Beitrag der Neuro-Bildgebung bei der Diagnose von kognitiven Störungen

Die kognitive Beeinträchtigung ist ein weit verbreiteter Zustand mit Behinderungen, die erhebliche Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit haben. Im diagnostischen Prozess können bildgebende Verfahren und nuklearmedizinische Techniken die Ätiologie des kognitiven Verfalls oft feststellen und so eine bessere, individualisierte und angepasste Pflege ermöglichen. In diesem Artikel fassen wir die Indikationen und den Beitrag der verschiedenen bildgebenden Verfahren zusammen, die in der klinischen Praxis eingesetzt werden.

Angesichts einer alternden Bevölkerung sind kognitive Störungen zu einem vorrangigen Problem der öffentlichen Gesundheit geworden, mit einer Prävalenz in der Schweiz im Jahr 2019 von 154 700 Personen und fast 29 500 neuen Fällen pro Jahr (Quelle: BAG). Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind sehr wichtig, mit fast 11,8 Milliarden Franken Ausgaben im Jahr 2017, gemäss einer Studie aus dem Jahr 2019 im Auftrag der Alzheimer-Gesellschaft, wobei die Verluste im Zusammenhang mit den vorzeitigen Rücktritten von Arbeitskräften nicht eingerechnet sind. Angesichts dieser Tatsache sind Untersuchungsstrategien zur Erstellung einer korrekten Diagnose wichtig, um einen frühzeitigen und korrekten auf diese Patienten abgestimmten Zugang zu medizinischer und sozialer Versorgung zu ermöglichen.

Dies kann eine personalisierte Begleitung beinhalten, aber auch das Bereitstellen von Behandlungen, um den fortschreitenden Abbau zu verlangsamen und die Symptome zu verringern.
Das klinische Bild allein, ohne bildgebende Untersuchung, ermöglicht bei einem kognitiven Verfall keine präzise Unterscheidung, ob dieser beispielsweise durch eine Depression oder eine neurodegenerative Erkrankung verursacht wird. Zu den Hauptursachen der Demenz gehören die neurodegenerative Alzheimer-Krankheit (AD), die nur zwei Drittel der Fälle betrifft, die vaskuläre Demenz, die Lewy-Körper-Demenz und die frontotemporale Demenz.

Die Erstdiagnose einer kognitiven Beeinträchtigung basiert auf der klinischen und neuropsychologischen Beurteilung, nach deren Durchführung ätiologische Hypothesen erst aufgestellt werden können, die dann dank Bildgebung bestätigt oder verworfen werden können. Tatsächlich ist es nun möglich, dank des technologischen Fortschritts der anatomischen und der molekularen Neuro-Bildgebung, die sich gegenseitig ergänzen, in der Mehrheit der Fälle eine genaue ätiologische Diagnose zu stellen (1).

Anatomische-Bildgebung mit MRT

Das primäre Ziel der anatomischen Bildgebung ist der Ausschluss einer behandelbaren Ursache, chirurgisch oder nicht chirurgisch, welche die kognitive Beeinträchtigung erklärt (z.B. Hämatom, Epi-/Subduralhämatom, Hydrozephalus, Tumor, Enzephalitis). Sie ermöglicht eine gezielte Diagnose, insbesondere durch die Suche nach einer generalisierten oder auf eine Region des Gehirns beschränkten Hirnatrophie, die mit einer primären degenerativen Demenz kompatibel ist, sowie die Suche nach vaskulären Läsionen, wie z.B. die Folgeerscheinungen nach Infarkt oder Signalanomalien der weissen Substanz. Das zuerst empfohlene Bildgebungsverfahren ist die MRT, die empfindlicher ist als das CT, mit einem Protokoll bestehend aus den in Tabelle 1 (2) zusammengefassten Sequenzen (Abb. 1).

Fortschrittliche MRT-Techniken, die in der klinischen Routine nicht verwendet werden, die aber zur Diagnose einer Demenz beitragen können, sind DTI (diffusion tensor imaging), ASL-Perfusion (arterial spin labeling) und Resting State-functional-MRI (funktionelle MRT).
MRT-Untersuchungen können leicht wiederholt werden zur Überwachung der Progressionsrate einer neurodegenerativen oder vaskulären Erkrankung, oder um die Wirkung einer begonnenen Behandlung zu beurteilen. Wiederholte MRTs sind auch nützlich, um Nebenwirkungen von Anti-Amyloid-Behandlungen wie ARIA (amyloid-related imaging anomalies) auszuschliessen. Wenn eine MRT-Untersuchung nicht verfügbar oder kontraindiziert ist, oder bei wenn Patienten klaustrophobisch sind oder die eine Untersuchung von einer gewisser Dauer nicht ertragen können, kann ein CT ohne Injektion von Kontrastmittel angeboten werden. Dies erlaubt insbesondere, die zerebrale Trophik und das Vorhandensein vaskulärer Folgeerscheinungen abzuschätzen, auch wenn der Kontrast zur MRT geringer ist.

Molekulare Bildgebung mit PET und SPECT

Bei einer klinisch atypischen oder sich schnell entwickelnden Form kognitiver Beeinträchtigung bei jungen Patienten (<65 Jahre), oder bei allen Fällen, bei denen der Arzt sich nicht genügend auf die klinische, neuropsychologische und psychosoziale Bewertung und morphologische Bildgebung abstützen kann, ist die molekulare Bildgebung ein wertvolles ergänzendes Werkzeug (3). Mehrere Bildgebungsmodalitäten mit verschiedenen Radiotracern sind derzeit dazu im Einsatz. Unter ihnen sind die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) mit 18F-Fluorodeoxyglukose (18F-FDG), Amyloid-PET und die SPECT (Einzelphotonen-Emissionscomputertomographie) mit 123I-Ioflupan (DaT-Scan).

