Konservative Behandlung der Gonarthrose

Etwa 40% der über 60-Jährigen sind von Gonarthrose betroffen. Werden die vielen Register der konservativen Therapie gezielt gezogen, gelingt es oft, die Schmerzen suffizient zu reduzieren und die Gelenkfunktion über viele Jahre zu erhalten. Im Management verlagert sich der Trend von den medikamentösen zu den nicht medikamentösen Massnahmen. Die ersten Therapieschritte umfassen die Patientenschulung, ein Übungsprogramm und bei Bedarf eine Gewichtsreduktion.

Abstract: About 40% of people over 60 are affected by knee osteoarthritis. If all the stops of conservative therapy are pulled out in a targeted manner, it is often possible to reduce pain sufficiently and to maintain joint function for many years. In the management, the trend is shifting from drug to non-drug measures. The first therapy steps include patient education, an exercise program and, if necessary, weight reduction.
Keywords: knee osteoarthritis, NSAIDs, glucosamine/chondroitin, intra-articular therapy

Abklärungen vor Therapie

Das Krankheitsbild der Gonarthrose ist vielgestaltig. Vor der Behandlungsplanung gilt es abzuklären, in welchem Ausmass die einzelnen Gelenkkompartimente betroffen sind. Dafür sind die klinische und konventionell-radiologische Untersuchung oft ausreichend. Letztere ist nicht zwingend, zumal oft eine starke Diskrepanz zwischen der Klinik und den Röntgenbefunden besteht (Abb. 1). Zur radiologischen Beurteilung des femorotibialen Gelenkes eignen sich Aufnahmen im Einbeinstand am besten. Die Beinachse, die ligamentäre Stabilität und die muskuläre Führung sind immer mitzubeurteilen. Klinisch soll zudem geprüft werden, ob eine Aktivierung besteht, welche durch Ruheschmerzen, Schwellung, Erguss und Überwärmung charakterisiert ist. Auch die Erfassung einer sich durch myofasziale Druckdolenzen äussernden Periarthropathie ist wichtig. Gegenüber dem Röntgen erlaubt das MRI eine differenziertere Beurteilung des Knorpelschadens, des Zustandes der Menisken und nicht zuletzt auch des subchondralen Knochens. Vor allem bei plötzlichen starken Schmerzen und konventionell-radiologisch nur gering ausgeprägten Veränderungen hat das MRI einen hohen Stellenwert zur Erfassung osteochondraler Defekte, denen unter anderem subchondrale Insuffizienzfrakturen, die Osteochondritis dissecans oder auch die avaskuläre Osteonekrose zugrundeliegen können (Abb.2a - c). Manche dieser Pathologien erfordern spezifische therapeutische Massnahmen, insbesondere Entlastung. Das MRI ist auch bei Blockierungsphänomenen indiziert.

Vor der Therapieplanung gilt es, die Patientenpräferenzen zu erfassen wie z.B. die Bereitschaft für ein Übungsprogramm oder eine Medikamenteneinnahme.

Es sind diverse Guidelines zur Therapie publiziert; in der Praxis erweisen sich diese aber oft als nur wenig hilfreich, weil sie der Heterogenität des Krankheitsbildes der Gonarthrose und den individuellen Patientenbedürfnissen nicht genügend Rechnung zu tragen vermögen.

Physiotherapie

In der Erstversorgung der Gonarthrose zeichnet sich ein Trend ab weg von den medikamentösen hin zu den nicht medikamentösen Massnahmen (Abb. 3). Physiotherapeutisch ist auch bei eingeschränkter Funktion ein gut dosiertes Übungsprogramm erste Wahl. Passive Interventionen mit manuellen Techniken, Triggerpunkt- oder anderen Weichteilbehandlungen sollen nur wenn nötig und zusätzlich zum spezifischen Training erfolgen.

Ein Guideline-basiertes Management hat bislang gefehlt. Das GLA:D®-Arthroseprogramm schliesst diese Lücke (Tab. 1). GLA:D® (Good Life with osteoArthritis Denmark) wird international implementiert. In Dänemark gibt es seit 2013 über 55’000 Teilnehmende, in der Schweiz seit 2019 rund 3000. Die ersten Schweizer Ergebnisse zeigen, dass eine substantielle Verbesserung von Schmerzen, Analgetikakonsum, Gehfähigkeit und Lebensqualität auch ein Jahr nach Absolvieren des Programms noch anhält.

Gewichtsreduktion

Die Gewichtsabnahme gehört zu den wirksamsten Massnahmen zur Schmerzverminderung und Funktionsverbesserung. Es gibt auch Hinweise, dass die Arthroseprogression durch eine Gewichtsreduktion verlangsamt wird; entsprechend hat die Gewichtsabnahme als bislang einzige Therapiemassnahme das Potenzial, bei der Gonarthrose krankheitsmodulierend zu wirken. Alle übergewichtigen Patienten sollen deswegen diätetisch beraten werden.

Bandagen

Elastische Kniebandagen sind vor allem beim Gehen auf unebenem Terrain nützlich, um über eine Verbesserung der Propriozeption die muskuläre Stabilisierung des betroffenen Gelenkes zu verbessern. Eine eigentliche Schienung ist nur dann sinnvoll, wenn eine starke Instabilität besteht.

Einlagen- und Schuhversorgung

Obschon der Effekt keilförmiger medialer bzw. lateraler Ferseneinlagen bei der lateralen bzw. medialen femorotibialen Arthrose nur gering ist, kann sich ein Versuch damit vor allem bei Achsenfehlstellungen durchaus lohnen. Bestehen Fussdeformitäten, sind diese bei der Einlagenversorgung natürlich zu berücksichtigen. Beim Schuhwerk soll auf eine gute Schockabsorptionsfähigkeit der Sohlen geachtet werden.

Hilfsmittel

Der Effekt einer Stockentlastung wird oft unterschätzt: Die Nutzung eines kontralateralen Stockes vermag die Gewichtsbelastung des Kniegelenkes um mehr als 50% zu vermindern.

Analgetika-Therapie

Hauptpfeiler der analgetischen Therapie sind Paracetamol (allenfalls auch Metamizol) und die nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR). Paracetamol wirkt weniger analgetisch als die NSAR, und bei Aktivierungen ist es meistens ungenügend. Da die Gonarthrose typischerweise eine Erkrankung fortgeschrittenen Alters ist, gilt es beim Einsatz von NSAR den häufig damit verbundenen Risiken bzw. den Komorbiditäten Rechnung zu tragen. Die Minimierung des gastrointestinalen Risikos herkömmlicher NSAR mittels Protonenpumpenhemmer ist durchwegs als Standard etabliert. Weniger berücksichtigt wird in der Praxis aber die Erhöhung des kardiovaskulären Risikos, welche mit gewissen NSAR wie Diclofenac und den Cox-2-Hemmern verbunden ist. Bei Risikopatienten sind deswegen Substanzen mit gutem kardiovaskulärem Sicherheitsprofil wie Naproxen, Ibuprofen oder niedrigdosiert Celecoxib zu empfehlen. Bei Antikoagulation sind die Cox-2-Hemmer eine gute, oft zu wenig genutzte Option. Opioide haben nur bei kurzzeitigem Einsatz einen Stellenwert; neuere Studien belegen, dass sie bei längerfristigem Einsatz obigen Analgetika nicht überlegen sind, aber mehr Nebenwirkungen haben. Bei einer Periarthropathie (myofasziale Druckdolenzen) lassen sich auch schmerzmodulierende Substanzen wie Duloxetin anwenden.

