Nicht immer helfen Antihistaminika

Eine Reihe von systemischen Erkrankungen und verschiedene Hauterkrankungen gehen mit Juckreiz einher. Die Gabe eines Antihistaminikums ist nur sinnvoll, wenn Mastzellen sprich Histamin für den Juckreiz verantwortlich sind. Dies ist bei der atopischen Dermatitis nicht der Fall.

Das Spektrum der Erkrankungen, die mit einem Juckreiz einhergehen, ist breit. Grundsätzlich unterscheidet man dermatologische und systemische Ursachen. Zu letzteren gehören der Diabetes mellitus, die chronische Niereninsuffizienz, hämatologische Neoplasien wie die Polycythaemia vera, Paraneoplasien, cholestatische Lebererkrankungen und Neuropathien. Von dermatologischer Seite gilt es zu unterscheiden, ob sich der Pruritus auf primär unveränderter oder primär veränderter Haut also bei einer Dermatose entwickelt. «Doch sekundäre Kratzläsionen können vorherrschen, so dass eine genaue Zuordnung zu einer der beiden Gruppen nicht möglich ist», so Professor Thomas M. Kündig, Zürich. Auch gebe es Patienten, bei denen mehr als eine Ursache (multifaktorieller Pruritus) vorliege oder keine Ursache zu finden sei (Pruritus sine materia).

Die häufigsten dermatologischen Erkrankungen, die mit Juckreiz einhergehen, sind die atopische Dermatitis, die Psoriasis, die chronische Urtikaria und das Exsikkationsekzem. «Gerade Patienten mit einer Psoriasis leiden nicht selten über einen sehr quälenden Juckreiz, der ihre Lebensqualität stärker beeinträchtigt als die Psoriasis-Arthritis», so Kündig.

Atopische Dermatitis: Dupilumab ist ein innovativer Therapieansatz

Die atopische Dermatitis ist die häufigste chronisch-entzündliche Hauterkrankung. Bei ca. 30% der Patienten besteht eine moderate oder schwere Form. Der stärkste Risikofaktor ist eine positive Familienanamnese, d.h. die Heritabiliät ist mit 80% aussergewöhnlich hoch. Die entscheidenden pathophysiologischen Faktoren sind eine epidermale Barrierestörung und eine Immundysregulation. So findet sich eine verminderte Expression epidermaler Barriereproteine, die als Zell-Zell-Verbindungsproteine fungieren. Die verminderte Expression solcher Strukturproteine kann durch Filaggrin-Mutationen verursacht sein. Solche Filaggrin-Mutationen verursachen eine Ichthyosis vulgaris, die wiederum das Risiko für eine atopische Dermatitis erhöht. Aber auch eine veränderte Komposition der epidermalen Ceramide spielt eine Rolle. Folge der epidermalen Barrierestörung ist eine Veränderung des Hautmikrobioms, wobei vor allem die Komposition der Staphylokokken verändert ist. Staphylokokken sind zwar nicht die Ursache der atopischen Dermatitis, aber wesentliche Trigger.

Bei der kutanen Immundysregulation kommt den T-Zellen eine zentrale Bedeutung zu. So finden sich Zeichen einer Typ-2-Entzündung schon in der nicht-läsionalen Haut und diese Entzündung nimmt in den Läsionen deutlich zu. Bei Patienten mit einer atopischen Dermatitis sind aber auch die Spiegel der proinflammatorischer Marker im Serum erhöht als Hinweis auf eine systemische Entzündung.

Mit dem voll humanen monoklonalen Antikörper Dupilumab (Dupixent®) steht ein neuer, erstmals zielgerichteter Therapie­ansatz zur Verfügung. Er richtet sich gegen die alpha-Kette des Interleukin-4 und -13 und blockiert somit die Wirkung dieser beiden Zytokine am Rezeptor. Die Substanz wird alle 2 Wochen in einer Dosierung von 300 mg appliziert. Die EDF-Guidelines 2018 empfehlen Dupilumab bei Patienten mit einem moderaten oder schweren atopischen Ekzem, bei denen eine topische Behandlung nicht ausreichend und eine andere Systemtherapie nicht angezeigt ist. Ein Drittel wird unter einer Monotherapie beschwerdefrei, bei den übrigen sollte die topische Therapie mit einem Steroid oder einem Calcineurin-Inhibitor fortgeführt werden Der maximale Effekt auf die Effloreszenzen wird bereits nach einem Monat erreicht, beim Juckreiz dauere es etwas länger. «Die Gabe eines Antihistaminikum ist bei der atopischen Dermatitis nicht wirksam, da bei der Pathogenese das Histamin keine Bedeutung hat», so Kündig.

Chronische Urticaria: Immer Antihistaminikum der 2. Generation

Unter einer Urtikaria versteht man ein induziertes oder spontanes Auftreten von Quaddeln und /oder Angioödemen. Während Quaddeln durch eine zentrale Schwellung der oberen und mittleren Dermis und einem Erythem charakterisiert sind, Juckreiz bzw. Brennen hervorrufen und innerhalb von 24 Stunden verschwinden, ist das Angioödem, bei dem die Dermis und die Subkutis anschwellen, schmerzhaft und kann bis 72 Stunden anhalten. Eine Urtikaria kann, muss aber nicht Ausdruck einer Allergie sein, wobei Medikamente und Nahrungsmittel am häufigsten sind. Seltener ist die durch physikalische Reize (Reiben, Kälte, Druck, Wärme, Licht, Vibration) induzierbare Urtikaria und die aquagene bzw. die Kontakt-Urtikaria.

Gibt es keinen Auslöser, so spricht man von einer spontanen Urtikaria. Hält diese länger als 6 Wochen an, so lautet die Diagnose «chronische spontane Urtikaria». Diese Erkrankung, die nichts mit einer Allergie zu tun hat, tritt meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf, wobei die Lebenszeitprävalenz bei ca. 2% liegt. Bei 60% der Patienten manifestiert sie sich nur in Quaddeln, bei 33% in Quaddeln und Angioödemen und bei 6 % nur in Angioödemen. Die Quaddeln können über viele Jahre immer wieder auftreten, begleiten den Patienten aber nicht ein Leben lang. Primär gilt es, das Krankheitsbild differentialdiagnostisch von anderen ähnlichen Erkrankungen wie Mastozytose, Vaskulitis, hereditäres Angioödem etc. abzugrenzen.

