Schweizerischer Krebsbericht 2021: Zahl der Krebspatienten nimmt zu – gleichzeitig ist die Sterblichkeit rückläufig

Aufgrund der steigenden Zahl älterer Menschen nimmt die Zahl der Krebspatienten und die Zahl der krebsbedingten Todesfälle zu. Gleichzeitig nimmt das Neuerkrankungsrisiko für Krebs insgesamt bei Männern ab und bleibt bei Frauen unverändert. Das Risiko, an Krebs zu sterben, nimmt bei Männern und bei Frauen ab. Diese Erkenntnisse gehen aus dem dritten Schweizerischen Krebsbericht 2021 hervor, den das Bundesamt für Statistik (BFS), die Nationale Krebsregistrierungsstelle (NKRS) und das Kinderkrebsregister (KiKR) gemeinsam erarbeitet haben. Der Bericht enthält die neuesten verfügbaren Daten zu Krebs in der Schweiz für die Periode 2013–2017.

Im Zeitraum von 2013 bis 2017 betrug die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen bei Männern rund 23 100 und bei Frauen rund 19 650. Sie hat damit innerhalb von fünf Jahren bei beiden Geschlechtern zusammen um etwa 3350 Fälle zugenommen. Für das Jahr 2021 werden rund 48 000 Meldungen neuer Krebsdiagnosen erwartet, 26 000 bei Männern und 22 000 bei Frauen. Hauptgrund für diese Zunahme ist die demografische Entwicklung mit einer wachsenden Zahl älterer Menschen.

Kein Grund für die Zunahme der Fälle ist das Erkrankungsrisiko, welches im Gegenteil für Krebs insgesamt zwischen 2003 und 2017 bei Frauen nahezu unverändert blieb und bei Männern sogar leicht abnahm. Die mittlere jährliche Neuerkrankungsrate hat in den letzten zwei Jahrzehnten derweil bei männlichen Kindern und Jugendlichen um 0,8% und bei weiblichen um 1,4% zugenommen. Hierbei kann es sich um eine Kombination aus verbesserter Registrierung, veränderter Diagnosepraxis, zufälligen Schwankungen aufgrund kleiner Fallzahlen und echtem Anstieg handeln. Die Mortalitätsraten haben bei Kindern und Jugendlichen im gleichen Zeitraum angesichts verbesserter Therapien abgenommen.

Vier Krebsarten dominieren

Bei Männern machen Prostata-, Lungen- und Dickdarmkrebs 50,3% der jährlichen Neuerkrankungen aus, bei Frauen entfallen 51,1% auf Brust-, Lungen- und Dickdarmkrebs. Die anderen Krebsarten haben alle je einen Anteil von weniger als 7% der jährlichen Neuerkrankungen. Bei Kindern sind Leukämien, Hirntumore und Tumore aus embryonalem unreifem Gewebe am häufigsten.

Jährlich sterben rund 17 000 Personen an Krebs

Pro Jahr starben zwischen 2013 und 2017 jährlich rund 9400 Männer und 7650 Frauen an Krebs. Somit waren 30% aller Todesfälle bei Männern und 23% aller Todesfälle bei Frauen in der Schweiz durch Krebs bedingt. Bei Männern werden 21% der Krebstodesfälle durch Lungenkrebs, 14% durch Prostatakrebs und 10% durch Dickdarmkrebs verursacht. Bei Frauen ist Brustkrebs für 18%,
Lungenkrebs für 16% und Dickdarmkrebs für 10% der Krebstodesfälle verantwortlich.

Bei Kindern verursachen Leukämien und Hirntumore die meisten Todesfälle. Insgesamt stellt Lungenkrebs mit 3200 Todesfällen pro Jahr die häufigste krebsbedingte Todesursache dar.

Die Sterberaten für Krebs sind im Zeitraum von 1988 bis 2017 im Durchschnitt bei den Frauen um 28% und bei den Männern um 39% zurückgegangen. Dies bedeutet, dass Frauen heutzutage ein um fast ein Drittel tieferes Risiko haben, an Krebs zu sterben, verglichen mit gleichaltrigen Frauen vor 30 Jahren. Bei den Männern hat das Sterberisiko in den vergangenen drei Jahrzehnten sogar um weit über ein Drittel abgenommen.

Bei vielen Krebsarten verbessern sich die Überlebenschancen

Im Zeitraum 2013–2017 beträgt die 5-Jahres-Überlebensrate über alle Krebsarten hinweg betrachtet und unter Berücksichtigung anderer Todesursachen für Männer 64% und für Frauen 67%. Gegenüber dem Zeitraum 2003– 2007 ist dies bei Männern und bei Frauen ein Anstieg um jeweils 3 Prozentpunkte. Bei Kindern liegt die 5-Jahres-Überlebensrate mittlerweile sogar bei über 85%. Die Überlebenschancen werden von der Krebsart sowie vom Zugang zur medizinischen Behandlung und deren Wirksamkeit beeinflusst.

Tiefe Erkrankungs- und Sterberaten im internationalen Vergleich

Im Vergleich mit neun europäischen Ländern (darunter die Schweizer Nachbarstaaten und andere westeuropäische Nationen) liegen die Neuerkrankungsraten in der Schweiz für alle Tumorarten zusammen betrachtet bei Männern als auch bei Frauen tief. Was die Sterberaten angeht, so hat die Schweiz bei den Männern die zweitniedrigste und bei den Frauen die niedrigste Rate. Bei den
5-Jahres-Überlebensraten liegt die Schweiz auf einem mittleren Rang. Auch bei Kindern und Jugendlichen sind die Überlebens­raten nach einer Krebserkrankung vergleichbar mit denen der Nachbarländer.

Inhalt, Datenquellen und Methoden

Der Schweizerische Krebsbericht 2021 erscheint im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). Der Bericht enthält zu Krebs insgesamt und zu 24 einzelnen Krebsarten die wichtigsten epidemiologischen Kennzahlen: Häufigkeit der Neuerkrankungen, Häufigkeit der Todesfälle, mittlere Überlebensdauer nach Diagnosestellung, verlorene potenzielle Lebensjahre, das Erkrankungsrisiko, sowie die Anzahl der in der Schweiz mit oder nach einer Krebsdiagnose lebenden Personen. Der Bericht beschreibt den aktuellen Stand aufgrund der Daten 2013–2017, die Entwicklung zwischen 1988 und 2017 und schätzt die Erkrankungsraten und Sterbefälle für 2021. Die darin verwendeten statistischen Daten stammen aus den regionalen und kantonalen Krebsregistern, die von der Nationalen Krebsregistrierungsstelle (NKRS) zusammengeführt werden, dem Kinderkrebsregister (KiKR) sowie von Erhebungen des Bundesamtes für Statistik (BFS). Für neun mit der Schweiz aufgrund dem Stand der Entwicklung und der Datenlage gut vergleichbare Länder (Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, die Niederlande, Belgien, Dänemark, Norwegen und Schweden) werden Vergleichszahlen aus internationalen Quellen präsentiert.

Der Hauptbericht zu Stand und Entwicklungen wird durch einen Methodenbericht komplettiert. In diesem sind weiterführende Angaben zu den verwendeten Klassifikationen, Datenquellen und Datenqualität, Definitionen und Berechnung der Indikatoren sowie zur Präsentation der Kennzahlen zu finden.