Topische Therapie

Lokal aufgebrachte NSAR können sich bei Patienten mit dünnem Hautmantel als nützlich erweisen. Eine weitere Möglichkeit ist Capsaicin, insbesondere falls eine neuropathische Schmerzkomponente besteht.

Intraartikuläre Therapie

Steroidinjektionen sind bei einer Aktivierung indiziert. Wegen ihrer viel zu kurzen Wirkdauer ist von löslichen Präparaten wie Dexamethason abzuraten. Als kristalline Substanz hat sich Triamcinolon besonders bewährt; am längsten wirksam ist Triamcinolon-Hexacetonid. Für eine optimale Wirkung empfiehlt es sich, vor der Injektion den gesamten Erguss zu aspirieren und danach das Gelenk bis am folgenden Morgen soweit möglich zu entlasten. Repetitive intraartikuläre Steroidinjektionen beschleunigen leider die Knorpeldegeneration, was kürzlich für Triamcinolon-Acetonid 40 mg viermal pro Jahr nachgewiesen worden ist. Zudem haben Steroide mit ihrer systemischen Wirkung oft eine erhebliche Toxizität. Entsprechend macht es Sinn, nach Abklingen der Aktivierung andere intraartikuläre Therapiemodalitäten wie die Viscosupplementation und Plättchen-reiches Plasma (PRP) heranzuziehen (Tab. 2). Solche haben ihren Stellenwert vor allem bei einem leichten bis mässigen Grad der Gonarthrose. Bei der Viscosupplementation wird Hyaluronsäure ins Gelenk eingebracht. Die Wirkung tritt später als bei den Steroiden ein, hingegen hält sie wesentlich länger an, typischerweise 2-4 Monate. Hyaluronsäure-Präparate werden in der Schweiz nicht von den Krankenkassen übernommen, da sie als «Device» bzw. «Medizinprodukt» fungieren. Aufgrund ihrer prolongierten Wirkung muss allerdings von einem pharmakologischen Effekt ausgegangen werden. Auch bei der Hyaluronsäure-Injektion ist vorgängig eine vollständige Aspiration des Ergusses wichtig, weil sich die Wirkung dadurch verbessert. Hyaluronsäure lässt sich mit einem kristallinen Steroid kombinieren, was eine rasch eintretende und lange anhaltende Schmerzabnahme mit einer einzigen Injektion erlaubt. Hyaluronsäure kann problemlos repetitiv angewandt werden. Etwa ähnlich wirksam ist Plättchen-reiches Plasma (PRP). Dieses muss jeweils aus Eigenblut zubereitet werden und wird ebenfalls nicht von den Kostenträgern übernommen. Die Applikation soll ohne Lokalanästhetika erfolgen, damit die eingebrachten Thrombozyten nicht gehemmt werden. Eine Kombination mit kristallinen Steroiden ist nicht sinnvoll. Auch PRP kann repetitiv angewandt werden. Leider gibt es keine Prädiktoren, ob bei einem individuellen Patienten Hyaluronsäure oder PRP besser wirksam ist.

Chondroitin/Glucosamin

Für diese sogenannten Chondroprotektiva ist bei langfristiger Anwendung vor allem in höheren Dosierungen ein milder analgetischer und funktionsverbessernder Effekt belegt. Ein eigentlicher krankheitsmodulierender Effekt im Sinne einer Verlangsamung der Arthroseprogression ist bislang aber nicht erwiesen. Da diese Substanzen gut verträglich sind, kommen sie bei Patienten zur Anwendung, welche eine kontinuierliche Einnahme akzeptieren.

Phytotherapeutika

Die analgetische Wirkung von Phytotherapeutika ist im Vergleich zu herkömmlichen Analgetika geringer; bei Patientenpräferenz haben aber Substanzen wie z. B. Harpagophytum durchaus ihren Stellenwert, zumal ihre Wirkung ausreichend belegt ist.

Edukation

Für den Erfolg obiger Massnahmen ist eine gute Patientenedukation unabdingbar. Zum Selbstmanagement kann unter anderem die Applikation von Wärme (vor allem bei periarthropathischen Schmerzen geeignet) und Kälte (vor allem bei Aktivierung geeignet) empfohlen werden.

Je multimodaler, umso erfolgreicher

Die Wirksamkeit der meisten obigen Einzelmassnahmen ist wissenschaftlich recht gut belegt; insgesamt sind die Effektgrössen aber nur gering. Bei der kombinierten Anwendung lassen sich in der Praxis aber oft sehr zufriedenstellende Ergebnisse erzielen; erfahrungsgemäss ist die Therapie umso erfolgreicher, je multimodaler sie gestaltet wird. Auch wenn sich der Nutzen multimodaler Therapiekonzepte naturgemäss wissenschaftlich kaum belegen lässt, sollen in der Praxis also sämtliche beim einzelnen Patienten zur Verfügung stehenden Register bestmöglich auf seine Bedürfnisse abgestimmt gezogen werden.

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Dr. med. Adrian Forster

Rheumatologie und Rehabilitation
Schulthess Klinik
Lengghalde 2
8008 Zürich

adrian.forster@kws.ch

Der Autor hat im Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

◆ Eine Diskrepanz zwischen den Symptomen und dem strukturellen Ausmass der Arthrose ist nicht selten.
◆ Im Management geht der Trend weg von den medikamentösen hin zu den nicht medikamentösen Massnahmen.
◆ Physiotherapeutisch ist ein gut dosiertes Übungsprogramm die erste Wahl.
◆ Eine Gewichtsreduktion kann krankheitsmodulierend sein.
◆ Beim Einsatz von NSAR ist das kardiovaskuläre Risiko zu beachten.
◆ Intraartikuläre Steroide wirken am besten bei Aktivierungen; längerfristig sind Hyaluronsäure und plättchenreiches Plasma (PRP) oft
besser geeignet.
◆ Je multimodaler die Therapie, umso erfolgreicher ist sie.

Auf Anfrage beim Verfasser.

Orale Gesundheit im Alter

Die stetig wachsende Zahl älterer Menschen, insbesondere der über 80-Jährigen, stellt unsere Gesellschaft vor grosse soziale, wirtschaftliche und natürlich medizinische Herausforderungen. Altern erhöht das Risiko für Multimorbidität und in der Folge auch für Polypharmazie. Dabei treten chronische Krankheitsverläufe in den Vordergrund. Es kommt zu funktionellen Einschränkungen und die Bewältigung des Alltags wird beeinträchtigt, ambulante und möglicherweise auch stationäre Hilfs- und Pflegebedürftigkeit sind vor allem im höheren Alter die Folge (1). Von politischer Seite wiederum wird einerseits aus Kostengründen eine Reduktion stationärer Pflegeplätze angestrebt und eine ambulante Pflege vorgezogen (2). Dabei wird aber auch der Tatsache Rechnung getragen, dass die heutige Seniorengeneration das Leben im Alter revolutioniert und völlig neue selbstbestimmte Lebensformen gestaltet (3). Diese Entwicklung hat bedeutende Auswirkungen auch auf die orale Gesundheit im Alter.