Die Mastzellen sind die Schlüsselzellen bei der Pathogenese der urtikariellen Reaktion. Sie können durch exogene Allergene aber auch durch Autoantigene aktiviert werden, man spricht von einer autoimmunen bzw. autoallergischen Urtikaria. Aber auch chronische Infekte vor allem im Zahn-, Hals-Nasen-Ohren-Bereich oder im Magen-Darm-Trakt wie Helicobacter pylori können eine chronische spontane Urtikaria auslösen. Dasselbe gilt für die nicht allergische Intoleranz gegenüber Konservierungs- und Farbstoffen in Lebensmitteln oder Medikamenten wie NSAR. In ca. 80% der Fälle gelingt es trotz intensiver Bemühungen nicht, die eigentliche Ursache zu finden. Es ist jedoch sinnvoll, verdächtige Medikamente wie Schmerzmittel abzusetzen und andere Trigger wie Stress zu vermeiden.

Die chronische spontane Urtikaria ist keine Befindlichkeitsstörung. Vielmehr ist die Lebensqualität massiv beeinträchtigt. Betroffene klagen nicht nur über quälenden Juckreiz sondern auch über Schlaf-und Konzentrationsstörungen, Stigmatisierung und Einschränkung der sozialen Beziehungen. Da keine kausale Therapie zur Verfügung steht, bleibt nur die symptomatische Behandlung. Basistherapie sind Anthistaminika. Wegen der sedierenden Nebenwirkung sollten heute aber nur solche der 2. Generation (Desloratidin, Loratidin, Cetirizin, Levocetirizin, Fexofenadin, Ebastin, Rupatadin ) eingesetzt werden. Dies gilt auch für Schwangere und Kinder. Wenn nach 2 Wochen mit der Standarddosierung keine Besserung erreicht wird, sollte die Dosierung bis auf das 4-fache erhöht werden. Antihistaminika der 1. Generation sollten heute, so Kündig, nicht mehr verordnet werden, und zwar wegen der sedierenden Nebenwirkung. Diese führt nämlich nicht zu einer Verbesserung der Schlafqualität sondern sogar zu einer Verschlechterung, da die für die Erholung wichtigen REM-Phasen unterdrückt werden. Für therapierefraktäre Fälle steht ein monoklonaler Antikörper gegen IgE, nämlich Omalizumab, zur Verfügung, der bereits seit vielen Jahren bei therapierefraktärem Asthma bronchiale erfolgreich eingesetzt wird. Alternativ kann auch ein Therapieversuch mit Montelukast oder Cyclosporin A erfolgen. Eine Dauertherapie mit Steroiden ist dagegen nicht sinnvoll.

Bei Patienten mit starkem Juckreiz ohne Ursache empfiehlt sich die Gabe eines Antikonvulsivums wie Gabapentin oder Pregabalin und/oder eines Antidepressivums. Als topische Therapeutika stehen das in verschiedenen Paprika-Arten vorkommende Alkaloid Capsaicin und das Lokalanästhetikum Polidocanol zur Verfügung.

Dr. med.Peter Stiefelhagen

Gicht während der SARS-CoV-2-Pandemie – mehr Schübe, höhere Uratspiegel und funktionelle Verbesserung

Die weltweite Krankheitslast durch das Coronavirus 2019 (COVID-19) hat ein bisher nicht gekanntes Ausmass erreicht. In einem Lagebericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom März 2021 wurden globale Zahlen von 123 419 065 bestätigten Fällen, 2  719 163 Todesfällen und 393 531 neuen Fällen in den vorangegangenen 24 Stunden genannt, wobei der amerikanische Kontinent sowohl bei den bestätigten als auch bei den neuen Fällen und den neuen Todesfällen führend war (1). Zum jetzigen Zeitpunkt ist es durchaus möglich, dass die Pandemie trotz aller von der Weltgemeinschaft ergriffenen Gesundheitsmassnahmen endemisch werden wird. Sie ist nach wie vor ein komplexes und bedeutendes Gesundheitsproblem, das auch die Diagnose und Behandlung anderer Krankheiten beeinflusst (2-4).

COVID-19 stellt eine Herausforderung für Rheumatologen dar, die die direkten und indirekten Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf rheumatische Erkrankungen analysieren müssen (5). Rheumapatienten haben ein höheres Risiko für eine schwere SARS-CoV-2-Infektion, was mit identifizierbaren Faktoren zusammenhängt, darunter die Schwere der Erkrankung, Rauchen, Alter, Begleiterkrankungen und die Behandlung mit Immunsuppressiva, insbesondere mit hohen Dosen von Glukokortikoiden (6-8). Obwohl einige Berichte zu dem Schluss kommen, dass Rheumapatienten dreimal häufiger auf der Intensivstation behandelt werden oder mechanisch beatmet werden müssen, ist die Sterblichkeitsrate bei ihnen nicht höher (7-10).

Das Ziel einer neueren Publikation (11) war es, Veränderungen der klinischen Daten, der Behandlung, der Funktion und der Lebensqualität von Gichtpatienten während der COVID-19-Pandemie zu beschreiben.
Die Autoren führten eine prospektive, deskriptive und analytische Studie mit 101 konsekutiven Gichtpatienten (ACR/EULAR 2015) aus ihrer Klinik durch, die während der Pandemie telefonisch (n=52) oder telefonisch und persönlich (n=68) befragt wurden und zur Teilnahme bereit waren. Zu den Variablen gehören demografische Daten, klinische und Behandlungs-Daten, HAQ, EQ5D-Fragebögen und COVID-19-bezogene Daten. Die Patienten wurden in zwei Gruppen eingeteilt: Gichtanfall (n=36) oder interkritische Gicht (n=65); von 71 Patienten wurden verfügbare Daten vor der Pandemie erhoben. Die statistischen Analysen wurden mit X2, gepaarten t-Tests und Wilcoxon-Test durchgeführt.

Ergebnisse

Bei den eingeschlossenen Gichtpatienten handelte es sich um Männer (95,8 %) mit einem Durchschnittsalter (SD) von 54,7 (10,7) Jahren und einer Krankheitsdauer von 16,4 (9,8) Jahren; 90 % erhielten Allopurinol, 50 % Colchicin als Prophylaxe und 25 % setzten eines oder mehrere Medikamente ab. Der Vergleich der Daten vor der Pandemie mit denen der Pandemie zeigte mehr Schübe (4,4 % vs. 36 %, p=0,01) in den letzten 6 Monaten: 0,31 (SD 0,75) vs. 1,71 (SD 3,1), (p=0,004) und höhere Uratspiegel: 5,6 (SD 1,7) vs. 6,7 (SD 2,2) mg/dL, p=0,016. Unerwarteterweise verbesserten sich die Werte für Funktion und Lebensqualität: HAQ-Score 0,65 (SD 2,16) vs. 0,12 (SD 0,17), p= 0,001. Bei sieben Patienten wurde COVID-19 bestätigt; sie hatten signifikant mehr Schübe, höhere Uratwerte und niedrigere Allopurinol-Dosen und zwei starben.

