z.B. durch Küssen oder beim Geschlechtsverkehr. Allgemein zeigte sich, parallel zur Zunahme der Pollenallergie, auch eine Zunahme der pollen-assoziierten Nahrungsmittelallergien.

Nahrungsmittelallergien in den letzten zwei Dekaden

In den Jahren ab 2000 erfolgte die molekulare Charakterisierung von Pollen- und Nahrungsmittel-Allergenen (Epitope) und somit die molekulare Basis von Kreuzreaktivitäten (Abb. 1 und 2) (1-5).

IgE-Bestimmungen gegen rekombinante Allergene der Leitpollen von Birke und Gräser sind heute für die Einleitung einer spezifischen Immuntherapie nicht mehr wegzudenken (6), das gleiche gilt für die Diagnostik der Nahrungsmittelallergie (7). Einen weiteren grossen Fortschritt für die Allergiediagnostik bedeutete die Einführung der ISAC-Technologie (Immuno Solid-phase Allergen Chip) (8).
Dieses Verfahren ermöglicht die Messung von spezifischen IgE-Antikörpern gegen 103 Allergen-Komponenten mit nur einem Tropfen Serum, Plasma oder Kapillarblut. Es handelt sich dabei um den ersten In-Vitro-Test, der ausschliesslich mit hochaufgereinigten nativen und rekombinanten Allergenkomponenten arbeitet. Der Nutzen von ISAC konnte bei einem breiten Spektrum allergischer Erkrankungen demonstriert werden (9, 10). Diese Methode ermöglicht Ärzten einen detaillierten Einblick in das Sensibilisierungsprofil des Patienten und liefert Informationen über spezifische und kreuzreaktive Sensibilisierungen, die die Diagnose, die Risikoeinschätzung und die Therapieempfehlung erleichtern (11). Das breite Allergenspektrum auf dem Allergenchip kann unerwartete Sensibilisierungen gegen Allergene aufdecken, die nicht Bestandteil der Routinediagnostik sind, aber Symptome verursachen oder mit einem Risiko für schwere Reaktionen assoziiert sind (12-13).

Das EU-Projekt EuroPrevall

Ende der ersten Dekade dieses Jahrhunderts startete das ambitiöse EU-Projekt EuroPrevall (The prevalence, cost and basis of food allergy across Europe), an welchem für die Schweiz auch Frau Prof. Barbara Ballmer-Weber teilnimmt. Dieses Projekt hat als Ziel, Formen und Häufigkeit von Lebensmittelallergien bei Säuglingen, Kindern und Erwachsenen in Europa zu ermitteln, verbesserte Methoden zur Diagnose zu entwickeln, um die Notwendigkeit von Provokationstests zu reduzieren und Auswirkungen von Lebensmittelallergien auf die Lebensqualität zu bestimmen sowie die dadurch verursachten Kosten für die Betroffenen selbst, ihre Familien, die Arbeitgeber und das Gesundheitssystem zu vermindern. Die neuen Erkenntnisse sollen die notwendigen Informationen und Instrumente für Politik und Lebensmittelindustrie liefern, um die Lebensqualität der Lebensmittelallergiker in Europa zu verbessern (14, 15). Im EuroPrevall Projekt konnten Sensibilisierungsmuster in Europa, inklusive der Schweiz (Zürich), ermittelt werden (16) (Abb. 3 und 4). Serologisch getestet wurden Fisch, Hühnerei, Soya, Linsen, Buchweizen, Sesam, Roggen, Crevette, Weizen, Kiwi, Karotten und Pfirsich, nicht aber Sellerie. Bei Pfirsich besteht eine Kreuzsensibilisierung mit Birkenpollenallergenen Betv1 und Betv2, deshalb die hohe Prävalenz in Zürich (Abb. 3). Überhaupt zeigt Zürich gegenüber den anderen EU-Zentren (insgesamt 18%) mit 24% die höchste Quote von Nahrungsmittelsensibilisierungen (Abb. 4). In dieser Statistik wurde auch Knollensellerie (Celeriac) mit einer Prävalenz von 12% berücksichtigt.