Abstract: The steadily growing number of older people, especially those over 8o years of age, confronts our society with major social, economic and, of course, medical challenges. Ageing increases the risk of multimorbidity and consequently also of polypharmacy. Chronic courses of disease come to the fore. Functional limitations occur and the ability to cope with everyday life is impaired; the need for outpatient and possibly also inpatient assistance and care is the consequence, especially in old age (1). Politicians, on the other hand, are striving to reduce the number of inpatient care places for cost reasons and prefer outpatient care (2). However, this also takes into account the fact that today’s senior generation is revolutionising life in old age and creating completely new self-determined ways of living (3). This development also has significant implications for oral health in old age.
Key Words: Oral health, elderly people

Die erfolgreiche orale Prävention in früheren Lebensjahrzehnten hat dazu geführt, dass Menschen mit immer mehr eigenen Zähnen immer älter werden. Hinzu kommen orale Implantate, die es erlauben, verloren gegangene Zähne zu ersetzen. Zudem hat die enorme Entwicklung technischer Möglichkeiten dazu geführt, dass die Menschen mit immer komplexerem, zunehmend festsitzendem und seltener abnehmbarem Zahnersatz altern (4). Auf der anderen Seite bleiben im Alter Zahnverlust, Karies, Gingivitis, Parodontitis und andere orale Infektionen sowie orale Präkanzerosen und Malignome hoch prävalent. Hinzu kommt bei älteren Menschen eine häufige, in erster Linie medikamentös bedingte Hyposalivation hinzu, mit oft sehr rasch sich entwickelnden, fatalen Folgen für die oralen Hart- und Weichgewebe. Orale Erkrankungen sind somit ein oft auftretender Teil der Multimorbidität im Alter und können den allgemeinen Gesundheitszustand beeinträchtigen bzw. mit systemischen Erkrankungen interagieren (5, 6). Ein typisches Beispiel hierzu ist der Diabetes mellitus Typ II, der auf der einen Seite die Progredienz einer Parodontitis beschleunigen kann. Auf der anderen Seite vermag die Parodontitis die Einstellbarkeit des Diabetes zu beeinträchtigen (7).

Aus oben Erwähntem geht deutlich hervor, dass alternde Menschen einen wachsenden Bedarf an präventiver, diagnostischer und kurativer zahnmedizinscher Betreuung haben (8). Während die Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen mit zunehmendem Alter in erster Linie durch die Anzahl gleichzeitig bestehender Erkrankungen bestimmt wird und an Häufigkeit zunimmt, geht dagegen die Zahl und Regelmässigkeit zahnärztlicher Konsultationen ab Ende des fünften Lebensjahrzehnts stetig zurück (9). Es darf angenommen werden, dass durch die zunehmenden Herausforderungen, die das Alter mit sich bringen kann, die orale Prävention für die Menschen an Dringlichkeit verliert, obwohl sie um deren Bedeutung wissen und in den vorausgehenden Lebensjahrzehnten von dieser profitiert haben. Eine wiederkehrende Inspektion der Mundhöhle durch den Hausarzt oder Spezialärztinnen, die von älteren Menschen gehäuft konsultiert werden, wäre somit sehr empfehlenswert. Diese ist insbesondere dann angebracht, wenn die letzte zahnmedizinische Kontrolle anamnestisch mehr als ein Jahr zurückliegt. Für die effiziente Beurteilung der Notwendigkeit eines zahnärztlichen Konsiliums stehen ÄrztInnen und Pflegekräften geeignete und gut validierte Screening-Instrumente zur Verfügung, wie beispielsweise das DENTAL (10) (Tab. 1) oder der Revised Oral Assessment Guide ROAG (11) (Tab. 2).

Eine engere interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Humanmedizinerinnen und Zahnmedizinern wäre auch deshalb von grossem Nutzen, indem beide Seiten neue Diagnosen unmittelbarer kommunizieren würden. Aus zahnmedizinischer Sicht ist z.B. die sofortige Kenntnis der Diagnose einer Demenz von zentraler Bedeutung,

weil sie grundlegende Implikationen für die orale Prävention, Therapie und langfristige Betreuung hat (siehe Merkblatt Mund-/Zahngesundheit für Angehörige und Pflegende von Menschen mit Demenz; am Online-Beitrag). Bleibt diese strategische Anpassung an die absehbar sich verschlechternden Betreuungsbedingungen aus, notabene in einer Krankheitsphase, in der zahnmedizinische Interventionen meist gut durchführbar wären und die Betroffenen sich noch an orale Veränderungen anpassen könnten, so kommt es in der Regel zu einem Ausscheren aus der zahnärztlichen Betreuung. Orale Erkrankungen sind die Folge und schreiten rasch fort. In diesem Zusammenhang ist die Erkenntnis von zentraler Bedeutung, dass orale Erkrankungen im Alter nicht erst nach Übertritt in eine Institution auftreten, sondern bereits als Teil der Multimorbidität mitgebracht werden und die Pflege sehr häufig vor kaum mehr lösbare Herausforderungen bei der Zahn- und Mundhygiene stellen (12).

Die hohe Prävalenz oraler Erkrankungen bei pflegebedürftigen Betagten konfrontiert auch die zahnmedizinischen Behandlungsteams mit sehr schwierigen Situationen. Der institutionelle Kontext erschwert zum einen die diagnostischen und therapeutischen Prozesse wesentlich. Zum anderen fehlen häufig eine geeignete Behandlungsinfrastruktur und eine adäquate mobile Ausrüstung. Zudem überfordern die zum Lebensende hin oft komplexen medizinischen Problemstellungen. Schliesslich ist die teure Praxisinfrastruktur während der externen Patientenbetreuung nicht ausgelastet und werden die zahnmedizinischen Leistungen in Institutionen nur ungenügend honoriert. Dies führt dazu, dass die zahnmedizinische Versorgung von Menschen, die in Institutionen leben, nach wie vor der grossen Nachfrage nicht zu entsprechen vermag (13). Vor dem Hintergrund der Favorisierung ambulanter Pflege dürfte sich dieser Versorgungsnotstand noch weiter akzentuieren.

Es ist für die Erhaltung der oralen Gesundheit von zentraler Bedeutung, dass durch eine engere interdisziplinäre Vernetzung zwischen Human- und Zahnmedizin neue Diagnosen unmittelbar kommuniziert und konsiliarische Abklärungen gefördert werden. Dadurch können bereits bei den zu Hause lebenden SeniorInnen Prävention, Therapie sowie Langzeitbetreuung frühzeitig den sich verändernden Lebensbedingungen laufend angepasst werden und mögliche Wechselwirkungen zwischen systemischen und oralen Erkrankungen erkannt werden. Aus zahnmedizinscher Sicht bedeutet dies, dass die oralen Risiken umso mehr reduziert werden müssen, je stärker die soziobiologischen Risiken ansteigen, damit auch unter sich erschwerenden Bedingungen orale Prävention, Therapie und Langzeitbetreuung nicht nur durch das zahnmedizinische Team, sondern auch durch Pflegende nachhaltig möglich bleiben (13).

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo

Riedstrasse 9
6430 Schwyz

christian.besimo@bluewin.ch

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel.