Schlussfolgerungen

Bei Gichtpatienten traten während der Pandemie 9-mal häufiger Schübe auf. Die Patienten hatten erhöhte Uratwerte, wiesen aber eine unerwartete Verbesserung der HAQ- und Funktionswerte auf. Die Resilienz und die Änderungen des Lebensstils bei Gicht während der COVID-19-Pandemie erfordern weitere Studien.

Quelle: Garcia-Maturano J et al. Gout during the SARS-CoV-2 pandemic: increased fares, urate levels and functional improvement. Clinical Rheumatology https://doi.org/10.1007/s10067-021-05994-z

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

1. WHO Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard. Available at: https://covid19.who.int/ [Internet Accessed March 23, 2021.]
2. Cobey S (2020) Modeling infectious disease dynamics. Science 368(6492):713–714.
3. Ibáñez B (2020) Myocardial infarction in times of COVID-19. Rev Esp Cardiol. 73:975–977.
4. Rodríguez-Leor O, et al. Impact of COVID-19 on ST-segment elevation myocardial infarction care. The Spanish experience. Rev Esp Cardiol (Engl Ed) 2020; 73:994–1002.
5. Morales-Torres J, Aceves-Ávila FJ. Rheumatologists in the COVID-19 era: will there be a new role for the rheumatologist in the care of rheumatic patients? Clin Rheumatol 2020 ; 39:3177–3183.
6. Akiyama S et al. Prevalence and clinical outcomes of COVID-19 in patients with autoimmune diseases: a systematic review and meta-analysis. Ann Rheum Dis.2021 :
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7. Strangfeld A et al Factors associated with COVID19-related death in people with rheumatic diseases: results from the COVID-19 Global Rheumatology Alliance physician-reported registry. Ann Rheum Dis 2020 ; 219498.
8. Singh JA, Gafo A (2020) Gout epidemiology and comorbidities. Seminars in Arthritis and Rheumatism 2020; 50:11–16.
9. Gianfrancesco M et al. Characteristics associated with hospitalization for COVID-19 in people with rheumatic disease: data from the COVID-19 Global Rheumatology Alliance physician-reported registry. Ann Rheum Dis. 2020;79:859–866.
10. Hyrich KL, Machado PM. Rheumatic disease and COVID19: epidemiology and outcomes. Nat Rev Rheumatol 2021. 17:71–72.
11. Garcia-Maturano J et al. Gout during the SARS-CoV-2 pandemic: increased fares, urate levels and functional improvement. Clinical Rheumatology https://doi.org/10.1007/s10067-021-05994-z

Wissenschaft und Verantwortung

In seinem Artikel in dieser Ausgabe schildert Prof. Dr. med. Franz Eberli die Schäden, welche der Wissenschaft, respektive deren Glaubwürdigkeit, während der COVID-19-Krise durch schnell produzierte und bezüglich Integrität fragliche Publikationen zugefügt wurden. Der Autor legt den Finger auf die zentrale Frage der Verantwortung der Wissensproduzierenden in einer Krise. Anhand einiger beindruckender Beispiele zeigt er schonungslos, wie einige Vertreter der akademischen Welt, wahrscheinlich unter gesellschaftlichem und politischem Druck, aber eben auch in der egozentrischen Hoffnung, sich damit einen raschen Vorteil zu holen, grundliegende Regeln der wissenschaftlichen Arbeit verletzt haben und damit zweifellos zu Falschinformation und einem diffusen Misstrauen gegenüber der Wissenschaft beigetragen haben.

Angesichts der Bedrohung durch das Unbegreifliche haben sich die Menschen schon immer Lieferanten von einfachen und falschen Erklärungen zugewandt. So haben Bürger von einigen angesehenen Städten in der Schweiz im 14. Jahrhundert angesichts des Schreckens der schwarzen Pest den Verdacht, dass die Juden die Brunnen vergifteten, anstandslos aufgenommen und zugelassen, dass ganze Judengemeinden brutal ausgelöscht wurden. Heute ist das immer noch so, neu ist die Gewalt der verschiedenen Medien und die fehlende Kontrolle der über Social Media verbreiteten Fake-Nachrichten. In einer Krise wie die der aktuellen Pandemie sind deshalb die Zuverlässigkeit der zur Verfügung stehenden Informationen und das Vertrauen in die zuständigen Behörden und deren Experten zentrale Pfeiler der kollektiven Krisenresilienz.

Gerade weil Wissen sich rollend entwickelt und weil trotz Fortschritten unvermeidlich Lücken in diesem Wissen bestehen, müssen Wissenschaftler und Experten ihre gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und mit Informationen sorgfältig(er) umgehen. Zu viele haben sich plötzlich als Epidemiologen und Virologen geoutet und sich selbstgefällig ihren kleinen Telerealitätsmoment geholt, damit aber unzählige Ungereimtheiten oder nur marginal glaubwürdige Informationen verteilt. Es wurden nicht nur mangelhaft kontrollierte Daten publiziert, fast täglich wurden auch zum Teil düster aussehende Modellierungen und Einschätzungen als zuverlässig dargestellt, obwohl auch ein gutes Computerprogramm nur so gut ist wie die eingespeisten Daten (Rubish in, rubish out). Experten sind nicht diejenigen, die vieles oder alles wissen, sondern diejenigen, die die Grenzen ihres Wissens kennen und zeigen. Experten sollten erst sprechen und insbesondere erst dann an die Öffentlichkeit gelangen, wenn sie sicher sind, dass sie etwas Relevantes und Handfestes zu kommunizieren haben. Die Publikation von unsorgfältig kontrollierten Daten oder von pseudowissenschaftlichen Modellprognosen schadet der Glaubwürdigkeit der wissenschaftlichen Gemeinschaft und gibt den Verschwörungstheoretikern und Verbreitern von falschen Nachrichten Aufwind.

Unwissen ist hart, aber falsches Wissen ist verheerend!

Dr. med. Urs Kaufmann
urs.kaufmann@hin.ch

Dr. med.Urs Kaufmann

Bolligen

urs.kaufmann@hin.ch

Atteindre les valeurs cibles du cholestérol LDL recommandées dans les directives ESC/EAS de 2019

Sur la base des nouvelles données issues d’études cliniques avec des inhibiteurs de la PCSK9, les directives ESC/EAS 2019 recommandent des valeurs cibles plus basses, en particulier pour les patients présentant un risque cardiovasculaire très élevé. Est-il possible d’atteindre facilement ces valeurs cibles? Quelle est la situation à cet égard en Suisse? C’est sur ce sujet que portent les interviews suivantes, menées avec une spécialiste de Suisse alémanique et un spécialiste de Suisse romande.