Eine weitere Studie beschäftigte sich mit der Prävalenz der «self-reported food allergy» (SRFA), der Nahrungsmittelsensibilisierung (NMS) und der wahrscheinlichen Nahrungsmittelallergie (wNMA) bei Kindern (17). Die Prävalenz der SRFA variierte von 6.5% (95% CI) in Athen bis zu 24.6% (22.8-26.5) in Lodz; die Prävalenz der NMS erstreckte sich von 11.0% (9.7-12.3) in Reykjavik bis zu 28.7% (26.9-30.6) in Zürich. Die Prävalenz der wNMA rangierte von 1.9% (0.8-3.5) in Reykjavik bis zu 5.6% (3.6-8.1) in Lodz. In allen Zentren hatten primär die meisten Probanden mit einer NMS keine kreuzreaktive Sensibilisierung mit Inhalationsallergenen, ausser in Nord-Zentral-Europa, wo eine Kreuzsensibilisierung mit Birkenpollen im Vordergrund stand. Eine wNMA auf Milch und Hühnerei ist gewöhnlich für Europa, auf Fisch und Garnele vor allem in den Mediterranen Zentren und in Reykjavik. Haselnuss, Apfel, Karotte und Sellerie waren prädominant in Nord-Zentral-Europa, während Linsen und Walnuss in den mediterranen Zentren vorherrschen.

Weitere Studien im Rahmen des EuroPrevall-Netzwerkes beschäftigten sich mit der Erdnuss-Allergie insbesondere mit dem Sensibilisierungsmuster (Erdnussallergene rAra h 1–3, 6, 8–9, Profilin und CCD). Die Sensibilisierung auf Ara h 1, 2 and 3 wird in der Regel in der Kindheit erworben. Ein IgE-Wert auf Ara h 2 ≥ 1.0 kUA/l ist signifikant assoziiert mit dem Auftreten einer generalisierten anaphylaktischen Reaktion auf Erdnuss (18).

Eine weitere Studie setzte sich mit den Faktoren auseinander, die die Entwicklung einer NMS begünstigen oder hemmen (19). Die Haltung eines Hundes in der früheren Kindheit war umgekehrt assoziiert mit der NMS (odds ratio, 0.65; 95% CI, 0.48-0.90) sowie ein höheres Alter bei der Geburt (odds ratio, 0.93(95% CI, 0.87-0.99). Ein jüngeres Schwangerschaftsalter und ein männliches Geschlecht waren mit einer höheren Inzidenz einer NMS bei Erwachsenen assoziiert (odds ratio, 0.97 (95% CI, 0.96-0.98). Es wurde keine signifikante Assoziation zwischen anderen Umgebungsfaktoren und einer NMS bei Kindern oder Erwachsenen gefunden und – entgegen den heutigen Empfehlungen – auch nicht zwischen einer Säuglingsdiät und einer kindlichen NMS, obwohl eine frühere Einführung einer soliden Nahrung ein Trend bezüglich Prävention einer NMS zeigte (19).

ein lokal-allergisches Geschehen?

Sucht ein Patient einen Arzt auf, um seine chronische Magendarmbeschwerden, wie Durchfälle, Blähungen, Koliken, usw., abzuklären, ist er häufig der Meinung, dass die Ursache dafür eine Allergie auf Nahrungsmittel sei. Bei Beschwerden, die vorwiegend den Darmtrakt betreffen, ist aber tatsächlich eine Nahrungsmittelallergie selten im Spiel. Sind organische Magendarmleiden ausgeschlossen, ist an enzymatischen Intoleranzen, wie an Laktose- oder Fruktose-Intoleranz, an Zöliakie oder an Reizdarm («irritable bowel syndrome») zu denken (20-22). Der Patient mit einem Reizdarm ist dann häufig enttäuscht, dass man schulmedizinisch «seine» Nahrungsmittelallergie nicht herausfinden konnte und sucht deshalb Hilfe bei ungeprüften, alternativen Diagnose-Methoden!