Ein PET-Scan des Gehirns mit 18F-FDG ermöglicht es, eine Bildgebung des Hirnstoffwechsels durchzuführen, unter Verwendung eines Radiotracers bestehend aus einem Glukosemolekül, an dem eine Hydroxylgruppe durch 18-Fluor ersetzt ist. Der Radiotracer wird in die Zellen durch Glukosetransporter transportiert und danach phosphoryliert, wodurch er in den Zellen festgehalten wird und so die Untersuchung des regionalen Stoffwechsels der Zellen ermöglicht. Die Untersuchung wird mit Hybridgeräten durchgeführt, welche die PET-Erfassung mit einer CT-Bildgebung (PET/CT) kombinieren. Da das Gehirn glukoseabhängig und stoffwechselaktiv ist, reflektiert die Kartographie des zerebralen Kohlenhydratstoffwechsels das Spiegelbild der neuronalen Aktivität und ermöglicht so eine topographische Erkennung der hypo- oder hyperfunktionellen Zonen, die einem synaptischen Verlust oder einer synaptischen Dysfunktion entsprechen.

Bei Hypometabolismus, der je nach neurodegenerativer Erkrankung eine unterschiedliche Topographie hat, ist die PET F18-FDG zur Unterscheidung nützlich (4) (Abb. 2, 3).
Zum Beispiel zeigt das visualisierte topografische Muster des Stoffwechsels bei AD einen eher posterioren Hypometabolismus in der Region des temporoparietalen Neokortex und ebenfalls des posterioren cingulären Kortex, ohne Beeinträchtigung der primären Bereiche des Kleinhirns und der zentralen grauen Kerne, mit einer Sensitivität von 80% und einer Spezifität von 90% für AD im Stadium der Demenz. Diese Untersuchung wird derzeit gemäss Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) im folgenden Rahmen übernommen: «…zur Abklärung von Demenz: als weiterführende Untersuchung in unklaren Fällen, nach inkonklusiver Liquordiagnostik oder wenn eine Lumbalpunktion nicht möglich oder kontraindiziert ist, nach interdisziplinärer Vorabklärung und nach Verordnung durch Fachärzte und Fachärztinnen für Allgemeine Innere Medizin mit Schwerpunkt Geriatrie (Weiterbildungsprogramm vom 1. Januar 2000, revidiert am 21. Juni 2018 …), Psychiatrie und Psychotherapie oder Neurologie; bis zum vollendeten 80. Altersjahr, bei einem Mini-Mental-Status-Test (MMST) von mindestens 10 Punkten und einer Dauer der Demenz von maximal 5 Jahren, keiner vorausgegangenen Untersuchung mit PET oder SPECT (Single Photon Emission Computed Tomography).» (KLV, Anhang 1, Änderungen per 1.1.2021, S. 6/12).

Amyloid-Radiotracer haben das Studium der Alzheimer-Krankheit revolutioniert

Eine neuere Gruppe von Radiotracern hat die Untersuchung der AD revolutioniert durch die Möglichkeit, die Präsenz von extrazellulären kortikalen Beta-Amyloid Plaques, einen der beiden erforderlichen molekularen Marker für die neuropathologische Diagnose von AD, mit höherer Sensitivität und Spezifität zu messen. 18F-Flutemetamol, 18F-Florbetaben und 18F-Florbetapir wurden von Swissmedic für diese Indikation zugelassen. Der Mechanismus dieser Tracer ist, dass sie an die Amyloid-Plaques binden. Sie stellen somit einen pathophysiologischen Tracer dar. Dadurch zeigt die Analyse der Bilder eine physiologische Fixierung der weissen Substanz in einem negativen Fall. Demgegenüber wird eine Zunahme der Fixierung im kortikalen Bereich als positiv für die Ablagerung von Amyloid-Plaques betrachtet. Eine negative Bildgebung ermöglicht es, die Diagnose AD auszuschliessen (hohe Spezifität). Eine positive Bildgebung hingegen – insbesondere in Verbindung mit einem Neurodegenerationsmarker wie temporomesiale Atrophie oder posteriorer Hypometabolismus – erlaubt es, unter den Probanden solche mit leichter kognitiver Beeinträchtigung (MCI) und solche, die wahrscheinlich zu einem Demenzstadium der AD fortschreiten zu differenzieren (5) (Abb. 4, 5). Die Erfassung in der frühen Phase unmittelbar nach Injektion des Radiotracers ermöglicht die Abschätzung der zerebralen Perfusion und liefert ähnliche Informationen wie die mit dem 18F-FDG-PET-Scanner erhaltenen, so dass beide Informationen mit der gleichen Untersuchung dank einer mehrphasigen Erfassung kombiniert werden können.

PET-Scans mit Amyloid-Tracern werden gemäss KLV mit den gleichen Indikationen und Einschränkungen wie für PET-Scans mit 18-FDG übernommen.

Da die Untersuchung nach einer zuvor erfolgten Prüfung durch PET 18F-FDG nicht zulässig ist, kann dem Patienten derzeit nur ein PET-Scan, entweder für FDG oder Amyloid, vorgeschlagen werden, der im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung rückerstattet wird. Beide Überprüfungen liefern jedoch Informationen, die sich ergänzen, und die von verschiedenen wissenschaftlichen Gesellschaften vorgeschlagenen Entscheidungsdiagramme empfehlen, beide Überprüfungen durchzuführen, um eine schlüssige Diagnose gemäss dem klinischen Bild und dem Testresultat zu erhalten.