Auskunft
Rolf Weitkunat, BFS, Sektion Gesundheit der Bevölkerung,
Tel.: +41 58 485 67 24, E-Mail: rolf.weitkunat@bfs.admin.ch
Ulrich Wagner, NKRS, Nationale Krebsregistrierungsstelle,
Tel.: +41 44 634 53 73, E-Mail: ulrich.wagner@nicer.org
Shelagh Redmond, KiKR, Kinderkrebsregister,
Tel.: +41 31 684 38 99, E-Mail: shelagh.redmond@ispm.unibe.ch
Medienstelle BFS, Tel.: +41 58 463 60 13, E-Mail: media@bfs.admin.ch

Neuerscheinung
«Schweizerischer Krebsbericht 2021», BFS-Nummer: 1177-2100
Publikationsbestellungen, Tel.: +41 58 463 60 60,
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Online-Angebot
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Verfügbarkeit der Resultate
Diese Medienmitteilung wurde auf der Basis des Verhaltenskodex der
europäischen Statistiken geprüft. Er stellt Unabhängigkeit, Integrität und Rechenschaftspflicht der nationalen und gemeinschaftlichen statistischen Stellen sicher. Die privilegierten Zugänge werden kontrolliert und sind
unter Embargo. Das Institute of Social and Preventive Medicine (ISPM),
die Stiftung Nationales Institut für Krebsepidemiologie und Registrierung (NICER) und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) haben diese Medienmitteilung ein Arbeitstag vor der offiziellen Publikation erhalten.

Apalutamid und Gesamtüberleben bei Prostatakarzinom

Patienten mit nicht metastasiertem kastrationsresistentem Prostatakarzinom (nmCRPC) erkennt man daran, dass die Konzentration des prostataspezifischen Antigens (PSA) ansteigt und in der konventionellen Bildgebung unter laufender Androgendeprivationstherapie (ADT) keine Fernmetastasen zu sehen sind (1). Ohne weitere Behandlung entwickeln diese Patienten unweigerlich eine metastasierte Erkrankung, die mit erheblicher Morbidität und Mortalität einhergeht (2-5). Eine kürzere PSA-Verdopplungszeit (PSADT) ist stark mit einem höheren Risiko für Metastasen und Tod bei nmCRPC verbunden (6, 7). Übergeordnete Ziele der Therapie bei Patienten mit nmCRPC sind die Verhinderung von Metastasen, die Erhaltung der Lebensqualität und die Verlängerung des Gesamtüberlebens (OS) (6, 8).

Apalutamid (Erleada®) ist ein Androgensignalinhibitor, der für die Behandlung von nmCRPC und metastasiertem kastrationsempfindlichem Prostatakrebs zugelassen ist (9-11). Die Zulassung für nmCRPC basierte auf Zwischenergebnissen der Placebo-kontrollierten Phase-III-Studie SPARTAN bei Patienten mit nmCRPC und einer PSADT von ≤ 10 Monaten, in der die Zugabe von Apalutamid zur laufenden ADT das mediane metastasenfreie Überleben (MFS) um 2 Jahre gegenüber Placebo plus ADT verbesserte (12). Bei der primären Analyse des MFS waren die sekundären Endpunkte – Zeit bis zur Metastasierung, progressionsfreies Überleben (PFS) und Zeit bis zum symptomatischen Fortschreiten der Erkrankung – alle mit Apalutamid gegenüber Placebo verbessert. Die Daten zum OS waren hingegen noch nicht ausgereift (12, 13). Die OS-Daten aus den ersten beiden Zwischenanalysen von SPARTAN sprachen durchwegs für Apalutamid im Vergleich zu Placebo (12, 13).

In der vorliegenden, vordefinierten, ereignisgesteuerten Abschluss­analyse von SPARTAN wird über die Ergebnisse für das Gesamtüberleben und die Zeit bis zum Beginn einer zytotoxischen Chemotherapie berichtet (14). Die Ergebnisse für die Zeit bis zur symptomatischen Progression, das zweite PFS (PFS2), die Zeit bis zur PSA-Progression und die Sicherheit werden aktualisiert.
Bei einer medianen Nachbeobachtungszeit von 52 Monaten waren 428 Todesfälle aufgetreten. Die mediane Behandlungsdauer betrug 32,9 Monate in der Apalutamid-Gruppe und 11,5 Monate in der Placebo-Gruppe. Das mediane OS war unter Apalutamid deutlich länger als unter Placebo und erreichte die vordefinierte statistische Signifikanz (73,9 vs. 59,9 Monate, HR: 0,78 [95% CI, 0,64-0,96]; p = 0,016). Apalutamid verlängerte auch die Zeit bis zur toxischen Chemotherapie gegenüber Placebo (HR: 0,63 [95% CI, 0,49-0,81]; p = 0,0002). Die Abbruchraten in der Apalutamid- und in der Placebo-Gruppe aufgrund eines Fortschreitens der Krankheit betrugen 43% bzw. 74% und aufgrund von Nebenwirkungen 15% bzw. 8,4%. Eine anschliessende lebensverlängernde Therapie erhielten 371 (46%) Patienten in der Apalutamid-Gruppe und 338 (84%) Patienten in der Placebo-Gruppe, darunter 59 Patienten, die Apalutamid nach dem Crossover erhielten. Die Sicherheit stimmte mit früheren Berichten überein; wenn die unerwünschten Ereignisse um die Behandlungsexposition bereinigt wurden, wies der Hautausschlag bezüglich Häufigkeit den grössten Unterschied zwischen der Apalutamid- und der Placebo-Gruppe auf.

Fazit

Die abschliessende Analyse der SPARTAN-Studie zeigte, dass die Zugabe von Apalutamid zur ADT bei Patienten mit nmCRPC nicht nur das MFS und die Zeit bis zur symptomatischen Progression verbessert, wie bereits berichtet (12), sondern auch das OS verbessert und die Zeit bis zum Beginn einer zytotoxischen Chemotherapie verlängert.
Alle primären und sekundären Endpunkte wurden durch Apalutamid verbessert.
Bei längerer Nachbeobachtung war das Sicherheitsprofil von Apalutamid ähnlich wie in früheren Berichten.

red.

Quelle: Smith MR et al. Apalutamide and Overall Survival in Prostate Cancer. Eur Urol. 2021 Jan;79(1):150-158.

Literatur:
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8. Saad F et al. Effect of apalutamide on health-related quality of life in patients with non-metastatic castration-resistant prostate cancer: an analysis of the SPARTAN randomised, placebo-controlled, phase 3 trial. Lancet Oncol, 19 (2018), pp. 1404-1416
9. Clegg NJ et al. ARN-509: a novel antiandrogen for prostate cancer treatment
10. ERLEADA (apalutamide) [prescribing information]. Janssen Pharmaceutical Companies, Horsham, PA (2019)
11. K.N. Chi KN et al. Apalutamide for metastatic, castration-sensitive prostate cancer. N Engl J Med, 381 (2019), pp. 13-24
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13. E.J. Small EJ et al. Apalutamide and overall survival in non-metastatic castration-resistant prostate cancer. Ann Oncol, 30 (2019), pp. 1813-1820
14. Smith MR et al. Apalutamide and Overall Survival in Prostate Cancer. Eur Urol. 2021;79:150-158.

Erreichen der Zielwerte für LDL-Cholesterin, die in den ESC/EAS Guidelines von 2019 empfohlen werden

Aufgrund neuer Daten aus klinischen Studien mit PCSK9-Hemmern empfehlen die Leitlinien der ESC/EAS 2019 tiefere Zielwerte, insbesondere für Patienten mit sehr hohem kardiovaskulärem Risiko. Lassen sich diese Zielwerte leicht erreichen und wie steht es um die Zielwerterreichung in der Schweiz? Dieses Thema ist Gegenstand der folgenden Interviews mit einer Lipidspezialistin aus der Deutschschweiz und einem Lipidspezialisten aus der Romandie.

