Therapie und heutige Herausforderungen

Dank Erfolgen in der translationalen und klinischen Forschung mit Fokus auf die Pathophysiologie der chronischen myeloischen Leukämie (CML) (spezifische Tyrosinkinase-Hemmer (TKI) gerichtet auf das Onkoprotein BCR-ABL1) können heute Patienten zielgerichtet und personalisiert therapiert werden. Im Vordergrund stehen dabei Kenntnisse zu therapieinduzierten molekularen Verläufen, deren Interpretation und Konsequenzen, der Umgang mit potenziellen Nebenwirkungen und Resistenzen auf die modernen Therapieoptionen sowie das mögliche längerfristige Ziel der therapiefreien Remission (TFR).

CML ist eine seltene hämatologische Erkrankung mit einer jährlichen Inzidenz von 1.0-1.5 auf 100 000 Einwohner (1). Patienten mit CML, die gut auf eine der modernen Therapieoptionen mit TKI ansprechen, haben heute eine zur Normalbevölkerung vergleichbare Lebenserwartung (2). Dadurch wird sich die Prävalenz von Patienten mit CML weltweit und auch in der Schweiz bis 2050 vervierfachen (3). Der einzige bekannte Risikofaktor, eine CML zu entwickeln, sind ionisierende Strahlen, wie sie einige Jahre nach Reaktorunfällen beobachtet wurden (4).
Die CML ist eine klonale, hämatopoietische Stammzell-Erkrankung, deren Zellen durch eine Translokation zwischen den langen Armen der Chromosomen 9 und 22 [t(9;22)(q34;q11.2)] charakterisiert ist. Zytogenetisch wird das verkürzte Chromosom 22 als Philadelphia-Chromosom (Ph) (nach dem Entdeckungsort) genannt. Die Translokation t(9;22) führt zur Fusion des ABL1 Gens mit dem BCR Gen, was zur Aktivierung der Tyrosinkinase des onkogenen Fusionsproteins BCR-ABL1 führt mit der Folge von erhöhter Proliferation, reduzierter Apoptose, abnormaler Adhäsion und Migration der klonalen Zellen sowie deren genetischer Instabilität (5). Auch wenn bei der CML noch andere Signalwege eine Rolle spielen und aktiviert sind, ist BCR-ABL1 allein ausreichend für die Entwicklung einer CML.

Diagnose und initiales Work-up

Über 50% der Patienten mit der Diagnose CML werden heute zufällig entdeckt. Symptome bei CML sind eher unspezifisch wie vermehrte Müdigkeit, Gewichtsverlust, nächtliches Schwitzen sowie bei Milzvergrösserung Völlegefühl und abdominelle Beschwerden. Ein Verdacht auf eine CML muss aufkommen, wenn sich im Blutbild eine Leukozytose mit zahlreichen myeloiden Vorstufen, eine milde Anämie und meist eine Thrombozytose zeigen. Sehr typisch ist eine Basophilie und z.T. eine Eosinophilie. Die Funktion der hämatopoietischen Zellen ist in der Regel erhalten, weshalb Patienten mit CML in einer chronischen Phase (CP) nicht ein höheres Infektions- oder Blutungsrisiko aufweisen. Zur Prognosestellung (siehe nächster Abschnitt), ist es relevant, die Blutwerte und die Grösse der Milz (in cm unter dem untersten Rippenbogen) vor Beginn der Therapie zu erfassen. Die Diagnosestellung einer CML kann mittels qualitativer RT-PCR (reverse transcription polymerase chain reaction) für BCR-ABL1 Transkripte (primär e13a2, auch b2a2 genannt, oder e14a2, auch b3a2 genannt) aus dem peripheren Blut erfolgen. Zur Bestimmung der Krankheitsphase (CP oder akzelerierte Phase (AP) oder Blastenkrise (BC)) braucht es initial eine Knochenmarkspunktion. Zur Einschätzung des Krankheitsrisikos braucht es zudem eine Zytogenetik mittels Metaphasenkaryotypisierung (mindestens 20 Metaphasen sind aus Qualitätsgründen gefordert) aus dem Knochenmark oder, bei fehlendem Aspirat, aus dem peripheren Blut (siehe Tabelle 1). In der Knochenmarksuntersuchung geht es um die Anzahl der Blasten und Promyelozyten, die Basophilie und Fibrose zur Abgrenzung einer CML in CP (in über 95% der Fälle) gegenüber der AP und BC oder anderer myeloproliferativer Erkrankungen (6). Bei der Zytogenetik geht es nebst dem Ph-Chromosom auch um zusätzliche klonale zytogenetische Aberrationen, welche prognostisch eine Bedeutung (z.B. Trisomie 8, 7q-, zusätzliches Ph-Chromosom, Isochromosom 17q mit schlechter Prognose) haben können (7). Handelt es sich um eine CML in AP oder BC, wird auch eine BCR-ABL1 Mutationsanalyse und allenfalls andere myeloide Marker empfohlen, da diese gehäuft vorkommen und relevant sind für die Prognose (8).

Risikostratifizierung

Verschiedene Risiko-Scores (Sokal, Euro, Eutos, ELTS) basierend auf initial erhobenen Befunden (Alter, Milzgrösse, Basophilie, Blastenzahl, Thrombozytose, Eosinophilie) wurden in den letzten Jahren etabliert (8). Auf der Website: https://www.kompetenznetz-leukaemie.de/content/aerzte/cml/scores/eutos_score/ und https://www.kompetenznetz-leukaemie.de/content/aerzte/cml/scores/elts/ des Kompetenznetzwerk Leukämien können diese durch Eingabe der Parameter einfach ermittelt werden. Der ELTS Score wurde basierend auf Daten von CML Patienten unter Therapie mit TKI etabliert und berücksichtigt, dass die Patienten heute meist nicht an CML-bedingten Ursachen sterben. Als Prognose-Score wird der ELTS Score deshalb primär empfohlen.

Therapieoptionen

BCR-ABL1 spezifische TKIs gelten heute als Standardtherapie für die Behandlung von neu diagnostizierten Patienten mit CML. Aktuell stehen 5 verschiedene TKIs (Imatinib, Nilotinib, Dasatinib, Bosutinib, Ponatinib) in der Schweiz zur Verfügung. Bei Imatinib handelt es sich um die Erstgeneration, Nilotinib, Dasatinib und Bosutinib gehören zur Zweitgeneration und Ponatinib zur Drittgeneration von TKIs. Die verschiedenen TKIs unterscheiden sich in ihrer Wirkungsstärke, Wirkung auf andere Kinasen, Aktivität gegen ABL1 Mutanten, Pharmakokinetik sowie dem Nebenwirkungsprofil.