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Myokarditis heutzutage – Covid-19 geht uns zu Herzen

Das neue SARS-CoV-2 verursacht zusätzlich zur viralen Pneumonie und zum ARDS eine systemische Inflammation mit Multiorganbeteiligung. Eine seltene Manifestation ist die akute Myokarditis, die vom Myokardschaden mit Troponinerhöhung multifaktorieller Ursache noch nicht klar zu differenzieren ist. Noch mehr als die akute Myokarditis bei Covid-19 beschäftigt uns die akute Myokarditis, welche nach Impfung mit einem mRNA-Vakzin gegen SARS-CoV-2 auftreten kann. Diese seltene Nebenwirkung verläuft zumeist mild, ist weniger besorgniserregend als Covid-assoziierte Komplikationen generell sind und sollte die Motivation zur Impfung nicht mindern.

Abstract: In addition to viral pneumonia and ARDS, the new SARS-CoV-2 causes systemic inflammation with multi-organ involvement. Acute Myocarditis is a rare manifestation and it cannot yet be clearly differentiated from myocardial damage with troponin elevation of multifactorial origin. More so than acute myocarditis with Covid-19, we are concerned with acute myocarditis, which can occur after vaccination with mRNA vaccine against SARS-CoV-2. This rare side effect usually has a mild course, and is of less concern than other Covid-associated complications generally are, so it should not reduce motivation to vaccinate. Key Words: Myocarditis, SARS-CoV-2, ARDS, mRNA vaccine
Keywords: Myokarditis, SARS-CoV-2, ARDS, mRNA-Vakzin

Das neue SARS-CoV-2 (severe acute respiratory distress syndrome coronavius-2) verursacht eine virale Pneumonie und bei schweren Verläufen ein ARDS (acute respiratory distress syndrome). Bald nach Ausrufen der Pandemie durch die WHO (world health organization) im März 2020 wurde klar, dass auch eine Beteiligung des kardiovaskulären Systems auftreten kann. Primär zeigt sich ein Myokardschaden mit Troponinerhöhung, wobei die pathophysiologischen Zusammenhänge bisher nur teilweise verstanden sind. Die möglichen Mechanismen und daraus resultierende Folgen, wie Covid-19 das Herz schädigt, können überlappen und sind zum Beispiel: erhöhte Thrombogenität, endotheliale Dysfunktion, Endothelialitis, mikrovaskuläre Thrombenbildung, ein epikardialer Gefässverschluss (akutes Koronarsyndrom), Lungenembolie, Hypoxie bei ARDS, Sepsis mit Hypotonie, direkte Myokardschädigung durch das Virus via ACE-2 Rezeptor, schwere systemische Inflammation mit Zytokinsturm (1). Ein direkter Myokardschaden durch Virusinvasion und -replikation sowie die Hyperinflammation mit indirekter Myokardschädigung beschreiben 2 ursächliche Vorgänge einer akuten Myokarditis. Die Differenzierung der genannten Ursachen ist nicht trivial und gelingt mitunter nicht, zumal häufig von einem multifaktoriellen Geschehen auszugehen ist.

Akute Myokarditis

Zu der Schwierigkeit der Differentialdiagnostik bei einer Troponinerhöhung im Rahmen von Covid-19 kommt hinzu, dass die Diagnosestellung einer akuten Myokarditis bereits vor Covid-19 eine Herausforderung war. Dies nicht zuletzt, weil der Phänotyp der Erkrankung von asymptomatischen Fällen über eine ACS ähnliche Präsentation mit Thoraxschmerzen, eine chronische oder akute Herzinsuffizienz bis hin zum fulminanten Verlauf mit kardiogenem Schock, Arrhyhtmien und plötzlichem Herztod reichen kann. Die Ursachen sind vielfältig. Im Vordergrund steht das Virus als Auslöser für eine akute Myokarditis mit vornehmlich mildem, selbstlimitierendem Verlauf und guter Prognose. Daneben kann es aber auch zu einem chronischen Verlauf mit Inflammation mit oder ohne Viruspersistenz und Entwicklung einer dilatativen Kardiomyopathie (DCM) in bis zu 30% der Fälle, je nach Quelle, kommen (2). Auch andere Trigger oder Medikamente können direkt durch Toxizität oder indirekt durch Autoinflammation eine Myokarditis verursachen. Spezielle Fälle sind die Riesenzellmyokarditis oder die eosinophile Myokarditis, die einer spezifischen Behandlung mittels Immunsuppression bedürfen.

In Anlehnung an die Vorgaben der Working Group on Myocardial and Pericardial Diseases of the European Society of Cardiology (ESC) (3) unterscheidet man zwischen klinisch vermuteter Myokarditis und definitiver Myokarditis. Der klinische Verdacht basiert auf den Symptomen des Patienten, erhöhten Herzenzymen und der Bildgebung. Die Echokardiographie ist immer noch ein zentrales diagnostisches Mittel, wenn auch weiterführende kardiale Bildgebung mehr an Bedeutung gewinnen. Das kardiale MRI ist der Echokardiographie unter anderem darin überlegen, auch bei fehlender Reduktion der linksventrikulären Ejektionsfraktion (LVEF) den Nachweis einer akuten oder abgelaufenen Myokarditis zu erbringen. Erst kürzlich wurden die MR-Kriterien revidiert. Diese neuen Lake Louise Kriterien beinhalten die Koexistenz von T1- und T2- bezogenen Kriterien, zusätzlich zum extrazellulären Volumen (EZV) und dem late gadolinum enhancement (LGE) für myokardiale Inflammation, Nekrose und Fibrose (4). Fundamental ist daneben der Ausschluss einer koronaren Obstruktion, was bei Patienten mit höchstens mittlerem kardiovaskulärem Risiko mittels Koronar-CT geschehen kann. Trotz aller untersuchungstechnischen Fortschritte wird für die definitive Diagnose die Endomyokardbiopsie (EMB) mit Erfüllung der sogenannten Dallas Kriterien gefordert und gilt weiterhin als Goldstandard (3). In der Realität des Klinikalltages wird die EMB insbesondere bei schwerwiegenden Fällen durchgeführt, wenn sich daraus eine therapeutische Konsequenz ergibt, wie es auch von der amerikanischen Gesellschaft für Kardiologie (ACC) empfohlen wird.

Akute Myokarditis nach mRNA Impfung gegen SARS-CoV-2

Das Auftreten von Myokarditiden nach Impfungen ist ein bekanntes Phänomen und wurde in der Vergangenheit insbesondere nach der Verabreichung von Vakzinen gegen Pocken oder Influenza beobachtet.

Mehr als die akute Myokarditis im Rahmen einer SARS-CoV-2 Infektion erhält momentan die Myokarditis als Nebenwirkung der mRNA Impfung gegen das Virus die allgemeine Aufmerksamkeit. Einer der ersten Berichte über eine vermutete impfassoziierte Myokarditis nach mRNA Impfung wurde im April 2021 publiziert. Zwei Studien aus Israel bestätigten den Zusammenhang früh (5, 6). Die zeitliche Latenz zwischen der Verabreichung des Vakzins und ersten Symptomen beträgt im Mittel 3 Tage, es sind zumeist junge Männer im Alter von weniger als 30 Jahren betroffen, mehrheitlich nach Verabreichung der zweiten Impfdosis. Die Ursache ist weitgehend unklar.