Ein neuer, wichtiger pathogenetischer Aspekt bei gastrointestinaler Nahrungsmittelintoleranz (Beschwerdefreiheit bzw. Linderung der Magen-Darm-Symptomatik bei spezifischer Ausschlussdiät und negativen Haut- und IgE-Bestimmungen, Zöliakie ausgeschlossen), an welcher schätzungsweise bis zu 20% der Bevölkerung leidet, ergibt sich aus einer zu Beginn des Jahres 2021 veröffentlichten tierexperimentellen und humanen Studie (23, 24). Die Autoren um J. Aguilera-Lizzarraga, Leuven, BE, konnten an Mäusen zeigen, dass bakterielle Infektionen und bakterielle Toxine eine lokale Immunantwort triggern können, welche zur Produktion Antigen-spezifischer IgE-Antikörper führen, welche nur in der Darm-Mucosa lokalisiert bleiben. Nach oraler Reexposition mit dem spezifischen Nahrungsmittel kommt es zum IgE-abhängigen, Mastzellenmediierten Mechanismus mit entsprechenden gastro-intestinalen Beschwerden. Auch die Applikation des entsprechenden Nahrungsmittelantigens (Gluten, Weizen, Soja oder Milch) in die rektosigmoidale Schleimhaut von Patienten mit Reizdarm (irritable bowel syndrome) löste ein lokales Ödem und eine Mastzell-Aktivierung aus. Die Autoren konnten somit einen lokalen Mechanismus identifizieren, der die gastro-intestinale Symptomatik bei sonst negativer allergologischer Abklärung erklärt, was neue therapeutische Möglichkeiten bei Patienten mit Reizdarm erlaubt.

Verdankungen: Der Autor dankt Frau Prof. Barbara K. Ballmer-Weber für die Hinweise auf die EuroPrevall-Studie, an welcher das Zentrum Zürich beteiligt ist und für die Überlassung der Abb. 2, 3 und 4.
Herr Frank Feistle, Dustri-Verlag GmBH sei gedankt für die Erlaubnis eine modifizierte Teilpublikation aus dem Artikel «Sechs Dekaden Nahrungsmittelallergie» in der Zeitschrift Allergologie. 2021; 44/7: 551-588.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. em. Brunello Wüthrich

Facharzt FMH für Allergologie und Immunologie
Facharzt FMH für Dermatologie
Langjähriger Leiter der Allergiestation am Universitätsspital Zürich
8125 Zollikerberg

bs.wuethrich@bluewin.ch

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen. .

◆ IgE-Bestimmungen auf rekombinante Allergene stehen heute für die Abklärung einer Nahrungsmittelallergie im Vordergrund.
◆ Microarray-basierte Allergenchips (ISAC) erlauben die simultane
Testung eines ganzen Panels von Allergenen um die für den jeweiligen Patienten relevanten Allergene zu identifizieren.
◆ Einsatzmöglichkeiten von ISAC bestehen v. a. bei polysensibilisierten Patienten, bei komplexen Nahrungsmittelallergien oder bei Anaphylaxie unklaren Ursprungs.
◆ Im EuroPrevall Projekt wurden Sensibilisierungsmuster in Europa, inklusive der Schweiz (Zürich), erfasst.
◆ Zürich zeigt mit 24% die höchste Quote von Nahrungsmittelsensibilisierungen, auf Sellerie mit 12%.
◆ Ein IgE-Wert auf die Erdnusskomponente Ara h 2 von ≥ 1.0 kUA/l ist signifikant assoziiert mit dem Auftreten einer generalisierten anaphylaktischen Reaktion auf Erdnuss.
◆ Lokale Immunmechanismen könnten die gastro-intestinale Sympto­matik bei sonst negativer allergologischer Abklärung bei Patienten mit Reizdarm erklären.