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Blutungsneigung

Die konstitutionelle klinische Blutungsneigung ist Realität, diese beruht sowohl auf erworbenen wie auch auf hereditären Veränderungen der Gerinnung. Junge Menschen mit weniger Expositionsrisiken im Vergleich zu den Älteren fallen klinisch nicht sofort auf, deshalb ist eine gründliche, frühe Labor­diagnostik sehr hilfreich und sinnvoll.

Die hämostatischen Mechanismen sind ein komplexes biologisches System, wo verschiedene lösliche Gerinnungsenzyme in Interaktion mit Zellstrukturen eine kaskadenartige, gegenseitige Aktivierung abspielen. Das System bleibt «eingefangen» im Gefässnetz und befindet sich primär in Ruhezustand, bis eine mechanische oder toxische Verletzung der Gefässwand vorkommt. Die Verletzung bedeutet Blutverlust und ist gleichzeitig der Trigger für den Start der Reaktionskaskade, welche unausweichlich in die Bildung des hämostatischen Thrombus führt. Die Reaktionspartner sind heute bekannt, sowohl in ihrer Struktur wie auch in ihrer Funktion (Abb. 1).

Eine Abweichung aus diesem physiologischen Weg, im Sinne eines Mangels eines Gerinnungsfaktors oder einer Hemmung dessen Funktion, bedeutet Verlangsamung der Gerinnung, klinisch als Blutungsneigung erkannt.

Zeichen der Blutungsneigung sind die Petechien (stecknadelkopfgrosse Flecken), die Ekchymosen (münzengrosse Flecken), die Suffusionen (grossflächige diffuse Blutungen) oder die Hämatome (abgrenzbare Blutungen).

Aus der Art der Blutung kann man nur bedingt die Ursache extrapolieren. Vaskuläre Defekte äussern sich meistens als Hämatome, Hautblutungen oder gastrointestinale Blutungen. Thrombozytäre Defekte lösen Petechien, Zahnfleischblutungen, Nasenblutungen, Gastrointestinal- oder ZNS-Blutungen aus. Störungen der plasmatischen Gerinnung manifestieren sich oft als Hämatome in den Muskellogen, als Hautblutungen, intraartikuläre Blutungen oder Blutungen nach Trauma.

Eine sorgfältige Anamnese, die klinische Untersuchung und die gezielte Laborabklärung führen fast immer zur genauen Identifizierung der Gerinnungsstörung.

Erste Abklärung

Anamnese

Eine gezielte detaillierte Blutungsanamnese ist sehr hilfreich. Da die Patienten die vereinzelten früheren Blutungsepisoden oft vergessen oder verdrängen, sollten sie vor blutigen diagnostischen und therapeutischen Eingriffen gezielt befragt werden (Tabelle 1). Strukturierte Fragebögen im Sinne eines Scores, wie der Blutungserfassungsscore BAT-ISTH“ der Internationalen Gesellschaft für Thrombose und Hämostase ISTH, können auch hilfreich sein. Starke Menstrualblutungen seit der Menarche erfordern Abklärung auf von Willebrand-Krankheit. Je niedriger der von Willebrand Faktor, desto stärker ist die Blutungsneigung.

Objektive Befunde

Bei den milden Gerinnungsstörungen kommt es zu einem Befund erst bei Provokationen (Trauma, Operation, Antikoagulation), bei den mittelschweren oder schweren Defekten können Blutungen auch spontan auftreten. Bei älteren schweren Hämophilen liegen eindrückliche Störungen des Bewegungsapparates (hämophile Arthropathie, Muskel-atrophie, Kontrakturen, Deformitäten etc.) vor, bei jüngeren hingegen fehlen in der Regel wegen der prophylaktischen Substitution solche Residuen. Neben eindeutigen akuten Blutungsmanifestationen müssen auch unklare Beschwerden bei hereditärer Blutungsneigung bis zum Beweis des Gegenteils primär als blutungsbedingt angesehen werden.

Labordiagnostik

Bei Verdacht auf hereditäre oder erworbene Blutungsneigung soll eine Basisdiagnostik verordnet werden. Diese beinhaltet ein Blutbild, die Globaltests der Gerinnung und der Plättchenfunktion (Thrombozytenokklusionstest PFA). Ergänzend werden auch der von Willebrand Faktor und Faktor XIII verlangt, weil diese durch die Globaltests nicht erkannt werden (Tabelle 2). Damit erfasst man die häufigen und seltenen Störungen der Hämostase. Je nach Resultat der Basisdiagnostik wird die Abklärung mit Spezialanalysen erweitert, wie z.B. gezielte Bestimmung der Gerinnungsfaktoren oder Analyse der Thrombozytenfunktion mittels Plättchenaggregation und/oder Immunphänotypisierung (Tabelle 3).

Spezialanalytik

Gezielte Untersuchung der Plättchenaggregation

Die Plättchenaggregation untersucht und klassifiziert Störungen der Plättchenfunktion, und liefert Hinweise auf Defekte der Plättchenmembranrezeptoren. Dabei wird in vitro die Stimulierbarkeit der Plättchen durch verschiedene natürliche Agonisten (ADP, Kollagen, Adrenalin, Ristocetin, Arachidonsäure, Thrombin (TRAP) und Thromboxanrezeptor-Agonist) turbidimetrisch bestimmt.

Gezielte Untersuchung der Plättchenmembranrezeptoren (Immunphänotypisierung)

Diese werden bei V.a. hereditäre Thrombopathien nachbestellt und helfen zur Diagnose und Typisierung von Defekten der Plättchenmembranrezeptoren. Dabei wird mit monoklonalen Antikörpern und Durchflusszytometrie die Rezeptorendichte auf der Plättchenoberfläche vor und nach in-vitro Plättchenaktivierung semi-quantitativ bestimmt.

Von Willebrand Faktor-Diagnostik und Multimere (VWF-MM)

Das von Willebrand Syndrom ist die häufigste hereditäre Blutungsneigung (Inzidenz 1/200-300) und wird durch die Bestimmung des von Willebrand Faktors (Funktion und Antigen) sowie des Faktors VIII erfasst. Die Abklärung wird durch die Analyse der VWF-MM ergänzt. Diese wird bei V.a. von Willebrand-Syndrom jeden Typs nachbestellt und hilft zur Diagnose und Typisierung des vWF-Defektes. Die Methode besteht in der qualitativen und quantitativen Charakterisierung der zirkulierenden vWF-Multimere mittels Gel-Elektrophorese.

Klinik und Diagnostik der Blutungsneigung (Tabelle 4)

Hämophilie A und B

Die Hämophilie ist eine X-chromosomal vererbte Verminderung der Gerinnungsfaktoren VIII oder IX, Männer sind betroffen, Frauen sind Konduktorinnen. Klinisch sind Gelenksblutungen und Muskelblutungen typisch. Bei Trauma oder Operation ist aber mit ebenso massiven Blutungen zu rechnen.
Bei schwerer und mittelschwerer Hämophilie A oder B ist die APTT eindeutig verlängert, bei milder Hämophilie ist sie nur grenzwertig erhöht oder noch im Normbereich. Eine normale APTT erlaubt daher den Ausschluss einer milden Hämophilie nicht, wenn ein Verdacht aufgrund der Anamnese vorliegt. Die gezielte Bestimmung des Faktors VIII oder IX identifiziert genau den Defekt.