DaT-Scan

Die 123I-Ioflupan SPECT (DaT-Scan) ermöglicht eine Analyse der synaptischen Endigungen dopaminerger Neuronen, die speziell bei der Lewy-Körper-Demenz, der Parkinson-Demenz, und bei anderen Parkinson-Syndromen, die mit einer Demenz einhergehen können, wie z. B. die progressive supra-nukleäre Lähmung, die multisystemische Atrophie und die kortikobasale Degeneration, betroffen sind. Diese Neuronen, die hauptsächlich in der Substantia nigra zu finden sind, haben Axone, die in das Striatum hineinreichen. Daher ist ihre Funktion auf die Freisetzung von Dopamin angewiesen. Der Radiotracer zielt auf den Dopamin-Transporter (Dopamin-Transporter, DaT). Im nigrostriatalen System kommt es daher zu einer verminderten oder gar fehlenden Anreicherung des Radiotracers. Der DaT-Scan hilft bei der Differenzialdiagnose, insbesondere zwischen Lewy-Body-Demenz und AD (7). Diese Indikation wird derzeit nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.

Tau-Radiotracer

Zu den neuesten pathophysiologischen Radiotracern, die für die Diagnostik der AD entwickelt wurden, gehören schliesslich die Tau-Radiotracer, von denen 18F-Flortaucipir der am weitesten verbreitetste ist (8). Hyperphosphorylierung und abnorme intrazelluläre Aggregation von Tau-Proteinen bilden den zweiten molekularen Marker der AD, in Verbindung mit extrazellulären Amyloid-Plaques. Die Tracer binden somit selektiv an die neurofibrillären Cluster und ermöglichen es, die fortschreitende Akkumulation des Radiotracers in verschiedenen Hirnregionen entsprechend den topographischen Mustern der Braak-Stadien, wie sie in neuropathologischen Studien gefunden werden, sichtbar zu machen. Diese Tracer haben ein grosses Potenzial für das Staging und die Überwachung der AD, aber auch für die Unterscheidung der AD von Nicht-AD-Pathologien, da sie eine präzise Messung der fortgeschrittenen neuropathologischen Stadien der AD ermöglichen, die fast ausnahmslos mit dem Vorhandensein von Amyloid-Plaques verbunden sind (Abb. 8, 9). Die Tau-PET-Bildgebung hat im Mai 2020 einen wichtigen Meilenstein für den Einsatz in der klinischen Praxis erreicht, indem sie die FDA-Zulassung in den USA für diese Indikation erhalten hat. In der Schweiz wird diese Bildgebungsmodalität in Forschungsstudien eingesetzt, ist aber noch nicht für die klinische Anwendung zugelassen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Diagnose von kognitiven Störungen ein wichtiges Thema in der aktuellen Medizin ist, sowohl für die Anpassung der Behandlung dieser Patienten als auch für die Umsetzung und Entwicklung neuer Behandlungen. Um dies zu erreichen, wird die Minimalbeurteilung eine neuropsychologische Bewertung beinhalten, aber auch eine zerebrale Bildgebung, von der die MRT die Untersuchung der ersten Wahl ist. Die molekulare Neuro-Bildgebung kann ein wertvolles diagnostisches Werkzeug sein, da sie durch die Verwendung von topographischen Radiotracern wie 18F-FDG und pathophysiologischen Radiotracern wie den dopmaninergen Amyloid- und Tau-Tracern erlaubt, der «anatomisch-pathologischen» Diagnose in vivo näher zu kommen.

Übersetzung des Originalartikels aus «la gazette médicale» 07_2020

Copyright Aerzteverlag medinfo

Pre Elsa Hervier

– Service de Médecine Nucléaire et Imagerie Moléculaire,
Département Diagnostique, Hôpitaux Universitaires de Genève
– NIMTlab, Faculté de Médecine, Université de Genève
Service de Médecine Nucléaire et Imagerie Moléculaire
Département Diagnostique, Hôpitaux Universitaires de Genève
Rue Gabrielle-Perret-Gentil 4
1205 Genève

elsa.hervier@hcuge.ch

Dr Max Scheffler

Service de Radiologie, Département Diagnostique, Hôpitaux Universitaires de Genève
Service de Médecine Nucléaire et Imagerie Moléculaire
Département Diagnostique, Hôpitaux Universitaires de Genève
Rue Gabrielle-Perret-Gentil 4
1205 Genève

Pre Valentina Garibotto

– Service de Médecine Nucléaire et Imagerie Moléculaire,
Département Diagnostique, Hôpitaux Universitaires de Genève
– NIMTlab, Faculté de Médecine, Université de Genève
Service de Médecine Nucléaire et Imagerie Moléculaire
Département Diagnostique, Hôpitaux Universitaires de Genève
Rue Gabrielle-Perret-Gentil 4
1205 Genève

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenskonflikte in Bezug auf den Inhalt dieses Artikels haben. VG hat Forschungsgelder vom Schweizerischen Nationalfonds und der Verlux-Stiftung erhalten sowie Gelder für Forschung und wissenschaftliche Präsentationen durch ihre Institution von Siemens Healthineers, GF Healthcare, Life Molecular Imaging, Cerveau Technologies, Roche und Merck.