Die Verabreichung von mRNA Impfstoffen führt zur Produktion von SARS-CoV-2 Spikeproteinen, welche das Ziel der gebildeten neutralisierenden Antikörper sind. Dies ist die beabsichtigte Immunantwort, welche zur Immunität gegen das Virus führt. Es wird vermutet, dass es bei entsprechender genetischer Prädisposition zu einer über die eigene adäquate Immunantwort hinausgehende Autoinflammation kommen kann. Dies kann durch die Bindung der Antikörper an körpereigene Zelloberflächenantigene zur Zerstörung von Myokardzellen führen (molekulare Mimikry). Andererseits kann es durch eine ausgelöste zytokingesteuerte Hyperinflammation zur Bildung von zirkulierenden Autoantikörpern gegen das Myokard kommen (7). Eine direkte T-Zell vermittelte Impfung-getriggerte Immunantwort gegen Kardiomyozyten wie es zum Beispiel gegen alpha-Myosin beschrieben wurde, ist eine weitere Möglichkeit. Als Trigger ist am ehesten das SARS-CoV-2 Spikeprotein verantwortlich, weniger wahrscheinlich auch eine immunologische Reaktion gegen die mRNA selbst. Zur Vermeidung einer überschiessenden Immunreaktion auf RNA Moleküle sind die Nukleoside im mRNA Impfstoff modifiziert. Ein Wechsel auf ein anderes mRNA Vakzin ist somit nur bedingt sinnvoll.

Die Verläufe sind erfreulicherweise eher mild und selbstlimitierend, wobei Daten über Prognose oder Langzeitverlauf noch nicht bestehen. In jedem Fall sollte nach einer Impfung bei Auftreten von Symptomen, die mit einer Myokarditis vereinbar sind (Tab. 1) (3), ein EKG und eine Blutentnahme mit Bestimmung der Herzenzyme sowie Entzündungsparameter und bei Auffälligkeiten eine kardiologische Beurteilung erfolgen.

Covid-19 und akute Myokarditis
Die Beschreibung von Viren als Ursache einer Myokarditis reicht in die 50er Jahre zurück und seither konnten mehrere direkt oder indirekt myokardschädigende Viren beschrieben werden.

Die klare Abgrenzung einer Myokarditis von einem Myokardschaden mit Troponinerhöhung anderer Ursache im Rahmen einer SARS-CoV-2 Infektion ist nicht trivial. Unter Berücksichtigung anderer Ursachen für den Myokardschaden ist die akute Myokarditis bei Covid-19 klinisch-epidemiologischen Daten zufolge selten respektive wird selten festgestellt. Einerseits ist die Differentialdiagnostik ohnehin schwierig, andererseits kommt es häufig überhaupt nicht erst zur Durchführung der notwendigen Untersuchungen. Grund hierfür ist meist, dass der begleitende Myokardschaden für die Therapie eines generell schwerwiegenden Verlaufes im Rahmen von Covid-19 kaum eine Rolle spielt, weder für die Therapie noch für die Prognose der Erkrankung.

Die Kenntnisse über die akute Myokarditis bei Covid-19 sind daher wenige, beschränken sich auf Fallberichte und über die Richtigkeit von Ursache und Therapie überwiegen Vermutungen. Hinzu kommt, dass wir bei den bisher durchgeführten Untersuchungen auf Diskrepanzen stossen. Zwar ist bekannt, dass SARS-CoV-2 via ACE-2 Rezeptor in die Kardiomyozyten eintreten kann, doch wurde bisher kein definitiver Virusnachweis in einer Endomyokardbiopsie (EMB) bei vermuteter Covid-19 assoziierter Myokarditis erbracht noch in Autopsien nach Tod durch Covid-19. Daher wird postuliert, dass es sich um einen immunologisch getriggerten Prozess handelt. Allerdings konnte in entsprechenden klinischen Verdachtsfällen mittels EMB nie ein typisches lymphozytäres Infiltrat (Abb. 1) oder Myokardnekrosen gefunden werden (7, 8). So auch nicht in dem Fall aus unserer Klinik, einer 25jährige Patientin mit kardiogenem Schock bei fulminanter Myokarditis bei SARS-CoV-2 Infektion, in deren histopathologischen Präparaten aus 7 Myokardstücken nur vereinzelt Lymphozyten, wenige Eosinophile und ebensowenig Nekrosen nachweisbar waren (Abb. 2). Somit erscheint die akute Myokarditis bei Covid-19 nicht einer Myokarditis wie bisher bekannt zu entsprechen, sondern vielmehr einem myokarditisähnlichem Bild mit noch unklarem Pathomechanismus. Aus diesem Grund bleibt die Prognose, insbesondere im Langzeitverlauf, noch unklar und die Therapieansätze sind rein empirisch. Glucokortikoide gelten vorläufig als Mittel der Wahl. Daneben sind bisher NSAR, Immunglobuline und die antivirale Therapie zusätzlich zur klassischen Herzinsuffizienztherapie bis hin zur mechanischen Kreislaufunterstützung und antiarrhythmischen Behandlung zum Einsatz gekommen.

Wie weiter mit der Impfung

Die primäre Sorge vor einer impfassoziierten Myokarditis ist bei Patienten und Ärzten aufgrund der vorliegenden Fallberichte gross. Es muss hier wiederholt und betont werden, dass es sich um eine insgesamt seltene unerwünschte Nebenwirkung handelt und das Risiko für schwere Verläufe einer Myokarditis nach Impfung viel geringer einzuschätzen ist als schwere Verläufe einer Covid-19 vermittelten kardialen Beteiligung zu erwarten sind. Der Nutzen der Impfung überwiegt also bei weitem gegenüber dem leichtgradigen Risiko einer mehrheitlich mild verlaufenden Myokarditis.

Es stellt sich die Frage nach dem weiteren Vorgehen bezüglich der mRNA Impfung nach einer durchgemachten Myokarditis nach Impfung mit einem SARS-CoV-2 mRNA Impfstoff.

Grundsätzlich gibt es nur wenige Ausnahmen für Einschränkungen bezüglich der Verabreichung von mRNA Impfstoff. Eine ehemals durchgemachte Myokarditis gehört nicht dazu, im Gegenteil sollte der betroffene Patient vor einer SARS-CoV-2 in Zukunft geschützt sein. Eine Ausnahme betrifft aktuell die Boosterimpfung nach akuter Myokarditis nach mRNA Impfung, die zumeist nach der zweiten Dosis auftritt. Hier wird vom Bundesamt für Gesundheit ein expektatives Vorgehen in Erwartung neuer Empfehlungen im folgenden Jahr empfohlen (9).