Von Willebrand-Syndrom

Autosomal vererbte Störung des von Willebrand-Faktors (vWF) als Folge einer Vielzahl von Abnormitäten des von vWF-Gens. Der von Willebrand-Faktor ist wichtig für die Adhäsion der Plättchen an die verletzte Gefässintima und ihre Aktivierung. Zudem stabilisiert er den Faktor VIII, mit dem er im Plasma komplex-gebunden zirkuliert. Zahlenmässig überwiegen die milden Formen, die nur bei Provokationen bluten und meistens eine normale Blutungszeit aufweisen. Alle Typen zusammengenommen sollen nach gewissen Schätzungen fast 1% der Bevölkerung betreffen. Die schwerste Form (Typ 3) hat eine Inzidenz von 1 pro Mio.
Die Diagnostik beruht auf der quantitativen Bestimmung des von Willebrand-Faktors (Funktion und Antigen) und der Faktor VIII-Aktivität. Die Typeneinteilung ist dauernd im Fluss, wobei eine Klassierung nach einigen Phänotypen den klinischen Bedürfnissen bisher genügt.

Typ 1: Konkordante Verminderung von funktionellem und immunologisch gemessenem vWF auf weniger als 50% der Norm (meistens 5-30%). Faktor VIII um 50% oder tiefer. Autosomal dominant, macht etwa 70% der Patienten aus. Cave: Menschen mit Blutgruppe O haben physiologisch tiefere vWF-Werte ohne klinische Blutungsneigung. Der Cut-Off wird hier auf 35% statt 50% gesetzt.

Typ 2A: Verminderung der vWF-Aktivität begleitet von normalem oder nur leicht vermindertem vWF-Antigen (Ratio vWF Aktivität/vWF Antigen <0.7). Die Analyse der Multimere ergibt eine Verminderung der funktionell besonders aktiven hochmolekularen Ketten. Faktor VIII normal oder grenzwertig reduziert. Autosomal dominante Vererbung (einige rezessiv).

Typ 2B: Wie Typ 2A, jedoch begleitet von einer paradoxen Verstärkung der Ristocetin-induzierten Aggregation des plättchenreichen Patientenplasmas, bedingt durch eine erhöhte Affinität abnormer vWF-Ketten für den GP Ib/V/IX-Rezeptor des Patienten (von Willebrand Faktor Rezeptor). Bei der vWF-Multimeren Analyse Verminderung der grossen und mittelgrossen VWF-Ketten. Stimulation der Freisetzung des abnormen vWF führt zur Thrombopenie. Autosomal dominante Vererbung.

Typ 2M: Schlechte Plättchenaffinität der vWF-Multimere. Im Unterschied zu den Typen 2A und 2B sind auch die grossen Multimere vorhanden, aber funktionsgestört, was sich in der erniedrigten vWF-Funktion bei noch normalem vWF-Antigen und normaler vWF-Multimerenelektrophorese äussert (jedoch abnorme Form der Banden-Tripletten der Multimere). Autosomal dominante Vererbung.

Typ 2N, vWF-Typ Normandy: vWF mit abnormer Bindungsstelle für den Faktor VIII, der wegen fehlender Bindung an den sonst quantitativ und qualitativ normalen vWF schnell eliminiert wird. Formal entsteht das Bild einer leichten Hämophilie A (auch bei Frauen) mit VIII um 5-30%. Autosomal rezessive Vererbung.

Typ 3: vWF funktionell und immunologisch nicht nachweisbar. Faktor VIII wegen fehlendem Transportprotein im Plasma auch auf wenige Aktivitätsprozente reduziert. Autosomal rezessive Vererbung. Blutungszeit stark verlängert.

Seltene Koagulopathien

Die sehr seltenen hereditären Verminderungen einzelner Faktoren äussern sich in abnormen Globaltests: II, V und X durch abnorme Quick/INR und abnorme APTT, VII durch abnorme Quick/INR bei normaler APTT und die Kontaktphasenproteine XII und Faktor XI durch isolierte Verlängerung der APTT. Bei Afibrinogenämie fehlt die Gerinnselbildung in allen Globaltests. Die Diagnose wird mit der spezifischen Faktorenbestimmung gestellt. Der Mangel an Faktor XII ist nicht mit einer Blutungsneigung verbunden, ebensowenig der Faktor VII-Mangel mit Restaktivitäten über 10% der Norm.

Hereditäre Thrombozytenfunktionsstörungen

Die schwersten Blutungen findet man bei den seltenen, klassischen Modellkrankheiten der Plättchen, der Thrombasthenie Glanzmann (Defekt des Fibrinogenrezeptors GP IIb/IIIa) und dem Bernard-Soulier-Syndrom (Defekt des vWF-Rezeptors GP Ib/V/IX). Die Blutungszeit ist in der Regel abnorm, spezifische Diagnostik mit Plättchenaggregationstests und Rezeptorenuntersuchung bestätigt den Defekt. Weitere, unterschiedlich charakterisierte Defekte betreffen andere Oberflächenrezeptoren, die Signalübertragung, die Alpha- und Dichte-Granula sowie den Arachidonsäuremetabolismus.

Dr. med. Leda Leoncini1
Dr. med. Mario Uhr1
Dr. Yordanka Tirefort2
Prof. Dr. med. Dimitrios Tsakiris3
1 SYNLAB Suisse SA, Via Pianon 7, 6934 Bioggio
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2 SYNLAB Suisse SA, Ch. d’Entre-Bois 21, 1018 Lausanne
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Dr. med. Leda Leoncini

SYNLAB Suisse SA
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6934 Bioggio

leda.leoncini@synlab.com

Prof. Dr. med. Dimitrios Tsakiris

Klinik für Hämatologie
Hämatologische Diagnostik Labormedizin
Universitätsspital Basel und Blutspendezentrum beider Basel SRK
Petersgraben 4
4031 Basel

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel zu deklarieren.

◆ Eine gezielte Blutungsanamnese ist sehr hilfreich. Da die Patienten die vereinzelten früheren Blutungsepisoden oft vergessen oder verdrängen, sollten sie gezielt befragt werden.
◆ Junge Menschen mit weniger Expositionsrisiken fallen klinisch wegen Blutung nicht sofort auf im Vergleich zu den Älteren, deshalb ist eine gründliche, frühe Labordiagnostik sehr sinnvoll.
◆ Eine Basisdiagnostik ist bei Blutungsneigung der erste Schritt. Diese beinhaltet die Globaltests der Gerinnung Quick/INR, APTT, Fibrinogen, und der Plättchenfunktion (Thrombozytenokklusionstest PFA), wie auch den von Willebrand Faktor und Faktor XIII, weil diese durch die Globaltests nicht erkannt werden.
◆ Je nach Resultat der Basisdiagnostik wird die Abklärung mit Spezialanalysen erweitert, wie z.B. gezielte Bestimmung der einzelnen Gerinnungsfaktoren oder Analyse der Thrombozytenfunktion mittels Plättchenaggregation und/oder Immunphänotypisierung.