◆ Bei Patienten mit kognitiver Beeinträchtigung lässt sich anhand des klinischen Bildes allein die Ätiologie des kognitiven Verfalls nicht mit zufriedenstellender Präzision differenzieren.
◆ Derzeit umfasst die Minimalbeurteilung bei Patienten eine neuropsychologische Beurteilung und eine bildgebende Untersuchung des Gehirns, wobei die MRT, in der Regel ohne Kontrastmittelinjektion, die Erstuntersuchung ist.
◆ Das molekulare Neuroimaging ist ein ergänzendes und sehr nützliches Diagnosewerkzeug für Patienten, deren Diagnose nach der ersten Beurteilung unsicher bleibt, denn es ermöglicht eine «anatomisch-pathologische» Diagnose in vivo.

1.Scheltens, P., Blennow, K., Breteler, M.M., de Strooper, B., Frisoni, G.B., Salloway, S., Van der Flier, W.M., 2016. Alzheimer’s disease. Lancet. 388, 505-17.
2. Park, M., Moon, W.J., 2016. Structural MR Imaging in the Diagnosis of Alzheimer’s Disease and Other Neurodegenerative Dementia: Current Imaging Approach and Future Perspectives. Korean J Radiol. 17, 827-845.
3. Frisoni, G.B., Boccardi, M., Barkhof, F., Blennow, K., Cappa, S., Chiotis, K., Demonet, J.F., Garibotto, V., Giannakopoulos, P., Gietl, A., Hansson, O., Herholz, K., Jack, C.R., Jr., Nobili, F., Nordberg, A., Snyder, H.M., Ten Kate, M., Varrone, A., Albanese, E., Becker, S., Bossuyt, P., Carrillo, M.C., Cerami, C., Dubois, B., Gallo, V., Giacobini, E., Gold, G., Hurst, S., Lonneborg, A., Lovblad, K.O., Mattsson, N., Molinuevo, J.L., Monsch, A.U., Mosimann, U., Padovani, A., Picco, A., Porteri, C., Ratib, O., Saint-Aubert, L., Scerri, C., Scheltens, P., Schott, J.M., Sonni, I., Teipel, S., Vineis, P., Visser, P.J., Yasui, Y., Winblad, B., 2017. Strategic roadmap for an early diagnosis of Alzheimer’s disease based on biomarkers. Lancet Neurol. 16, 661-676.
4. Nobili, F., Arbizu, J., Bouwman, F., Drzezga, A., Agosta, F., Nestor, P., Walker, Z., Boccardi, M., 2018. European Association of Nuclear Medicine and European Academy of Neurology recommendations for the use of brain (18) F-fluorodeoxyglucose positron emission tomography in neurodegenerative cognitive impairment and dementia: Delphi consensus. Eur J Neurol. 25, 1201-1217.
5. Chiotis, K., Saint-Aubert, L., Boccardi, M., Gietl, A., Picco, A., Varrone, A., Garibotto, V., Herholz, K., Nobili, F., Nordberg, A., 2017. Clinical validity of increased cortical uptake of amyloid ligands on PET as a biomarker for Alzheimer’s disease in the context of a structured 5-phase development framework. Neurobiol Aging. 52, 214-227.
6. Boccardi, M., Nicolosi, V., Festari, C., Bianchetti, A., Cappa, S., Chiasserini, D., Falini, A., Guerra, U.P., Nobili, F., Padovani, A., Sancesario, G., Morbelli, S., Parnetti, L., Tiraboschi, P., Muscio, C., Perani, D., Pizzini, F.B., Beltramello, A., Salvini Porro, G., Ciaccio, M., Schillaci, O., Trabucchi, M., Tagliavini, F., Frisoni, G.B., 2020. Italian consensus recommendations for a biomarker-based aetiological diagnosis in mild cognitive impairment patients. Eur J Neurol. 27, 475-483.
7. Vaamonde-Gamo, J., Flores-Barragan, J.M., Ibanez, R., Gudin, M., Hernandez, A., 2005. [DaT-SCAN SPECT in the differential diagnosis of dementia with Lewy bodies and Alzheimer’s disease]. Rev Neurol. 41, 276-9.
8. Dodich, A., Mendes, A., Assal, F., Chicherio, C., Rakotomiaramanana, B., Andryszak, P., Festari, C., Ribaldi, F., Scheffler, M., Schibli, R., Schwarz, A.J., Zekry, D., Lovblad, K.O., Boccardi, M., Unschuld, P.G., Gold, G., Frisoni, G.B., Garibotto, V., 2020. The A/T/N model applied through imaging biomarkers in a memory clinic. Eur J Nucl Med Mol Imaging. 47, 247-255.

Fahreignung trotz Tumor im Gehirn

Es gibt in der Schweiz, wie auch in den meisten europäischen Ländern, keine spezifischen Leitlinien zur Frage der Fahreignung bei Patienten mit einem Tumor im Gehirn. Für einzelne Symptome, wie z.B. Epilepsie, gibt es von den entsprechenden Fachgesellschaften verbindliche Empfehlungen zur Fahreignung. Im Folgenden wollen wir bestehende Richtlinien für neuro-onkologisch tätige Kliniker zusammenfassen und eine strukturierte Fahreignungsabklärung für Patienten mit einem Tumor im Gehirn vorschlagen.

