Der psychiatrische Notfall in der Hausarztpraxis

Der wichtigste psychiatrische Notfall in der Hausarztpraxis muss aktiv erfragt werden: die Suizidalität! Nach Ausschluss einer somatischen Ursache soll durch eine empathische Haltung ein Arbeitsbündnis mit dem Patienten aufgebaut und bei entsprechender Risikokonstellation eine stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik veranlasst werden. Im Rahmen von Notfalldiensten können Hausärzte überdies auch mit Fremdgefährdung konfrontiert werden. Der Eigenschutz gilt hier als oberstes Gebot. Menschen mit einem psychotischen Syndrom, einem maniformen Syndrom oder einer Intoxikation sollen einer geeigneten Einrichtung zugeführt werden.

The most important psychiatric emergency in the family practice must be actively inquired: suicidality! After exclusion of a somatic cause, a working alliance with the patient should be established through an empathic attitude and, in case of a corresponding risk constellation, inpatient treatment in a psychiatric clinic should be arranged. In the context of emergency services, family physicians can also be confronted with endangerment of others. Self-protection is the first priority here. People with a psychotic syndrome, a maniform syndrome or intoxication should be transferred to an appropriate facility.
Key Words: Psychiatric emergency, psychotic syndrome, maniform syndrome, self-endangerment, suicidality, endangerment of others

Definition und Vorkommen

Ein psychiatrischer Notfall ist definiert als medizinische Situation, in der das akute Auftreten oder die Exazerbation einer bestehenden psychiatrischen Störung zu einer unmittelbaren Fremd- und/oder Eigengefährdung führt, die eine sofortige Diagnostik und Therapie erforderlich macht (1). Davon zu unterscheiden ist die psychiatrische Krise, in der noch verschiedene Handlungsoptionen erwogen werden können. Eine Krise liegt vor, wenn ein Mensch mit Ereignissen und Lebensumständen konfrontiert wird, die in Intensität, Art, Umfang und Dauer so gravierend sind, dass sie seine Belastungsfähigkeit und seine verfügbaren Bewältigungsstrategien übersteigen (2). Eine verlässliche Grenze zwischen Krise und Notfall lässt sich in der Praxis oft nicht ziehen.

Zuverlässige Angaben zur Häufigkeit psychiatrischer Notfälle in der Schweiz gibt es bisher nicht. Die steigende Inanspruchnahme sowohl stationärer als auch ambulanter psychiatrischer Leistungen der letzten 20 Jahre ist jedoch ein indirektes Indiz für eine Zunahme auch von psychiatrischen Notfällen (3).

Die meisten psychiatrischen Notfälle werden von Notfallmediziner­Innen oder AllgemeinpraktikerInnen erstversorgt. Gerade bei diesen belastenden und zeitintensiven Notfällen fehlt es allerdings an differenzialdiagnostischen und therapeutischen Algorithmen für Erstversorger.

Diagnostisches Vorgehen – Medical Clearance

Die Kernfragen bei der Diagnostik psychiatrischer Notfälle betreffen immer wieder die Einschätzung von vitaler Gefährdung, bestehender Eigen- oder Fremdgefährdung, somatischer oder psychiatrischer bzw. stationärer oder ambulanter Behandlungsnotwendigkeit. Bevor jedoch konkret von einem psychiatrischen Notfall oder Krise in der Hausarztpraxis ausgegangen werden kann, muss eine organische (Mit)genese ausgeschlossen respektive ursächlich behandelt werden. Dazu gehört eine so ausführliche Anamnese wie möglich, ein Somatostatus sowie eine Routine-Laboruntersuchung inklusive Drogenscreening (4).

Nach Ausschluss einer somatischen Ursache, was als «medical clearance» bezeichnet wird, ist bei einer psychiatrischen Notfallsituation das oberste Ziel, Eigen- oder Fremdgefährdung zu verhindern. Beides sind Endpunkte mit vielfältigen Ursachen. In der Notfallsituation geht es allerdings nicht in erster Linie um eine genaue Differenzialdiagnose, sondern um eine syndromale Einteilung, von der sich ein sinnvolles Procedere ableiten lässt.

Ursachen und Massnahmen bei Eigengefährdung

Die häufigste Form der Eigengefährdung ist die Suizidalität – häufig im Zusammenhang mit einem depressiven Syndrom. In der Hausarztpraxis ist es entscheidend, die Eigengefährdung überhaupt zu erkennen, d.h. Suizidalität zu explorieren. Untersuchungen zeigen, dass die meisten Suizidenten vor ihrem Suizid nicht mit Hausarzt oder Hausärztin darüber gesprochen haben (5). Einerseits, weil sie nicht spontan über ihre Gedanken oder Pläne reden und andererseits, weil sie auch nicht danach gefragt werden (6). Das Ansprechen von Suizidgedanken löst entgegen weit verbreiteter Meinung keine Suizidgedanken aus. Suizidalität kann und soll offen angesprochen werden. Ebenso irrig ist die Vorstellung, dass Suizidwillige nicht von ihrem Vorhaben abzubringen sind und früher oder später eine Suizidmöglichkeit finden. Verschiedene Studien zeigen, dass ein Grossteil der Menschen, deren Suizid verhindert werden konnte, später nicht durch Suizid stirbt. So starben z.B. von 515 Menschen, die auf der Golden-Gate-Brücke in San Francisco von einem Suizid abgehalten werden konnten, nur gerade 5% in den darauffolgenden 26 Jahren durch Suizid (7).

Nebst depressivem Syndrom können auch Lebensveränderungskrisen (biografische Wendepunkte) und traumatische Stressoren (Katastrophen, Schicksalsschläge, z. B. Verlust eines Angehörigen), die als existenzbedrohend erlebt oder mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins oder eines bevorstehenden Untergangs verbunden sind zu Suizidalität führen. Hinzu kommen parasuizidale Handlungen (selbstverletzendes Verhalten) mit Appell-Charakter, z.B. bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen.
In der Schweiz starben 2018 1002 Personen durch Suizid (ohne Suizidhilfe) (8).

Eine bedeutsame Rolle zur unmittelbaren Suizid-Prävention ist die Aufnahme einer Beziehung des Hausarztes zum Suizidenten. Als Grundprinzipien dieser Beziehung gelten:

  • Akzeptanz von Suizidalität als Ausdruck seelischer Not
  • Offenheit und Klarheit im Umgang mit Suizidalität
  • fürsorgliches Umgehen mit einem schutzbedürftigen Menschen

Dies setzt keine spezifische Therapietechnik, sondern ehrliche, respektvolle und ernsthafte, menschliche Zuwendung durch den Hausarzt voraus.

Im Weiteren gilt es zu entscheiden, ob ein suizidaler Patient ambulant oder stationär, freiwillig oder gar gegen seinen Willen behandelt werden muss. Indikationen für eine stationäre psychiatrische Behandlung sind:

  • das Fehlen sozialer Bindungen
  • impulsives Verhalten in der Anamnese
  • konkrete Suizidpläne oder parasuizidale Handlungen.

Lehnt der Patient in einer solchen Situation eine stationäre psychiatrische Behandlung jedoch ab, muss eine fürsorgerische Unterbringung (FU) erwogen werden. Eine FU in eine psychiatrische Klinik kann gestützt auf Art. 426 ZGB angeordnet werden, wenn eine Eigengefährdung vorliegt und eine nötige Behandlung nicht anders erfolgen kann.

Die syndromorientierte, medikamentöse Therapie besteht in der Regel aus Benzodiazepinen. Bei einer allfälligen Gabe von Benzodia­zepinen ist darauf zu achten, die Dosis nicht zu gering zu wählen, da damit lediglich eine Anxiolyse bewirkt wird und somit die Hemmung vor einer suizidalen Handlung gesenkt wird.

Ursachen und Massnahmen bei Fremdgefährdung

HausärztInnen können im Rahmen von Notfalldiensten auch mit Situationen von Fremdgefährdung konfrontiert sein. Fremdgefährdung tritt meistens zusammen mit fehlender Krankheits- und/oder Behandlungseinsicht auf und geht häufig mit Erregungs- und Unruhezuständen einher. Diese sind diagnostisch vieldeutig und können Leitsymptom einer Reihe von somatischen wie psychiatrischen Erkrankungen sein. In der Notfallsituation steht an erster Stelle der Eigenschutz – Eigenschutz geht vor Fremdschutz. Eine erste Massnahme kann das sogenannte «talking down» sein (9). Hierbei wird durch freundliches Ansprechen und Aufrechterhalten des Gesprächskontaktes versucht, den Patienten zu beruhigen. Im Weiteren gilt bei allen unten aufgeführten Syndromen, dass ein Transport in eine geeignete Einrichtung zur Diagnostik und Therapie angeboten werden sollte. Bei Ablehnung dieses Angebots liegt aber keine Voraussetzung für Massnahmen gegen den Willen des Patienten vor. Diese besteht nur bei Vorliegen einer Eigen- oder Fremdgefährdung. Medikamentös können Antipsychotika (z.B. Haloperidol) allein oder in Kombination mit Benzodiazepinen (z.B. Lorazepam oder Diazepam) verabreicht werden (9). Die Dosierung und Applikationsform richtet sich nach dem Schweregrad der Erregung sowie nach den Begebenheiten vor Ort (Ambulanz vor Ort? Monitorisierung während Transport? Polizei vor Ort? etc.). Folgende Syndrome können mit Fremdgefährdung einhergehen:

Psychotisches Syndrom

Kennzeichnendes Merkmal dieses ätiologisch uneinheitlichen Syndroms sind wahnhafte bzw. paranoide Symptome sowie halluzinatorisches Erleben. Beim Wahn handelt es sich um eine Fehlbeurteilung tatsächlich real existierender Wahrnehmungen oder Ideen. Die Patienten sind in ihrer Überzeugung unkorrigierbar und durch nichts von ihrer Deutung abzubringen. Halluzina­tionen beschreiben Wahrnehmungserlebnisse ohne physikalische Reizquelle, die auf jedem Sinnesgebiet auftreten können. Weiteres Kennzeichen eines psychotischen Symptoms ist ein fehlender Realitätsbezug. Häufig sind hierdurch auch die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Erkrankten alteriert.