 

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18. Ballmer-Weber BK, Lidholm J, Fernández-Rivas M et al. IgE recognition patterns in peanut allergy are age dependent: perspectives of the EuroPrevall study. Allergy 2015, 80: 391-407.
19. Lyons SA, Knulst AC, Burney PGJ, Fernandez-Rivas M, Ballmer-Weber BK et al. Predictors of Food Sensitisation in Children and Adults across Europe. J Allergy Clin Immunol Pract. 2020; 8: 3064-3073.
20. Wüthrich B. Unverträglichkeitsreaktionen nach Nahrungsaufnahme (Teil 1).
der informierte arzt 2012; 3: 13-16.
21. Wüthrich B. Unverträglichkeitsreaktionen nach Nahrungsaufnahme (Teil 2). der informierte arzt 2012;9:23-25.
22. Wüthrich B., Schultess HK. Glutenallergie? Glutenintoleranz? Eingebildete Glutenunverträglichkeit. Differentialdiagnose der Unverträglichkeits – Reaktionen auf Getreide. Der informierte Arzt 2019; 03: 16-18
23. Aguilera-Lizarraga J, Florens MV, Viola MF, Jain P, et al. Local immune response to food antigens drives meal-induced abdomina pain. Nature 2021. https://doi.org/10.1038/s41586-020-03118-2
24. Brierley SM. Food for thought about the immune drivers of gut pain. News & views Nature 2001; 1-2. doi: https://doi.org/10.1038/d41586-020-03661-y

Long Covid – Erfahrungen aus der interprofessionellen Sprechstunde

Seit Mai 2021 werden am Stadtspital Zürich Waid Long Covid-Patienten in einer spezialisierten internistisch geführten Sprechstunde gesehen. Die Patienten werden interprofessionell betreut und abgeklärt. Erfahrungen aus dieser Sprechstunde und der aktuelle Wissensstand zu Long Covid sollen hier diskutiert und ausgeführt werden.

Since Mai 2021 Internal Medicine Stadtspital Zurich Waid runs a specialized out-patient clinic for Long Covid Patients. In an interprofessional setting are patients cared for. Experiences from this work and the current state of knowledge on this syndrome will be discussed here.
Key Words: Fatigue, Post-Exertional Malaise (PEM), interprofessionelle Therapie, Energie- und Pausenmanagement, Pacing

Nach einer durchgemachten milden Covid-Infektion kommt es häufig zu Symptomen, die Wochen bis Monate andauern: über Müdigkeit, Belastungsintoleranz, kognitive Probleme, Schmerzen etc. wird berichtet. Umgangssprachlich wird dieses Syndrom als «Long Covid» bezeichnet. Eine neue Erkrankung, die auch gerne als «Pandemie nach der Pandemie» bezeichnet wird. Was wissen wir darüber? Und wie können diese Patienten sinnvoll abgeklärt und betreut werden?

Begriffserklärung

Es hilft in der Betreuung der Patienten einige Begriffsdefinition zu kennen, um damit die Patienten optimal zu triagieren. Die WHO definiert die Erkrankung als «Post Covid Condition» und spricht dabei von anhaltenden Beschwerden > 4 Wochen nach akutem Infekt. Die NICE Guidelines unterteilen im zeitlichen Verlauf feiner (1): es wird die Definition «Ongoing symptomatic Covid» vom «Post-Covid-19 Syndrome» abgegrenzt. Erstere beschreibt eine anhaltende Symptomatik 4 bis 12 Wochen nach akutem Infekt, wohingegen der Begriff «Post-Covid-19 Syndrome» verwendet wird, wenn nach 12 Wochen noch Symptome vorliegen. Diese zeitliche Unterteilung der Erkrankung macht Sinn, denn die Erfahrung zeigt, dass die Symp­tomenlast über die ersten 12 Wochen abnehmen kann (2).

Den umgangssprachlich gebräuchlichen und vor allem von den Betroffenen selber geprägte Überbegriff «Long Covid» wird in der zeitlichen Definition nicht einheitlich benutzt. Dieser Begriff wird häufig für Patienten verwendet, die nach einer milden akuten Erkrankung noch Wochen unter Symptomen leiden. Davon abzugrenzen sind «Post-akut-Covid-Patienten», die nach einem schweren Covid-Infekt strukturelle Veränderungen (Lunge, Herz etc.) zeigen. Diese Unterscheidung anhand (nicht-) nachzuweisender somatischer Pathologien und akutem Verlauf macht Sinn, da die Patienten von unterschiedlichen Betreuungssettings profitieren. Gerade nach mildem Verlauf wird häufig über persistierende Symptome berichtet: rund 39% der nicht-hospitalisierten Patienten kämpfen auch nach 7 – 9 Monate noch mit einem oder mehr Symptomen (3) und es gibt Hinweise, dass Patienten mit mildem Verlauf sogar ein erhöhtes Risiko haben, ein Long Covid zu entwickeln (4).