Konklusion

Die Diagnose der akuten Myokarditis stellt grundsätzlich eine Herausforderung dar. Im Rahmen von Covid-19 ist die Troponinerhöhung zu differenzieren von einem Myokardschaden anderer Ursache und zumeist multifaktoriell bedingt. Die akute Myokarditis bei SARS-CoV-2 Infektion wie nach mRNA Impfung ist immunologisch verursacht. Beide Formen der Myokarditis sind selten und betreffen vor allem junge Männer. Der Nutzen des Schutzes vor einer Coronainfektion mit allen Komplikationen inklusive eines schwerwiegenden Verlaufes einer möglichen Myokarditis und Long-Covid Verläufen überwiegt das Risiko einer seltenen impfassoziierten Myokarditis mit zumeist mildem Verlauf bei Weitem.

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Zweitabdruck des in «der informierte arzt» 01-2022 erschienenen Originalartikels.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Maryam Pavlicek-Bahlo

Inselspital, Universitätsspital Bern
Universitätsklinik für Kardiologie
Herz Gefäss Zentrum
Freiburgstrasse 20
3010 Bern

Die Autorin hat keinen Interessenskonflikt in Zusammenhang mit diesem Artikel.

◆ Myokarditis nach Covid-19 und mRNA Impfung gegen SARS-CoV-2 ist selten, Verläufe zumeist mild und die Impfung wird allen empfohlen.
◆ Zumeist betroffen von einer akuten Myokarditis sind junge Männer, nach Impfung mit einer Latenz von 3 Tagen und höchster Rate nach der zweiten Impfdosis. Dann empfiehlt das Bundesamt für Gesundheit vorerst ein Zuwarten mit der Boosterimpfung.
◆ Die Ursache ist am ehesten eine autoinflammatorische Immunantwort als Reaktion auf die SARS-CoV-2 Spikeproteine.
◆ Bei Thoraxschmerzen, EKG-Veränderungen, Troponinerhöhung
auch an Myokarditis denken und für weiterführende Untersuchungen kardiologisch zuweisen.

 

1. Fajgenbaum DC, June CH. Cytokine Storm. NEJM 2020; 383: 225-73.
2. Caforio et al. A prospective study of biopsy-proven myocarditis: prognostic relevance of clinical and aetiopathogenetic features at diagnosis. Eur Heart J 2007;28:1326–1333.
3. Caforio et al. Current state of knowledge on aetiology, diagnosis, management, and therapy of myocarditis: a position statement of the European Society of Cardiology Working Group on Myocardial and Pericardial Diseases. Eur Heart J 2013; 34:2636-48.
4. Ferreira et al. Cardiovascular Magnetic Resonance in Nonischemic Myocardial Inflammation. JACC 2018; 3158-76.
5. Witberg et al. Myocarditis after Covid-19 Vaccination in a Large Health Care Organization. NEJM 2021; 385: 2139-9.
6. Barda et al. Safety of the BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine in a Nationwide Setting. NEJM 2021; 385: 1078-90.
7. Bozkurt et al. Myocarditis with Covid-19 mRNA Vaccines. Circulation 2021; 44: 471-484.
8. Caforio et al. Clinically Suspected and Biopsy-Proven Myocarditis Temporally Associated with SARS-CoV-2 Infection. Annu Rev Med 2022. 73: 10.1-10.18.
9. Bundesamt für Gesundheit und Eidgenössische Komission für Impffragen EKIF. Impfempfehlung für mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 (Stand 21.12.2021).

Herz und Gene – Grundlagen der Kardiogenetik

Viele kardiologische Leitlinien und Guidelines beziehen genetische Daten in die Empfehlungen für die Diagnose und das personalisierte klinische Management ein. Daher sind die Grundprinzipien der kardiovaskulären Genetik für klinische Kardiologen hochrelevant. Sie müssen erkennen, bei welchen Patienten eine genetische Grunderkrankung vorliegen könnte und diese gegebenenfalls zur genetischen Testung überweisen. In diesem Übersichtsartikel werden die Grundprinzipien der medizinischen Genetik zusammengefasst. Ein besonderer Fokus liegt auf einem praktischen Ansatz für klinische Gentests konzentriert auf die folgenden drei Kategorien von Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Aortopathien, Kardiomyopathien und Herzrhythmusstörungen.

Abstract: Many cardiology guidelines incorporate genetic data into recommendations for diagnosis and personalized clinical management. Therefore, the basic principles of cardiovascular genetics are highly relevant to clinical cardiologists. They need to identify which patients may have an underlying genetic disease and refer them for genetic testing when appropriate. This review article summarizes the basic principles of medical genetics. A particular focus is on an approach to clinical genetic testing focused on the following three categories of cardiovascular disease: aortopathiy, cardiomyopathies, and cardiac Arrhythmias.

Key Words: cardiogenetics, cardiac arrhythmia, cardiomyopathy, aortopathy

In den letzten zehn Jahren wurden zunehmend genetische Ursachen für viele Arten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen erkannt. Dies hat je nach genetischer Erkrankung erhebliche Auswirkungen auf die Behandlung der Patienten.

Genetische Diagnosen waren früher schwierig. Die Technik der massiv parallelen DNA-Sequenzierung, sowie kommerzielle Grosslabors haben Kosten- und Verfügbarkeitsproblematik von genetischen Tests, Gen-Panels und gar Exom- und Genom-Sequenzierung aber beseitigt. Dutzende bis hunderte von Genen, die von Interesse sind, können heute zu geringeren Kosten und viel schneller sequenziert werden, so dass klinische Tests leichter zugänglich sind als je zuvor.

Wen soll man testen?

Ein zentraler Grundsatz der klinischen Genetik besteht darin, bei einem eindeutig betroffenen Patienten (dem sogenannten Indexfall) mit der genetischen Untersuchung zu beginnen. So wird die Wahrscheinlichkeit der Identifizierung einer pathologischen Variante (PV) maximiert. Wenn mehr als ein Familienmitglied betroffen ist, sollte in der Regel derjenige Patient untersucht werden, bei dem die Krankheit in einem jüngeren Alter ausgebrochen ist oder der keine störenden Umweltfaktoren aufweist, die zu einem ähnlichen klinischen Bild führen könnten. Wenn der Indexfall bei der Autopsie identifiziert wird, kann eine postmortale Blut- oder Gewebeprobe für die DNA-Analyse entnommen werden.

Steht kein betroffener Patient für die Untersuchung zur Verfügung, kann eine kardiale Phänotypisierung von Verwandten ersten Grades mit Bildgebung, EKG, Belastungstests usw. sinnvoll sein, wenn es eine Familienanamnese für eine potenziell vererbte kardiogenetische Erkrankung gibt.