Maniformes Syndrom

Bipolar-affektive (manisch-depressive) Störungen sind Erkrankungen mit einem vielgestaltigen klinischen Bild. Die Manie ist durch eine Konstellation typischer Symptome gekennzeichnet wie: gehobene/gereizte Stimmung, übersteigertes Selbstwertgefühl, gesteigerte Betriebsamkeit, Rededrang (Logorrhoe), Ideenflucht, vermindertes Schlafbedürfnis, erhöhte Ablenkbarkeit und risikoreiches Verhalten. Ein übersteigertes Selbstwertgefühl kann mit unkritischem Selbstvertrauen, einem grossartig-grandiosen Selbsterleben und wahnhafter Verkennung bis zum Grössenwahn einhergehen. Im Notfall ist eine Krankheitseinsicht nicht zu erwarten, so dass therapeutische Massnahmen in der Regel abgelehnt werden.

Intoxikationen (Alkohol, Drogen)

Als akute Intoxikation wird ein Zustand bezeichnet, der in einem direkten Zusammenhang mit den akuten pharmakologischen Wirkungen der eingenommenen Substanz steht, der in der Regel vorübergehend ist und bis zur vollständigen Wiederherstellung mit der Zeit abnimmt.

Bei Vorliegen einer substanzbedingten Störung ist die Indikation für eine Pharmakotherapie aufgrund zahlreicher Komplikationen, z.B. Atemdepression, streng zu stellen. Zur Behandlung von Erregung, Unruhe und Angst im Rahmen von Drogenintoxikationen werden primär Benzodiazepine eingesetzt. Bei Alkoholintoxikation oder Mischintoxikationen sind unter dem Aspekt des Erhalts der Vitalfunktionen primär Antipsychotika mit geringen anticholinergen und antihistaminergen Eigenschaften indiziert. Bei Erregung und Agitation im Rahmen von Alkoholintoxikationen wird überwiegend Haloperidol empfohlen. Benzodiazepine bergen in Kombination mit Alkohol ein stark erhöhtes Risiko, eine Ateminsuffizienz hervorzurufen oder zu verstärken (10). Der Erhalt der Vitalfunktionen ist eine vordringliche medizinische Aufgabe. Die Art und der Ort der Versorgung (nur ambulant, Notaufnahme, stationär, Intensivstation) richtet sich nach der Schwere der Intoxikation oder des Entzugs bzw. von deren Komplikationen und der Art der vorherrschenden Symptomatik.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Andreas Wolf, EMBA

Leitender Arzt, Behandlungszentrum für Psychosen
Solothurner Spitäler AG, Psychiatrische Dienste
Weissensteinstrasse 102
4503 Solothurn

andreas.wolf@spital.so.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Suizidalität muss im ärztlichen Gespräch erfragt werden – die meisten Patientinnen sprechen nicht spontan über ihre Suizidabsichten.
◆ Insbesondere bei Patientinnen mit depressiven Symptomen, mit
Suizidversuchen in der Anamnese oder chronischen körperlichen Erkrankungen muss an Suizidalität gedacht werden.
◆ Suizide können verhindert werden – die Mehrheit der vereitelten
Suizide werden später nicht wiederholt.
◆ Das psychotische Syndrom, das maniforme Syndrom und (Misch)
Intoxikationen sind die häufigsten Ursachen von Fremdgefährdung und ziehen bei fehlender Behandlungseinsicht häufig eine fürsor-
gerische Unterbringung in eine psychiatrische Klinik nach sich.

1. Schmitt TK, Pajonk FG, Poloczek S. Psychiatrische Notfälle und Krisen. Notfall & Rettungsmedizin. 2000;
2. Cullberg J. Crisis and crisis therapy. Psychiatr Prax. 1978;
3. Schuler D, Tuch A, Peter C. Psychische Gesundheit in der Schweiz. Monitoring 2020. [Internet]. 2020. 116 p. Available from: https://www.obsan.admin.ch/de/publikationen/psychische-gesundheit-der-schweiz-3
4. Beerhorst KS, Kardels B, Beine KH. Medical clearance bei psychiatrischen symptomen. Notfall und Rettungsmedizin. 2012;
5. Isometsa ET, Heikkinen ME, Marttunen MJ, Henriksson MM, Aro HM, Lonnqvist JK. The last appointment before suicide: Is suicide intent communicated? Am J Psychiatry. 1995;
6. Michel K. Keine Angst vor suizidalen Patienten! Prim Hosp Care Allg Inn Medizin. 2019;
7. Seiden RH. Where Are They Now? A Follow-up Study of Suicide Attempters from the Golden Gate Bridge. Suicide Life-Threatening Behav. 1978;
8. Peter C, Tuch A. Suizidgedanken und Suizidversuche in der Schweizer Bevölkerung (Obsan Bulletin 7/2019). Schweizerisches Gesundheitsobervatorium. 2019;1–9.
9. S2k-Leitlinie Notfallpsychiatrie. S2k-Leitlinie Notfallpsychiatrie. 2020.
10. Kinn M, Holzbach R, Pajonk FGB. Psychosozialer Notfall Substanzinduzierte Störungen durch illegale Drogen – Teil 1. Anasthesiol Intensivmed Notfallmedizin Schmerztherapie. 2008;

Hausärztliche Abklärung der Testierfähigkeit bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen

Aufgrund der Demographie werden dementielle Erkrankungen zunehmen. Eine Demenzdiagnose bedeutet nicht zwingend den Wegfall der Urteilsfähigkeit. Deshalb ist es wichtig, Menschen mit einer Demenz in der Erstellung ihrer letztwilligen Verfügung zu unterstützen, v.a. wenn aufgrund einer belasteten Familienkonstellation rechtliche Klagen nach dem Tod des Erblassers drohen. Dabei kommt der ärztlichen Einschätzung zu Lebzeiten der Erblasserin eine wichtige Bedeutung zu. Die Urteilsfähigkeit muss sorgfältig geprüft und die Resultate der Exploration müssen gut dokumentiert werden. Die Urteilsfähigkeit ist entweder gegeben oder nicht und bezieht sich immer auf ein konkretes Rechtsgeschäft (z.B. das Testament) zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Rahmenbedingungen bei der Exploration der Urteilsfähigkeit müssen den kognitiven Einschränkungen des Erblassers Rechnung tragen.

Due to demographics dementia will increase. It is important to note that the diagnosis of dementia does not necessarily mean the loss of decision-making capacity. The support of people with cognitive impairment is therefore important in drawing up their testamentary dispositions, especially if there is a risk of lawsuits after the death of the testator due to a conflicted family constellation. In this context, the medical assessment during the testator’s lifetime is of great importance. The decision-making capacity must be carefully examined and the results of the exploration must be well documented. The decision-making capacity is either given or not and always relates to a specific legal transaction (e.g. the testament) and a defined point in time. The framework for the exploration of the decision-making capacity must take into account the cognitive limitations of the testator.
Key Words: Decision-making capacity, testamentary capacity, dementia, testator, lawsuit

Wer urteilsfähig und volljährig ist, kann über sein Vermögen letztwillig verfügen und ist testierfähig. Dies gilt grundsätzlich auch für Menschen mit kognitiven Einschränkungen, wie sie bei einer dementiellen Erkrankung vorliegen. Oft ist der Hausarzt die erste Ansprechperson, wenn es um die Überprüfung der Testierfähigkeit geht. Die Abklärung kann allerdings sehr anspruchsvoll sein und in schwierigen Familiensituationen sind Anfechtungsklagen der Erben nicht selten. Ein strukturiertes und gut dokumentiertes Vorgehen zur Beurteilung der Testierfähigkeit ist deshalb wichtig.

Einleitung

Jede volljährige Person kann ein Testament eigenhändig und rechtsgültig schreiben, sofern die Urteilsfähigkeit gegeben ist (ZGB Art. 467). In komplexen Fällen wird der Erblasser sich meistens jedoch Unterstützung durch eine Fachperson (z.B. eine Notarin oder Rechtsanwältin) suchen. Die Fachperson hat die Pflicht, die Handlungs- und Urteilsfähigkeit der Urkundspartei zu prüfen (1). Wie sie bei der Überprüfung vorgeht, bleibt ihr überlassen. In kritischen Fällen wird sie den Erblasser aber bitten, die Urteilsfähigkeit bei einem Arzt seines Vertrauens beurteilen, bzw. von der Hausärztin ein ärztliches Attest ausstellen zu lassen. Bei komplexen Testamenten und wenn auf Grund einer schwierigen Familiensituation eine Anfechtungsklage der Erben möglich erscheint, kann die Fachperson dem Erblasser auch empfehlen, sich an spezialisierte Ärztinnen oder Fachstellen zu wenden (2). Ungültigkeitsklagen wegen (behaupteter) Urteilsunfähigkeit des Erblassers bilden heute in der Gerichtspraxis einen überproportionalen Anteil der erbrechtlichen Kontroversen (3).

Hausärztliche Beurteilung – zentrales Beweismittel im Streitfall

Auch Menschen mit einer Demenz können in einer frühen Phase der Erkrankung noch ein Testament erstellen. Sie müssen allerdings in den Grundzügen verstehen, was ein Testament bedeutet und auch noch im Zeitpunkt der Unterschrift begreifen, was sie verfügt haben. In strittigen Fällen werden die Gerichte darüber entscheiden müssen, ob zum Zeitpunkt der Testamentsabfassung die Urteilsfähigkeit gegeben war. Die hausärztliche Einschätzung entspricht dabei nicht einem gerichtlichen Gutachten im Sinne der Zivilprozessordnung (Art. 183 ff. ZPO), sondern einer Urkunde. Die Gerichte müssen sich auch nicht an die hausärztliche Einschätzung der Urteilsfähigkeit halten (4). Sie gilt dennoch als wichtiges Beweismittel, welches vom Gericht sachgerecht und frei gewürdigt werden muss (Art. 157 ZPO). Es erlangt umso grössere Beweiskraft, je klarer und nachvollziehbarer die Begründung der Urteilsfähigkeit durch den Hausarzt ausfällt. Die hausärztliche Einschätzung zu Lebzeiten des Erblassers kann schlussendlich also darüber entscheiden, ob die letztwillige Verfügung gemäss dem vom Erblasser wirklich «gewollten» Willen erstellt wurde und umgesetzt werden kann.
Der Hausarzt muss damit rechnen, dass er seine Einschätzungen im Falle eines Anfechtungsverfahrens vor Gericht erläutern muss. Dabei hat er die Vorgaben zum ärztlichen Berufsgeheimnis auch nach dem Tod des Erblassers zu beachten, was in der Regel eine Entbindung bei der entsprechenden Gesundheitsbehörde nötig macht.