1 Höpflinger F, Bayer-Oglesby L, Zumbrunn A. Pflegebedürftigkeit und Langzeitpflege im Alter. Aktualisierte Szenarien für die Schweiz. Huber, Bern 2011.
2 Gesundheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt. Gesundheitsversorgungsbericht über die Spitäler, Pflegeheime, Tagespflegeheime und Spitex-Einrichtungen im Kanton Basel-Stadt. Werner Druck & Medien, Basel November 2019.
3 Höpflinger F, Hugentobler V, Spini D. Wohnen in den späten Lebensjahren. Grundlagen und regionale Unterschiede. Age Report V. Seismo, Zürich 2019.
4 Schneider C, Zemp E, Zitzmann NU. Oral health improvements in Switzerland over 20 years. Eur J Oral Sci 2017;125:55–62.
5 Petersen PE, Kandelman D, Arpin S, Ogawa H. Global oral health of older people – Call for publiic health action. Community Dental Health 2010;27(Suppl. 2):257-268.
6 Marchini L, Ettinger R. Personalized dental caries management for frail older adults and persons with special needs. Dent Cllin N Am 2019;63:631-651.
7 Preshaw PM, Alba AL, Herrera D, Jepsen S, Konstantinidis A, Makrilakis K, Taylor R. Periodontitis and diabetes: A two-way relationship. Diabetologia. 2012;55:21–31.
8 Han P, Suarez-Durall P, Mulligan R. Dry mouth: A critical topic for older adult patients. J Prosthodont Res 2015;59:6-19.
9 Biffar R, Klinke-Wilberg T. Gesundheit der Älterwerdenden und Inanspruchnahme ärztlicher Dienste – Zahnmedizinische Konsequenzen und Aufgaben. Senioren-Zahnmedizin 2013;1:35-42.
10 Busch LA. D-E-N-T-A-L: A rapid self-administered screening instrument to promote referrals for further evaluation in older adults. J Am Geriatr Soc 1996;44:979-981.
11 Hassel AJ, Leisen J, Rolko C, Rexroth W, Ohlmann B, Rammelsberg P. Clinical assessment of oral health between physician and dentist – A pilot study on inter-examiner reliability. Z Gerontol Geriatr 2008;41:132-138.
12 Besimo C, Besimo-Meyer RH. Zahn- und Mundgesundheit – Ein Stiefkind in der Betreuung von Menschen mit Demenz. Prophylaxe Impuls 2016;20:124-128.
13 Wocke C, Eckardt R. Multimorbidität im Alter. Senioren-Zahnmedizin 2013;1:9-13.
14 Besimo, C. Paradigmenwechsel zugunsten einer besseren oralen Gesundheit im Alter. Swiss Dental Journal 2015;125:599-604.

Fallbeispiel aus der Praxis

Kardiovaskuläres Risiko und renales Risiko?
Der Hausarzt benötigt zur Beantwortung dieser Fragen Kenntnisse der neusten wichtigsten Studie (Selbststudium, Weiterbildungen). Was sind die Richtlinien zu Hypertonie, Lipiden und Diabetes? Was sind die Werte der Patientin, welche wichtigen Fragen sind zu stellen? Welche Medikamente oder Kombinationen werden von den Krankenkassen rückvergütet?

HbA1c als Kontrollwert ein wichtiges Therapieziel

Ein gutes HbA1c ist immer noch wichtig, um mikro- und makrovaskuläre Komplikationen zu vermeiden. < 7.0 % bei Patienten ohne Sulfonylharnstoffe und/oder Insulin, am besten <6.5 % (möglichst normal) ohne Gefahr für Hypoglykämie. <8.0 % bei älteren Patienten (> 80 Jahre) und/oder bei bereits manifesten Komorbiditäten (Niereninsuffizienz, Herzinsuffizienz, kardiovaskulären Erkrankungen) und Insulintherapie.

Therapie des T2DM: Bedenken der Patienten in Bezug auf Hypoglykämien und Gewichtszunahme

Prävention einer Nierenschädigung und Auftreten von Herzinfarkt und Schlaganfall bei T2DM durch GLP-1-RA und SGLT2-Hemmer. Die GLP-1-RA erhöhen die Insulinausschüttung und vermindern die Glukagonausschüttung, bewirken eine Appetit-Hemmung und führen zum Gewichtsverlust. Nebenwirkungen sind Übelkeit und Erbrechen. Die SGLT2-Hemmer reduzieren die Glukoserückresorption in der Niere und erhöhen dadurch die Glukoseausschüttung (-70g/Tag). Nebenwirkungen der SGLT2-Hemmer sind Infektionen des Genitaltrakts, 300-500ml grösseres Herzvolumen und Ketoazidose (Insulinmangel).

Situation in der Schweiz 2021

1. Insulinmangel? Besteht bei ca. 25 % aller Patienten. Wichtigste Frage, sollte immer gestellt werden!
2. eGFR < 60ml/min: ca. 25 % aller Patienten. Nephroprotektion durch SGLT2-Hemmer, GLP-1-RA
3. Symptomatische kardiovaskuläre Erkrankung 25-32 %, asymptomatisch ca. 25 %.
4. Herzinsuffizienz ca. 10 % aller Patienten, bei ca. 25 % asymptomatisch, Diagnose in der Praxis schwierig, SGLT2-Hemmer. (HFrEF ¼, HFpEF ¾).

Welche initiale Therapie bei Diabetes? Metformin + SGLT2-Hemmer oder Metformin + GLP-1-RA?

Bezüglich MACE haben beide Kombinationen die gleichen Vorteile, die Nephroprotektion ist bei den SGLT2-Hemmern etwas ausgeprägter, im Hinblick auf Schlaganfall gibt es nur bei den GLP-1-RA einen Vorteil, bei Herzinsuffizienz nur bei den SGLT2-Hemmern. Der Gewichtsverlust ist bei den GLP-1-RA ausgeprägter als bei den SGLT2-Hemmern, eine orale Therapie existiert nur für die GLP-1-RA.
Alle Vorteile sprechen für eine Kombination GLP-1-RA + SGLT2-Hemmer.

Stellenwert der DPP-4-Hemmer: Die Zusammenfassung der primären Endpunkte der Studien mit DPP-4-Hemmern ergibt keinen Effekt auf MACE.
Warum werden DPP-4-Hemmer trotzdem so häufig eingesetzt?
DPP-4 Hemmer senken HbA1c zuverlässig. Sie senken damit auch mikro- und makrovaskuläre Komplikationen (über einen längeren Zeitraum). DPP-4-Hemmer haben keine Nebenwirkungen und können einfach verschrieben werden. Sie verursachen keine Hypoglykämien und keine Gewichtszunahme. Sie sind eine Alternative (2. Wahl) für GLP-1-RA (BMI <28). Sie sollten langsam durch GLP-1-RA ersetzt werden (auch oral).

Essentielle Empfehlungen für Allgemeininternisten (SGED/SSED 2020)
Die Motivation für Veränderungen der Lebensgewohnheiten ist sehr wichtig. Die Behandlung soll multifaktoriell erfolgen. Als Erstlinientherapie wird Metformin + GLP-1-RA oder Metformin + SGLT2-Hemmer empfohlen, als zweite Linie  +  SGLT2-Hemmer (bei Erstlinie Metformin + GLP-1-
RA) bzw. + GLP-1-RA. Als dritte Linie in beiden Fällen + Basalinsulin oder Sulfonylharnstoffe (Gliclazid). Darauf Basal-Bolus Insulin oder Mischinsulin. Weiterfahren mit Metformin, SGLT2-Inhibitoren, GLP-1-RA. Stopp Sulfonylharnstoffe und DPP-4-Hemmer (bei Patienten mit tiefem bis mässigem kardiovaskulärem Risiko oder ohne Risikofaktoren können DPP-4-Hemmer oder Sulfonylharnstoffe (Gliclazid bevorzugt) angewendet werden).
Es sollen aber auch die weiteren Risikofaktoren, Hypertonie und Lipide behandelt werden. Im Vergleich mit Hypertonie und Diabetes findet LDL-Cholesterin viel weniger Beachtung (Zielerreichung 72 %, 81 % und 20 %). Eine LDL-Cholesterinsenkung über den Zeitraum von 50 Jahren (Mendel’sche Randomisierungsstudien) reduziert das relative Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis um ca. 50 – 55 % pro mmol/l LDL-Cholesterin.
Die Behandlung einer Dyslipidämie umfasst eine Ernährungs­umstellung (weniger Kohlenhydrate und Alkohol), mehr Bewegung und falls notwendig den Einsatz eines Statins. Die Ernährungsumstellung und die Alkoholeinschränkung reduziert vor allem die Triglyzeride. Die Richtlinien der ESC empfehlen bei moderatem Risiko einen LDL-C Zielwert <2.6 mmol/l (I/A)), bei hohem Risiko < 1.8 mmol/l und mindestens 50 % LDL-Cholesterinsenkung (I/A). Bei sehr hohem Risiko <1.4 mmol/l und 50 % LDL-Cholesterinsenkung (I/B). Statine sind bevorzugte 1. Linientherapie (I/A), falls Ziel nicht erreicht, Zugabe von Ezetimibe (I/B) und bei sehr hohem Risiko bei max. Statindosis und Ezetimibe oder bei Statinunverträglichkeit die Zugabe eines PCSK9-Hemmers (I/A).