Erstgeneration TKI Imatinib

Durch die IRIS Studie (International Randomized Study of Interferon and STI571) um die Jahrtausendwende, welche Imatinib 400 mg/d peroral (p.o.) mit der damaligen Standardtherapie, einer Kombination von IFN-α mit niedrig dosiertem Cytarabine, verglich, revolutionierte sich die Therapie der CML, da sich sowohl das Überleben als auch die Lebensqualität der Patienten enorm verbesserten (9). Aufgrund verschiedener Studien (CML IV, SPIRIT) zeigte sich, dass eigentlich Imatinib 600mg/d p.o. die optimale Dosis wäre, was für die Behandlung von Patienten mit CML in AP und BP auch empfohlen wird, nicht aber für Patienten in CP (400mg/d Imatinib p.o.) (10, 11). Unter Imatinib können bei einem Teil der Patienten niedrig-gradige Nebenwirkungen (z.B. Hautödeme, Muskelkrämpfe, Knochenschmerzen, Leberwerterhöhungen) auftreten, welche auf die Dauer die Lebensqualität beeinträchtigen. Diese sollten aktiv erfragt und angegangen werden; zusätzliche Langzeitnebenwirkungen unter Imatinib haben sich nicht ergeben (12). Imatinib ist zudem heute in generischer Form erhältlich und dadurch billiger als das Original.

Zweitgeneration TKI Nilotinib

Die Behandlung mit Nilotinib, ein selektiverer und potenterer Inhibitor von BCR-ABL1, führte bei Patienten mit CML in CP und AP, die auf Imatinib nicht angesprochen hatten, zu eindrücklichem Erfolg. 2005 wurde Nilotinib (2 x 400mg/d p.o.) deshalb als Zweitlinientherapie bei vorangegangener Resistenz oder Intoleranz auf TKI zugelassen (13). Aufgrund der guten Resultate von Nilotinib 2 x 300mg/d und 2 x 400mg/d im Vergleich zu Imatinib 400mg/d in der ENESTnd Studie (Evaluating Nilotinib Efficacy and Safety in Clinical Trails – Newly Diagnosed) erhielt die Therapie mit Nilotinib 2 x 300mg/d die Zulassung auch als Erstlinientherapie (14). Bei dieser Studie verbesserten sich das molekulare Ansprechen und das progressionsfreie Überleben unter beiden Dosierungen, das Gesamtüberleben aber nur mit der 2 x 400mg/d Dosierung.
Unter Nilotinib muss ein Anstieg der Leber- und Bauchspeicheldrüsenwerte, der Blutzuckerspiegel und der Lipide beachtet werden. Zudem kann es längerfristig zu arteriellen Gefässverschlüssen kommen. Deshalb ist Nilotinib weniger geeignet für Patienten mit Diabetes oder Hyperlipidämien sowie bei Prädisposition zu oder vorliegender arteriellen Gefässerkrankung (12).

Zweitgeneration TKI Dasatinib

Dasatinib, ein potenter BCR-ABL1 und SRC Hemmer, ausgetestet in verschiedenen Dosen (70 mg/d, 100 mg/d, 140 mg/d) bei Patienten mit CML, die auf Imatinib ungenügend angesprochen haben oder intolerant waren, zeigte ebenfalls erstaunlich gute Ansprechraten. Dabei kristallisierte sich eine Dosis von 100mg/d p.o. für CML in CP und 2 x 70 mg/d p.o. für CML in AP/BC und für die Zweitlinientherapie bei CML in CP heraus. Durch die Phase 3 DASISION Studie (Dasatinib versus Imatinib Study in treatment-Naive CML Patients), bei welcher 100mg/d Dasatinib mit 400 mg/d Imatinib bei neu diagnostizierten CML Patienten in CP verglichen wurde, ergab sich die Zulassung für Dasatinib 100mg/d respektive 2 x 70 mg/d in der Erstlinie für CML in CP respektive in AP/BC. Die Studie zeigte eine deutliche Verbesserung des zytogenetischen und molekularen Ansprechens, jedoch nicht des Gesamtüberlebens (15).
Dasatinib ist assoziiert mit einem gewissen Risiko für pleurale Effusionen, und gelegentlich kann auch eine pulmonal arterielle Hypertonie auftreten, weshalb Patienten mit CML und pulmonalen Vorerkrankungen eher nicht mit Dasatinib therapiert werden sollten (12).

Zweitgeneration TKI Bosutinib

Bosutinib, ein potenter BCR-ABL1 und SRC Hemmer, wurde zuerst als Drittlinientherapie in einer Dosierung von 500 mg/d p.o. zugelassen. In der Studie für die Erstlinientherapie, welche Bosutinib 500 mg/d im Vergleich zu Imatinib 400 mg/d prüfte, wurde der primäre Endpunkt, ein komplettes zytogenetisches Ansprechen, trotz des besseren molekularen Ansprechens nicht erreicht, weshalb Bosutinib dafür vorerst nicht zugelassen wurde. Möglicherweise haben ungenügende Vorkehrungen zur Milderung von vor allem gastrointestinalen Nebenwirkungen zu vermehrtem Absetzen von Bosutinib geführt und damit zu einer Unterschätzung der Unterschiede zwischen den beiden Therapiearmen. Beim Vergleich (BEFORE Studie: Bosutinib Trial in First Line Chronic Myelogenous Leukemia Treatment) von 400 mg/d Bosutinib zu 400 mg/d Imatinib ergab sich eine deutliche Verbesserung des molekularen Ansprechens nach 12 Monaten, aber keine Verbesserung im Gesamt- und progressionsfreien Überleben (16).
Bosutinib kann als Nebenwirkung zu Diarrhoe, Lebertoxizität und Niereninsuffizienz führen, weshalb Patienten mit CML und Leber- oder Nierenvorerkrankungen nicht primär mit Bosutinib behandelt werden sollten (12).

Drittgeneration TKI Ponatinib

Ponatinib wurde spezifisch zur Therapie von Patienten mit einer T315I Mutation, welche unter Therapie mit Erst- und Zweitgenerationen TKI entstehen kann und zu einer hohen Therapieresistenz führt, entwickelt. Ponatinib ist der potenteste BCR-ABL1 Hemmer mit langer Halbwertszeit, jedoch weniger selektiv, weshalb auch andere Kinasen gehemmt werden. Initial wurde Ponatinib 45 mg/d p.o. bei Patienten mit rezidivierter oder refraktärer CML in allen Phasen sowie bei rezidivierter und refraktärer Ph+ akuter lymphatischer Leukämie (ALL) ausgetestet. Das Ansprechen war stabil für die CML in CP, jedoch labiler und transienter in höheren Phasen. Aufgrund von kardiovaskulären Nebenwirkungen unter fortgesetzter Therapie mit Ponatinib 45mg/d als Erstlinientherapie in der Phase 3 PACE Studie (Ponatinib Ph+ALL and CML Evaluation), wurde diese vorzeitig sistiert (17). Die Toxizität von Ponatinib ist dosis-abhängig und deshalb wird heute eine Dosisreduktion empfohlen, sobald ein molekulares Ansprechen des BCR-ABL1 auf 1% gemäss IS (internationaler Standardisierung) erreicht wird. Diese Empfehlung basiert auf Daten aus der OPTIC (Optimizing Ponatinib Treatment In CML) Studie, die gut aufzeigen konnte, dass ein Start mit 45 mg/d Ponatinib mit einer Reduktion auf 15mg/d (ausser bei Vorliegen einer T315I Mutation) nach Erreichen eines molekularen Ansprechens des BCR-ABL1 auf 1% IS, die kardiovaskulären Nebenwirkungen deutlich reduziert bei erhaltener Wirkung (18).