Im Sinne dieser Definitionen wird hier ausschliesslich über das «Post-Covid-19 Syndrome» nach mildem Verlauf berichtet und entsprechend der Begriff «Long Covid» verwendet – an diese Patienten wendet sich auch unsere Sprechstunde.

Symptome

Bereits früh in der Pandemie zeigte sich die Symptomenvielfalt einer Long Covid Erkrankung. Prädominant wurden die Symptome Fatigue, Schmerzen (inkl. Thoraxschmerzen), Husten und Atemnot im 2020 beschrieben (5). Die in Tabelle 1 zusammengestellten Symptome sind die häufig genannten in unserer Sprechstunde und können in der Literatur (allerdings mit grosser Streubreite, je nach Studiendesign) objektiviert werden.

Eine einheitliche Definition der Erkrankung anhand der Symptome existiert nicht. Viel eher muss die Diagnose anhand verschiedener Symptomencluster, für die es keine andere Erklärung gibt, vermutet werden.

Die FATIGUE als Leitsymptom wird gemäss CDC (im Zusammenhang mit ME/ CFS) folgendermassen definiert:

  • Eine substantielle Verschlechterung des möglichen Aktivitäts­levels im Vergleich zur Zeit vor der Erkrankung
  • Post - Exertional Malaise (PEM)
  • Nicht erholsamer Schlaf

In diesem Zusammenhang muss die Definition der POST-EXERTIONAL MALAISE (PEM) bekannt sein. Wir nutzen dazu die Definition des Institute of Medicine (IOM) von 2015:

  • Verschlechterung der Symptome nach physischer, mentaler oder emotionaler Anstrengung, die vor der Erkrankung keine Beschwerden verursacht hätte
  • PEM ist ein Rückfall, der Tage, Wochen oder noch länger anhalten kann
  • Auch eine Überreizung (Licht und Lärm) kann PEM induzieren
  • Der Rückfall manifestiert sich meist 12 bis 48 Stunden nach der Aktivität oder der Exposition

Viele Patienten beklagen auch KOGNITIVE DEFIZITE wie «Brain Fog», Vergesslichkeit, Wortfindungsstörungen und Unfähigkeit zu Multitasking. Abklärungen diesbezüglich mittels Lumbalpunktion sind nicht wegweisend (8) wie auch in der Bildgebung und der kognitiven Testung bei nicht-hospitalisierten Patienten selten grosse Auffälligkeiten gefunden werden (9). Eine Art Neuroinflammation wird als Ursache postuliert. Diese Defizite sollten in der Betreuung mindestens teilweise im Rahmen einer kognitiven Fatigue gewertet und entsprechend behandelt werden.

Kann die Fatigue mit PEM herausgearbeitet werden, liegen neue und unklare Symptomencluster wie Schmerzen, Konzentrationsstörungen, Atembeschwerden, Hautveränderungen etc. vor, sind keine somatischen Ursachen auszumachen und entspricht der zeitliche Verlauf den obgenannten Kriterien, kann die Diagnose Long Covid gestellt werden.

Epidemiologie/ Risikofaktoren

Zur Prävalenz gibt es divergierende Angaben von 2% bis 80% je nach Studiendesign (Art der eingeschlossenen Patienten, Befragungszeitraum, Befragungsart etc). Eine grosse Schweizer Kohorte publiziert im Herbst 2021 berichtet von rund 25% vornehmlich jungen Betroffenen – wobei auch hier zu beachten ist, dass die Befragungsgruppe heterogen war und nicht alle Patienten gleich stark betroffen sind (10).