Die optimale Therapie bei unserer Patientin mit Typ-2-Diabetes mellitus umfasst einen ACE-Hemmer + Ca-Blocker (Coveram® 10/10 1-0-0), Statin + Ezetimibe (Rosuvastatin / Ezetimibe 20/10 1-0-0, Stopp DPP-4-Hemmer, Metformin + SGLT2-Inhibitor (Xigduo® XR 10/1000 1-0-0, Jardiance® Met 5/500 1-0-1, GLP-1-
RA (Ozempic® 1 mg/Woche).

Resultate nach 4 Monaten:
Blutdruck 137/76 mmHg 🙂
LDL-C 1.5 mmol/l 🙂
HbA1c 6.9 % 🙂
Gewichtsabnahme 6  kg 🙂

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. med.Roger Lehmann

UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zurich

Roger.Lehmann@usz.ch

Der Autor deklariert Teilnahme an Advisory Boards und Referentenhonorare von Novo Nordisk, Sanofi, MSD, Boehringer Ingelheim, Servier und Astra Zeneca.

AGLA Update Meeting 2021

Breakout Session: Jenseits der Guidelines – Hyperlipidämie

Fallbeispiele von Prof. Dr. med. Isabella Sudano, Kardiologische Klinik USZ

Fall 1: Herr M.J., 1966
Familienanamnese: Keine vorzeitige ASCVD, Diabetes, Bluthochdruck. Ob jemand Hypercholesterinämie hatte/hat, ist unbekannt. Ex-Raucher (40 PJ) hat Ende 2015 mit dem Rauchen aufgehört. 1985 M. Basedow. Eigentlich normale Schilddrüsenfunktion ohne Therapie. Größe 185 cm Gewicht 77 Kg, BMI 22,5 Kg/m2. Blutdruck (sitzender Mittelwert 2-3 Messwerte) 130/78 mmHg, HF 67/Min.
9. Jan 2020 STEMI (RIVA-Stenose): 2 PTCA/Stenting

Die Referentin zeigte die Risikoschätzung nach den ESC Guidelines 2021. Der Patient hat ein sehr hohes Risiko aufgrund seiner persönlichen Anamnese.

Während des Krankenhausaufenthalts Beginn mit Rosuvastatin 20 mg. Am Ende der stationären Rehabilitation wurde mit Ezetimibe/Rosuvastatin 10/20 mg begonnen.

Die Referentin weist auf die Zielwerte für LDL-Cholesterin entsprechend den verschiedenen Risikokategorein, sehr hohes Risiko, hohes Risiko, moderates Risiko du niedriges Risiko hin.

Welche Massnahmen sind im Falle von Herrn M.J. zu treffen?
A) Ich bin mit dieser Reduktion zufrieden.
B) Ich würde ein Fibrat hinzufügen
C) Ich würde einen PCSK9-Inhibitor hinzufügen
D) Ich würde eine hohe Dosis Omega 3 hinzufügen
E) Ich würde Bempedoinsäure hinzufügen

Die Referentin gab dazu den folgenden Kommentar
Fibrate und Omega-3 Fettsäuren sind wirksam zur Triglyceridsenkung, sie haben aber keinen Nutzen bei isolierter Hypercholesterinämie gezeigt.

Die zu treffenden Massnahmen sind entsprechend dem Algorithmus der ESVC Guidelines.

Die Erfassung des kardiovaskulären Gesamtrisikos, die Bestimmung des LDL-Cholesterinbasiswerts, die Beurteilung der Indikation für eine medikamentöse Behandlung, falls eine solche indiziert die Bestimmung des LDL-Cholesterin-Zielwerts, falls keine Indikation zur medikamentösen Therapie, Lebensstilberatung und Lebensstilintervention. Bei medikamentöser Therapie hochpotentes Statin in höchster tolerierter Dosis zur Zielerreichung, falls Ziel erreicht jährliche oder falls notwendig häufigere Überwachung. Falls Ziel nicht erreicht Zugabe von Ezetimibe. Falls Ziel nicht erreicht Zugabe eines PCSK9 Hemmers (bei Sekundärprävention oder Primärprävention bei FH und einem weiteren Hauptrisikofaktor. In der Primärprävention bei Patienten mit sehr hohem Risiko aber ohne FH.

Die PCSK9-Inhibitoren sollen bei Patienten mit sehr hohem Risiko für ASCVD eingesetzt werden, wenn die Zielwerte nicht mit Statinen und Ezetimibe erreicht werden. Allerdings erlauben die Limitationen des Bundesamts für Gesundheit für die Verschreibung von PCSK9-Hemmern in der Schweiz nicht die 1:1-Umsetzung der ESC/EAS-Empfehlungen.

Evolocumab und Alirocumab werden durch die Krankenkasse nur bezahlt, wenn über mindestens drei Monate mit der maximal verträglichen Dosierung einer intensivierten LDL-C-senkenden Therapie mit mindestens zwei verschiedenen Statinen mit oder ohne Ezetimib (oder Ezetimib mit oder ohne weiteren Lipidsenker bei

Statinunverträglichkeit) die folgenden LDL-C-Werte nicht erreicht werden können: In der Sekundärprävention nach einem klinisch manifesten, atherosklerotisch bedingten, ischämischen kardiovaskulären Ereignis, wenn LDL-C trotzdem >2,6 mmol/l beträgt.
In der Primärprävention bei Erwachsenen und Jugendlichen ab einem Alter von 12 Jahren (nur Evolocumab) mit einer schweren heterozygoten oder homozygoten FH und LDL-C >5,0 mmol/l oder >4,5 mmol/l, wenn DM, erhöhtes Lp(a) >50 mg/dl (120 nmol/l) oder ausgeprägte arterielle Hypertonie bestehen.
Evolocumab kann auch bei Erwachsenen und Jugendlichen ab einem Alter von 12 Jahren mit einer homozygoten familiären Hypercholesterinämie eingesetzt werden.

Wenn die Kosten für den Einsatz von PCSK9-Inhibitoren nicht erstattet werden, ist die zusätzliche Gabe von Bempedoinsäure oder eines Gallensäureaustauschharz eine praktikable Alternative für Patienten mit sehr hohem Risiko und hohen LDL-C-Werten, die eine zusätzliche LDL-C-Senkung ermöglicht.

Bempedoinsäure senkt das LDL-Cholesterin um bis zu 18%, in Kombination mit Ezetimibe um ca. 36%. Hs-CRP wird von Bempedoinsäure ebenfalls gesenkt (-31.9%, in Komination mit Ezetimibe um 35.1%).