Wahl des Erstlinien TKI

Die Wahl des Erstlinien-TKI bei Patienten mit neu diagnostizierter CML richtet sich primär nach dem Alter, dem Ziel der Therapie, den Komorbiditäten und dem potenziellen Nebenwirkungsprofil. Gemäss ELN 2020 Empfehlungen sind alle 4 TKI für die Erstlinientherapie geeignet (siehe Tabelle 2), wobei für Patienten mit einem hohen Risiko (siehe Risikostratifizierung und Zytogenetik) der Beginn mit einem Zweitgenerationen-TKI empfohlen wird (8).

Ziele, Monitoring, Meilensteine

Nach Beginn der Erstlinientherapie mit einem TKI müssen das hämatologische und molekulare Ansprechen alle 3 Monate erfasst werden, damit beurteilt werden kann, ob der Patient die geforderten Ziele pro Meilenstein optimal erreicht oder ob die Therapie angepasst oder geändert werden muss. Vor einem Wechsel des TKI sollte jeweils eine ungenügende Medikamenteneinnahme ausgeschlossen werden. Nebenwirkungen, Interaktionen mit anderen Medikamenten oder Phytotherapeutika sowie vergessene Einnahmen können zu ungenügendem Therapieansprechen führen. In Tabelle 3 sind die Meilensteine und geforderten hämatologischen und molekularen Ziele dargestellt (8).

TKI-Resistenz

Spricht der Patient von Beginn weg nicht auf die TKI Therapie an, handelt es sich um eine primäre Resistenz; verliert der Patient hingegen das Ansprechen nach initialer Wirkung dann spricht man von sekundärer oder akquirierter Resistenz. Molekular kann der Verlust des Ansprechens auf Ebene der BCR-ABL1 Tyrosinkinaseaktivität (Reaktivierung) liegen oder es können BCR-ABL1-unabhängige Mechanismen dafür verantwortlich sein. Eine TKI-Resistenz ist mit einer schlechteren Prognose assoziiert.
Die häufigste Ursache einer TKI-Resistenz sind Mutationen in der Kinase-Domäne des BCR-ABL1, welche die Medikamentenbindung behindern. Die häufigsten sind in Tabelle 4 aufgelistet, ebenso die jeweilig kontraindizierten TKI (8, 19). Mutationen werden häufiger bei sekundärer TKI-Resistenz oder bei CML in AP und BC gefunden. Solche müssen bei ungenügendem Ansprechen, bei Rezidiv oder Progression von einer chronischen in eine höhergradige Phase der CML gesucht werden. Diese Mutationssuche sollte mittels der sensitiveren «Next-Generation Sequencing (NGS)» Technologie erfolgen. Unter Imatinib ergibt sich das breiteste Spektrum von Mutationen; bei den Zweitgenerationen-TKI ist das Mutationsspektrum bereits eingeschränkter, allerdings sind die wenigen Mutationen oft mit höherer TKI-Resistenz assoziiert. Insbesondere ist die hoch-resistente T315I Mutation zu erwähnen, welche nur durch eine Therapie mit dem dafür entwickelten Ponatinib angegangen werden kann (siehe Tabelle 2).

Therapieoptionen bei Versagen

Bei inadäquater Wirkung oder Verlust des Ansprechens auf einen TKI sollten durch eine eingehende Anamnese sowie durch eine TKI-Plasmaspiegelbestimmung eine allfällig ungenügende Einnahme des TKI, Medikamenten-Interaktionen oder tiefere TKI-Plasma-Spiegel ausgeschlossen werden. Zudem gehört eine Standortbestimmung mit klinischer Untersuchung, Differentialblutbild, Knochenmarksuntersuchung, Zytogenetik mit Metaphasen-Karyotyp aus dem Knochenmark sowie eine BCR-ABL1 Mutationssuche dazu. Bei einer TKI-Resistenz auf Imatinib kann auf einen Zweitgenerationen-TKI gewechselt werden solange der Patient in CP ist und keine T315I Mutation aufweist. Die Wahl des Zweitgenerationen-TKI hängt bei allfälligen Mutationen von deren Profil ab. Ponatinib ist die einzige medikamentöse Option bei einer T315I Mutation; zudem sollte eine Evaluation für eine allogene hämatopoietische Stammzell-Transplantation diskutiert und evaluiert werden.
Nach Wechsel der TKI-Therapie ist das Ansprechen wiederum regelmässig gemäss den vorgesehenen Meilensteinen zu kontrollieren. Wenn Patienten eine TKI-Resistenz auf einen Zweitgenerationen-TKI entwickeln, kann auf einen anderen Zweitgenerationen-TKI gewechselt werden. Allerdings sinkt die potenzielle Ansprechrate, und ein Wechsel auf den Drittgenerationen-TKI mit möglichem besserem Ansprechen sollte in Betracht gezogen werden. Der Nachteil von Ponatinib sind die gefürchteten potenziellen vaskulären Nebenwirkungen, die allerdings deutlich reduziert werden können durch eine dosis-adaptierte Strategie (initial 45mg/d, bei Erreichen eines BCR-ABL1 Wertes von 1% IS Reduktion auf 15mg/d, ausser bei Vorliegen einer T315I Mutation) (18). Die Auswahl an medikamentösen Therapien könnte sich bei TKI-Resistenz auf einen Zweitgenerationen-TKI bald um eine Option erweitern: Asciminib (ABL001) – siehe zukünftige Therapien.

Therapie-freie Remission

Vor allem für jüngere Patienten und um Langzeit-Nebenwirkungen unter TKI Therapie zu vermeiden, wird heute das Ziel einer TFR angestrebt (8). Durch die STIM Studien (Stopp Imatinib Studien) und weiteren Stopp TKI Studien in der Folge haben wir gelernt, dass ca. 40-60% der Patienten, welche ein BCR-ABL1 von mindestens einer MR4-4.5 IS über 2 Jahre erreicht haben, rezidiv frei bleiben (20). Längere TKI-Exposition sowie längere Dauer eines sehr tiefen molekularen Ansprechens erhöht die Wahrscheinlichkeit für eine TFR, wohingegen Patienten mit einem initial hohen Risiko-Score (Sokal) ein höheres Rezidivrisiko aufweisen. In Tabelle 5 sind die Voraussetzungen und Kriterien gemäss ELN Empfehlungen für ein TKI-Absetzen aufgelistet (8). Zweitgenerationen TKI als Erstlinientherapie führen schneller zu einer höheren Rate an Patienten mit tieferem molekularem Ansprechen, was beim Ziel TFR für den Einsatz der Zweitgenerationen-TKI spricht, jedoch können diese mit gewissen Risiken und Nebenwirkungen verbunden sein, so dass für den einzelnen Patienten eine Risiko-Nutzen Abwägung durchgeführt werden sollte. Die meisten Rückfälle nach Absetzen des TKI erfolgen in den ersten 6-12 Monaten, und bei Rezidiv führt der Wiederbeginn des entsprechenden TKI in der Regel wieder zu demselben molekularen Ansprechen. Zu beachten ist, dass ca. 20-30% der Patienten, insbesondere solche mit einer vorbestehenden Arthritis, ein TKI-Absetzsyndrom mit muskulo-skelettalen Schmerzen entwickeln können. Dieses kann mit antiinflammatorischen Schmerzmitteln und kurzzeitigem Einsatz von Steroiden behandelt werden (21).