Prüfung der Testierfähigkeit

Die Prüfung der Testierfähigkeit sollte in 2 Schritten erfolgen (1-3, 5)

Schritt 1: Kognitiver Work Up

Allgemein gilt, dass bei klinischem Verdacht auf eine relevante kognitive Beeinträchtigung in der Hausarztpraxis ein Screening mit gängigen Assessmentinstrumenten durchgeführt werden sollte (6, 7). Weil kognitive Störungen in kurzen Patientenkontakten auch unerkannt bleiben, empfehlen die Autoren, dieses Screening niederschwellig auch dann durchzuführen, wenn ein Patient mit der Bitte vorstellig wird, ein ärztliches Attest im Rahmen einer Testamentserrichtung zu erstellen. Dieses Vorgehen wird auch durch die Deutsche AWMF-Leitlinie zur Untersuchung der Einwilligungsfähigkeit bei medizinischen Entscheidungen gestützt (8).

Als kognitives Screening-Instrument für die Hausarztpraxis eignet sich gemäss den «Swiss Memory Clinics» der MoCa-Test (6). Werte von >= 27 gelten mit hoher Zuverlässigkeit als unauffällig, Werte unter 24 als wahrscheinlich pathologisch. Werte im Bereich von 24-26 befinden sich in einer «Grauzone» (entweder weitere Abklärungen in einer Gedächtnissprechstunde angezeigt oder hausärztliche Verlaufsuntersuchung in 6-12 Monaten) (10, 14). Als Alternative bietet sich als kognitives Screening auch der BrainCheck an, der 3 Standardfragen, Uhrentest und eine strukturierte Fremdanamnese miteinander kombiniert (7).

Im Anschluss an den kognitiven Work Up sollte durch den Hausarzt entschieden werden, ob eine Überweisung an Spezialisten zur weiterführenden Demenzdiagnostik angezeigt ist. Dies soll insbesondere dann geschehen, wenn die Hausärztin klare Hinweise dafür hat, dass die Schwere der kognitiven Beeinträchtigungen die Urteilsfähigkeit tangieren könnte.

Auch wenn der kognitive Work Up im Rahmen der Abklärung der Testierfähigkeit wichtig ist, so besitzt er für die abschliessende Beurteilung nur eine begrenzte Aussagekraft (4, 6, 11). Denn nicht nur die kognitiven Defizite geben über die Testierfähigkeit Auskunft, sondern es gilt auch die Komplexität des Testamentes, die emotionalen und lebenspraktischen Fähigkeiten, die Beeinflussbarkeit des Erblassers sowie die kognitiven Ressourcen zu berücksichtigen (2). Deshalb kommt Schritt 2 der Abklärung eine bedeutende Rolle zu.

Schritt 2: das Gespräch über das Testament

Folgende allgemeine Rahmenbedingungen helfen, eine gut abgestützte Beurteilung der Testierfähigkeit zu erstellen:

Richtiger Zeitpunkt der Abklärung und gute Dokumentation:

Die Testierfähigkeit kann aus Sicht der Autoren in den frühen Stadien der dementiellen Erkrankung gut hausärztlich beurteilt werden, sofern diese Einschätzung objektiv nachvollziehbar und mit der nötigen Systematik erfolgt.
Wir empfehlen eine detaillierte Dokumentation der Exploration in den hausärztlichen Akten, um für nachträgliche juristische Anfragen gerüstet zu sein (idealerweise wortwörtliche/protokollartige, ev. sogar Ton-Dokumentation, falls der Erblasser dazu einwilligt).

Gesprächsumgebung:

Für das Gespräch ist eine ruhige, stressfreie und ungestörte Atmosphäre wichtig. Es ist je nach Situation und Komplexität des Gespräches genügend Zeit einzuplanen. Die Beteiligten sowie der Arzt stellen sich vor. Der Grund des Gesprächs wird erläutert. Während des Gesprächs sind Vertrauensbildung, Blickkontakt und eine zugewandte Sitzhaltung speziell für Menschen mit kognitiven Einschränkungen wichtig. Dem Patienten soll Zeit und Möglichkeit gegeben werden, Fragen und Bedenken zu äussern. Es ist Rücksicht zu nehmen auf allfällige sensorische Beeinträchtigungen (Brille, Hörgerät oder eventuell Conferette tragen). Es muss damit gerechnet werden, dass der Patient kognitiv erschöpfen kann und deshalb die Exploration abgebrochen werden muss.

Bestmögliche Tagesform suchen:

Fluktuationen sind bei einer Demenzerkrankung häufig und können auch in frühen Stadien der Erkrankung auftreten. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist zum Beispiel das Sundowning, ein Verwirrtheitszustand der gegen Abend vorkommen kann. Angehörige können über diese Tagesschwankungen oft gut berichten und andererseits auch «gute Tagesphasen» bezeichnen. Für das kognitive Screening und das Gespräch sollte der bestmögliche Zeitpunkt und die bestmögliche Verfassung des Erblassers gewählt werden (3, 13).

Vereinfachung:

Die Gespräche sollten sich der Aufnahme- und Konzentrationsfähigkeit sowie der Auffassungskapazität der Betroffenen anpassen. Folgende Massnahmen helfen dabei: genügend Zeit einplanen, mehrmaliges Nachfragen, ob Inhalte des Gespräches verstanden wurden, Zusammenfassen des Gesagten, einfache und bekannte Worte wählen, kurze und unverschachtelte Sätze bilden, lautes und deutliches Sprechen (3). Empfehlenswert ist es auch, dass ein Testament in möglichst einfachen Worten abgefasst ist (8).

Vertrauenspersonen:

Sofern die Erblasserin dies wünscht, können auch Vertrauenspersonen anwesend sein, wenn diese die Entscheidungsfindung nicht beeinflussen. Manchmal können durch diesen Einbezug auch allfällige Spannungen und Verwerfungen in der Familie objektiv erfasst werden. Die eigentliche Exploration soll aber immer in einem separaten Gespräch mit dem Erblasser allein erfolgen. Dadurch wird das Risiko einer Beeinflussung, das speziell bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen hoch sein kann, minimiert (9). Hinweise auf eine Beeinflussung, die dem geäusserten Willen des Erblassers entgegenlaufen, sind speziell zu suchen und kritisch zu gewichten. Der Verdacht einer Beeinflussung beim kognitiv eingeschränkten Erblasser ist oft ein zentrales Element bei Anfechtungsklagen.

Gesprächsinhalt:

Das Kernstück der Überprüfung der Testierfähigkeit, bzw. der Urteilsfähigkeit für die Erstellung des Testamentes, bildet wie bereits angetönt das 1:1-Gespräch mit dem Erblasser. Die Exploration der Urteilsfähigkeit sollte, neben den oben beschriebenen Rahmenbedingungen, die von der SAMW vorgeschlagenen Kategorien mentaler Fähigkeiten berücksichtigen: Erkenntnis-, Wertungs-, Willensbildungs- und Willensumsetzungsfähigkeit (12).
Nachstehend werden die verschiedenen Kategorien qualitativ beschrieben, für konkrete Fragestellungen in den einzelnen Kategorien verweisen wir jeweils auf die Ankerfragen (siehe Box). Unsere Vorschläge für die Ankerfragen berücksichtigen die SAMW-Richtlinien zur Urteilsfähigkeit in der medizinischen Praxis, die Leitlinien der Deutschen AWMF zur Einwilligungsfähigkeit und das U-Doc zur Evaluation der Urteilsfähigkeit (8, 12, 15).

Erkenntnisfähigkeit:

Der Erblasser versteht in den Grundzügen, was ein Testament ist und was es bewirken kann. Er hat Wissen über die ungefähre Höhe und die Zusammensetzung des vererbten Vermögens und bei wem er Rat zur Unterstützung bei der Errichtung und Umsetzung eines Testamentes einholen kann.

Wertungsfähigkeit:

Der Erblasser kann verschiedene Optionen abwägen und diese begründen. Persönliche Erfahrungen, Wertvorstellungen, Lebensumstände und weltanschauliche Überzeugungen können die Entscheidungsfindung plausibilisieren. Es ist ein nachvollziehbarer «roter Lebensfaden» als Basis der Entscheidung sichtbar.

Willensbildungsfähigkeit:

Der Erblasser ist fähig, aufgrund der verfügbaren Informationen, den eigenen Erfahrungen und Wertvorstellungen eine Entscheidung zu treffen. Es bestehen keine sicheren Hinweise auf ein spontanes, nicht nachvollziehbares Kurswechseltestament oder eine Beeinflussbarkeit. Der Erblasser zeigt eine stabile Willensbildung. Meinungen und Einflüsse von Dritten können kritisch abgewogen werden. Es zeigt sich eine Konstanz der Entscheidung, was ggf. durch eine Verlaufsexploration nach einigen Tagen durch den Hausarzt aktiv geprüft und dokumentiert werden sollte.

Willensumsetzungsfähigkeit:

Der Erblasser kann seine Entscheidungen verständlich kommunizieren und auch vertreten. Er weiss, wie er seine Anliegen durch ein Testament umsetzen kann.