1. Hayward CPM. How I investigate for bleeding disorders. Int J Lab Hematol. 2018 May;40 Suppl 1:6-14. doi: 10.1111/ijlh.12822. PMID: 29741250.
2. Boender J, Kruip MJ, Leebeek FW. A diagnostic approach to mild bleeding disorders. J Thromb Haemost. 2016 Aug;14(8):1507-16. doi: 10.1111/jth.13368. Epub 2016 Jun 27. PMID: 27208505.
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5. Rodeghiero F, Tosetto A, Abshire T, Arnold DM, Coller B, James P, Neunert C, Lillicrap D; ISTH/SSC joint VWF and Perinatal/Pediatric Hemostasis Subcommittees Working Group. ISTH/SSC bleeding assessment tool: a standardized questionnaire and a proposal for a new bleeding score for inherited bleeding disorders. J Thromb Haemost. 2010 Sep;8(9):2063-5. doi: 10.1111/j.1538-7836.2010.03975.x. PMID: 20626619

Der primäre Hyperparathyreoidismus

Als primären Hyperparathyreoidismus (pHPT) bezeichnet man den Zustand einer chronisch erhöhten, inadäquaten Sekretion von Parathormon (PTH) ohne erkennbaren physiologischen Stimulus. Der pHPT ist nach dem Diabetes mellitus und Schilddrüsenerkrankungen die dritthäufigste endokrine Erkrankung des Menschen und stellt die häufigste Ursache für eine ambulant entdeckte Hyperkalzämie dar.

Epidemiologie

Der primäre Hyperparathyreoidismus ist eine der häufigsten endokrinen Erkrankungen. Grundsätzlich kann der primäre Hyperparathyreoidismus in jeder Altersstufe auftreten, wobei Menschen über 50 Jahre und postmenopausale Frauen am häufigsten betroffen sind. Die Inzidenz wird in westlichen Industrienationen auf etwa 25-30/ 100 000 Einwohner/ Jahr geschätzt, was einer Prävalenz von 1-7/ 1000 Menschen in der Allgemeinbevölkerung entspricht (1-5).

Ätiologie

In 85% – 90% der Fälle handelt es sich um einen sporadisch auftretenden pHPT durch ein solitäres autonomes Nebenschilddrüsenadenom.

Hyperplasien mehrerer oder aller vier Nebenschilddrüsen kommen in bis zu 6% der Fälle vor (6) und können auch hinweisend auf eine genetische Ursache sein. Bei der genetischen Ursache muss insbesondere bei jungen Patienten mit einer multiglandulären Erkrankung an eine multiple endokrine Neoplasie (MEN) vom Typ 1 aber auch Typ 2a gedacht werden. Auch Lithium-haltige Medikamente und Thiaziddiuretika können die Entwicklung einer Mehrdrüsenerkrankung begünstigen. Sehr selten liegt ein Nebenschilddrüsenkarzinom vor (< 1% der Fälle).

Anatomie

Beim Menschen liegen in der Regel vier, selten auch fünf oder sechs, gelegentlich auch nur drei Nebenschilddrüsen (NSD, Epithelkörperchen) vor. Sie wiegen 20-50 mg bei einer Grösse von etwa 5 x 3 x 1 mm. Grundsätzlich sind NSD sehr variabel in Form, Grösse, Gewicht, Farbe und Konsistenz. Topographisch liegen die NSD in der Regel der Schilddrüsenkapsel auf, wobei die kranialen Nebenschilddrüsen meist dorsal des N. laryngeus recurrens und die kaudalen Nebenschilddrüsen ventral der Nerven liegen.

Pathophysiologie

Der Kalziumspiegel wird im Blut durch das Parathormon (PTH) und Vitamin D3 konstant zwischen 2.0 und 2.6 mmol/l gehalten, was für zahlreiche Körperfunktionen unentbehrlich ist (z.B. Muskelkontraktionen, Nervenleitung, Zellstoffwechsel). PTH wird von den Hauptzellen der NSD produziert und sezerniert. Die Regulation erfolgt dabei über sog. Kalzium-Sensing-Rezeptoren (CaSR), die auf der Oberfläche der NSD lokalisiert sind. Sie registrieren z.B. einen Abfall des ionisierten Kalziums im Blut und steigern die Produktion und Sekretion des PTH.
Zu den Wirkungen des PTH zählen:
1. eine verstärkte renale Kalziumrückresorption und Phosphatausscheidung
2. ein verstärkter Kalziumabbau am Knochen durch Aktivierung der Osteoklasten
3. eine verstärkte Absorption von Kalzium aus dem Darm durch gesteigerte Synthese von 1,25-Dihydroxy-Vitamin D aus 25-Hydroxyvitamin D3 durch Aktivierung der renalen 1α-Hydroxylase

Klinik

Bereits durch eine sorgfältige Anamnese können wertvolle Hinweise auf das Vorliegen wesentlicher Differentialdiagnosen gewonnen werden, wobei die Leitsymptome des primären Hyperparathyreoidismus meist recht unspezifisch sind. Die Symptome können zusammengefasst werden mit «Stein, Bein und Magenpein». Dies könnte ergänzt werden mit «Seelenkummer obendrein». Dabei steht das «Stein» für Nierensteine. Renal kann zudem eine Polyurie imponieren (7-12). «Bein» steht für Osteoporose. Klinisch imponieren dabei oft Knochen- bzw. Gelenkschmerzen, selten kommt es zu pathologischen Frakturen (11, 12). Zudem kann der Gastrointestinaltrakt betroffen sein mit peptischen Ulzera des Duodenums und Magens aber auch Pankreatitiden. Zuletzt können auch in bis zu 20% neuropsychologische Symptome vorliegen. Dies können depressive Verstimmungen, oder kognitive Veränderungen sowie auch vermehrte Müdigkeit, Konzentrationsstörungen und Stimmungsschwankungen sein (13, 14, 15). Nicht selten liegt eine asymptomatische Hyperkalzämie vor.

Diagnostisches Vorgehen

Labordiagnostik

Ein pHPT wird durch den Nachweis eines erhöhten oder hochnormalen intakten Parathormons (PTH) und gleichzeitig bestehendem erhöhtem Albumin-korrigierten Gesamt-Kalzium oder ionisiertem Serumkalzium gestellt. Es ist also eine Diagnose, die primär laborchemisch gestellt wird. Andere Ursachen einer Hyperkalzämie bzw. ein erhöhter Wert des Parathormons sollten ausgeschlossen werden. Z.B. bei einer Paraneoplasie, einer Medikamentennebenwirkung, einer Niereninsuffizienz, einem Vitamin D-Mangel oder einer familiären hypokalziurischen Hyperkalzämie.

Die Bestimmung von Kreatinin und Harnstoff sowie der Kreatinin-Clearance dienen dem Ausschluss einer Niereninsuffizienz-bedingten Nebenschilddrüsenüberfunktion (sekundärer HPT), während die Bestimmung der Kalzium- und Kreatinin-Clearance im Spot-urin einen milden pHPT von einer familiären hypokalziurischen Hyperkalzämie (FHH) ohne Krankheitswert differenzieren kann. Dies ist deshalb so wichtig, weil eine FHH keine Therapie benötigt.

Die häufigste Ursache für einen reaktiv erhöhten PTH-Wert bei Normokalzämie ist ein Vitamin-D-Mangel, der durch Bestimmung des 25-Hydroxy-Vitamin D aufgedeckt werden kann.

Lokalisationsdiagnostik

Eine erfolgreiche Lokalisationsdiagnostik ermöglicht einen fokussierten und dadurch auch minimal-invasiven operativen Zugangsweg (16) und schliesst als Optionen 1. die zervikale Sonographie und 2. die Sestamibi-Szintigraphie bzw. Sestamibi-SPECT/ CT-Untersuchung mit ein.