Wird durch Gentests eine PV identifiziert, die zu den klinischen Merkmalen passt, wird eine Kaskadenuntersuchung von Familienmitgliedern empfohlen. Durch die Untersuchung beider Elternteile kann die risikobehaftete Seite der Familie identifiziert werden. Wenn beide Elternteile negativ getestet werden, könnte die PV beim Probanden de novo aufgetreten sein. Ein sogenannter Mosaizismus in einem nicht betroffenen Elternteil kann zu mehreren betroffenen Nachkommen führen. Deshalb werden Gentests für Geschwister angeboten, auch wenn die Tests der Eltern negativ sind.

Jedes Kind eines Patienten mit einer autosomal dominant vererbten Herzerkrankung hat ein 50%iges Risiko, das pathogene Allel geerbt zu haben, und ein 50%iges Risiko, das normale Allel geerbt zu haben. Ein Geschwisterkind oder ein Kind, das negativ auf eine bekannte familiäre PV getestet wurde, ist nicht gefährdet, die Krankheit zu entwickeln, muss nicht weiter untersucht werden und kann die Krankheit nicht an Kinder weitergeben.

Fallbeispiel 1: Long-QT Syndrom

22-jährige Patientin wird wegen rezidivierenden epileptischen Anfällen trotz antikonvulsiver Medikation in einer neurologischen Abteilung stationär abgeklärt. Während die Patientin im Rahmen der Routinediagnostik ein Langzeit-EKG trägt, erleidet sie erneut einen epileptischen Anfall. Nachträglich ergibt die Auswertung des Langzeit-EKG eine Torsade-des-Pointes-Tachykardie zum Zeitpunkt des vermeintlichen epileptischen Anfalls, die spontan terminiert. Daraufhin fällt erstmalig im Ruhe-EKG eine verlängerte QTc-Zeit von 485 ms auf. Es wird die Diagnose eines LQTS gestellt und es erfolgt die Implantation eines Defibrillators. Nachbetreuende Kardiologe überweist die Patientin im Verlauf in eine Humangenetik, wo der Nachweis einer KCNH2-Mutation und somit eines LQT 2 erfolgt.
Daraufhin folgt nochmals eine gezielte Anamneseerhebung, in der die Patientin erstmalig von durch Schulterklopfen oder Erschrecken ausgelöste Synkopen im Teenageralter berichtet. Die Patientin kann daraufhin über die für das LQT 2 typischen Auslösemechanismen aufgeklärt werden.

Fallbeispiel 2: Arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie

In einer Familie mit 3 Söhnen traten beim ältesten Sohn im Alter von 17 Jahren wiederholte Synkopen im Rahmen von ventrikulären Tachykardien auf. Die durchgeführten bildgebenden Untersuchungen ergaben dabei keinen Hinweis auf eine strukturelle Herzerkrankung.
Unter der Annahme einer idiopathischen rechtsventrikulären Ausflusstrakt-Tachykardie wurden mehrfach Versuche einer interventionellen Ablation vorgenommen. Diese waren erfolglos, sodass dem Patienten ein Defibrillator implantiert wurde. Nach Implantation traten gehäuft durch Arrhythmien getriggerte adäquate Schocks auf, die sich wiederum nur schwer mit Antiarrhythmika kontrollieren liessen und so zu einer starken Traumatisierung des Patienten und seiner Familie führten. Bis zum Alter von 30 Jahren stellte sich jedoch eine relative elektrische Ruhe mit seltenen Ereignissen ein. Der zweite Sohn dieser Familie stellte sich im Alter von 24 Jahren mit dem klinischen Bild einer Myokarditis in einer kardiologischen Klinik vor. Während der akuten Phase mit erhöhten kardialen Markern wurde eine ventrikuläre Tachykardie dokumentiert. Die Echokardiografie, rechtsventrikuläre Angiografie und das kardiale MRT ergaben keinen Hinweis auf eine Arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie (ARVC). Aufgrund der Familienanamnese erfolgte jedoch die Vorstellung in einem tertiären Zentrum zur weiteren Abklärung. Wenige Tage nach Vorstellung erlitt der zweite Sohn einen plötzlichen Herztod. Erst später erfolgte eine molekulargenetische Untersuchung: eine in der Literatur mehrfach beschriebene Mutation im Plakophilin-2-Gen (PKP2) und somit der Nachweis einer ARVC. In der daraufhin erfolgten Durchsicht alter Befunde des ältesten Sohnes fanden sich dann Hinweise auf strukturelle Auffälligkeiten des rechten Ventrikels. Die erneute Ansicht des externen MRT des zweiten Sohnes ergab ebenfalls strukturelle Auffälligkeiten im rechten Ventrikel.

Was soll man testen?

Wenn bei einem Familienmitglied eine PV identifiziert wurde, ist es wichtig, einen weiteren genetischen Bericht zur Bestätigung einzuholen und zu überprüfen. Wurde ein Gen-Panel durchgeführt und ein einzelner PV identifiziert, können die Kaskadentests für Familienmitglieder auf den einzelnen PV beschränkt werden. Wurden keine Gentests durchgeführt oder waren sie nicht diagnostisch, ist eine genetische Untersuchung des Herzens am effizientesten und wirtschaftlichsten, wenn ein Multigen-Panel bestellt wird. Die Gene, die in einem bestimmten Panel enthalten sind (z. B. Kardiomyopathie oder Aortopathie), variieren von Labor zu Labor, die Anzahl der Gene variiert im Laufe der Zeit und es ist zu berücksichtigen, ob der Test eine Deletions-/Duplikationsanalyse umfasst. Bei der Bestellung grosser Panels oder der Exom-Sequenzierung wird die Konsultation eines klinischen Genetikers oder genetischen Beraters empfohlen. Es hat sich gezeigt, dass die Überprüfung genetischer Testbestellungen vor der Testdurchführung durch einen genetischen Berater im Labor den Anteil unangemessener Tests um 26 % reduziert.

Wann sollte getestet werden?

Einige der häufigsten Indikationen für eine genetische Untersuchung des Herzens sind: Kardiomyopathien, plötzlicher Herzstillstand bei jungen Menschen, vererbte Herzrhythmusstörungen, Muskeldystrophien oder Friedreich-Ataxie in Verbindung mit Kardiomyopathie, Aortopathien, angeborene Herzkrankheiten und vererbbare Fettstoffwechselstörungen. Ein jüngeres Erkrankungsalter und eine positive Familienanamnese erhöhen die Wahrscheinlichkeit, eine genetische Ätiologie zu identifizieren. Die Erstellung eines Familienstammbaums über drei Generationen ist ein Standardbestandteil der genetischen Untersuchung und kann wichtige Anhaltspunkte für die Diagnose liefern und aufzeigen welche Familienmitglieder gefährdet sind. Kardiovaskuläre genetische Störungen bei Kindern können autosomal rezessiv, autosomal dominant, X-chromosomal oder mitochondrial vererbt werden. Im Erwachsenenalter auftretende kardiovaskuläre genetische Störungen werden in der Regel autosomal-dominant vererbt.