Zukünftige Therapien

Phase 1 und 2 Studien in der Erstlinientherapie sowie Phase 3 Studien in höheren Therapielinien zeigen für Asciminib (ABL001), ein STAMP-Inhibitor (Specifically Targeting the BCR-ABL1 Myristoyl Pocket), der die Myristate-bindende Tasche des BCR-ABL1 blockiert und damit die inaktive Konformation der Tyrosinkinase stabilisiert, vielversprechende Wirksamkeit mit sehr geringer Toxizität (22). Eine Zulassung dieser Substanz ist für 2022 vorgesehen.

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Prof. Dr. med. G. M. Baerlocher, EMBA

Assoziierte Professorin der Universität Bern
FMH Innere Medizin und Hämatologie
FAMH Hämatologie, inkl. DNA/RNA
Murtenstrasse 40
3008 Bern

gabriela.baerlocher@hematology.ch

Incyte Corporation: Beratertätigkeit, Unterstützung eines Projektes zur Fortbildung von Medizinalpersonal.

◆ Der Nachweis von BCR-ABL1 aus dem peripheren Blut bestätigt die Diagnose einer CML, die Knochenmarksuntersuchung und -zytogenetik sind für die Definition der CML Phase und des Risikoprofils nötig
◆ Die Wahl des BCR-ABL1 TKI als Erstlinientherapie hängt vom Alter und den Komorbiditäten des Patienten sowie der CML Phase und des Risikoprofils ab
◆ Relevant sind ein regelmässiges hämatologisches und molekulares Monitoring sowie eine Anpassung der Therapie bei ungenügendem Ansprechen oder Rezidiv
◆ Bei TKI Resistenz können BCR-ABL1 Mutationen vorliegen; Ponatinib ist der einzige zugelassene TKI für die Behandlung bei Vorliegen einer T315I Mutation; dabei sollte kardiovaskulären Risikofaktoren eine besondere Beachtung geschenkt werden
◆ Allfällige Kandidaten für einen TKI Absetzversuch sind optimalerweise Patienten mit einer TKI Therapie von mindestens 5 Jahren, welche eine ≤ MR4 für mehr als 3 Jahre aufweisen.

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Neue Antikörper in der Migräneprophylaxe – wann und wie einsetzen?

Die CGRP-Antikörper wirken spezifisch auf das Trigeminus-Schmerzsystem und ermöglichen ein selektives Targeting. In den aktuellen Leitlinien der European Headache Federation werden die monoklonalen Antikörper als prophylaktische Medikamente zur Vorbeugung von episodischen und chronischen Migräneanfällen vorgeschlagen und empfohlen.

Migräne ist gemäss Global Burden of Disease Study die zweithäufigste neurologische Erkrankung weltweit. Sie ist für mehr Behinderungen verantwortlich als alle anderen neurologischen Erkrankungen zusammen (1). Trotzdem nehmen in Europa schätzungsweise nur 2-14 % der in Frage kommenden Patienten präventive Medikamente gegen Migräne ein (2).
Migräne manifestiert sich klinisch in Form von wiederkehrenden mittelschweren bis schweren Kopfschmerzattacken, die von Übelkeit, Erbrechen, Phonophobie und/oder Photophobie begleitet werden und 4 bis 72 Stunden andauern (3).
Betreffend der Pathophysiologie wird allgemein angenommen, dass eine periphere und zentrale Aktivierung des trigeminovaskulären Systems zugrunde liegt (4). Umfangreiche Forschungen in den letzten drei Jahrzehnten haben gezeigt, dass das Calcitonin-Gene-related Peptid (CGRP) eine wichtige Rolle bei dieser Aktivierung spielt. CGRP ist ein potenter Vasodilatator sowie ein Neurotransmitter, der auch eine wichtige Rolle bei der Homöostase des gastrointestinalen und kardiovaskulären Systems spielt. Das 37-Aminosäuren-Neuropeptid kommt in zwei Isoformen vor, als α-CGRP vor allem im peripheren und zentralen Nervensystem und als β-CGRP bei der enterischen Übertragung. CGRP vermittelt seine Wirkungen hauptsächlich durch seine Interaktionen mit dem CGRP-Rezeptor (5).
Die klassische prophylaktische Behandlung umfasst eine Vielzahl von Medikamenten, darunter β-Blocker (Metoprolol, Propranolol*), Antiepileptika (z.B. Topiramat*), Ca-Antagonisten (Flunarizin*), Sartane (Candesartan) und andere Antihypertensiva sowie verschiedene Antidepressiva. Erst in den letzten 10-20 Jahren wurden jedoch neue Antimigräne-Medikamente (Gepante und monoklonale Antikörper) entwickelt, die auf das CGRP oder dessen Rezeptor abzielen.

Gepante

Die ersten spezifischen CGRP-Antagonisten, die sogenannten Gepante, zeigten Wirksamkeit bei akuten Migräneattacken. Telcagepant zeigte in der Phase III eine gute Wirksamkeit mit geringen Nebenwirkungen. Bei dauerhafter und täglicher Anwendung zeigte sich jedoch eine Hepatotoxizität, sodass die Entwicklung eingestellt wurde (5). Zwei neu entwickelte Vertreter dieser Klasse, Rimegepant und Ubrogepant zeigten keine relevante Lebertoxizität und wurden von der FDA für die Therapie von Migräneattacken zugelassen. Inzwischen wurde auch das Potential der Substanzklasse als prophylaktische Therapie erkannt. Die FDA hat kürzlich Atogepant speziell für die vorbeugende Behandlung von Migräne zugelassen (6). Derzeit wird auch die prophylaktische Wirkung von Rimegepant in einer klinischen Studie untersucht (7).

CGRP-Antikörper

Aufgrund ihrer langanhaltenden Wirkung (Halbwertszeit ca. 30 Tage) werden CGRP-monoklonale Antikörper zur spezifischen Prophylaxe bei häufiger episodischer Migräne und chronischer Migräne eingesetzt. Die Wirkung zielt darauf ab, die Frequenz und/oder die Intensität von Migräneanfällen sowie die Begleitsymptome der Migräne zu reduzieren. CGRP- Antikörper passieren die Blut-Hirn-Schranke nicht, was auf einen peripheren Ort der therapeutischen Wirkung bei Migräne hinweist (5).
In der neuen Konsenserklärung, die von der European Headache Federation und der European Academy of Neurology unterstützt wird, werden die vier monoklonalen Antikörper Erenumab, Fremanezumab, Galcanezumab und Eptinezumab als präventive Drittlinienbehandlung eingestuft (8). Eine Übersicht gibt Tabelle 1.

Ein Vorteil der monoklonalen CGRP-Antikörper im Vergleich mit den klassischen Prophylaktika ist ihr schneller Wirkungseintritt: innerhalb der ersten Woche bei Erenumab, Galcanezumab und Fremanezumab (9,10,11) und nach einem Tag bei Eptinezumab (12). Die potenzielle Lebertoxizität der Gepante und hepatische Arzneimittelinteraktionen wurden bei den Antikörpern nicht beobachtet (5).
Erenumab und Fremanezumab waren auch bei Patienten mit Migräne wirksam, bei denen 2 bis 4 vorherige präventive Behandlungen erfolglos waren (13,14). Ausserdem sind sie auch bei Patienten mit chronischer Migräne und Medikamentenübergebrauch von Nutzen (11,15,16).