In der Prävention geht es darum, akute Infekte zu verhindern. Auch gibt es Hinweise, dass die Impfung einen protektiven Effekt hat: geimpfte Patienten scheinen, trotz durchgemachtem Infekt, ein tieferes Risiko zu haben (11).

Risikofaktoren wie Übergewicht, Hypertonie, weibliches Geschlecht, psychiatrische Vorerkrankung (6) aber auch Anosmie, tieferer Antikörperspiegel und Durchfall während des akuten Infektes werden als Risikofaktoren diskutiert (12). Ob sich die Omikronvariante hinsichtlich Risikofaktoren und Häufigkeit ähnlich präsentieren wird, bleibt abzuwarten.

Abklärungen/ Betreuung der Patienten

Anhand der NICE Guidelines (1) findet sich in Abbildung 1 einen möglichen Abklärungs- resp. Betreuungsalgorithmus. In erster Linie müssen andere Ursachen (schlafassoziierte Atemstörungen, Diabetes, kardiale Erkrankungen, Asthma bronchiale etc.) ausgeschlossen resp. optimal eingestellt werden. Trotz grosser subjektiver und auch zu objektivierender (Fatigue – Score, 6 Minuten Gehtest) Symptomenlast kann in den somatischen Abklärungen (Laborwerte, Bildgebung, EKG, Lungenfunktion etc.) mehrheitlich keine Pathologie gefunden werden.

Bei Diagnose eines Long Covid, wird gemäss NICE Guidelines ein ärztlicher Approach mit Empathie, Zeitreserven, Shared Decision Making und regelmässigen (symptomenunabhängigen) Konsultationen empfohlen. Es geht darum, die Patienten ernst zu nehmen und auszuhalten, dass fundierte Erkenntnisse zu Mechanismus und Therapie fehlen. Zudem, dies eine Erfahrung aus unserer Sprechstunde, sollen die Patienten bereits früh angeleitet werden, dosiert mit den eigenen Energiereserven (physisch und kognitiv) umzugehen, bewusst Pausen einzuschalten und Entlastung im Alltag zu organisieren – ein zu hohes Aktivitätslevel wirkt sich kontraproduktiv auf die Fatigue/ PEM und den weiteren Verlauf aus. Ziel sollte sein, die Patienten möglichst im hausärztlichen Lead zu betreuen und anzuleiten, ein interprofessionelles Therapiesetting zu etablieren und die spezialisierten (Long Covid) Sprechstunden nur bei Bedarf (Zweitmeinung, weiteren Abklärungen, Versicherungsfragen) miteinzubeziehen.

Da aktuell keine kausale Therapie zur Verfügung steht, bleibt das interprofessionelle Therapiesetting im Sinne einer Patientenedukation der vielversprechendste Ansatz (1). Dabei werden die Patienten physiotherapeutisch, ergotherapeutisch, psychologisch und ärztlich begleitet (Tab. 2). In unserer Sprechstunde machen wir auch sehr gute Erfahrungen mit dem Angebot aus der ambulanten Pflege (psychosoziale Spitex) zur Unterstützung und Anleitung zuhause.

Für die in der Öffentlichkeit diskutierten und von den Betroffenen häufig eingeforderten Therapien wie Antihistaminika, Montelukast, Naltroxen, Hämapharese, BC007 gibt es (noch) keine fundierte Evidenz. In unserer Sprechstunde besprechen wir die Anwendung/ Nebenwirkungen von zum Beispiel Antihistaminika (Hypothese eines Mastzellaktivierungssyndrom) (13), sind in der Verschreibung aber zurückhaltend und beobachten damit auch nicht eine deutliche Verbesserung der Symptomatik. In Tabelle 1 sind einige symptomenbezogene Therapien aufgezeigt.

Die Ursache der Entwicklung eines Long Covid ist unklar. Es gibt verschiedene Hypothesen über Persistenz des Virus, Autoimmun, Durchblutungsstörungen. Dass eine psychische Komponente ursächlich mitspielt, ist nicht erwiesen – allerdings entwickeln viele der Patienten aufgrund des hohen Leidensdruckes depressive Symptome.