Auch für Bemedoinsäure (Nilemdo) und Bempedoinsäre-Ezetimibe (Nustendi) gibt es Limitationes:
Nilemdo wird zusätzlich zu einer Diät und in Kombination mit einem Statin, in der maximal verträglichen Dosis, mit oder ohne andere lipidsenkende Therapien angewendet zur Behandlung bei Erwachsenen mit klinisch manifester atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung oder heterozygoter familiärer Hypercholesterinämie, die eine zusätzliche LDL-C-Senkung benötigen.

Die Wirkung von Nilemdo auf die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität ist bisher noch nicht bestimmt.

Nustendi ist indiziert begleitend zu einer Diät bei Erwachsenen mit heterozygoter familiärer Hypercholesterinämie oder mit klinisch-manifester atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung:
wenn die LDL-C-Ziele mit einer maximal verträglichen Statin-Dosis zusätzlich zu Ezetimibe oder Bempedoinsäure nicht erreicht werden, bei Patienten, die bereits mit der Kombination aus Bempedoinsäure und Ezetimibe als separate Tabletten behandelt werden.
Die Wirkung von Ezetimibe und Bempedoinsäure auf die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität ist nicht bestimmt.

Was ist mit Inclisiran?

Inclisiran ist synthetische kleine interferierende RNA (siRNA), konjugiert mit triantennärem GalNAc-Kohlenhydrat. Inclisiran

nutzt den natürlichen RNA-Interferenz-Mechanismus, um die PCSK9-mRNA abzubauen und ihre Umwandlung in ein Protein zu verhindern. Inclisiran ist die erste siRNA zur Behandlung von Hypercholesterinämie. Mit Inclisiran, welches nur alle 6 Monate subkutan verabreicht wird, wurde in den ORION-Studien eine Senkung des LDL-Cholesterinspiegels um etwa 50 % erreicht.
Inclisiran (Leqvio) ist indiziert bei Erwachsenen mit Hypercholesterinämie (einschliesslich heterozygoter familiärer Hypercholesterinämie) oder gemischter Dyslipidämie begleitend zu einer Diät:

  • entweder in Kombination mit einer maximal tolerierten Statin-Dosis mit oder ohne andere lipidsenkende Therapien bei
    Patienten, die eine zusätzliche LDL-C-Senkung benötigen, oder
  • allein oder in Kombination mit anderen lipidsenkenden Therapien bei Patienten, die Statin-intolerant sind oder für die Statine kontraindiziert sind.

Fall 2: Frau J.N., 1948
Familienanamnese: Vater war Raucher, hatte einen hohen Cholesterinspiegel und Bluthochdruck, erlitt im Alter von 67 Jahren einen Herzinfarkt und starb plötzlich im Alter von 72 Jahren.
Mutter mit Bluthochdruck, starb im Alter von 81 J. (ischämischer Schlaganfall).
Ein jüngerer Bruder starb an Prostatakrebs im Alter von 69 Jahren.
Persönliche Vorgeschichte. Raucher (40 J.), hat 1999 mit dem Rauchen aufgehört. Seit der Pensionierung täglicher Spaziergang mit dem Hund (BMI 27,1 kg/m2). Normaler Blutdruck und Blutzucker.
1999: Plaque in der Halsschlagader (30% links und 30% rechts). Keine Symptome. TC 6,8 mmol/L, HDL-C 0,67 mmol/l, non-HDL-C 6,1 mmol/l, LDL-C 5,5 mmol/L, Triglyceride. 1,40 mmol/l
Es wurde eine Therapie mit Atorvastatin 40 mg eingeleitet, und sie hört auf zu rauchen.
2002: Die Therapie mit Atorvastatin wurde in Absprache mit dem Hausarzt wegen SAMS und normaler CK abgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt wurde keine weitere Therapie vorgeschlagen.
2004: Plaque in der Halsschlagader (aktuell 50% links und 60% rechts) TC 6,2 mmol/l, HDL 1,32 mmol/l, non-HDL 4,9 mmol/l, LDL 4,6 mmol/l, Trigyceride 0,56 mmol/l

Nutzen und Schaden einer Statintherapie
Nutzen:
Schlaganfallrisiko:16% Risikoreduktion für totalen Schlaganfall, 21% für ischämischen Schlaganfall
Risiko für schwere koronare Ereignisse: 27% Risikoreduktion für nicht tödlichen MI, 20% für Koronartod, 25% Risikoreduktion für Revaskularisierungsprozeduren.
Unerwünschte Effekte (Nat Rev Cardiol 2018;15:757-769)
Kognitive Dysfunktion: keine Evidenz
Risiko für hämorrhagischen Schlaganfall: kleine Zunahme bei Personen mit vorgängigem Schlaganfall
Lebesymptome/-Krankheiten: Klinisch signifikante Erhöhungen der Leberenzyme. Inzidenz für Leberversagen 1:100’000
Inzidenz für neu erworbenen Diabetes: Moderate Statintherapie 0.1%/Jahr, hochintensive Statintherapie 0.2%/Jahr.
Inzidenz von Muskelsymptomen/-Krankheiten: SAMS 10-29% in Beobachtungsstudien und 1-2% in RCTs, Myopathie 1/1000, Rhabdomyolyse 1/10 000.

Erwäge Statin fortfahren/Statin Neubeginn bei Statin-bedingten Muskelsymptomen:

  • wenn symptomatisch und CK < 4 x ULN 2-4 Wochen wash out. Wenn die Symptome persistieren Statin-Wiederholungsversuch, Suche nach einem anderen Grund. Wenn die Symptome sich verbessern zweites Statin bei gebräuchlicher oder Startdosis. Wenn die Symptome wiederkehren niedrig dosiertes drittes (potentes) Statin oder wirksames Statin an alternativen Tagen oder ein zweimal pro Woche.
  • CK ≥4 x ULN: 6 Wochen wash out und Normalisierung der Symptome niedrig dosiertes drittes potentes Statin oder wirksames Statin mit Alternativ-Tages- oder einmal/zweimal wöchentlicher Behandlungsstrategie

Das Ziel ist die Erreichung des LDL-Cholesterinzieles mit der maximal tolerierten Statindosis. Zugabe von Ezetimibe, Zugabe eines PCSK9 Hemmers (I/A Empfehlung für Patienten in der Sekundärprävention (sehr hohes Risiko). I/C Empfehlung für Primärprävention FH Patienten mit einem weiteren Hauptrisikofaktor (hohes Risiko). IIb/C Empfehlung für Primärprävention Hochrisikopatienten aber ohne FH. Die Gabe eines Gallensäureaustauschharzes kann auch in Betracht gezogen werden (IIb/C Empfehlung).
Der kardiovaskuläre Nutzen einer Langzeit Statintherapie überwiegt die potentiellen Risiken bei weitem.

Frau J.N., 1948
2013 ACS STEMI wegen RCA- und RIVA-Stenose behandelt mit 3 PTCA/Stenting. HbA1c 5.0% TC 6.0 mmol/l, HDL 1.14 mmol/l, non-HDL 4.9 mmol/l, LDL 4.0 mmol/l, Trigl. 2.1 mmol/l. Therapie mit Ezetimibe/Rosuvastatin 10/10 wurde begonnen. Abbruch der Rosuvastatin-Therapie nach 5 Monaten aufgrund von SAMS (CK unbekannt)
2020: Ischämischer Schlaganfall: Monotherapie mit Ezetimibe 10 mg. TC 4,9 mmol/L, HDL 1,39 mmol/l, Nont-HDL 3,3 mmol/l, LDL 2,9 mmol/l, Trigl. 1,04 mmol/l.