Abschliessende Beurteilung der Testierfähigkeit

Im Zivilrecht gibt es keine Abstufungen der Urteilsfähigkeit, sie ist also entweder gegeben oder nicht (Dichotomie). Die Urteilsfähigkeit kann auch nur für ein bestimmtes Geschäft (hier das Testament) und nur für einen bestimmten Zeitpunkt (hier die Exploration) beurteilt werden (sachliche und zeitliche Relativität). Dieses «Alles oder Nichts»-Prinzip bedeutet für die Hausärztin, dass sie sich abschliessend festlegen muss. Stützt sie sich dabei auf die für ein Gericht nachvollziehbaren Erkenntnisse der strukturierten Exploration und ist diese sorgfältig dokumentiert, so besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass in einem Streitfall ihrer Beurteilung eine hohe rechtliche Beweiskraft zukommt.

Schlussendlich geht es bei der Abklärung der Testierfähigkeit um das Ziel, auch Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung zu ermöglichen, den Nachlass nach deren eigenen Wünschen und Vorstellungen zu regeln und sie vor ungerechtfertigten Anfechtungsklagen zu schützen. Gerade in frühen Stadien einer Demenz­erkrankung ist dies mit entsprechender Voraussicht und Planung möglich.

Sacha Beck1,6, Brigitte Rüegger-Frey 2,6, Georg Bosshard 3,6, Daniel Grob 4,6, Peter Breitschmid 5,6
1 Dr. med. MHA, Facharzt für Innere Medizin, spez. Geriatrie, Gutachter SIM
Age Medical – Fachstelle Urteilsfähigkeit im Alter
Hardturmstrasse 131, 8005 Zürich
sacha.beck@hin.ch, www.age-medical.ch
2 lic. phil. Fachpsychologin für Neuropsychologie FSP, Gutachterin SIM
3 PD Dr. med. MAE, Facharzt für Innere Medizin, spez. Geriatrie
4 Dr. med. MHA, Facharzt für Innere Medizin, spez. Geriatrie
5 Prof. em. Dr. iur., UZH Lehrstuhl für Privatrecht mit Schwerpunkt ZGB
6 Fachstelle Urteilsfähigkeit im Alter, Zürich

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. MHA Sacha Beck

Facharzt für Innere Medizin, spez. Geriatrie, Gutachter SIM
Age Medical – Fachstelle Urteilsfähigkeit im Alter
Hardturmstrasse 131
8005 Zürich

Fachstelle Urteilsfähigkeit im Alter, Zürich
www.age-medical.ch

sacha.beck@hin.ch

Die Autoren sind Mitglieder des interdisziplinären Teams «Fachstelle Urteilsfähigkeit im Alter», einer Zürcher Anlaufstelle zur Beurteilung der Urteilsfähigkeit bei betagten Menschen mit dementiellen Erkrankungen.

◆ Urteils- und Testierfähigkeit sind rechtlich entweder gegeben oder nicht und beziehen sich immer auf ein bestimmtes Geschäft und auf einen bestimmten Zeitpunkt.
◆ Urteils- und Testierfähigkeit wird in der Rechtsprechung grundsätzlich als gegeben angenommen, das Gegenteil muss bewiesen werden. Bei schweren kognitiven Einschränkungen kehrt sich diese Annahme allerdings um.
◆ Eine sorgfältige, gut strukturierte und dokumentierte Exploration der Testierfähigkeit durch den Hausarzt kann den kognitiv eingeschränkten Erblasser vor ungerechtfertigten Anfechtungsklagen schützen.
◆ Im Rahmen von Anfechtungsverfahren kann das Gericht Hausärztinnen dazu auffordern, ihre Einschätzungen zu erläutern. Die Bestimmungen des Berufsgeheimnisses sind dabei auch nach dem Tod der Erblasserin einzuhalten.
◆ Bei fortgeschrittenen oder unklaren kognitiven Störungen und in komplexen Situationen kann eine Abklärung der Urteils- und Testierfähigkeit durch eine spezialisierte Stelle sinnvoll sein.

 

1. Wolf St, Nuspliger I. Die Urteilsfähigkeit aus rechtlicher Sicht – insbesondere ihre Prüfung durch den Notar. Therapeutische Umschau. 2015;72(4):247-253.
2. Rüegger-Frey B, Bosshard G, Grob D, Breitschmid P. Beck S. Die Testierfähigkeit von Menschen mit Demenz. Schweizerische Ärztezeitung. 2020;101(47):1578-1584.
3. Aebi-Müller R. Testierfähigkeit im Schweizerischen Erbrecht – unter besonderer Berücksichtigung der bundesgerichtlichen Praxis. successio. 2012;1:4–32.
4. Jahn T. Neuropsychologische Gutachten in zivilrechtlichen Verfahren. Möglichkeiten und Grenzen psychometrischer Untersuchungsmethoden. Foren Psychiatr Psychol Kriminol. 2017;11(3):213-227
5. Cording C, Nedopil N. Psychiatrische Begutachtung im Zivilrecht. Ein Handbuch für die Praxis. Lengerich:Pabst Science Publishers;2014
6. Bürge M, Bieri G, Brühlmeier M, Colombo F, Demonet JF, Felbecker A, et al. Die Empfehlungen der Swiss Memory Clinics für die Diagnostik der Demenzerkrankungen. Praxis. 2018;107(8):435-451
7. Ehrensperger MM, Taylor KI, Berres M, Foldi NS, Dellenbach M, Bopp I, et al. BrainCheck – a very brief tool to detect incipient cognitive decline: optimized case-finding combining patient- and informant-based data. Alzheimers Res Ther. 2014;6(9):69.
8. Einwilligung von Menschen mit Demenz in medizinische Massnahmen. Interdisziplinäre S2k-Leitlinie für die medizinische Praxis. AWMF-Leitlinie Registernummer 108-001. 2020.
9. Urbaniok F.: Testierfähgkeit bei komplexen Rechtsgeschäften. AJP/PJA. 2021;03:306-324
10. www.mocatest.ch, letztmals zugegriffen am 17.01.2022

Pollenallergie: Pathogenese, Klinik und Diagnostik

Der sogenannte «Heuschnupfen» ist die häufigste atopische Erkrankung in den Industrieländern und verursacht enorme direkte und indirekte Kosten für die Wirtschaft und das Gesundheitswesen. Die globale Erwärmung sowie die Zunahme anthropogener Umweltschadstoffe, die als hochreaktive, entzündungsfördernde Substanzen unser Immunsystem überstimulieren, tragen am meisten zu seiner Verbreitung bei. Viele Pollenallergiker sind auf mehrere Pollenarten (Bäume, Gräser, Kräuter) sensibilisiert, entweder durch multiple Primärsensibilisierungen oder durch Kreuzreaktionen aufgrund der hohen Sequenzhomologie zwischen Proteinen (Major- und Minorallergene) verschiedener Arten mit diagnostischer Relevanz. Die allergologische Untersuchung basiert auf einer ausführlichen Anamnese, Hauttests und der Bestimmung von Gesamt- und spezifischem Immunglobulin E (IgE) gegen die entsprechenden Allergene. Dieser Artikel erscheint in zwei Teilen: Im ersten Teil wird die Pathogenese, die Epidemiologie, die verschiedenen Pollinosis-Typen und ihre Diagnostik thematisiert, im zweiten die Behandlung der Pollenallergie.

The so-called «hay fever» is the most common atopic disease in industrialized countries and causes enormous direct and indirect costs for the economy and the health care system. Global warming as well as the increase of anthropogenic environmental pollutants, which overstimulate our immune system as highly reactive pro-inflammatory substances, are the main contributors to its spread. Many pollen allergy sufferers are sensitized to several types of pollen (trees, grasses, herbs) either through multiple primary sensitizations or due to cross-reactions because of the high sequence homology between proteins (major and minor allergens) of different species with diagnostic relevance. The allergological investigation is based on a detailed anamnesis, skin tests and determination of total and specific Immunoglobulin E (IgE) against the corresponding allergens. This article is published in two parts: The first part focuses on the pathogenesis, epidemiology, different types of pollinosis and their diagnosis, the second on the treatment of pollen allergy.
Key Words: hay fever, pollen allergy, pharmacological treatments, allergen-specific immunothera

Heuschnupfen, im Fachbegriff Rhinitis pollinosa (RP) bezeichnet, ist eine saisonale rezidivierende entzündliche Erkrankung der Nasenschleimhaut, die bei sensibilisierten Personen bei Exposition via inhalierte Pollen-Allergene durch eine Typ-I-Überempfindlichkeitsreaktion induziert wird (1). Typischerweise reichen die Symptome von juckenden Augen, Niesattacken bis zu laufender oder verstopfter Nase. Das klinische Bild ändert sich aber trotzdem je nach dem Schwergrad sehr, wobei man die Beteiligung von Nase und Augen als Rhinokonjunktivitis bezeichnen müsste. Anstrengungsasthma oder sogar Atemnot können dazu kommen, falls die Erkrankung progressiv die unteren Atemwege befallen hat. Häufigere und stärkere Symptome mit asthmatischer Komponente sind Ausdruck einer chronischen und nicht mehr medikamentös kontrollierbaren Krankheitsprogression. Die Krankheit per se wird seitens des Patienten meist unterbewertet und daher nicht adäquat therapiert. Beim Wort «Heuschnupfen» besteht generell die kollektive Vorstellung, dass es sich um eine harmlose und transitorische Erkrankung mit selbstlimitierenden Symptomen handelt, doch dem ist nicht so. Terminologisch ist der Begriff «Heuschnupfen» obsolet, dessen Herkunft um die Wende des 19. Jahrhunderts auf John Bostock und seine Vorgänger zurückgeführt werden kann. Bei eigenen Patienten vermutete der Engländer bereits, dass das damalige «hay fever» durch Grasblüten oder Gräserpollen und nicht durch Heu verursacht wurde, weshalb sich im Nachhinein der Begriff Pollinosis oder Pollenallergie als treffender herausstellte.