Zusammenfassend muss das Long Covid Syndrom als bio-psychosoziales Event mit weitreichenden Einschränkungen für die Betroffenen und das Umfeld gesehen werden. Es bestehen auch gesellschaftliche Implikationen: es werden über Fehltage an der Arbeit bis zu 50% noch nach 6 Monaten berichtet (14). Obwohl nun einige Studien anlaufen, wird es noch lange dauern bis medikamentöse Therapieoptionen zur Verfügung stehen – bis dahin braucht es empathische interprofessionelle Unterstützung/Anleitung, solide somatische Abklärungen und symptomatische Therapie je nach Symptomencluster – dies in individueller Konsensfindung mit den Betroffenen.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

KD Dr. med. Elisabeth Weber

Chefärztin Klinik Innere Medizin Waid
Stadtspital Zürich
Tièchestrasse 99
8037 Zürich

elisabeth.weber@stadtspital.ch

Die Autorin hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

Mit der typischen Anamnese (zeitlicher Verlauf nach Covid-Infekt, Fatigue, PEM, neue Symptomencluster) und dem Ausschluss somatischer Erkrankungen, kann die Diagnose Long Covid in den meisten Fällen auch in der Hausarztpraxis gestellt werden.
◆ Fundierte Evidenz für medikamentöse Behandlung gibt es bis heute nicht. Ein interprofessioneller Therapieansatz, symptomatische Behandlung und empathische ärztliche Begleitung sind nach heutigem Wissenstand die wichtigsten Punkte in der Betreuung der Patienten.
◆ Die Patientenedukation bezüglich Umgang mit Fatigue/ PEM (Energie- und Pausenmanagement «Pacing») ist zentral und sollte bereits früh im Krankheitsverlauf durch alle Therapeuten und Ärzte instruiert werden.

1. NICE Guidelines. COVID-19 rapid guideline: managing the long-term effects of COVID-19. 2020 Dec 18, 1.14 published on 1.3.2022
2. Goertz JMY et al. Persistent symptoms 3 months after a SARS-CoV-2 infection: the post-COVID-19 syndrome? ERJ Open Res. 2020;6(4)
3. Nehme M. Prevalence of Symptoms More Than 7 months after Diagnosis of Symptomatic COVID-19 Infection in Outpatient Setting. Ann Intern Med 2021; 174(9): 1252
4. Mohamed-Hussein AAR et al. Non-hospitalised Covid-19 patients have more frequent long COVID-19 symptoms. Int J Tuberc Lung Dis. 2021; 25 (9): 732-737).
5. Carfi et al. Persistent symptoms in Patients After Acute Covid-19 Infection. JAMA 2020; 324(6): 603
6. Crook H et al. Long Covid-mechanisms, risk-factors, and management. State of the art Review. BMJ 2021; 374: 1648
7. Taverne et al. High incidence of Hyperventilation syndrome after Covid-19.
J Thorac Dis 2021; 13/6): 3918
8. Jarius S et al. Cerebrospinal fluid findings in COVID-19: a multicenter study of 150 lumbar punctures in 127 patients. J Neuroinflammation 2022; 19(1): 19
9. Bungenberg J et al. Long COVID-19: Objectifying most self-reported neurological symptoms. Ann Clin Transl Neurol 2022; 9(2): 141)
10. Menges D et al. Burden of post – COVID – 19 syndrom and implications for healthcare service planning: A population – based cohort study. PLoS One 2021; 16(7): e0254523
11. Antonelli M et al. Risk factors and disease profile of post-vaccination SARS-CoV-2 Infection in UK users of the covid app. Lancet Infect Dis. 2022; 22 (1): 43
12. Augustin M et al. Post-COVID syndrome in non-hospitalised patients with COVID-19: a longitudinal prospective cohort study. Lancet Reg Health Eur 2021; 6
13. Glynne P et al. Long Covid following mild SARS-CoV Infection: Characteristic
T cell alteration and response to antihistamines. J Investig Med 2022; 70: 61
14. Vaes AW et al. Recovery from COVID-19: a sprint or marathon? 6 months follow-up data of online long COVID-19 support group members. ERJ Open Res 2021