Was soll man tun ?
A) Ich würde wieder ein Statin versuchen
B) Ich lasse die Therapie so wie sie ist
C) Ich würde einen PCSK9-Inhibitor hinzufügen
D) Ich würde Bempedoinsäure hinzufügen
Es stellen sich die gleichen Fragen und Massnahmen wie bei Fall 2. Die Wirkung von Bempedoinsäure bei Statin-Intoleranz und Statin-Toleranz ist in der folgenden Abbildung wiedergegeben (Thompson et al J Clin Lipidol. 2016).

Mit der Kombination von Bempedoinsäure und Ezetimibe (Nustendi) kann selbst bei Statin-Intoleranten eine LDL-Cholesterinsenkung von ca. 50% erreicht werden.

Fall 3: Herr H.B., 1943
Pos. Familienanamnese für vorzeitige ASCVD (Mutter hatte seit jungen Jahren Angina pectoris, behandelt mit PTCA/Stenting im Alter von 47 Jahren und ACBP im Alter von 52 J.)
Rheumatoide Arthritis, Karotis-Atherosklerose (2008 Stent Re bei 85%, symptomatisch, Links 50%). Hat 2008 mit dem Rauchen aufgehört (35 J.). Kein Diabetes, normaler Blutdruck, BMI 28,3 kg/m2, keine körperliche Aktivität. Simvastatin 40 wurde 2010 nach ca.
2 Jahren wegen Myalgien abgesetzt (keine CK-Erhöhung).
Im Jahr 2015 wurde nach einer kardiologischen Untersuchung eine Therapie mit Rosuvastatin 20 mg eingeleitet und gut vertragen. Im Jahr 2019 wurde Ezetimibe 10 mg hinzugefügt.

Breakout Session: Jenseits der Guidelines – Antithrombotische Fälle

Fallbeispiele von Prof. Dr. med. Lucia Mazzolai, Service d’Angiologie, CHUV

Fall 1: Männlicher Patient, 61 Jahre
CAD, PCI RCA 2019, Belastungsecho mit normaler Reaktion, PAD und zunehmende Schmerzen (Claudicatio intermittens) an der rechten unteren Extremität seit einem Jahr, CVD, ATS-Plaques 2019.
Kardiovaskuläre Risikofaktoren: Raucher, Hyperlipidämie, arterielle Hypertonie.
Medikation: Aspirin 100 mg0 –1 -0, Ramipril 5 mg 1 –0 –0, Simva­statin 40 mg 0 – 0 –1
Periphere Impulse wahrgenommen ausser rechts popliteal, rechts anterior pedis, rechter hinterer Tibialis. ABI rechts 80/140 =0.6, ABI links 150/140 =1.1
Laufband: Protokoll für konstante Belastung (3,2 km/h, 12 % Steigung)
Klinisches Symptom: Schmerzen im rechten Bein
Anfängliche Claudicatio-Entfernung: 50 m
Maximale Klaudierungsstrecke: 100 m
Patient mit polyvaskulärer Atherosklerose (CVD, CAD, PAD, mehreren kardiovaskulären Risikofaktoren, Claudicatio intermittens im rechten Unterschenkel, zunehmenden Symptomen seit einem Jahr; kurze schmerzfreie Gehstrecke mit erheblicher Einschränkung in Alltag und Berufsleben

Was würden Sie tun?

PAD ist ein Marker für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität (4-5 Mal höheres Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse als Personen ohne PAD). Das Gesamtrisiko muss angesprochen werden und die Symptome der unteren Extremitäten.

Kardiovaskuläre Risikofaktoren
Rauchen: STOP
LDL-Cholesterin Zielwert < 1.4 mmol/L
Arterielle Hypertonie Zielwert < 130/80 mmHg (<65Jahre)
Körperliche Aktivität

Medikation
Aspirin 100 mg 0 –1 –0
Ramipril 5 mg 1 –0 –0
Simvastatin 40 mg 0 – 0 –1

Trotz Therapie bleiben PAD Patientenbei hohem kardialem Risiko und/oder PAD-Risiko (Amputation, periphere Angioplastie, peripheres Bypass Graft Stenting). PAD Patienten bleiben auch trotz optimaler Therapie mit einem kumulativen Risiko für atherothrombotische Ereignisse konfrontiert.

In der WAVE Studie (NEJM 2007;357:217-22/) war die Kombination eines oralen Antikoagulans und Antiplättchen Therapie nicht wirksamer als Antiplättchen Therapie allein, aber die Kombination ging mit einer Zunahme lebensbedrohlicher Blutungen einher.
Ein Paradigmenwechsel stellt der Synergieffekt zur Prävention der Athertothrombose durch Plättchenhemmung und orale antikoagulation mit DOAKS dar. In der COMPASS Studie reduzierte Rivaroxaban 2.5 bid + Aspirin gegenüber Aspirin bei Patienten mit PAD MACE (kardiovaskulären Tod/Schlaganfall/MI) oder MALE inkl. Amputationen um 31.%. Nach einem unerwünschten Ereignis in den Extremitäten (MALE) bleiben Mortalität und Amputationsraten bei PAD Patienten hoch.

Bei Personen mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit ist die Entwicklung von MALE mit einer mit einer schlechten Prognose verbunden, weshalb die Prävention von grösster Bedeutung ist. Rivaroxaban 2.5mg + Aspirin ergab eine Reduktion aller peripherer vaskulärer Outcomes um 24%.Die Eur Soc, of Vasc Med. ESVM Guidelines empfehlen zur antithrombotischen Therapie bei symptomatischen PAD Patienten eine kombinierte Therapy mit Aspirin 100mg/ Tag und Rivaroxaban 2 x 2.5mg/Tag (Evidenzgrad IIa/B).

Männlicher Patient, 61 Jahre alt
Wenige Monate später entwickelt der Patient eine tiefe Venenthrombose in der unteren linken Extremität.

Wie würden Sie ihn behandeln?
Die Behandlung der tiefen Venenthrombose (nach Mazzolai L et al. EJPC 2020)

Entsprechende Medikation bei unserem Patienten:
Aspirin 100 mg 0 –1 – 0
Rivaroxaban 2.5 mg 1 – 0 –1
Rivaroxaban 15 mg bid for 21 days then 20 mg od for 3 months
Ramipril 5 mg 1 – 0 – 0
Simvastatin 40 mg 0 – 0 –1
Was zu begleitender, antithrombotischer Behandlung?
Evaluation des persönlichen Risikos: Risiko für Rückfall, Risiko für Blutung, Patientenadhärenz, Patientenwahl.

Die Inzidenz für schwere Blutungen is signifikant höher bei Frauen als bei Männern, die mit VKA behandelt werden, bei Patienten über 65 Jahren, Patienten mit Creatininclearance <50ml/min, bei Patienten mit einer Vorgeschichte für Blutungen, bei begleitender Antiplättchentherapie, bei Patienten mit Hämoglobinwerten unter 100g/l. Verlängern der Behandlung über den empfohlenen Zeitraum hinaus verzögert aber verringert das Risiko eines erneuten Auftretens nachdem die Behandlung abgesetzt wird, nicht.
Die Referentin schloss mit der unbeantworteten Frage bei der angiologischen Konsultation nach 3 Monaten: was hat mit der Antikoagulation zu geschehen?

Quelle: AGLA Update Meeting, Breakout Session online, 4. November 2021

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

◆ LDL-Cholesterin im Blut: «The lower the better und the earlier
the better»
◆ Statin, Ezetimibe und PCSK9-Hemmer sind die aktuelle Standardtherapie zur Senkung des LDL-Cholesterins und des kardiovaskulären Risikos
◆ Patienten mit hohem und sehr hohem kardiovaskulärem Risiko profitieren von der LDL-Reduktion, die durch die PCSK9-Hemmer erreicht werden kann
◆ Bei Vorhandensein einer atherothrombotischen Krankheit gibt es keinen Grund die Statintherapie wegen des Alters abzubrechen.