Der Wunsch nach Fahrtätigkeit nach der Diagnose und Behandlung eines Tumors im Gehirn (primärer Hirntumor oder Metastasen) wird von Patienten häufig geäussert. Die involvierten Ärzte suchen Kriterien, woran sie sich orientieren können, um eine Balance zwischen einem möglichst sicheren Strassenverkehr und dem Bedürfnis ihrer Patienten zu finden.
Im Prinzip gibt es vier Grundpfeiler, auf denen die Einschätzung und Entscheidung für eine temporäre Fahreignung attestiert werden kann und Regeln, wann eine solche wieder aufgehoben wird. Der behandelnde Arzt hat dabei laut Strassenverkehrsgesetz (SVG, Art. 15d) ein Melderecht an die zuständige Behörde, falls der Patient den Empfehlungen nicht nachkommen sollte oder wenn Zweifel an der Fahreignung bestehen. Es besteht eine ärztliche Aufklärungs- und Dokumentationspflicht, vorteilhaft mit einer Unterschrift des Patienten. Der Fahrzeugführer selber steht laut SVG Art. 31 in der Pflicht, das Fahrzeug sicher zu beherrschen im Sinne der Selbstverantwortung. Im Folgenden beschränken wir uns auf das Fahren von Motorwagen der Kategorie B und B1 und Motorräder der Kategorie A und A1, von landwirtschaftlichen Fahrzeugen (Kat. G) und Fahrzeugen bis 45km/h (Kat. F) sowie Mofa und E-Bikes (Kat. M), d.h. auf die Kategorien der 1. medizinische Gruppe, und auf Personen mit einem gültigen Fahrausweis.
Bevor eine ausführliche Untersuchung zur Wiedererlangung der Fahreignung initiiert wird, ist eine Lebenserwartung des Patienten von mindestens einem halben Jahr vom behandelnden Arzt einzuschätzen.

1. Neurologie: Anamnese, fachärztlicher Untersuch und EEG

Hinsichtlich Fahreignung und Epilepsie gibt es in der Schweiz ausführliche Richtlinien (1). Bei einem hohen Risiko für das Auftreten epileptischer Anfälle (> 40% im nächsten Jahr) ist die Fahreignung in der Regel aufgehoben, auch wenn bislang Anfallsfreiheit besteht. Nach Auftreten eines epileptischen Anfalls kann eine Erst- oder Wiederzulassung als Motorfahrzeuglenker in der Regel erfolgen, wenn eine Anfallsfreiheit (mit oder ohne Antiepileptika) von einem Jahr besteht. Abb. 1 illustriert die zu erwartende Anfallshäufigkeit nach Tumorart mit der geforderten 40% Grenze (2-5).
Ob bei fehlenden anamnestischen Hinweisen auf ein epileptisches Geschehen ein EEG vor Wiedererlangen der Fahreignung bei Patienten mit einem Tumor im Gehirn gefordert werden soll, wird von Schweizer Neurologen kontrovers beurteilt. Aus rechtlichen Aspekten könnte ein normales EEG aber von Vorteil sein.
Ärztlich und selbstverordnete Medikamente, die Compliance bei der Einnahme von Antiepileptika (bei Unklarheit ist ein Medikamentenspiegel anzuordnen) und alle eigen- oder fremdanamnestisch aufgefallenen Symptome müssen genau erfragt werden.
Die fachärztlich-neurologische Untersuchung prüft Ausfälle, auch diskreter Art, wie zum Beispiel sensorische oder motorische Schwächen, welche die Bremsfähigkeit beeinträchtigen könnten, sucht Hinweise für einen Neglekt und prüft Visus und Gesichtsfeld. Liegt der Tumor oder die Metastase im Bereich der Sehbahn/Sehrinde oder bei unklaren Befunden ist eine ophthalmologische Untersuchung inklusive apparativer Gesichtsfelduntersuchung notwendig (-> 3).

2. Repetitive Bildgebung

Die bildgebende Nachsorge mittels MRI erfolgt in regelmässigen und der Tumorart angepassten zeitlichen Abständen. Der Befund wird nach RANO-Kriterien beurteilt, welche auch den Steroidbedarf und die neurologische Beurteilung beinhalten (6). Ist der Befund in einer Domäne nicht stabil oder zweifelhaft, wird kurzfristig (z.B. in zwei Monaten) das Bild wiederholt und die Freigabe einer Fahreignung aufgeschoben. Die Fahreignung ist jeweils nur temporär, d.h. von einer Bildgebung zur nächsten und zusammen mit einer neurologischen Anamnese und Untersuch zu gewähren.

3. Ophthalmologische Erfordernisse

Die Erfordernisse für Gesichtsfeld und Visus sind für die Fahreignung in der Schweiz klar im Anhang 1 der Verkehrszulassungsverordnung (VZV) geregelt (sog. Mindestanforderungen). Der Fernvisus muss mindestens 0.5 beim besseren Auge und 0.2 beim schlechteren Auge betragen, bei Einäugigkeit minimal 0.6. Das Gesichtsfeld muss mindestens 120° betragen und zwar mit einer Ausdehnung nach links und nach rechts von jeweils mindestens 50°, nach unten und oben von jeweils mindestens 20°. Homonyme Hemi- oder Quadrantenanopsie sind ebenso wenig mit Fahreignung kompatibel, wie Doppelbilder. Das zentrale Gesichtsfeld (20°) muss normal sein, d.h. es dürfen keine deckungsgleichen Defekte mit einer relativen Defekttiefe von mehr als 10 dB vorliegen. Bei einäugigem Sehen muss das Gesichtsfeld bei normaler Augenbeweglichkeit normal sein (Abb. 2).

4. Neuropsychologisches Assessment

Neuropsychologische Test-Batterien können sehr subtile Defizite aufdecken, die aber für Aufmerksamkeit und Reaktionszeit am Steuer bedeutend sind. Solche Defizite können der fachärztlichen neurologischen Untersuchung entgehen (7). Das neuropsychologische Assessment konzentriert sich auf Tests, welche für die Fahreignung relevant sind und neben der geteilten Aufmerksamkeit, der höheren visuellen Wahrnehmung (Visuokonstruktion), das Gedächtnis, und die Exekutivfunktionen berücksichtigen.
Wir empfehlen ein einmaliges Assessment vor der Wiederaufnahme der Fahrtätigkeit und danach erneut bei Auffälligkeiten oder einmal jährlich bei infiltrativ wachsenden Tumoren wie z.B. den Gliomen. Da dies die zeitlich und organisatorisch aufwendigste Untersuchung zur Fahreignung darstellt, wird sie als letzte eingeplant, nämlich wenn keine Kontraindikationen für die Fahreignung in den Untersuchungen unter 1.-3. aufgefallen sind.