Seit 2018 wurden in der Schweiz drei Antikörper zugelassen, die im Folgenden vorgestellt werden. Für alle drei Präparate gilt eine Limitatio (17), die den Einsatz von mindesten 2 klassischen Migräneprophylaxen vorschreibt (Betablocker, Kalziumantagonisten, Antikonvulsiva bzw. bei Fremanezumab und Galcanezumab auch Amitriptylin). Alle CGRP-Antikörper können nur von Neurologen verschrieben werden.

  • Erenumab (Aimovig®) zielt auf den CGRP-Rezeptor selbst ab. In zwei klinischen Phase-III-Studien- ARISE (18) und STRIVE (19) wurde eine Verringerung der Anzahl der monatlichen Kopfschmerztage erreicht. Inzwischen konnte in einer offenen Nachbeobachtungsstudie die langfristige Wirksamkeit (Verringerung der Migränehäufigkeit und Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität) und Sicherheit von Erenumab bei der Migräneprophylaxe über 5 Jahre gezeigt werden (20). Die häufigsten Nebenwirkungen sind Reaktionen an der Injektionsstelle, Obstipation, Muskelkrämpfe, Juckreiz (21). Die jüngste Zusammenfassung der Produktmerkmale von Erenumab wurde aktualisiert, um die Ärzte zu informieren und die Patienten vor mässiger bis schwerer Obstipation zu warnen, die mit Krankenhausaufenthalten assoziiert waren. Im Rahmen der post-marketing-Überwachung fanden sich Hinweise auf Fälle von erhöhtem Blutdruck als Nebenwirkung (22). Erenumab wird einmal monatlich 70 mg als subkutane Injektion verabreicht. Mit der angepassten Limitatio kann bei ungenügendem Ansprechen auch eine Dosis von 140 mg monatlich verordnet werden (21).
  • Fremanezumab (Ajovy®). In der multizentrischen randomisierten doppelblinden Parallelgruppenstudie FOCUS erzielte Fremanezumab eine klinisch bedeutsame Reduktion an Migränetagen auch bei Patienten mit schwierig zu behandelnder episodischer und chronischer Migräne (14). Auch bei hochfrequenter episodischer Migräne ist es wirksam, reduziert Begleitsymptome und den Einsatz der Bedarfsmedikation (23). Die häufigsten Nebenwirkungen in Studien waren Schmerzen, Verhärtungen und Erytheme an der Injektionsstelle. Seit November 2020 steht in der Schweiz neben der Fertigspritze auch ein Fertigpen zur Verfügung. Der Patient kann wählen zwischen einer Monatsdosierung von 225 mg oder einer Quartalsdosierung: 3 x 225 mg (drei Fertigpens). Die Applikation erfolgt subkutan (21). Die Limitatio wurde zum 1. November 2021 angepasst.
  • Galcanezumab (Emgality®). In zwei klinischen Phase-III-Studien (EVOLVE-1 und EVOLVE-2) führten monatliche Injektionen von Galcanezumab über 6 Monate zu einer im Placebo-Vergleich signifikanten Reduktion der monatlichen Migräne-Kopfschmerztage. Galcanezumab konnte die Migräne-Kopfschmerztage sowohl in der Gruppe der niedrigfrequenten als auch der hochfrequenten episodischen Migräne signifikant reduzieren (10). Die in Studien untersuchten Dosierungen unterschieden sich nicht in der Wirksamkeit (24,25). In der EVOLVE-2-Studie schienen jedoch unerwünschte Wirkungen im 240-mg-Behandlungsarm etwas häufiger aufzutreten (25). Die häufigsten Nebenwirkungen gemäss Zulassungsstudien sind Schmerzen und Reaktionen an der Injektionsstelle. Galcanezumab wird einmal monatlich 120 mg als subkutane Injektion appliziert. Zu Beginn der Behandlung ist eine einmalige Anfangsdosis von 240 mg (2 Injektionen) zu verabreichen (21).
  • Eptinezumab ist in der Schweiz noch nicht zugelassen. Dies ist der einzige intravenös verabreichte humanisierte monoklonale Antikörper, der CGRP direkt blockiert. Es wird alle 3 Monate als intravenöse Infusion verabreicht. Eptinezumab wurde von der FDA zugelassen (Februar 2020), Zulassungsanträge werden aktuell von EMA und Swissmedic geprüft (26). In einer randomisierten, placebo-kontrollierten Studie (PROMISE -1) war die einmalige Gabe von 100 und 300 mg Eptinezumab intravenös über einen Zeitraum von 12 Wochen signifikant wirksamer als Placebo für die Prophylaxe der episodischen Migräne. Eptinezumab wurde gut vertragen (12). Bei Erwachsenen mit Migräne bestand ein günstiges Sicherheits- und Verträglichkeitsprofil. Nasopharyngitis und Überempfindlichkeitsreaktionen sind die häufigsten unerwünschten Ereignisse (27).

Circa 20-30% der Patienten sprechen auf die Therapie nicht an. Neutralisierende Antikörper wurden in geringen Prozentsätzen bei Patienten in den aktiven Gruppen in Studien gefunden, scheinen jedoch keinen Einfluss auf das klinische Ergebnis zu haben, da ihre Titer sehr niedrig waren (28).
Trotz des generell schnellen Wirkeintritts sollten die Antikörper mindestens drei bis sechs Monate lang in maximal verträglicher Dosierung angewendet werden, um die Wirksamkeit richtig beurteilen zu können. Die Quantifizierung des Behandlungserfolgs kann durch Berechnung der prozentualen Verringerung der monatlichen Migränetage oder der monatlichen Kopfschmerztage von mittlerer bis schwerer Intensität (8) erfolgen. In der Schweiz folgt auf eine 12-monatige Behandlung gemäss Limitatio eine Therapie­pause. Eine längerdauernde Unterbrechung, wie sie initial vorgesehen war, wird durch aktuelle Studien nicht unterstützt (29).
Schlussfolgerung und Ausblick: Alle monoklonalen CGRP-Antikörper hatten in klinischen Studien gute Wirksamkeit und Verträglichkeit und ein günstiges Sicherheitsprofil. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Hinweise auf eine Überlegenheit eines
einzelnen Antikörpers gegenüber den anderen für Patienten mit episodischer oder chronischer Migräne. Aktuelle Studien weisen auf eine Wirksamkeit dieser Medikamentenklasse bei der Behandlung weiterer Kopfschmerztypen, wie dem Medikamentenübergebrauchs-, Cluster-Kopfschmerz, aber auch posttraumatischen Kopfschmerzen hin.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. (BG) Galina Stoyanova-Piroth

Neurologie & Neurorehabilitation, ZURZACH Care
Quellenstrasse 34
5330 Bad Zurzach

galina.stoyanova@zurzachcare.ch

Prof. Dr. med. Andreas R. Gantenbein

Facharzt Neurologie
Neurologie am Untertor
Erachfeldstrasse 2
8180 Bülach
www.neurologie-untertor.ch

andreas.gantenbein@zurzachcare.ch

Prof. Dr. med. Peter S. Sandor

RehaClinic Bad Zurzach und Universität Zürich
Schweiz

GS-P hat Reisestipendien von Teva erhalten.