Ärztlich assistierter Suizid: Ein heikles Thema

Der Umgang mit schwer bzw. unheilbar Kranken und Sterbenden ist für jeden Arzt eine besondere Herausforderung. Doch gerade in der letzten Lebensphase geht es darum, Unnötiges zu vermeiden und durch eine Symptomkontrolle das Leiden zu erleichtern, um somit ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Dabei wird der Arzt auch in zunehmenden Mass mit dem Wunsch auf einen assistierten Suizid (AS) konfrontiert.

Sterbewünsche sind nicht primär Suizidwünsche», so Dr. Klaus Bally. Sterbewünsche haben einen Grund, eine Bedeutung und ein Funktion. Sterbewünsche zu erfassen, braucht Zeit und einen Erzählraum. Sterbewünsche sind oftmals nicht Ausdruck einer depressiven Episode und bedeuten auch oft nicht den Wunsch nach einem beschleunigten Sterben. Sie sollten nicht als Ausdruck ärztlichen Versagens, sondern als Vertrauensbeweis interpretiert werden. «Doch aus einem Sterbewunsch kann sich ein Suizidwunsch entwickeln», so Bally. Der Entschluss zum assistierten Suizid sei meist der Endpunkt eines längeren Entscheidungsprozesses sein. Ein solcher durchläuft verschiedene Phasen:

  • Phase des theoretischen Nachdenkens, wobei der AS als mögliche Option erwogen wird
  • Phase des Suchens nach einem Konsens mit Exploration der Haltung von Familienmitgliedern, mit dem Ziel der Akzeptanz
  • Regelung der juristischen Voraussetzungen
  • Eigentliche Organisation des AS.

Ein AS sollte nicht angeboten und muss auch nicht geleistet werden. Doch Patienten erwarten, dass sich Ärzte auf ein Gespräch über Sterbe- und Suizidwünsche einlassen. Sollte ein Arzt diesen Weg aus ethischen Gründen nicht mitgehen können, sollte er den Patienten an einen Kollegen überweisen. Auch sollte man den Patienten auf die Möglichkeit des Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit hinweisen. Unabdingbare Voraussetzung für den AS ist die Beurteilung Urteilsfähigkeit. Eine solche Beurteilung ist nicht Ausdruck der Unterstützung oder gar Teil der Durchführung eines AS. «Sehr behutsam sollte man mit dem Wunsch nach «Altersfreitod» und Suizidwünschen bei einer frisch diagnostizierten Demenz umgehen», so Bally.

Möglichkeiten der modernen Palliativmedizin voll ausschöpfen

Die Möglichkeiten der Palliativmedizin werden noch zu wenig genutzt. Dies gilt insbesondere für Nicht-Tumor-Patienten mit chronischen Erkrankungen. Am schlechtesten palliativmedizinisch versorgt sind COPD-Patienten. Bei vielen Ärzten besteht eine psychologische Hemmschwelle mit ihren Patienten über das nahe Ende zu sprechen. Doch das sei notwendig auch, um dem Patienten unnötige und belastende Prozeduren zu ersparen. «Palliativsituationen werden zu spät als solche wahrgenommen, niemand spricht darüber und wenn darüber gesprochen wird, werden Patienten und Angehörige oftmals vor den Kopf gestossen», so Bally.

Doch warum sind Gespräche über Sterben und Tod so schwierig? Nach Meinung von Bally hat das mehrere Gründe:

  • Wir schützen uns vor etwas, was uns Angst macht.
  • Es fehlen uns die Fachkenntnisse über die Reaktionen von Patienten.
  • Es fällt uns schwer, eine Niederlage zu akzeptieren.
  • Es fehlt uns an Ausbildung, Praxis und Vorbildern.
  • Wir haben schlechte Erfahrungen gemacht.
  • Es ist nicht jedermanns Sache, sich mit gefühlsmässigen Reaktionen auseinanderzusetzen
  • Wir möchten selbst nicht sterben.

Palliativpatienten sollten frühzeitig als solche identifiziert werden. Ziel muss es sein, Tumor- und Nicht-Tumorpatienten gleichermassen den Zugang zu Palliative Care zu ermöglichen. Dazu gehören Prognosegespräche ebenso wie eine kontinuierliche Vorausplanung. Dadurch müsse, so Bally, beim Patienten das Verständnis für seine Erkrankung, seine Prognose und die Therapieoptionen verbessert werden. Ausserdem bieten solche Gespräche eine Gelegenheit, sich über seinen Glauben, seine Werte und sein Wille ein Bild zu verschaffen. «Die Behandlungs- und Versorgungswünsche müssen geklärt und auch dokumentiert sein», so Bally. Und alle Beteiligten müssen Zugang zur dieser Dokumentation haben.

Dr. med.Peter Stiefelhagen

Fortschritte auch bei älteren Patienten

Viele ältere vulnerable bzw. gebrechliche Patienten mit einer AML kommen für eine intensive Chemotherapie nicht in Frage. Doch weniger intensive Therapien mit neuen Optionen incl. zielgerichteter Substanzen sind für solche Patienten ein grosser Fortschritt, d.h. sie verlängern das Überleben.

Die AML ist das Ergebnis einer klonalen Evolution, d.h. sie entsteht aus einem präleukämischen Klon. Klinisch imponiert dies zunächst als myelodysplastisches Syndrom. «Wenn die Blastenzahl auf 20% ansteigt, spricht man von einer AML», so Professor Jakob R. Passweg. Die klonale Evolution sei bei älteren Menschen besonders häufig, so dass das Risiko für eine AML mit dem Alter ansteigt.
Die klinische Präsentation der AML ist sehr heterogen. Vor allem bei Pilzinfektionen und/oder einer Blutungsneigung sollte man an eine AML denken. Auf molekularer Ebene finden sich verschiedene Mutationen/Transformationen, die die Tellteilung und Zellreifung betreffen. Die Analyse der genetischen Veränderungen ist für die Therapie relevant.

Die Standardtherapie bei jüngeren Patienten ist eine intensive Chemotherapie mit Cytarabine plus Anthracycline nach dem 7 + 3 Schema. Diese Therapie ist aber sehr belastend und sollte vor allem bei Hochrisikopatienten durchgeführt werden. Doch bei älteren Patienten erfordert eine solche Therapie eine individuelle Abwägung und strenge Indikationsstellung. Nach einem Assessment erfolgt die Zuordnung des Patienten in fit, vulnerabel und frailty. Nur fitte Patienten profitieren von der intensiven Chemotherapie, wobei Remissionsraten von 60-70% erzielt werden.

Neue Optionen sind schonender

Ein Fortschritt gerade für ältere vulnerable bzw. gebrechliche Patienten ist HMA Azacitidine. Mit dieser Substanz können auch bei älteren Patienten Remissionsraten von bis zu 30% erreicht werden und dies geht mit einem Überlebensvorteil einher. Eine weitere vielversprechende Innovation sind die BCL2-Hemmer wie Venetoclax, die die Apoptose der malignen Zellen wiederherstellen. In einer randomisierten Studie konnte ein überlebensvorteil der Kombination Azacitidine plus Venetoclax im Vergleich zu einer Azacitidine-Monotherapie nachgewiesen werden. Fortschritte gibt es auch bei der allogenen Knochenmarktransplantation bei älteren Patienten.

Dr. med.Peter Stiefelhagen