Lesen Sie auch den Artikel von Frau Dr. med. Kristina Keller «Fahreignung von Tumorpatienten – was ist zu beachten?» in «info@onkologie» Ausgabe 01-2019

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Silvia Hofer

Universitätsspital Zürich
Institut für Pathologie und Molekularpathologie
Schmelzbergstrasse 12
8091 Zürich

silvia.hofer@usz.ch

Dr. med. Kristina Keller

Universität Zürich
Institut für Rechtsmedizin
Abteilung Verkehrsmedizin
Kurvenstrasse 31
8006 Zürich

Kristina.Keller@irm.uzh.ch

Die Autorinnen haben im Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

◆ Um die Fahreignung für Patienten mit einem Tumor im Gehirn zu ermöglichen, braucht es minimale Erfordernisse, die der Sicherheit auf der Strasse geschuldet sind.
◆ Um solche Untersuchungen im zeitlichen Ablauf zu strukturieren und in der Schweiz zu harmonisieren ohne Mehrkosten zu verursachen, läuft zur Zeit eine Pilotstudie für Glioblastom-Patienten, welche am Universitätsspital Zürich und am Luzerner Kantonsspital offen ist (GLIODRIVE, BASEC ProjectID 2020-00365, Kontakt: silvia.hofer@usz.ch, Abb. 3).
◆ Bei Akzeptanz von Seiten der behandelnden Ärzte und der Patienten können die Abläufe auf alle hirneigenen Tumoren und auf Hirnmetastasen ausgeweitet und angepasst werden.

1. Arnold P et al. Fahreignung mit Epilepsie, Swiss Medical Forum 2019;19(45-46):737-740. doi.org/10.4414/smf.2019.08402
2. Liigant A et al. Seizure disorders in patients with brain tumors. Eur Neurol 2001; 45:46-51. doi.org/10.1159/000052089
3. Skardelly M et al. Predictors of preoperative and early postoperative seizures in patients with intra-axial primary and metastatic brain tumors: A retrospective observational single center study. Ann Neurol. 2015;78(6):917–928. doi:10.1002/ana.24522.
4. van Breemen MSM et al. Epilepsy in patients with brain tumours: epidemiology, mechanisms, and management. Lancet Neurol 2007; 6:421–430. doi.org/10.1016/S1474-4422(07)70103-5
5. Wolpert F et al. Risk factors of the development of epilepsy in patients with brain metastases. Neuro-Oncology 2020; 22(5), 718-728. DOI: 10.1093/noz172
6. Wen Pet al. Response assessment in neuro- oncology clinical trials. J Clin Oncol 2017; 35:2439-2449. DOI:10.1200/JCO.2017.72.7511
7. Valencia-Sanchez C et al. Clinical evaluation of fitness to drive in patients with brain metastases. Neuro-Oncology Practice 2019; 6(6): 484–489. doi:10.1093/nop/n

Genetische Beratung bei Schwangeren

In den letzten Jahren sind die Möglichkeiten für vorgeburtliche Risikoabschätzungen und die Diagnose genetischer Erkrankungen in der Schwangerschaft sehr viel umfangreicher aber auch präziser geworden. Die Schwangerschaftsvorsorge ist zu einer personalisierten Medizin für Mutter und Kind herangewachsen, die immer individuellere, aber auch komplexere Beratungen erfordert. Im Folgenden soll eine Auswahl von zunehmend wichtigen Aspekten der genetischen Beratung bei Schwangeren vorgestellt werden.

Die «Genetische Beratung» und ihre Inhalte wurden erstmals 1975 von der American Society of Human Genetics definiert. Die Genetische Beratung ist ein persönlicher Kommunikationsprozess, der sich mit dem Auftreten oder dem möglichen Risiko des Auftretens einer genetischen Erkrankung sowie deren Abgrenzung zu einer nicht genetisch bedingten Erkrankung bei der/dem Ratsuchenden oder in seiner Familie auseinandersetzt (1).
Sie erlaubt der oder dem Ratsuchenden die medizinischen, psychologischen und familiären Konsequenzen einer genetischen Erkrankung zu verstehen.

Genetische Informationen können eine bedeutende Rolle für die gesundheitliche Entwicklung und für die individuelle Lebensplanung des Einzelnen einschliesslich seiner reproduktiven Entscheidungen haben. Sie können nicht nur die Patienten selbst, sondern auch deren Partner, Nachkommen oder weitere Familienangehörige betreffen. Der Prozess der genetischen Beratung integriert daher die Interpretation des Stammbaums und der persönlichen Krankengeschichten der Familienmitglieder, um das Risiko für eine Erkrankung und/oder das Wiederholungsrisiko zu bestimmen. Sie vermittelt Informationen zur Vererbung, Möglichkeiten der Diagnostik, Behandlung, Prävention und bestehenden Ressourcen. Der Beurteilung von genetischen Merkmalen, medizinischen Befunden einschliesslich genetischer Laborbefunde und Erkrankungswahrscheinlichkeiten sowie auch der Beratung vor und nach genetischen Untersuchungen kommt daher eine besondere Bedeutung zu. Eine genetische Beratung ist ergebnisoffen und nicht direktiv zu führen, sodass die oder der Ratsuchende informierte, eigenständige und tragfähige Entscheidungen treffen kann. Individuelle Werthaltungen sowie die psychosoziale Situation müssen beachtet und respektiert werden.