◆ Patienten mit einer hohen Frequenz bzw. Intensität von Migräneanfällen oder chronischer Migräne benötigen eine prophylaktische Migränetherapie. Klassische, zur Prophylaxe eingesetzte Medikamente sind nur bei einem eher geringen Teil der Patienten wirksam.
◆ In der Schweiz sind bereits drei monoklonale Antikörper zur Prophylaxe der episodischen (8 und mehr Migränetagen pro Monat) oder chronischen (15 und mehr Migränetagen pro Monat) Migräne bei Erwachsenen verfügbar. Die Kopfschmerztage müssen für die Kostenerstattung über mindestens 3 Monate mit einem Tagebuch dokumentiert werden. Limitationskriterien müssen erfüllt sein.
◆ Der Einsatz von Erenumab, Galcanezumab und Fremanezumab kann vorerst nur nach dokumentiertem Versagen von mindestens zwei anderen Arzneimittel zur Migräneprophylaxe oder bei deren Unverträglichkeit erfolgen.
◆ Die Verordnung und Verlaufskontrolle der monoklonalen Antikörper müssen gemäss Limitatio durch einen Facharzt für Neurologie erfolgen.
◆ Bei der Auswahl der Antikörperpräparate können Patientenpräferenzen hinsichtlich Nebenwirkungen und Applikationshäufigkeit berücksichtigt werden.

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Ab wann wird es gefährlich?

Nicht bei jeder Thrombozytopenie ist ein sofortiges diagnostisches und therapeutisches Handeln erforderlich. Doch wenn Symptome als Hinweis auf eine Blutungsneigung bestehen, muss rasch gehandelt werden.

Die Abklärung einer Thrombozytopenie ähnelt einem Indizienprozess, es muss nach Beweisanzeichen gesucht werden, um den Täter überführen zu können. Nicht jede Thrombozytopenie ist gefährlich. Erst bei Werten unter 30 000/µl besteht ein erhöhtes Blutungsrisiko. Die typischen Symptome, die immer an eine Thrombozytopenie denken lassen sollten, sind Hämatome ohne Erklärung, Nachblutungen bei Verletzungen oder nach Operationen und Petechien. «Eine Thrombozytopenie kann sich aber auch als Thrombose manifestieren, z.B. bei der Heparin-induzierten Thrombozytopenie», so Prof. Jörg Halter. Nicht selten sind bei einer Thrombozytopenie auch die anderen beiden Zellreihen tangiert, so dass die Anämie oder die Infektneigung im Vordergrund steht.
Doch bevor man eine Thrombozytopenie weiter abklärt, sollte man eine Pseudothrombozytopenie ausschliessen. Eine solche «Laborkrankheit» findet sich bei 0,1% der Bevölkerung. Verantwortlich für die falsch-niedrige Thrombozytenzahl sind EDTA-abhängige Anti-Thrombozyten-Antikörper. Bei einer Kontrolle im Citratröhrchen oder unter dem Mikroskop sind die Blutplättchen dann wieder normal.

Symptomatisch oder asymptomatisch?

Eine symptomatische Thrombozytopenie muss immer abgeklärt werden. Anders ist die Situation bei asymptomatischen Patienten. Eine ursächliche Abklärung ist bei fehlenden Symptomen nur dann primär zwingend erforderlich, wenn die Thrombozytenwerte unter 100 000/µl liegen oder eine Bi- bzw. Trizytopenie vorliegt. Bei Werten > 100 000/µl sollten zunächst Kontrollen erfolgen. Bleiben die Werte in diesem Bereich, so kann man zunächst weiter zuwarten und später erneut kontrollieren.

Bildungsstörung oder erhöhter Verbrauch?

Eine Thrombozytopenie kann grundsätzlich nur durch zwei pathogenetische Mechanismen verursacht werden: Eine gestörte Bildung oder ein erhöhter Verbrauch. Ursachen, die zu einer Bildungsstörung führen, sind:

  • Schädigung des Knochenmarks durch Medikamente oder Alkohol, vor allem Zytostatika
  • Infiltration bzw. Verdrängung des Knochenmarks durch eine hämatologische Neoplasie oder eine Knochenmarkskarzinose bei soliden
  • Tumoren
  • Myelofibrose
  • Myelodysplastische Syndrome
  • Knochenmarkshypo- bzw. –aplasie
  • Schwerer Vitamin B12- oder Eisenmangel
  • seltene genetische Defekte
  • Immunthrombozytopenie (ITP).

«Ein erhöhter Thrombozytenverbrauch ist fast immer immunologisch bedingt», so Halter. Ursachen sind meist Medikamente, seltener Autoimmunerkrankungen, das Antiphospholipidsyndrom, Immundefizienzsyndrome, Lymphome bzw. CLL, Infektionen (Hepatitis, HIV) und Impfungen. Erst wenn eine solche sekundäre Immunthrombozytopenie ausgeschlossen ist, darf man die Diagnose «primäre Immunthrombozytopenie (ITP)» stellen. Bei den Medikamenten sind an erster Stelle Heparin-Präparate zu nennen, sie können eine Heparin-induzierte Thrombozytopenie auslösen. Seltener sind die Thrombozytopenie nach Gabe eines GP IIb/IIIa-Inhibitors, die posttransfusionelle, die Schwangerschafts-assoziierte und die neonatale Thrombozytopenie.
Als Ursachen der seltenen nicht-immunologischen Verbrauchsthrombozytopenie kommen in Frage: Verbrauchskoagulopathie, von Willebrand-Syndrom, massive Lungenembolie, grosse Hämangiome und grosse Aneurysmen. Auch bei einer Splenomegalie oder einer massiven Blutung kann der Thrombozytenverlust zu einer Thrombozytopenie führen.

Thrombotische Mikroangiopathie

Das atypische hämolytisch-urämische Syndrom (aHUS), auch thrombotische Mikroangiopathie genannt, ist eine seltene Erkrankung, die häufig nicht erkannt wird. Ursache ist eine genetisch determinierte übermässige und unkontrollierte Aktivität des Komplementsystems, die bei entsprechender genetischer Disposition durch unterschiedliche Trigger wie Infekte, Impfungen und Schwangerschaft induziert werden kann. Durch diese überschiessende Aktivität des Komplementsystems kommt es zu einer endothelialen Dysfunktion mit nachfolgender Thrombusbildung und Hämolyse. Dies wiederum führt zu Durchblutungsstörungen, wobei alle lebenswichtigen Organe insbesondere die Niere, das Herz, die Lunge und das ZNS betroffen sein können. Die häufigsten Symptome sind Hämolyse mit Anämie, Thrombozytopenie und Nierenversagen. Viele Betroffene benötigen eine Dialyse oder sogar eine Nierentransplantation.