Bei fehlender Lokalisation in der Sonographie und Szintigraphie oder auch bei diskordanten Befunden, steht neuerdings das Cholin-PET zu Verfügung, das eine erhöhte Sensitivität hat und entsprechend eine tiefere falsch-negative Rate (17).

Therapeutisches Vorgehen

Bei laborchemisch diagnostiziertem pHPT und typischer Symptomatik, einem sogenannten symptomatischen pHPT, ist eine chirurgische Therapie in Form einer Parathyreoidektomie klar indiziert. Aber auch bei asymptomatischen Patienten ist die Operationsindikation oft gegeben, weil auch sogenannt asymptomatische Patienten postoperativ häufig über eine Verbesserung ihrer Lebensqualität berichten, und der pHPT auch bei asymptomatischen Patienten einen nachteiligen Effekt z.B. auf den Knochen hat und bei einem gewissen Prozentsatz dieser Patienten binnen zehn Jahren auch zu Symptomen führt. Empfohlen wird eine Operation grundsätzlich bei asymptomatischen Patienten, wenn die Hyperkalzämie sehr ausgeprägt ist, wenn eine Niereninsuffizienz vorliegt, oder auch wenn die Patienten jünger als 50 Jahre alt sind. Auch eine Osteoporose kann eine Operationsindikation sein. Hier geht es immer um eine Nutzen Risiko-Abwägung, die idealerweise von einem Endokrinologen mitabgewogen werden sollte.
Alternativ zur chirurgischen Therapie, insbesondere bei asymptomatischen Verlaufsformen des pHPT, sollten regelmässig Kontrollen durchgeführt werden. Zudem müssen die Patienten dazu angehalten werden ausreichend zu trinken und eine Immobilisation zu vermeiden.

Präoperatives Management

  • Vitamin D3
    Patienten mit einem pHPT haben häufig einen Vitamin-D-
    Mangel. Vitamin-D3-Mangel ist v.a. im Winter stark verbreitet. Da ein Vitamin-D3-Mangel die Parathormonsekretion
    stimuliert, sollte vor einer Operation bei Vorliegen eines Vitamin-D3-Mangels eine Supplementation erfolgen (18, 19). Dabei sind kurzfristige Kontrollen des Serumkalziums erforderlich. Aktuell wird eine Vitamin D Gabe von 800 bis 1000 IU/Tag bei Erwachsenen empfohlen (20).
  • Laryngoskopie
    Eine prä- und postoperative Laryngoskopie mit Dokumentation der Stimmlippenbeweglichkeit soll bei allen Patienten mit einem pHPT aus Qualitätszwecken erfolgen. Dies, weil v.a. die kranialen Nebenschilddrüsen sehr nah am N. laryngeus recurrens liegen und dieser bei einer Operation geschädigt werden kann. Dies hätte eine Stimmbandfunktionseinschränkung mit Heiserkeit beim Patienten zur Folge.

Operation

Das chirurgische Vorgehen unterscheidet sich wesentlich zwischen Ersteingriffen und Rezidiveingriffen und ist von der zugrundeliegenden Ätiologie abhängig. Im Folgenden wird aus Gründen der Übersicht das Vorgehen eines Ersteingriffes beschrieben. Voraussetzung für alle operativen Verfahren ist die Notwendigkeit einer exakten Kenntnis der Anatomie der Nebenschilddrüsen und ihrer potentiell ektopischen Lagevariationen.

Besteht aufgrund der Lokalisationsdiagnostik präoperativ der Verdacht auf ein singuläres Nebenschilddrüsenadenom, kann eine fokussierte Parathyreoidektomie und damit potentiell auch eine minimalinvasive Operationstechnik avisiert werden. Bei Verdacht auf einen multiglandulären Befall wird je nach Lokalisation eine uni- oder bilaterale Halsexploration durchgeführt.
Die Operation erfolgt in der Regel in Vollnarkose. Die konventionelle, offene Entfernung eines Nebenschilddrüsenadenoms erfolgt über einen vorderen oder lateralen Zugang. Der vordere Zugang entspricht dem üblichen Zugang für die Thyreoidektomie, kann aber durch eine kleinere Inzision durchgeführt werden (20).

Da das Parathormon eine sehr kurze Halbwertszeit von weniger als 5 Minuten aufweist, ermöglicht die intraoperative PTH-
Bestimmung nach Entfernung des betroffenen Nebenschilddrüsenadenoms eine unmittelbare Erfolgskontrolle noch während des Eingriffes (19). Dabei wird zu verschiedenen Zeiten perioperativ Parathormon bestimmt, meist vor der Operation, zum Zeitpunkt der Adenomentfernung sowie 10 bis 20 Minuten nach Adenom-entfernung. Bei nicht adäquatem Abfall des Parathormonwertes kann dann die operative Strategie entsprechend angepasst werden, d.h., wenn das Parathormon nicht mindestens 50% abfällt binnen
10 Minuten nach Entfernung des Nebenschilddrüsenadenoms, muss nach einer weiteren erkrankten Nebenschilddrüse gesucht werden. Der Eingriff muss also erweitert werden. Auch ein intraoperativer Schnellschnitt kann hilfreich sein, insbesondere, wenn die Identifizierung des Nebenschilddrüsenadenoms aspektmässig nicht einwandfrei möglich ist.

Ein intraoperatives Neuromonitoring kann helfen die Stimmbandnerven zu identifizieren und wird regelhaft eingesetzt (21). Besteht eine Indikation zur Schilddrüsenoperation wird empfohlen, diese zusammen mit der Nebenschilddrüsenoperation durchzuführen.
Grundsätzlich sind Komplikationen nach Nebenschilddrüsenoperationen selten. Durch exakte anatomische Kenntnisse und vorsichtige Präparationstechnik können die wesentlichen Komplikationen auf ein Minimum reduziert werden. Zu den möglichen Komplikationen zählen:

1. Stimmbandnervlähmung (sog. Rekurrensparese)
2. Nachblutung
3. Persistenz und Rezidiv

Zur Beurteilung der postoperativen Nebenschilddrüsenfunktion sollte eine Bestimmung des Albumin- korrigierten Serumkalziums und des intakten Parathormons am 1. postoperativen Tag erfolgen, um das Risiko einer therapierelevanten postoperativen Hypokalz-ämie zu erfassen. Nach erfolgreicher Parathyreoidektomie werden in 1,8% – 42% der Fälle erniedrigte Serumcalciumwerte gemessen (24, 25). Dies entspricht durchaus einem regelhaften postoperativen Verlauf und ist zunächst nicht als postoperative Komplikation zu werten.

Eine Bestimmung insbesondere des Albumin-korrigierten Serumkalziums, fakultativ auch des PTHs sollte, auch bei unkompliziertem Verlauf, nach 6 Monaten durchgeführt werden, um eine Persistenz bzw. ein Rezidiv des pHPT zu erfassen.
Nachblutungen sind eine seltene, aber potenziell lebensbedrohliche Komplikation nach Nebenschilddrüsenoperation. Sie treten meist innerhalb der ersten 24 h postoperativ auf und erfordern eine unverzügliche operative Revision mit vordringlicher Sicherung der Atemwege. Aus diesem Grunde sind Nebenschilddrüsenoperationen auch weiterhin keine ambulanten Eingriffe.
Eine Persistenz und oder ein Rezidiv eines Hyperparathyreoidismus wird definiert als anhaltende Hyperkalzämie binnen bzw. nach 6 Monaten und findet sich in 2-5% (22, 23).