Pathogenese der allergischen Rhinitis

Aus pathogenetischer Sicht entwickelt sich eine Atemwegsallergie nach Aktivierung einer durch Th2-Lymphozyten IgE-vermittelten Reaktion mit Entzündung der respiratorischen Schleimhaut, die durch luftdispergierte Moleküle induziert wird. Inhalative Allergene werden als saisonale (Pollen von Bäumen, Gräsern und Kräutern) und ganzjährige (Hausstaubmilben, Haustiere, Schimmelpilze) eingeteilt. Die Sensibilisierung entspricht der ersten Phase bei der Entzündung, die schliesslich zur Initiierung von Früh- und Spätphasenreaktionen führt (2). Die erneute Exposition gegenüber einem Allergen, gegen das eine Person bereits sensibilisiert ist, löst durch eine allosterische Aktivierung zwischen IgE-Antikörpern und Mastzellen (ansässige Zelltypen in der Nasenschleimhaut) die Freisetzung von neuroaktiven und vasoaktiven Substanzen aus, wobei darunter Histamin, Prostaglandin D2 und Leukotriene die wichtigsten sind. Diese chemischen Mediatoren sind für die nasalen Symptome verantwortlich, welche innerhalb weniger Minuten auftreten. Es kommt zur Polarisation naiver CD4 + T-Lymphozyten in Effektorzellen, die TH2-ähnliche Eigenschaften annehmen und eine lokale IgE-Produktion induzieren. TH2-Lymphozyten sekretieren IL-4, IL-13 und IL-21 und fördern IgE+ B-Zellen (2-3) (Abb. 1). Die Frühphasenreaktionen (EPR; Early Phase) finden bis zu 60 Minuten nach der nasalen Allergen-Exposition (NAC) statt. Während der EPR erreicht der Tryptasespiegel 5 Minuten post-inflamma­torisch einen signifikanten Höchstwert in der Nasenflüssigkeit. Diese Erhöhung wird von schwerer Rhinorrhoe, Niesen, Juckreiz und nasaler Obstruktion begleitet. Die Spätphasenreaktionen treten 4 bis 12 h später nach der Allergenbelastung auf und sind im Allgemeinen durch die Geweberekrutierung von eosinophilen TH2-Zellen gekennzeichnet. Lokal rekrutierte Eosinophile sezernieren toxische Mediatoren, vor allem eosinophiles kationisches Protein (ECP) und Eotaxin, die bei Persistenz das Nasenepithel irreversibel schädigen können (4-5). Dazu wird die entzündete Schleimhaut reaktiver sowohl gegenüber dem ursächlichen Allergen als auch anderen Allergenen oder sogar nicht-allergenen Reizen gegenüber wie Reizstoffen (Tabakrauch, Haarsprays, Gerüche usw.), indem sie unspezifische nasale Hyperaktivität provoziert (6).

Epidemiologie

Gemäss ARIA-Nachforschungen (Allergic Rhinitis and its Impact on Asthma) liegt die Prävalenz bestätigter Pollinosis bei Erwachsenen in Europa zwischen 17 % und 28,5 % und15 % bis 38 % dieser Patienten leiden auch an Asthma bronchiale. Dazu präsentieren zwischen 6 bis zu 85% der asthmatischen Patienten nasale Symptome (7-8). Man schätzt, dass mindestens 500 Millionen Menschen weltweit an allergischer Rhinitis leiden, mit steigender Prävalenz in den letzten 20 Jahren (2). Im Vergleich zu anderen Erkrankungen erscheint die Pollenallergie nicht schwerwiegend, da sie nicht mit schwerer Morbidität und Mortalität verbunden ist. Die Pollinosis geht auch mit sozioökonomischen Folgen einher: Die Arbeitsproduktivität wird stark eingeschränkt, bei Kinder zeigen sich erhebliche Auswirkungen auf die Schulleistung sowie auf das soziale Leben. Nicht zuletzt ist die Schlafqualität und die Leistung von Spielaktivitäten im Freien stark beeinträchtigt, was zu einer Verschlechterung ihrer Lebensqualität führt (2). Kinder mit allergischer Rhinitis erleiden häufiger wiederkehrende Ohrinfektionen und Adenotonsillitiden als Nicht-Allergiker. Epidemiologische Studien belegten eine generelle Zunahme der Pollinose-Prävalenz, hierzulande von 0,8% im Jahre 1926 auf 9,6% im Jahre 1986 bis zurzeit mit ungefähr 20%. Gemäss der SCARPOL-Studie erfolgt ein Anstieg der Pollinose-Prävalenz bei Kindern von der ersten Klasse bis zur Pubertät, wobei Knaben häufiger betroffen sind (9) (Abb. 2). Die Pollinosis geht auch mit evidenten finanziellen Kosten weltweit einher. Man schätzt, dass pro Jahr das Schweizer Gesundheitswesen mit etwa 50-150 Millionen CHF belastet wird, beim Asthma liegt diese Ziffer 6- oder sogar 7-fach höher (10).

Pollenallergene in der Schweiz

Der Pollenkalender ist für Pollenallergiker ein nützliches Hilfsmittel, um den Kontakt mit den allergenen Pollen zu begrenzen und somit die Symptome zu minimieren. In der Schweiz lassen sich grundsätzlich drei Zeitperioden bzgl. des allergenen Pollenfluges unterscheiden (Abb. 3).
Baumpollen im Frühjahr (Januar-April)
Gräserpollen im Frühsommer (Mai-Juli)
Kräuterpollen im Spätsommer (Juli-September)

Frühjahrspollinose

In den ersten Monaten des Jahres dominieren die Pollen der Baumgewächse, unter diesen zuerst die der Erle, der Birken- (Betulaceae) und Haselnussgewächse (Corylaceae). Später erscheinen die Pappelpollen der Weidengewächse (Salicaceae) (in der Schweiz ohne grössere Bedeutung) und vor allem Birken- und Eschenpollen. Esche gehört zu den Ölbaumgewächsen. Kommt ein Eschen-Allergiker z.B. in Mittelmeerländern in Kontakt mit Pflanzen der Oleaceae-Familie (Oliven, Liguster, Flieder, Oleander, Jasmin), können allergische Symptome infolge hoher Kreuzreaktivität auftreten. Es ist daher sinnvoll, Esche stets zusätzlich zu testen und gegebenenfalls eine Immuntherapie in Erwägung zu ziehen. Die Birke ist angesichts ihrer Kreuzreaktivität innerhalb der Betulaceae-Familie und mit Frischobst (Apfel, Kirschen usw.), Haselnuss und Frischgemüse (Sellerie, Karotten usw.) von grossem allergologischen Interesse (sogenannte Birkenpollen-assoziierte Nahrungsmittelallergien).

Frühjahrsommerpollinose

Pollen der am weitest verbreiteten Gräserfamilien (Gramineae, auch Poaceae) verursachen weltweit die häufigste pollenbedingte Symptomatik. In der Schweiz sind Gräser wichtige Pollenallergene mit klinisch relevanter Sensibilisierung bei ca. 20% der Bevölkerung. Etwa 200 Gräserarten sind hierzulande identifiziert worden, bei denen das Wiesen-Lieschgras (Phleum pratense) und der Roggen (Secale cereale) als «Haupttäter» zu nennen sind. Ihre Blütezeit reicht von Ende April bis Ende August, mit dem höchsten Pollenflug zwischen Mai und Mitte Juli. Es besteht auch eine Kreuzreaktivität mit verschiedenen Nahrungsmitteln (Sojamehl, Erdnuss, Kartoffel, Tomate, Bohnen, Erdbeeren und Linsen), auch wenn ihre klinische Häufigkeit nicht so im Vordergrund steht wie bei der Birkenpollernallergie.

Spätsommerpollinose

Beifuss und Ambrosia gehören zur Familie der Korbblütler (Compositae) und sind die Ursache der Symptomatik in den Monaten Ende Juli bis Frühherbst. Die Beifusspollenallergie zeigt eine hohe Kreuzreaktivität innerhalb der Familie der Asteraceae (Kamille, Aster, Margerite, Chrysantheme, Sonnenblume) sowie mit verschiedenen Nahrungsmitteln wie Sellerie Karotten, Gurke, Gewürzen (Anis, Muskat, Pfeffer, Zimt, Ingwer) (vgl. «Beifuss-Sellerie-Gewürz-Syndrom) (11). Ambrosia (Ragweed), versehentlich aus Nordamerika eingeführt, hat sich als Ruderalpflanze schnell in Europa verbreitet. Der Pollenflug ist vor allem im August, aber er breitet sich bis im September aus. Die Verbreitung der Ambrosia wird durch menschliche Aktivitäten begünstigt, insbesondere durch landwirtschaftliche Nutzpflanzen der Frühjahrsaussaat (Sonnenblume), Vogelfutter und Autoverkehr (Pollen haften an den Autoreifen). Klinisch ist Ambrosia ein potenter Allergieauslöser, vor allem im Tessin und im Kanton Genf, mit minimaler Beteiligung in der Restschweiz (12). Bei 40-60% der Ambrosiaallergiker entwickelt sich mit den Jahren ein Asthma bronchiale (13).

Diagnostisches Verfahren

Im Hinblick auf eine spezifische Immuntherapie sollte die genaue Diagnostik dem Allergologen oder einem erfahrenen Spezialisten (Dermatologe, Pneumologe, ORL- oder Kinder-Arzt) überlassen werden, welcher dem praktischen Arzt den Patienten wieder mit genauen Angaben zum weiteren Prozedere (Extraktzusammenstellung, häufig auf Grund der Bestimmung von IgE auf rekombinante Pollenalleregene und Therapieverfahren bzgl. subkutaner oder sublingualer Immuntherapie) instruiert (siehe Tabl. 1 und Tabl. 2).