Auch bei COVID-19

Neue Studienergebnisse zeigen, dass auch eine COVID-19-Infektion zu einer exzessiven Aktivierung des Komplementsystems führen kann und somit eine thrombotische Mikroangiopathie auslösen kann. Bei 60 Patienten, davon 20 mit einem sehr schweren Verlauf und 11 Patienten mit einem tödlichen Verlauf, wurden zahlreiche genetische und serologische Parameter des Komplementsystems (C3, CD46, DGKE und CFH) analysiert, um zuverlässige Prädiktoren für einen kritischen Erkrankungsverlauf identifizieren zu können. So fand sich beispielsweise bei kritisch Kranken überdurchschnittlich häufig ein pathogenes ADAMTS13. Ziel dieser Forschungsaktivitäten ist es, diejenigen COVID-19-Patienten früh und zuverlässig erkennen zu können, die von einer Komplement-Inhibition mittels monoklonaler Antikörper profitieren.
Ziel der Therapie bei der thrombotischen Mikroangiopathie ist es, das Komplementsystem wieder zurück ins Gleichgewicht zu bringen. Für die Therapie stehen neben der Plasmapherese monoklonale Antikörper (Eculizumab und Ravulicumab) zur Verfügung, die an die Komplementkomponente C5 binden. Dadurch wird die Spaltung von C5 verhindert und somit die Hämolyse reduziert

ITP- wie behandeln?

Bei der ITP werden drei Stadien unterschieden:

  • Neu diagnostiziertes Stadium: innerhalb der letzten 3 Monate mit häufiger Spontanremission
  • Persistierendes Stadium: 3 bis 12 Monate, Spontanremission seltener
  • Chronisches Stadium: > 12 Monate, Spontanremission nicht wahrscheinlich.

Bei einer Thrombozytenzahl über 20 000 bis 30 000/µl und fehlender bzw. geringer Blutungsneigung empfiehlt sich ein «watch & wait». Alternativ kann eine Therapie mit Steroiden eingeleitet werden, wobei Dexamethason das Präparat der Wahl ist. Kommt es zu einem Rezidiv oder kann mit dem Steroid keine Remission erreicht werden, so sollte man die Behandlungsindikation nochmals neu überprüfen. Bei fehlenden oder minimalen Blutungen ist auch dann ein watch and wait vertretbar. Bei Therapie-pflichtigen Patienten sollte ein Thrombopoetin-Rezeptor-Agonist eingesetzt werden oder der Patient einer Splenektomie zugeführt werden. Bei schweren Blutungen sind immer Immunglobuline i.v. oder Kortikosteroide indiziert und bei lebensbedrohlichen Blutungen sollten zusätzlich Thrombozytenkonzentrate, Thrombopoetin-Rezeptor-Agonisten oder Rituximab erwogen werden.

Dr. med.Peter Stiefelhagen

Riechstörungen gehen mit einer Erhöhung der Mortalität einher

Riechstörungen (Hyp- bzw. Anosmie) beeinträchtigen nicht nur die Lebensqualität. Vielmehr sind sie auch prognostisch relevant.

Das Thema Riech- und Geschmacksstörungen ist in Zeiten von COVID-19 von besonderer Aktualität und Relevanz; denn bis zu 60% der Infizierten klagen über solche Störungen. Sie erfordern grundsätzlich immer eine HNO-ärztliche bzw. neurologische Abklärung, auch wenn sie Ausdruck eines Alterungsprozesses sein können.

Die häufigsten Ursachen für Riechstörungen sind:

  • Schädel- oder Schädelhirntraumata mit okzipitalem oder frontalem Aufprall (traumatische Anosmie)
  • Verlegung der Riechspalte durch Polypen oder Tumoren, Mundatmung, Tracheotomie, Laryngektomie (respiratorische Anosmie)
  • Neurodegenerative Anosmie bei Demenz oder Parkinson-Syndrom
  • Virale bzw. postvirale Anosmie vor allem bei Covid-19 und Parainfluenza-Viren (essenzielle Anosmie)
  • Medikamentös induzierte Riechstörung
  • Schadstoff-bedingte Riechstörung
  • Zentral bedingte Riechstörung z.B. bei Frontalhirntumoren
  • Kongenitale Riechstörung.

Riechstörungen sind prognostisch relevant. Dies konnte in einer Reihe von Studien gezeigt werden. «Die Betroffenen versterben im Rahmen eines Morbus Parkinson oder einer Demenz», so Prof. Antje Welge-Lüssen. Neurodegenerative Riechstörungen sind weder einer kausalen noch einer symptomatischen Therapie zugänglich. Bei der postviralen Anosmie empfiehlt sich ein Riechtraining.

Dr. med.Peter Stiefelhagen

Akute Pankreatitis

Die Diagnose der akuten Pankreatitis stützt sich auf die Enzyme (Lipase, Amylase) und die Bildgebung. Doch die Enzyme sind nicht sehr spezifisch. Wichtig auch im Hinblick auf das therapeutische Management ist eine frühe Einschätzung der Prognose.

Die akute Pankreatitis ist eine der häufigsten abdominellen Erkrankungen, die notfallmässig zu einer Hospitalisierung führen. Die Inzidenz liegt bei 34/100 000. Die häufigsten Ursachen einer akuten Pankreatitis sind Gallensteine und Alkohol, wobei letzteres auch einer genetischen Determinierung bedarf. Seltenere Ursachen sind die Hypertriglyzeridämie, die Hyperkalzämie, Medikamente, ERCP, virale Infekte, zystische Pankreasneoplasien und autoimmunologische Erkrankungen. Sehr seltene Ursachen sind das Pankreas divisum und das penetrierende Ulcus duodeni. Findet sich keine Ursache, so spricht man von einer idiopathischen Pankreatitis.

Enzymanstieg ist nicht spezifisch

Die Diagnose «akute Pankreatitis» erfordert das Vorliegen von 2 der folgenden 3 Kriterien:

  • typische Klinik
  • Amylase und/oder Lipase ≥ 3x über der Norm
  • typische radiologische Zeichen im CT

«Doch es gibt eine Reihe von Krankheitsbildern, die imitieren eine akute Pankreatitis und gehen mit einem Anstieg der Lipase bzw. Amylase einher», so Prof. Lukas Degen. Dazu gehören folgende abdominelle Erkrankungen:

  • Pankreaspseudozyste
  • chronische Pankreatitis
  • Pankreaskarzinom
  • Cholezystitis, Cholangitis, Choledocholithiasis
  • Darmobstruktion, -ischämie, -entzündung
  • akute Appendizitis
  • ektope Schwangerschaft.

Aber auch eine Reihe von extraabdominellen Erkrankungen kann mit einem Enzymanstieg einhergehen:

  • Niereninsuffizienz
  • Parotitis
  • Makroamylasämie/Makrolipasämie
  • Bronchialkarzinom
  • diabetische Ketoazidose
  • Schädeltrauma mit intrakranieller Blutung.

Dies zeigt, dass die Amylase bzw. Lipase nicht nur aus dem Pankreas sondern auch aus dem Speichel, den Leukozyten, der Lunge, der Leber und dem Gastrointestinaltrakt stammen können und diese Enzyme ebenfalls wie die Pankreasenzyme über die Nieren ausgeschieden werden. Die Höhe der Enzyme ergibt sich somit aus der Herkunft, der Nierenfunktion und der Reabsorption. «Und bei der Beurteilung des Schweregrads und des klinischen Verlaufs einer akuten Pankreatitis haben die Enzyme keinen Stellenwert», so Degen.