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med.Barbara Freitag

Spital Männedorf AG, Chirurgische Klinik, Asylstrasse 10, 8708 Männedorf

Dr. med. Andrea Babians

 Spital Männedorf AG, Chirurgische Klinik,
Asylstrasse 10, 8708 Männedorf
UniversitätsSpital Zürich, Klinik für Endokrinologie,
Rämistrasse 100, 8091 Zürich

PD Dr. med. Diana Vetter

Spital Männedorf AG, Chirurgische Klinik,
Asylstrasse 10, 8708 Männedorf
Universitäts Spital Zürich, Klinik für Viszeralchirurgie,
Rämistrasse 100, 8091 Zürich

diana.vetter@usz.ch

Die Autorinnen haben im Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenkonflikte deklariert.

◆ Die Diagnose eines primären Hyperparathyreoidismus wird laborchemisch gestellt.
◆ Zur Diagnose des pHPT sollte eine wiederholte Bestimmung des Albumin-korrigierten Serumkalziums und des intakten Parathormons erfolgen und eine sekundäre Komponente durch Bestimmung des Kreatinins und des 25(OH)- Vitamin D ausgeschlossen werden. Gegebenenfalls soll Vitamin D substituiert werden.
◆ Die Bestimmung der Calcium Clearance im Spoturin dient dem Ausschluss einer familiären hypokalziurischen Hyperkalzämie, welche nicht therapiebedürftig ist.
◆ Die Operation ist die bisher einzige ursächliche Therapie.

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Hörsturz

Der Hörsturz ist definiert als akuter, sensorineuraler Hörverlust. Diese plötzlich ohne erkennbare Ursache auftretende, cochleäre Schwerhörigkeit ist meistens einseitig, kann jedoch in seltenen Fällen beide Ohren betreffen. Bzgl. Frequenzbereich und Schweregrad lassen sich verschiedene Formen der Innenohrschwerhörigkeit unterscheiden: Tiefton-, Mittelton, Hochton- oder pantonale bzw. pancochleäre Innenohrschwerhörigkeit von leichtgradig bis zur an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit oder gar tatsächlicher Taubheit.

Die für die Patienten spürbaren Symptome sind meist ein plötzliches Druckgefühl auf dem betroffenen Ohr bzw. auf beiden Ohren, ein Gefühl wie Watte im Ohr, ein pelziges Gefühl um die Ohrmuschel (periaurale Dysästhesie) sowie Hörverschlechterung. Die Hörverschlechterung kann für die Patienten unbemerkt bleiben, wenn sie nur leichtgradig ist oder nur eine Frequenz bzw. wenige Frequenzen betrifft. Wichtig zu berücksichtigen ist auch die Tatsache, dass die Betroffenen unter Hörverlust, Tinnitus und Schwindel unterschiedlich stark leiden. Bei schwergradiger oder sehr schwergradiger Betroffenheit bzw. grossem Leidensdruck z. B. durch Tinnitus findet man häufig eine psychische Komorbidität. Neben Tinnitus können weitere Symptome wie Schwindel, Hyper-, Diplo- oder und Dysakusis vorhanden sein. Die Hörsturz-Inzidenz liegt nach Untersuchungen aus Deutschland zwischen 160 – 400/100.000 pro Jahr (1, 2). Epidemiologische Daten aus der Schweiz liegen weder für den Hörsturz noch für Tinnitus vor. Am häufigsten tritt der Hörsturz in der Altersgruppe der 40 – 50jährigen auf. Ein Hörsturz im Kindesalter ist möglich, aber sehr selten. Ich habe dies bei grossem, negativem Stress in Schule oder Familie gelegentlich gesehen. Es gibt keine geschlechterbezogene Häufigkeit.

Pathogenese

Pathogenetisch liegt eine Schädigung der äusseren und/oder der inneren Haarzellen vor, die reversibel (Zellschädigung) oder irreversibel (Zelltod) sein kann. Wenn die Hörminderung im tiefen Frequenzbereich fluktuierend ist, der Hörsturz also scheinbar wiederholt auftritt, liegt meist kein Hörsturz, sondern ein endolymphatischer Hydrops als Ursache eines Morbus Menière vor. Als Ursache der wannenförmigen Senkenbildung der Hörschwelle im mittleren Frequenzbereich werden lokale Durchblutungsstörungen im Bereich der Lamina spiralis ossea mit hypoxischen Schäden des Corti-Organs diskutiert. Bei pantonaler Schwerhörigkeit liegt meist eine Funktionsbeeinträchtigung der Stria vascularis, also eine Durchblutungsstörung vor. Ein vaskulärer Verschluss ist meistens die Ursache für eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit oder eine Ertaubung. Durch die als häufigste Ursache des Hörsturzes vermutete Durchblutungsstörung kommt es zu einem kurzzeitigen oder bleibenden Zusammenbruch der Energieversorgung des Innenohres. Da das Innenohr nur durch eine einzige Endarterie mit Blut versorgt wird, ist es für Durchblutungsstörungen besonders anfällig. Zum Glück sind diese Durchblutungsstörungen meist reversibel und das Innenohr bzw. die Haarzellen werden bald wieder mit Sauerstoff versorgt, was die Spontanremissionen beim Hörsturz erklärt. Aufgrund des hohen Anteils von Spontanremissionen gilt der Hörsturz im Gegensatz zum Herzinfarkt oder zum Apoplex nicht als Notfall, der sofort therapiert werden muss. Wohl aber gilt er als otologischer Eilfall, der bei Persistenz der Beschwerden über 24 Stunden hinaus möglichst innerhalb der ersten 48 Stunden richtig diagnostiziert und adäquat behandelt werden sollte (3-5).

Die Differentialdiagnosen des Hörsturzes bzw. der akuten Innenohrschwerhörigkeit sind vielfältig: Traumata (Knall-, Explosions-, Barotrauma, Felsenbeinfraktur), Labyrinthitis (z. B. als Komplikation einer Otitis media, Borreliose, Lues), Meningitis, Encephalitis, Autoimmunvaskulititis, Intoxikation (Alkohol, andere Drogen, Arzneimittel wie Aminoglykosidantibiotika und Schleifendiuretika, Toxine aus Bakterien), Virusinfekte (Adenoviren, Herpes zoster, Mumps), Tumore (z. B. Akustikusneurinom, Hirnstamm- und Kleinhirnbrückenwinkeltumore), Perilymphfistel, dialysepflichtige Niereninsuffizienz, Liquorverlust-Syndrom, (z.B. nach Liquorpunktion), genetisch bedingte Syndrome, hämatologische oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zu den Differenzialdiagnosen gehören auch psychogene Hörstörungen.