Einzelheiten sowie allgemeine Inhalte zur genetischen Beratung im Rahmen der Verordnung genetischer Untersuchungen sind in der Schweiz durch das «Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen» (GUMG) gesetzlich geregelt (2). Jeder Arzt/jede Ärztin, der/die eine genetische Beratung durchführt, muss Kenntnis hiervon haben. Das Gesetz legt unter anderem fest, dass insbesondere auch pränatale genetische Untersuchungen vor und nach der Durchführung von einer nicht direktiven fachkundigen genetischen Beratung mit Dokumentation des Gesprächs begleitet sein müssen (Art. 14, GUMG).
Im Folgenden werden einige wichtige Aspekte vorgestellt, die vor allem die Beratung von Schwangeren betreffen. Ausführliche Richtlinien zur genetischen Beratung sind von den Fachgesellschaften für Medizinische Genetik publiziert.

Erfassung des Ausgangsrisikos

Für jede Schwangerschaft besteht grundsätzlich ein Risiko der Fehlentwicklung. Das Basisrisiko für ernste Erkrankungen des Neugeborenen liegt bei etwa 1-2% und bei mindestens 3-5%, schliesst man weniger schwere, oft gut behandelbare Beeinträchtigungen der kindlichen Entwicklung sämtlicher Ursachen ein. Die heutigen zunehmend vielfältigen Möglichkeiten bereits vorgeburtlich fetale Fehlentwicklungen zu erkennen und/oder genetische Erkrankungen zu untersuchen bzw. ein erhöhtes Risiko für solche zu erkennen und zu präzisieren, erfordert mehr denn je bei jeder Schwangeren zunächst klinisch ein a-priori-Risiko zu ermitteln. Nur so kann auch beraten werden, welche Optionen zum weiteren Vorgehen sinnvollerweise in Frage kommen, und der Schwangeren selbst frühzeitig die Möglichkeit gegeben werden, auch unter persönlichen Gesichtspunkten zu überlegen, welche Untersuchungen sie wahrnehmen möchte oder ablehnt. Vielen Schwangeren wird erstmals überhaupt die Möglichkeit einer Fehlentwicklung einer Schwangerschaft bewusst, und die meisten Patientinnen haben sich bisher nicht mit den Möglichkeiten und Konsequenzen aber auch Grenzen vorgeburtlicher Untersuchungen auseinandergesetzt.

Die Bedeutung einer ausführlichen persönlichen Anamnese und auch der Familienanamnese zur Erfassung von einem erhöhten Ausgangsrisiko wird häufig unterschätzt (3). Dazu gehört das aktive Erfragen von körperlichen und/oder kognitiven Entwicklungsstörungen, Fehlbildungen, häufigen Fehlgeburten, Totgeburten, Konsanguinität und Ethnizität usw. Zusätzliche genetische Untersuchungen des Indexpatienten und ggf. Trägerabklärungen der Schwangeren und/oder des Partners müssen dann diskutiert werden, um das definitive Risiko zu ermitteln. Bei Kenntnis von Familienmitgliedern mit angeborenen Fehlbildungen und/oder einer angeborenen genetischen, chromosomalen oder monogenen Erkrankung oder Hinweisen auf eine solche können je nach Situation Screening-Untersuchungen für die häufigen Trisomien unzureichend, sogar kontraindiziert sein. Eine spezifische Pränataldiagnostik kann indiziert sein, oder aber auch ein erhöhtes familiäres Risiko für das werdende Kind ausgeschlossen oder unwahrscheinlich werden. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Fachärzten der medizinischen Genetik kann gerade bei der Beurteilung solch oft doch komplexer Situationen zielführend sein.

Risikoabschätzungsverfahren

In Schwangerschaften ohne erhöhtes individuelles Risiko spielen Untersuchungen zur Abschätzung des Risikos für die häufigen zahlenmässigen Chromosomenstörungen der Chromosomen 21, 13 und 18 sowie auch Ultraschalluntersuchungen zur Erkennung fetaler Fehlentwicklungen eine besondere Rolle, da solche alle Schwangerschaften betreffen können.
Heute müssen daher idealerweise vor oder zu Beginn jeder Schwangerschaft mögliche Verfahren der Risikoabschätzung und Diagnose von häufigen Chromosomenstörungen besprochen werden. Ziel dieser prä- oder postkonzeptionellen genetischen Beratung ist die Diskussion der Aussagekraft und der Grenzen von verschiedenen nicht-invasiven Untersuchungsverfahren, wenn die Eltern dieses Vorgehen nicht generell ablehnen. Dazu gehören heute der Ultraschall einschliesslich der Messung der Nackentransparenz und der Ersttrimestertest sowie der nicht-invasive Pränataltest (NIPT) an mütterlichem Blut. Der Expertenbrief Nr. 52 zur pränatalen nicht-invasiven Risikoabschätzung fetaler Aneuploidien der interdisziplinären Arbeitsgruppe der Akademie für feto-maternale Medizin und der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Genetik stellt die in der Schweiz empfohlenen Vorgehensweisen, die in dieser Form auch von der OKP mitgetragen werden, im Detail dar (4). Im Gespräch mit der Patientin soll ein Grundverständnis der klinischen Zusammenhänge und Testprinzipien vermittelt werden. Auch Informationen über mögliche Folgeentscheidungen, die aufgrund der Resultate auf die Schwangere zukommen, müssen diskutiert werden. Detektionsraten, positiv- und negativ-prädiktive Werte der verschiedenen Testverfahren müssen bei der Beratung berücksichtigt werden.