Zwei Verlaufsformen

Bei der akuten Pankreatitis gibt es zwei Verlaufsformen, nämlich die interstitiell-ödematöse (75-80%) und die nekrotisierende (5-10%) Pankreatitis. Diese beiden Formen unterscheiden sich im Hinblick auf die Komplikationen und der sich daraus ergebenden Prognose. Am Anfang der Erkrankung stehen die lokalen Komplikationen wie Pseudozysten, endokrine und exokrine Funktionsstörung, Ergüsse in seröse Höhlen, Darmobstruktion, Blutungen und Thrombose im Vordergrund. Nach 8 bis 10 Tagen können nicht-infektiöse systemische Komplikationen wie SIRS bzw. Multiorganversagen auftreten, und dann nach ca. 2 Wochen folgen die infektiösen Komplikationen (infizierte Nekrosen, Pankreasabszess, Sepsis). Die Mortalität der interstitiellen Pankreatitis beträgt lediglich 3%. Doch bei einer schweren Form steigt diese auf 12% bei sterilen und auf 30% bei infizierten Nekrosen an.

Zuverlässiger Risiko-Score

Für die prognostische Beurteilung hat sich im klinischen Alltag der BISAP-Score bewährt. Dieser umfasst folgende Risikoindikatoren:

  • Harnstoff im Blut > 25 mg/dl
  • Bewusstseinstrübung
  • SIRS > 2 Kriterien: Fieber (> 38ºC), Tachykardie (> 90/min),
  • Tachypnoe (> 20/min), Leukozytose (> 12.000/mm3)
  • Alter > 60 Jahre
  • Pleuraergüsse

Liegen < 2 Punkte vor, so beträgt die Mortalität < 1%, bei ≥ 3 Punkten steigt sie auf 8-27%.
Die Ziele der Therapie sind die Verhinderung der Progression und der Komplikationen. Wichtig sind die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Gewebeperfusion durch Zufuhr von kristalloiden Lösungen und die Korrektur des katabolen Zustands, um infektiöse Komplikationen zu verhindern. Die enterale Ernährung sollte möglichst frühzeitig nämlich nach 72 Stunden wieder aufgenommen werden, bei Bedarf über eine Sonde. «Eine Indikation für eine prophylaktische Antibiotika-Gabe gibt es nicht», so Degen.

Dr. med.Peter Stiefelhagen

Sportlerherz oder Kardiomyopathie?

Sportlerherzen können eine Kardiomyopathie vortäuschen. Meist ist das aber nur bei Hochleistungssportlern der Fall. Um ein Sportlerherz von einer Kardiomyopathie abgrenzen zu können, ist eine umfangreiche Diagnostik incl. der Bestimmung der ventrikulären Belastungsreserve erforderlich.

Durch die aktuellen Geschehnisse bei der diesjährigen Fussball-EM hat das Thema «Akuter Herztod bei Sportlern» wieder einmal grosse mediale Aufmerksamkeit erfahren. Die wichtigste Ursache des plötzlichen Herztodes bei Athleten ist die hypertrophe Kardiomyopathie gefolgt von den Kanalopathien wie dem Long-QT- oder dem Brugada-Syndrom. «Aber auch die dilatative, die restriktive, die arrhythmogene rechtsventrikuläre und die Non-Compaction-Kardiomyopathie können der Grund dafür sein, dass ein Sportler plötzlich zusammenbricht», erläuterte Prof. Arno Schmidt-Trucksäss. Meistens sei ein solch tragisches Ereignis die Erstmanifestation der Erkrankung, die Patienten waren vorher nicht aufgefallen. Gerade bei Sportlern könne die Kardiomyopathie aber leicht übersehen, d.h. die Veränderungen als Sportlerherz fehlinterpretiert werden, was fatale Folgen haben kann.

Ähnlichkeiten mit Kardiomyopathien

Die sportinduzierte intermittierende Druck- und Volumenbelastung kann zu einer Dilatation aller vier Herzkammern führen. Es kommt zu einer linksventrikulären Hypertrophie, wobei eine Korrelation zum Trainingsvolumen besteht. Diese Veränderungen gehen nicht selten mit EKG-Veränderungen einher, wobei die Abgrenzung zu einer Kardiomyopathie schwerfallen kann. Besonders bei Ausdauerathleten können sich Veränderungen in Form einer rechtsventrikulären Dysplasie entwickeln. Der rechte Ventrikel ist oft dilatiert, hat aber noch eine fast normale rechtventrikuläre Ejektionsfraktion. Im EKG zeigt sich häufig ein Rechtsschenkelblock oder T-Negativierungen über der Vorderwand. Das kann zunächst schon wie eine arrhythmogene rechtsventrikuläre Dysplasie aussehen.

Kriterien der ARVC

Bei der ARVC handelt es sich um eine genetisch bedingte Erkrankung, d.h. es besteht eine Mutation in dem Gen, das für die Desmosomen kodiert. Dabei kommt es zu einem Verlust der Myozyten und zu einer Fibrosierung des Myokards mit Fetteinlagerungen. Im EKG zeigen sich unterschiedliche Veränderungen, nicht selten ein Linksschenkelblock. Für die Diagnosestellung werden Maior- und Minor-Kriterien gefordert. Dazu gehören die Abnahme der EF des rechten Ventrikels, der Nachwies von Wandbewegungsstörungen und/oder eine rechtsventrikuläre Dilatation und EKG-Veränderungen. Das Problem ist, dass viele Sportler diese Kriterien erfüllen, ohne krank zu sein. Allein das rechtsventrikuläre Volumen liegt bei Hochleistungssportlern oft bei 230 ml, was eigentlich ein Kriterium für die ARVC darstellt. Doch eine Epsilon-Welle wurde bisher bei Sportlern noch nie beschrieben. Dagegen können biphasische T-Negativierungen und eine rechtsventrikuläre oder auch biventrikuläre Dilatation auch bei Sportlern vorkommen, so dass anhand dieser Kriterien allein die Diagnose ARVC nicht gestellt werden kann.
Zur weiteren Abklärung kann eine Stress-Echokardiographie durchgeführt werden und zwar mit der Fragestellung, ob der rechte Ventrikel bei Zunahme der Belastung seine Funktion anpassen kann oder ob eine reduzierte Belastungsreserve vorliegt. Letzteres spricht eher für eine ARVC.

Empfehlungen für die Praxis

In der Praxis haben sich zwei Parameter zur Unterscheidung Sportlerherz vs. ARVC bei Nachweis einer rechtsventrikulären Dilatation bewährt:
Richtungsweisend, ja sogar entscheidend ist, wie viel Sport getrieben wird. Bei Sportlern, die nicht mehr als 3 oder 4 Stunden pro Woche trainieren, ist eine rechtsventrikuläre Dilatation als Ausdruck einer sportlichen Belastung eher unwahrscheinlich. Es dürften schon 20 Stunden wöchentlich bei voller Ausbelastung notwendig sein, um eine rechtsventrikuläre Dilatation als Ausdruck des Sportlerherzens auszulösen.
T-Negativierungen über der Vorderwand sind bei Sportlern sehr häufig und können deshalb nicht als ARVC-Kriterium benutzt werden. Doch bei symptomatischen Sportlern oder bei Sportlern mit entsprechender Familienanamnese bzw. unerklärtem plötzlichen Herztod sollte bei Nachweis eines auffälligen rechten Ventrikels an eine ARCV gedacht und diese durch einen Gentest verifiziert werden.

Dr. med.Peter Stiefelhagen