Phänotypische, kardiale Merkmale

Syndromale genetische Erkrankungen umfassen Merkmale in mehreren Organsystemen und werden häufig in der Kindheit diagnostiziert. Bei Erwachsenen können phänotypische Merkmale, die auf eine genetische Erkrankung hindeuten, auf der Anamnese, der körperlichen Untersuchung oder bildgebenden Befunden beruhen. Zu den Merkmalen einiger Patienten mit Marfan-Syndrom gehören zum Beispiel Hochwuchs, Arachnodaktylie und eine Verlagerung der Augenlinse nach oben. Patienten mit Loeys-Dietz-Syndrom können einen Hypertelorismus und ein bifides Zäpfchen aufweisen. In der Bildgebung ist die Form der Aortensinus und der sinotubulären Kreuzung bei einer genetischen Aortopathie typischerweise ganz anders als bei einer hypertensiven Gefässerkrankung.

Fallbeispiel 3: Hypertrophe obstruktive Kardiomyopathie (HOCM)

40-jähriger Mann mit bekannter familiärer HOCM stellt sich zur genetischen Abklärung der Erkrankung vor. Wenige Jahre zuvor erfolgreiche interventionelle Septumablation mit Alkoholinjektion (TASH: transkoronare Ablation der Septumhypertrophie). Der Sohn des Patienten ist im Alter von 13 Jahren aufgrund eines plötzlichen Herztods verstorben. Zuvor war bei ihm bereits ebenfalls eine HOCM bekannt. Weitere Familienanamnese war bis auf einen unklaren plötzlichen Todesfall im Alter von 33 Jahren bei einem Onkel mütterlicherseits bland. Genetische Diagnostik: Nachweis einer Splice-Mutation im Gen für das myosinbindende Protein C (MYBPC3). Diese Mutation wurde auch bei den beiden Töchtern (22 und 19 Jahre) nachgewiesen, wobei die ältere Tochter im Kardio-MRT grenzwertige Wandstärken aufwies. Beim klinisch asymptomatischen älteren Bruder des Indexpatienten wurde ebenfalls die Mutation nachgewiesen, gleichzeitig fand sich in Echokardiografie und MRI der Nachweis einer nicht obstruktiven HCM.

Fazit: Früher an die Genetik denken

Leider werden viele Patienten mit einer genetischen Erkrankung erst nach einem akuten klinischen Ereignis, wie z. B. einem wiederbelebten Herzstillstand, einer Aortendissektion oder einer akuten Herzinsuffizienz, medizinisch betreut. Andere kardiovaskuläre Ereignisse, die potenziell auf eine genetische Grunderkrankung hindeuten, sind z. B. die Dissektion der Halsschlagader, Synkopen bei körperlicher Anstrengung oder strukturelle Anomalien, die bei bildgebenden Verfahren oder bei der Autopsie festgestellt werden.

Ein wünschenswertes Beispiel dafür, wie sich Gentests auf die Prävention und Behandlung von Herzrhythmusstörungen auswirken könnten:

  • Derzeitiges Modell: Patienten werden wegen unspezifischer Beschwerden wie Schwindel, Herzklopfen oder Synkopen von verschiedenen Fachärzten untersucht. Ein Herzstillstand kann der erste Kontakt mit einem Kardiologen sein.
  • Zukunftsmodell: Patienten mit erhöhtem Risiko können durch Gentests und Familienanamnese identifiziert werden. Kardiale Bildgebung und Elektrophysiologie könnten bei dieser Untergruppe eine frühe Erkrankung erkennen. Durch die Kombination von Gentests und kardialer Phänotypisierung können Patienten mit hohem, mittlerem und niedrigem Risiko für personalisierte Empfehlungen stratifiziert werden. Zu den Patienten mit hohem Risiko gehören Patienten mit Synkopen in der Vorgeschichte (QTc ≥500 ms) und plötzlichem Herztod in der Familien­anamnese.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. med. Dr. iur. Thomas D. Szucs

Witellikerstrasse 40
8032 Zürich

thomas.szucs@hin.ch

Der Autor hat keinen Interessenskonflikt in Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Klinische Gentests sind heute für verschiedene Arten von kardiovaskulären Erbkrankheiten zugänglich.
◆ Pathogene Varianten sind Nukleotidveränderungen, die zu einer veränderten Produktion oder Funktion des von dem betreffenden Gen kodierten Proteins führen, was sich in klinischen Manifestationen äussert.
◆ Die klinische und bildgebende Untersuchung auf phänotypische Merkmale und eine ausführliche Familienanamnese sind die ersten Schritte bei der Untersuchung von Patienten, die möglicherweise eine kardiovaskuläre Erkrankung aufgrund einer genetischen Ursache haben.
◆ Ein zentraler Grundsatz der klinischen Genetik besteht darin, die genetische Untersuchung bei einem eindeutig betroffenen Patienten (dem Indexfall oder Probanden) zu beginnen, um die Wahrscheinlichkeit der Identifizierung einer pathologischen Variante zu maximieren.
◆ Wurde eine pathologische Variante identifiziert, sollten die Gentests bei anderen Familienmitgliedern auf das einzige pathogene Gen beschränkt werden.
◆ Häufige Gründe für Gentests in der klinischen Kardiologie sind phänotypische Merkmale, ein klinisches Ereignis oder eine Familienanamnese, die auf eine Erbkrankheit bei Patienten mit Aortopathie, Kardiomyopathie oder Herzrhythmusstörungen hinweisen.
◆ Die Identifizierung einer pathogenen Variante ändert häufig das klinische Management in Bezug auf die Notwendigkeit und den Zeitpunkt einer bildgebenden Überwachung, die optimale Wahl der medizinischen Therapie, Empfehlungen zu Lebensstil und Bewegung, Familienplanung und Schwangerschaftsrisiko sowie Zeitpunkt und Art eines chirurgischen Eingriffs.
◆ Die Identifizierung einer Variante mit unklarer Signifikanz sollte keinen Einfluss auf die klinische Entscheidungsfindung haben, und die Tests sollten nicht betroffenen Familienmitgliedern zur Risikobewertung angeboten werden.

1. Musunuru K et al. Genetic Testing for Inherited Cardiovascular Diseases. A Scientific Statement From the American Heart Association. Circ Genom Precis Med. 2020;13:e000067. DOI: 10.1161/HCG.0000000000000067
2. Moog U., Riess O. Medizinische Genetik für die Praxis. Thieme Stuttgart 2014