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Roberto Lo Presti

HautZentrum Zürich
Schaffhauserstrasse 355
8050 Zürich

lopresti.roberto@outlook.com

Prof. em. Brunello Wüthrich

Facharzt FMH für Allergologie und Immunologie
Facharzt FMH für Dermatologie
Langjähriger Leiter der Allergiestation am Universitätsspital Zürich
8125 Zollikerberg

bs.wuethrich@bluewin.ch

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Terminologisch ist der Begriff «Heuschnupfen» obsolet, man sollte von Rhinitis pollinosa oder, da die Bindehäute sehr häufig befallen sind, von einer Rhinokonjunktivitis pollinosa sprechen.
◆ Da häufig nebst Augen und Nase andere Organe befallen werden können, wäre der Begriff «Pollinosis» oder «Pollinose» zutreffender.
◆ Die Prävalenz einer Pollinosis bei Erwachsenen in Europa beträgt
zwischen 17 % und 28,5 %, von den Betroffenen leiden auch 15 % bis 38 % der an Asthma bronchiale.
◆ Pathogenetisch handelt es sich bei der Pollinosis um eine durch Th2-Lymphozyten IgE-vermittelten Reaktion, die zu einer Früh- und einer Spätphasen-Reaktion führt.
◆ In der Schweiz lassen sich grundsätzlich drei Zeitperioden von
Pollinosis unterscheiden: eine Frühjahrspollinose, eine Frühjahrsommerpollinose und eine Spätsommerpollinose.
◆ Die Diagnose einer Pollenallergie benötigt eine ausführliche Anamnese, richtige diagnostische Tests (kutan und serologisch) in Kombination mit einer passender Patientenklinik, unter Berücksichtigung der Symptomatik und ihrem Ausbruch je nach dem Pollenkalender. Die primärere Abklärung sollte immer durch einen Spezialisten (Allergologen, Dermatologen, Pneumologen, ORL- oder Kinder-Arzt) erfolgen.

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Multiple Sklerose

Multiple Sklerose (MS) ist eine entzündliche Erkrankung, die zu einer Zerstörung der Myelinscheide und der Nervenfasern führt. In der Schweiz leiden schätzungsweise 15000 Menschen an dieser Krankheit. Die ersten Symptome treten in der Regel im Alter zwischen 20 und 40 Jahren auf, was diese neurologische Erkrankung zur häufigsten Erkrankung in dieser Altersgruppe macht.

Multiple sclerosis (MS) is an inflammatory disease that leads to destruction of the myelin sheath and nerve fibres. In Switzerland, it is estimated that about 15000 people suffer from this disease. The first symptoms usually appear between the ages of 20 and 40, which makes this neurological disease the most common disease in this age group. Key Words: Multiple sclerosis, autoimmune disease, inflammatory disease
Key Words: Multiple Sklerose, Autoimmunerkrankung, inflammatorische Erkrankung

Bei MS liegt eine Störung des Immunsystems vor. Dieses besteht aus einem angeborenen Immunsystem, das schnell auf Angriffe von aussen reagiert, und einer spezifischen Immunantwort, der sogenannten adaptiven Reaktion. Bei MS werden die Lymphozyten des adaptiven Immunsystems ausserhalb des Zentralnervensystems (ZNS), hauptsächlich in den sekundären Lymphorganen, aktiviert. Die Lymphozyten überwinden dann die Blut-Hirn-Schranke (BBS) und infiltrieren das ZNS an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten. Dies führt zum sequenziellen Auftreten von Plaques (1). Histologisch sind diese Plaques durch fokale perivenuläre Infiltrate von Immunzellen gekennzeichnet (aktivierte T-Zellen, Makrophagen, B-Lymphozyten) und durch Ödeme, als Folge einer Ruptur der BHS und durch Bereiche mit Demyelinisierung und Axonalverlust. Diese wiederholten Angriffe führen nach und nach zu Schäden des Gehirns und des Rückenmarksparenchyms.
Die Entstehung von MS ist multifaktoriell bedingt. Genomweite Assoziationsstudien (GWAS) haben gezeigt, dass die genetische Anfälligkeit vor allem mit Genen zusammenhängt, die mit dem Immunsystem zu tun haben. Der HLADRB1*1501-Haplotyp ist das Gen, das am stärksten mit MS assoziiert ist und das Risiko, die Krankheit zu entwickeln, um das Vierfache erhöht (2). Bei eineiigen Zwillingen liegt die Wahrscheinlichkeit, dass beide an MS erkranken, jedoch nur bei 25 %, so dass die Entstehung grossenteils auf Umweltfaktoren zurückzuführen ist (3). Im Vordergrund steht dabei die Exposition gegenüber infektiösen Erregern, insbesondere dem EBV-Virus, ein Virus der Herpes-Familie. Eine prospektive Longitudinalstudie unter amerikanischen Soldaten zeigte, dass alle Personen, die nach Aufnahme in die Studie MS entwickelten, eine Immunreaktion auf EBV hatten, während 35 % der Soldaten, die nicht erkrankten, eine negative EBV-Serologie aufwiesen. Eine Exposition gegenüber EBV ist daher notwendig, aber nicht ausreichend, um die Krankheit zu entwickeln (4). Unter den weiteren Umweltfaktoren spielt Rauchen eine negative Rolle für das Fortschreiten der MS (5). Unter Rauchern gibt es 50 % mehr MS-Patienten (6). Das Risiko, an MS zu erkranken, ist umgekehrt proportional zu der Zeit, die Kinder im Freien verbringen. Dies steht im Zusammenhang mit einem Vitamin-D-Mangel (7).

Symptome der MS

Da alle ZNS-Strukturen betroffen sein können, sind die klinischen Symptome und Anzeichen vielfältig. Die retrobulbäre Optikusneuritis (RBON), die durch eine Abnahme der monokularen Sehschärfe und Schmerzen bei Augenbewegungen gekennzeichnet ist, zeigt die Krankheit in bis zu 30 % der Fälle an. Eine Myelitis, möglicherweise mit einem sensorischen oder motorischen Defizit unterschiedlicher Intensität und manchmal Blasen- und Darmverschluss-Störungen mit Harndrang, stellt eine weitere Erscheinungsform dar. Gleichgewichts- und Gehstörungen, ein Befall des Kleinhirns, neurogene Schmerzen, Müdigkeit und kognitive Störungen werden ebenfalls häufig beobachtet.

Klinische Formen der MS

Neurologische Symptome, die sich subakut innerhalb weniger Stunden bis zu einigen Tagen entwickeln und länger anhalten als 24 Stunden (ausserhalb eines infektiösen Kontextes), entsprechen Rückfällen. Diese Symptome werden sich mehr oder weniger vollständig zurückbilden, das ist die Remissionsphase. Seltener treten neurologische Symptome, insbesondere Gehstörungen, auf, die sich über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr kontinuierlich verschlimmern. Auf der Grundlage des neurologischen Erscheinungsbildes sind mehrere Formen der Multiplen Sklerose identifiziert worden.

Die schubförmig-remittierende Form ist die häufigste Form im Frühstadium der Krankheit (bei etwa 80 % der Patienten). Sie beginnt meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr mit einer weiblichen Dominanz (Verhältnis Frau / Mann 3:1). Sie ist durch Schübe gekennzeichnet, die zu neurologischen Folgeerscheinungen führen können, mit stabilen Phasen zwischen den Schüben.

Nach 15-20 Jahren werden die Schübe seltener und eine neurologische Progression wird unabhängig von den Schüben beobachtet; dies entspricht der sekundär progredienten Form, der spät schubförmig-remittierenden Form (8).
Bei etwa 20 % der Patienten sind die neurologischen Symptome von Anfang an langsam fortschreitend ohne Schübe und äussern sich vor allem in Gangstörungen oder kognitiven Problemen. Dies ist die primär progressive Verlaufsform.

Diagnose

Die Diagnose von MS basiert auf klinischen Kriterien (Schübe und Progression) sowie radiologischen (auf der Grundlage der zerebral-medullären MRT) und biologischen (Liquoranalyse) Kriterien.

Die Analyse des Liquors ermöglicht den Ausschluss einer anderen Ursache und den Nachweis einer zeitlichen Ausbreitung aufgrund des Vorhandenseins oligoklonaler Banden (OKB), die nur im Liquor und nicht im Serum vorhanden sind. Die Diagnosekriterien werden etwa alle 5 Jahre neu bewertet. Die letzten waren die McDonald-Kriterien 2017 (9). Sie beruhen auf Kriterien der Ausbreitung im Laufe der Zeit (mehrere klinische Anfälle und/oder Läsionen unterschiedlichen Alters in der Magnetresonanztomographie (MRT) und/oder des Vorhandenseins von OKB nur im Liquor) und der räumlichen Ausbreitung (Läsionen an mindestens zwei verschiedenen Stellen im ZNS). Der Ausschluss einer anderen Ursache ist ebenfalls notwendig, die Diagnose MS bleibt eine Ausschlussdiagnose.

Klinisches Management

Multiple Sklerose ist keine heilbare Krankheit. Die heute zur Verfügung stehenden Behandlungen ermöglichen es jedoch, die Entwicklung der Krankheit zu verlangsamen und zu stoppen. Das Management basiert auf der Behandlung des Rückfalls, krankheitsmodifizierenden Behandlungen zur Verlangsamung des Fortschreitens der Krankheit, symptomatischen Behandlungen und Korrektur von Umweltrisikofaktoren.

Behandlung des Schubs

Die Behandlung des Schubs besteht aus hochdosierten Kortikosteroiden, die intravenös verabreicht werden können, d. h. Solu-Medrol 1 gr 1 x /Tag für 3 Tage oder 500 mg 1 x /Tag während 5 Tagen. Kürzlich hat sich gezeigt, dass orale Dosen in ähnlichen Dosen (Medrol) verwendet werden können (10). Allerdings ändert diese Behandlung die langfristige Entwicklung nicht, sie ermöglicht aber eine Besserung der Symptome. Ihre Anwendung ist daher Fällen mit behindernden Symptomen vorbehalten (z.B. starker Sehverlust oder schwere motorische Beeinträchtigung). Eine schrittweise Reduzierung der Prednison-Gabe wird im Allgemeinen nicht verschrieben und ist Fällen von transverser Myelitis oder schwerer Entzündung des Sehnervs vorbehalten.