Diagnostik

Nach der eingehenden Anamnese incl. der Klärung der Lärmexposition in Beruf und Freizeit erfolgt die Otoskopie. Cerumen im Gehörgang wird ggfls. entfernt. Mit der Tympanometrie wird der Druck in den Mittelohren gemessen, der idealerweise gleich dem atmosphärischen Aussendruck sein sollte. Die Stimmgabelversuche nach Weber und Rinne geben erste Hinweise auf eine Hörstörung. Sehr wichtig ist die Reintonaudiometrie mit Luft- und Knochenleitung mindestens im Sprachbereich von 125 – 8000 Hz. Ich messe die Frequenzen von 125, 250, 500, 1000, 1500, 2000, 3000, 4000, 6000, 8000, 9000, 10000, 11000, 12000, 14000 und 16000 Hz. Besteht ein Tinnitus, sollten Tinnitusfrequenz und –lautheit gemessen werden. Bei Hyperakusis sollte die Unbehaglichkeitsschwelle gemessen werden. Bei Einschränkung des Sprachverständnisses sollte auch eine Sprachaudiometrie durchgeführt werden. Bei Schwindelsymptomatik ist die Untersuchung der Augenbewegungen unter der Frenzelbrille wichtig: Sind Spontan-, Fixationsnystagmen und Folgebewegungen, Kopfschüttel- oder Lagerungsnystagmen zu sehen? Der Kopf-Impuls-Test nach Halmayi und Curthoys und die kalorische Vestibularisprüfung mit Wasserspülungen von 30 und 44 ºC sollen durchgeführt werden. Hinweise auf eine zentrale Gleichgewichtsstörung oder zentrale Störungen der Augenbeweglichkeit sind z. B. Blickrichtungsnystagmen, sakkadierte Blickfolge, verlangsamte Sakkaden. Auf weitere neurologische Symptome wie Facialisparese, Parästhesien, Schluck-, Gang- und Koordinationsstörungen ist zu achten. Blutdruck und Puls werden gemessen. Die Halswirbelsäule wird untersucht auf Bewegungseinschränkungen. Folgende Laborwerte sollten bestimmt werden: Blutbild und Differenzialblutbild, Blutzucker, CRP, Präcalcitonin, Kreatinin, Fibrinogenspiegel, Ausschluss von Borreliose, Lues, Herpes-Virus, Varicella-Zoster-Virus, CMV, HIV. Eine bildgebende Darstellung des Felsenbeins und des Neurokraniums (CT oder MRT) sollten erfolgen z. B. zum Ausschluss eines Akustikusneurinoms bzw. Kleinhirnbrückenwinkeltumors, eines endolymphatischen Hydrops, bei pulssynchronen Ohrgeräuschen auch einer arterio-venösen Fistel oder eines temporalen Paraganglioms, Der Hörsturz verursacht eine wesentliche Einschränkung der Lebensqualität (6). Diese Einschränkung der Lebensqualität bzw. die psychische Betroffenheit durch den Hörverlust, ggfls. durch Tinnitus, Hyperakusis und/oder Schwindelsymptomatik sollte durch standardisierte psychometrische Tests erfasst, eine psychische Komorbidität erkannt werden.

Sollte bei freiem Gehörgang sowie reizlosem und geschlossenen Trommelfell mit normalem Druck im Mittelohr die Symptomatik den Verdacht auf einen Hörsturz nahe legen, wird die Überweisung zur ohrenärztlichen Untersuchung empfohlen.

Therapie

Die beste wissenschaftliche Evidenz besteht für die hoch dosierte Therapie mit Glukokortikosteroiden. Diese sollte drei Tage lang mit jeweils 250 mg Prednisolon oder einem Glukokortikosteroid mit äquivalenter Dosierung durchgeführt werden (7, 8). Die Therapie kann bei Bedarf einige Tage länger durchgeführt werden. Die Kortisondosis muss auch bei einer derart hohen Dosis über wenige Tage nicht reduziert bzw. ausgeschlichen werden (9), obwohl verschiedene Schemata existieren, die genau dies befürworten, wogegen auch nichts einzuwenden wäre. Eine Alternative zur systemischen Kortisontherapie ist die intratympanale Applikation von Dexamethason oder Methylprednisolon, die gleich wirksam wie eine niedrig dosierte systemische Kortisontherapie zu sein scheint und als weiterer Therapieversuch nach einer erfolglosen systemischen Kortisontherapie wirksamer ist als eine Plazebotherapie oder keine Therapie (10, 11).

Rheologika und Vasodilatatoren wie Aloprostadil, Carbogen und Naftidrofuryl zeigten in einer Cochrane-Metaanalyse von drei randomisierten Studien keine Wirksamkeit und können daher nicht empfohlen werden (12). Eine randomisierte, kontrollierte Studie mit Pentoxifyllin/Dextran zeigte keine Überlegenheit gegenüber Pentoxifyllin/NaCl oder NaCl/Plazebo (13). In einer randomisierten, doppelblinden, kontrollierten Studie mit Pentoxifyllin gegen einen standardisierten Ginkgo-biloba-Extrakt zeigte sich ein Vorteil für den Gingko-Extrakt in der Beurteilung der Wirksamkeit durch die Patienten bei Äquivalenz in allen anderen Parametern betr. Hörsturz und Tinnitus (14). Ein Schweizer Autorenteam publizierte 2021 eine systematische Übersichtsarbeit zur Wirksamkeit standardisierter Ginkgo-biloba-Extrakte bei Schwindel und/oder Tinnitus (15). Die pharmakologischen Wirkungen sind verbesserte Durchblutung von Innenohr und Gehirn, antioxidative Effekte, Neutralisierung freier Sauerstoffradikale, Neuroprotektion und verbesserte Energiezufuhr in den Mitochondrien. 17 randomisierte, kontrollierte Studien wurden in diese Übersichtsarbeit eingeschlossen. Davon belegten 14 von 17 Studien die Wirksamkeit und die Sicherheit, darunter 8 von 9 Studien, die Tinnitus und/oder Schwindel untersuchten sowie 6 von 8 Studien, die nur Tinnitus untersuchten. Standardisierte Ginkgo-biloba-Extrakte sind von Swissmedic u. a. für die Indikationen Tinnitus und Schwindel als additive Therapie zugelassen und kassenzulässig auf der Spezialitätenliste. Bzgl. der hyperbaren Sauerstofftherapie kommt eine Cochrane-Metaanalyse von 7 randomisierten Studien mit insgesamt 392 Patienten zur Beurteilung, dass zwar das Hörvermögen signifikant verbessert wurde, die Studien jedoch methodisch unzulänglich sind und deshalb mit Vorsicht interpretiert werden müssen (16). Hier sind auch angesichts der Kosten und des Risikos weitere klinische Studien notwendig, ehe eine positive Empfehlung gegeben werden kann. Bzgl. der antiviralen Therapie zeigt ein Cochrane-Review keine statistisch signifikante Wirksamkeit antiviraler Medikamente wie Acyclovir oder Valcyclovir beim Hörsturz (17), sodass dies nicht empfohlen werden kann.
In meiner Praxis hat sich die Kombination der hochdosierten, systemischen Therapie mit Glukokortikosteroiden und einem standardisierten Ginkgo-biloba-Extrakt in der Tagesdosis von 240 mg bewährt. Wichtig ist das Erkennen begleitender Symptome bzw. Erkrankungen wie Tinnitus, Hyperakusis, otogener Schwindel und psychischer Komorbidität, was ggfls. weitere therapeutische Massnahmen und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordert.

Copyright Aerzteverlag medinfo

PD Dr. med. Dr. h. c. Andreas Schapowal

Hochwangstr. 3
7302 Landquart

andreas@schapowal.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Ein idiopathischer Hörsturz ist kein Notfall, aber eine ohrenfachärztliche Abklärung sollte bei persistierender Symptomatik innerhalb von
2 Tagen erfolgen.
◆ Ein Hörsturz mit persistierendem Hörverlust ohne Spontanheilung wird primär hochdosiert mit Kortison behandelt. Additiv unterstützt ein standardisierter Ginkgo-biloba-Extrakt die Therapie.
◆ Ein ggfls. den Hörsturz begleitender Tinnitus und/oder Schwindel wird diagnostiziert und mitbehandelt. Gleiches gilt für Stressfaktoren und eine psychische Komorbidität.

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