Krankheitsmodifizierende Behandlungen

Die Forschung und klinische Studien der letzten Jahrzehnte haben zur Entwicklung von krankheitsmodifizierenden Therapien geführt, die das Risiko eines neuen Rückfalls, das Auftreten neuer radiologischer Läsionen vermindern und das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen. Um die Wirksamkeit dieser Behandlungen zu optimieren, sollten sie schnell eingeführt werden, sobald die Diagnose MS gestellt wurde, da die neuronale Degeneration und die Hirnatrophie bei den ersten Symptomen und sogar vor dem ersten Schub beginnen (11). Die ersten injizierbaren krankheitsmodifizierenden Therapien, insbesondere Interferone, wurden vor 40 Jahren eingeführt, und auf sie folgte eine Vielzahl von Behandlungen, die in Tabelle 1 zusammengefasst sind. Diese Behandlungen unterscheiden sich in ihrer Wirkungsweise, ihren Nebenwirkungen und ihrem Sicherheitsprofil. Einige können als Erstlinienbehandlungen eingesetzt werden, andere nur als Zweit- oder Drittlinientherapie.
Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, diese Behandlungen im Detail zu besprechen. Eine wichtige Botschaft ist jedoch die Vorstellung von zwei Konzepten, die sich derzeit zur Kontrolle des Immunsystems abzeichnen: 1° kontinuierliche Behandlungen, Immunmodulatoren oder Immunsuppressiva, die die Immunreaktionen auf reversible Weise kontrollieren und 2° rechtzeitige Induktionsbehandlungen, die eine Immunrekonstitution ermöglichen, die eine weitere Behandlung überflüssig machen sollte, deren Auswirkungen jedoch schwer rückgängig zu machen sind.

Symptomatische Behandlung

Es ist ebenfalls wichtig, dass bei Symptomen wie Spastik, Schmerzen, Depressionen, neurourologische Störungen und Müdigkeit entsprechende Behandlungen eingeführt werden. Diese können hier nicht im Detail behandelt werden.

Änderung der Umweltfaktoren

Zusätzlich zu den krankheitsmodifizierenden Behandlungen wird eine gesunde Lebensweise empfohlen und die Änderung bestimmter Umweltfaktoren ist wichtig. Auch nach Auftreten der Krankheit ist es sinnvoll, mit dem Rauchen aufzuhören, denn jedes weitere Jahr des Rauchens beschleunigt die Umwandlung von schubförmig remittierender MS in progrediente MS um 4,7 % (12). Das Risiko kommt von den Reagenzien im Zigarettenrauch, nicht vom Nikotin. Eine Substitution bei Vitamin-D-Mangel wird ebenfalls empfohlen. Allerdings haben nur wenige Studien einen Rückgang der MS-Aktivität nach einer Vitamin-D-Substitution festgestellt. Vielen dieser Studien fehlt es an Aussagekraft und ihre Dauer ist nicht lang genug. In Anbetracht der Sicherheit der Vitamin-D-Substitution und der Wahrscheinlichkeit, dass sie zur Bekämpfung von MS beiträgt, empfehlen wir eine Vitamin-D-Supplementierung, wenn der Calcitriolspiegel (25-OH-Cholecalciferol) unter 30 ng/ml (75nmol/l) liegt. Es gibt keine spezielle Diät für MS, Kohortenstudien haben jedoch gezeigt, dass eine gesunde Ernährung das Risiko eines Schubs mindert. Wir können nur empfehlen, sich an die Schweizer Empfehlungen für eine ausgewogene Ernährung zu halten. Zusätzlich wird eine regelmässige körperliche Betätigung zur Verbesserung von Müdigkeitssymptome empfohlen.

Nützliche Adressen und Nachschlagewerke zum Nachschlagen:
– Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft: https://www.multiplesklerose.ch
– L’Essentiel : Sclérose en Plaques, 2019 RMS éditions/Médecine et Hygiène

Übersetzt und aktualisiert aus «la gazette médicale» 01_2021

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. med. Caroline Pot

Ausserordentliche Professorin und Belegärztin
Neurologischer Dienst, Abteilung für klinische Neurowissenschaften
CHUV und Universität Lausanne
Rue du Bugnon 21
1011 Lausanne

Caroline.pot@unil.ch

Beratungshonorare (Biogen, Celgene, Merck, Novartis und Roche.

◆ In der Schweiz leiden rund 15 000 Menschen an Multipler Sklerose.
◆ Neuronale Degeneration und Hirnatrophie beginnen mit den ersten neurologischen Symptomen.
◆ Die Einführung einer krankheitsmodifizierenden Therapie nach erfolgter Diagnose kann das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen.
◆ Ein gesunder Lebensstil mit Supplementierung eines Vitamin-D-Mangels, Raucherentwöhnung und gesunder Ernährung trägt zur besseren Bewältigung bei.

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11. Wiler Hausarzt-Symposium

Das Wiler-Hausarzt-Symposium der SRFT (Spitalregion Fürstenland Toggenburg), welches vorletztes Jahr der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen ist, vor kurzem aber am 18.11.21 zum 11. Mal nach bewährtem Muster durchgeführt wurde, erfreut sich bei den praktizierenden Ärzten der Spital-Region Fürstenland-Toggenburg einer grossen Beliebtheit. Es sind die beachtenswerten wissenschaftlichen Fachvorträge im Plenum, die beliebten Workshops im kleineren Diskussionsrahmen, aber auch der kollegiale Austausch «zwischendurch», die das Symposium immer zu einem Highlight im Fortbildungsprogramm der Hausärzte macht. Wiederum stand der Anlass unter der Gesamtleitung des Chefarztes Med.
Klinik Wil (Dr. Markus Rütti) und seinem Stellvertreter (Dr. Marc Looser). Sie haben es wiederum verstanden, ein vielseitiges Tagesprogramm zusammenzustellen.

Den Anfang machte ein Gastroenterologie-Update (dargeboten von S. Petardi, LA Gastroenterlogie im Spital Wil) über die verschiedenen Facetten der Zöliakie (vorkommend bei 1% der Bevölkerung und leider nur in 20% rechtzeitig diagnostiziert). Wir alle glauben sie zwar zu kennen, aber es geht eben nicht nur um die Gluten-Unverträglichkeit. Verschiedene Malabsorptionssyndrome, neurologische Begleiterkrankungen und dermatologische Komorbiditäten (z.B. Dermatitis herpetiformis Duhring) sind zu beachten. Differentialdiagnostisch ist eine Weizenallergie (meist IgE–vermittelt) und die «Nicht-Zöliakie-Nicht-Weizenallergie-Weizensensitivität» abzugrenzen. Zur Diagnosestellung stehen die Schleimhaut-Biopsie (aussagekräftig ab histologisch MARSH 2) und die serologische Antikörper-Abklärung (Gliadin-Ak und AK gegen Tissue-Transglutaminase tTG) und weitere dem Spezialisten vorbehaltene Möglichkeiten zur Verfügung. Therapeutisch kann eigentlich nur die völlige Gluten-freie Diät angeboten werden.

Zu Beginn des zweiten Plenum-Vortrags («Evolutionsmedizin – Was wir von der Vergangenheit lernen können») hat man sich vielleicht gefragt: Was kann mir die wissenschaftliche Mumien-Untersuchung eines Tutanchamun oder von Ötzi bringen? Der äusserst spannende Vortrag von Prof. Frank Rühli belehrte den Zweifler eines Besseren. Denn: «Medicine without evolution is like engineering without physics». Heute untersucht man an den Mumien sogar die DNA, und auch die Zahnstein-Forschung blickt auf über 1000 Jahre zurück. Aber auch die moderne Evolutionslehre ist wertvoll: Die Grösse- und Gewichts-Entwicklung der Schweizer Männer seit 1875 ist dank der Zusammenarbeit mit dem militärischen Sanitätsdienst überblickbar, und die Covid 19-Erkenntnisse und die Krisenbewältigung einer Pandemie lassen sich evolutionsmedizinisch auch besser einordnen. Der Referent zeigte sich überzeugt, dass die Evolutionsmedizin bei der Planung der «global health» mithilft.

Im dritten Hauptreferat klärte PD Thomas Maier (Chefarzt Psychiatrie Wil) vorerst den Unterschied zwischen einer psychiatrischen Krise (verlangt eine rasche Intervention!) und dem psychiatrischen Notfall (sofortige Handlung notwendig!) und erläuterte die sechs Stadien einer Veränderungsmotivation: 1. Absichts­losigkeitsstadium (Präkontemplation), 2. Absichtsbildungsstadium (Kontemplation), 3. Vorbereitungsstadium (Präparation), 4. Handlungsstadium, 5. Aufrechtserhaltungsstadium, 6. Abschluss­stadium. Anhand von drei instruktiven Beispielen ging der Referent vor allem auf die Krisenintervention bei einem «präsuizidalen Syndrom» ein. Hier ist das Zuhören des Hausarztes ganz besonders gefragt. Aus der anschliessenden Diskussion erscheinen besonders erwähnenswert: Haloperidol wird vom Fachmann in der Krisensituation heute weniger häufig als Lorazepam, oder auch Olanzapin (fördert aber Gewichtszunahme), eingesetzt; psychiatrische Patienten sind gegenüber den Ärzten ihres Vertrauens auffallend offen und bei drohender Suizidalität ehrlich; Selbstverletzungen sind für den Patienten oft eine Entspannungsmöglichkeit oder appellativ und bedeuten nicht immer eine akute Suizidalität.

Das Tagesschluss-Referat am Wiler Symposium ist jeweils von besonderer Art. Diesmal referierte Haig Peter (vom IBM Research – ThinkLab Zürich) über «Künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen». Wenn auch für den in IT-Fragen und in der Quantenphysik weniger bewanderten Allgemeinpraktiker vielleicht etwas schwer verständlich, so liessen die zahlreichen Beispiele den Zuhörer doch staunen, wie rasch die Entwicklung in der Computer-Physik (Qubits vs. Bits!) voranschreitet.
Bedeutend praxisnäher sind jeweils die beiden Fallvorstellungen von praktizierenden Hausärzten: Auch diesmal zwei höchst instruktive Fälle aus der Allgemein-Praxis!

Susanna Krah (Aadorf) berichtete von ihrer eigenen kürzlich überstandenen, hoch-febrilen Infektionskrankheit mit interstitieller Bronchiolitis, Unterlappen-Atelektase, langdauernde Therapieresistenz. Corona – oder doch nicht? Schlussendlich wurde eine atypische (Mycoplasmen) Pneumonie gefunden, was den fehlenden Auskultationsbefund, das hohe Fieber, die Kontagiosität bis 90%, das gute Ansprechen auf Azithromycin oder Doxyclin, nicht aber auf Betalactam-Antibiotika, erklärt.

Alexander Teufel (Kirchberg) präsentierte einen vorerst unklaren Fall eines Landwirtes, mit Dyspnoe, Husten, Pneumonie und anderen plagenden Allgemeinsymptomen. Die Abklärung ergab schliesslich eine Tularämie (Infektion mit Francisella tularensis), welche offenbar in der Schweiz recht häufig angetroffen, aber oft verkannt wird. Die Krankheit kann sich als äussere Form (ulzeroglandulär, okuloglandulär, pharngeal) oder aber als innere (invasive) Form (septisch, intestinal, pulmonal) präsentieren. Ohne antibiotische Behandlung (Ciprofloxacin oder Tetracycline) kann die Sterblichkeit bis 30% betragen.

Schliesslich ist über die parallelverlaufenden Workshops (in drei Blöcken) zu berichten. Sie erlaubten es, im kleineren Kreise medizinische Fragestellungen interaktiv zu behandeln. Leider konnten vom Angebot von fünf Möglichkeiten nur drei Seminare besucht werden (die Workshops über Palliativmedizin sowie über Cancer Survivorship Care fielen dieser Beschränkung zum Opfer).

Marianne Korfmann, Schmerztherapeutin Spital Wil, behandelte das schwierige Thema der Fibromyalgie. Zur Diagnostik dient die Stadieneinteilung des Schmerzes nach Gerbershagen. Die Behandlung ist individuell festzulegen (die üblichen Analgetika, nicht NSAR, aber u.a. auch Infusionen mit Procain und Magnesium und Neuraltherapie); eine Chronifizierung ist möglichst zu vermeiden. Der Invaliditätsgrad ist schwer festzulegen, die IV-Berentung deshalb problematisch. – Auch der Post-Zoster-Schmerz kam zur Sprache. Die Erfahrungen mit Pregabalin sind unterschiedlich (wegen Nebenwirkungen ist einschleichend zu dosieren!)

Markus Rütti, Chefarzt Med. Klinik Wil, stellte drei Fälle mit Anämie vor. Laut WHO (bei Frauen unter 120 g/l, bei Männern unter 130 g/l). Zuerst ging es um eine hyporegenerative hypochrome Anämie, durch die Bestimmung der Retikulozytenzahl genauer einteilbar. Der 2. Fall betraf eine mikrozytäre Anämie (mit Thrombozytopenie) bei unklaremVit.B12-Mangel, die perniziöse Anämie war vorerst nicht offensichtlich. Ein dritter Fall betraf eine autoimmun-hämolytische Anämie (im Rahmen einer CLL). Der Direkte Coombs-Test war positiv und wurde speziell besprochen, ebenso der Stellenwert der Fragmentozyten.

Schlussendlich überzeugte auch der Workshop über Harnwegsinfekte (PD Philipp Kohler), Infektiologe, KSp St. Gallen.). Als Take-Home-Messages können gelten:

– Bei jungen Leuten mit typischen HWI-Symptomen ist vorerst kein Urinstatus und kein Uricult nötig, denn in über 75% sind unspezifische E. Coli verantwortlich.
– Primär kann bei asymptomatischer Bakteriurie und banaler Zystitis auf Antibiotika verzichtet werden. Zu Beginn genügen oft eine höhere Trinkmenge und allenfalls NSAR. AB können sogar schaden (Mikrobiom!).
– Bei ProteusInfekten sind Konkremente auszuschliessen.
– Staph. aureus ist selten (eine Blutkultur drängt sich hier auf; eine Endokarditis ist auszuschliessen). Bei behandlungswürdiger rezidivierender Zystitis gibt man Cefuroxim (2 x 5000 mg), Nitrofuradantin (2 x 100 mg) oder Fosfomycin (erst am Abend nach letztem Toilettengang!), evtl. d-Mannose 3 x 2gr/die (nicht kassenzulässig), aber eher nicht ein Quinolon.
– Nitrofuradantin ist nicht gewebegängig, deshalb nicht bei Pyelonephritis und Prostatitis indiziert.
– Bactrim forte wird immer noch viel gebraucht, die Resistenzlage ist konstant, das Stevens-Johnson-Syndrom ist selten.
– Die Indikation zum Dauerkatheter muss immer wieder überprüft werden (DK-Wechsel eigentlich nur wenn verstopft).
– Alternativ nützen bei rezidivierenden HWI: viel trinken, evtl.

Urovaxom (nüchtern, 30 Minuten vor dem Frühstück!), D-Mannose (Femannose, nur bei E. Coli). Auch Cranberry-Produkte scheinen wirksam zu sein.

(Die am Symposium gehaltenen Vorträge sind im Internet abrufbar unter www.wiler-symposium.ch)

Dr. med. Hans-Ulrich Kull

Küsnacht

Moderne Therapie steht auf vier Säulen

Die neue ESC-Leitlinie für die Herzinsuffizienz bedeutet einen Strategiewechsel. Empfohlen wird jetzt eine rasche Therapieeinleitung mit allen vier Prognose-verbessernden Substanzen nach dem Motto: Möglichst früh möglichst vier!

Die Therapie der systolischen Herzinsuffizienz (HFrEF) hat durch die Einführung neuer Substanzen grosse Fortschritte erfahren. Heute stehen neben Betablocker, RAS-Blocker und MRA auch der ARNI und SGLT2-Inhibitoren als Prognose-verbessernde Substanzen zur Verfügung. Dies erforderte eine Aktualisierung der Leit­linie. Die neuen Empfehlungen stellen nach Meinung von Professor Frank Ruschitzka, Zürich, eine Strategie- ja sogar einen Paradigmenwechsel dar.

Als moderne Basistherapie wird jetzt die «4er-Kombi» (ARNI/ACEI, Betablocker, MRA, SGLT2-Hemmer) propagiert. Statt des bisherigen stufenweisen Vorgehens mit einer Titration bis zur Zieldosis bei jedem Schritt und einer sich daraus ergebenden Zeitdauer > 6 Monate wird nun die frühe und parallele Etablierung aller vier Therapieprinzipien empfohlen. Beginnen kann man beispielsweise mit der Kombination Betablocker plus SGLT2-Inhibitor, bevor dann der ARNI und MRA hinzugefügt werden. Alle drei Schritte sollten nach den neuen Empfehlungen innerhalb von vier Wochen und die Titration zur Zieldosis erst nach Initiierung aller Medikationen erfolgen. Nicht die exakte Sequenz ist wichtig, sondern dass in kurzer Zeit alle vier Therapieprinzipien implementiert werden. Nicht abgerückt sind die Autoren von der Empfehlung, den ACE-Hemmer erst dann durch den ARNI (Entresto®) zu ersetzen, wenn der Patient unter dem ACE-Inhibitor weiterhin symptomatisch bleibt. Aber auch der primäre Einsatz des ARNI statt eines ACE-Inhibitors kann erwogen werden, ja es spricht sogar vieles dafür. Geändert hat sich der Stellenwert des AT1-Blockers. Er ist aus dem Standardrepertoir verschwunden und wird jetzt nur dann empfohlen, wenn ACE-Inhibitoren oder der ARNI nicht vertragen werden.

EMPEROR-Reduced- und DAPA-HF-Studie

Die jetzt erfolgte Aufnahme der SGLT2-Inhibitoren als primäres Konzept in die Leitlinie beruht auf den Daten zweier grosser Endpunktstudien, nämlich der EMPEROR-Reduced- und der DAPA-HF-Studie. Im Rahmen der EMPEROR-Reduced-Studie konnte für Empagliflozin (Jardiance®) eine kardioprotektive Wirkung nachgewiesen werden und zwar auch bei Nicht-Diabetikern. Aufgenommen in diese Studie wurden 3,730 Patienten mit einer Herzinsuffizienz (EF ≤ 40%) mit und ohne Diabetes mellitus. Primärer Endpunkt der Studie war die Kombination aus kardiovaskulärem Tod und Hospitalisation wegen Herzinsuffizienz, sekundärer Endpunkt eine Verschlechterung der Nierenfunktion. In der Empagliflozin-Gruppe erreichten 361 Patienten den primären Endpunkt, in der Placebo-Gruppe waren es 462 Patienten. Dies entspricht einer Risikoreduktion von 25%. Die Rate an Hospitalisierungen wegen Herzinsuffizienz wurde um 30% und die Häufigkeit renaler Ereignisse sogar um 50% reduziert. Der Benefit des SGLT2-Inhibitors fand sich auch bei Patienten, die noch nicht vollständig rekompensiert waren. Hinweise für Interaktionen mit dem ARNI gab es nicht.

In einer Diabetes-Studie (DECLARE) konnte zunächst gezeigt werden, dass der SGLT2-Inhibitor Dapagliflozin (Forxiga®) bei Typ-2-Diabetikern das Risiko für die Manifestation einer Herzinsuffizienz senkt. Dabei dürften unabhängig von der Stoffwechselkontrolle einsetzende direkte kardioprotektive Mechanismen die entscheidende Rolle spielen. Dies war die Rationale für die DAPA-HF-Studie, die die Wirkung des SGLT2-Inhibitors Dapagliflozin bei Herzinsuffizienz untersuchte und zwar sowohl bei Diabetikern als auch bei Stoffwechselgesunden.

Die Patienten erhielten 10 mg Dapagliflozin einmal täglich oder Placebo neben der Leitlinien-gerechten Standardtherapie. Nur die Hälfte der Studienteilnehmer hatte einen Typ 2-Diabetes. Durch Dapagliflozin wurde bei einem medianen Follow up von 18,2 Monaten der primäre kombinierte Endpunkt (Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz und kardiovaskulärer Tod) um 26%, das Risiko für eine Verschlechterung der Herzinsuffizienz um 30% und das kardiovaskuläre Sterberisiko um 18% reduziert. Die Gesamtmortalität wurde um 17% gesenkt. Auch die Lebensqualität wurde deutlich verbessert. Dabei gab es keinen Unterschied zwischen Diabetikern und Stoffwechselgesunden. Dapagliflozin wurde gut vertragen, es gab kein Unterschied zu Placebo.

Dr. med.Peter Stiefelhagen