Insbesondere beim NIPT muss darauf hingewiesen werden, dass auffällige Befunde durch eine diagnostische Chromosomenuntersuchung an Chorionzottenmesenchym oder Fruchtwasser bestätigt werden müssen, da diskordante Befunde aus biologischen Gründen vorkommen. Plazentare Mosaizismen, «vanishing twin», mütterliche Erkrankungen und mütterliche Chromosomenanomalien können ursächlich sein, da die sogenannte freie «fetale» DNA im mütterlichen Blut plazentar ist (Zytotrophoblast) und die freie maternale DNA mitanalysiert wird (5). Manche dieser Limitationen wie z.B. ein bekannter vanishing Twin oder bestimmte mütterlicher Erkrankungen können von vorneherein die Aussagekraft des NIPTs senken und deslhalb auch eine Kontraindikation sein. Die Schwangere muss auf mögliche Zufallsbefunde, die auch sie selbst betreffen können, vor der Untersuchung hingewiesen werden. Hinweise auf u.a. maternale Tumoren sind berichtet. Methodisch bedingt können Zufallsbefunde zu anderen Chromosomen als den Chromosomen 21, 13 und 18 auftreten. Mit der Schwangeren muss eine Vereinbarung getroffen werden, ob sie solche Zufallsbefunde zur Kenntnis nehmen möchte.

Verschiedene Labors bieten zudem über die häufigen Aneuploidien hinaus die Untersuchung der Geschlechtschromosomen und seltenerer Chromosomenanomalien wie z.B. Mikrodeletionen an, hier muss auf den sehr limitierten prädiktiven Wert hingewiesen werden.


Erste Studien prüfen den Einsatz von NIPT als first-line Risikoscreening in Niedrigrisikoschwangerschaften, also nach unauffälliger Vorgeschichte und Ersttrimesterultraschall (6, 7). Auch hier scheint sich die Kombination aus Ultraschall einschliesslich Messung der Nackenfalte und, wenn unauffällig, NIPT als beste Risikoabschätzung für die häufigen Trisomien herauszukristallisieren. Der Nutzen der Ausweitung des NIPT auf die genomweite Untersuchung anderer Chromosomen wird noch debattiert. Bei allerdings noch sehr beschränkten Patientenzahlen ist wahrscheinlich nur in weniger als 1% ein auffälliger Befund in sonst unauffälligen Schwangerschaften zu erwarten und nach ersten Zahlen werden im Mittel nur etwa 20% dieser Anomalien tatsächlich den Fetus klinisch relevant betreffen (6). Der unbestrittene Wert des NIPT in der Senkung der Zahl der diagnostischen Punktionen könnte so wieder gemindert werden.

Bei Ultraschallanomalien, erhöhter Nackentransparenz und/oder fetalen Fehlbildungen bleibt die diagnostische Chromosomenuntersuchung an Chorionzotten und Fruchtwasser mittels hochauflösenden Microarrays erste Wahl, da bei dieser Indikation primär ein deutlich erhöhtes Risiko auch für andere seltenere Chromosomenanomalien besteht. Das eingriffsbedingte Risiko für Fehlgeburten ist dabei in den Händen erfahrener punktierender Ärzte sehr niedrig und sollte vor allem bei klar bestehender Indikation nicht zugunsten weniger aussagekräftiger Verfahren überbewertet werden. Neben ursächlichen Chromosomenstörungen muss abhängig von den klinischen Befunden auch an monogene genetische Syndrome gedacht werden, die über die neuen Verfahren der Hochdurchsatzsequenzierung (HDS) mittels Panel- und Exomsequenzierungen diagnostiziert werden können. Klinische Differenzialdiagnosen, Beratung und Auswahl zu Testverfahren sollten in Expertenzentren diskutiert und beraten werden. International wird empfohlen Indikationsstellung und Beratung bei HDS-Untersuchungen Spezialisten der Medizinischen Genetik zu überlassen.
Bei allen Untersuchungen müssen auch die weiter bestehenden Restrisiken bei unauffälligen Befunden kommuniziert werden.

Fazit

Die Entwicklungen der Ultraschalldiagnostik und neuer genomischer Technologien in vorgeburtlichen Risikoabschätzungen und diagnostischen Untersuchungen genetischer Erkrankungen führen zu Möglichkeiten der individuelleren Betreuung von Schwangerschaften. Sie verursachen jedoch auch einen höheren Aufwand in der genetischen Beratung der Schwangeren, um den Patientinnen eine für sie selbst vertretbare Vorgehensweise zu ermöglichen. Die detaillierte Familienanamnese hat bei der Identifizierung von spezifischen Diagnosen und Risiken eine besondere Bedeutung und ist Voraussetzung für eine zielgerichtete und kompetente Beratung zu weiteren Untersuchungsverfahren und Interpretation der Ergebnisse. Verfahren zur Risikoabschätzung der häufigen Aneuploidien sollten allen Schwangeren angeboten werden, weitere Untersuchungen hängen von Befunden einschliesslich der Ultraschalluntersuchungen ab. Der Ausschluss einer spezifischen Erkrankung oder einer Gruppe von Erkrankungen wie Chromosomenanomalien wird nicht selten als Nachweis der Gesundheit des Kindes fehleingeschätzt (8). Daher muss erwähnt werden, dass pränatale Untersuchungen ein erhöhtes Risiko oder eine spezifisch untersuchte Erkrankung ausschliessen, jedoch nicht ein gesundes Kind garantieren können. Bei komplexen Fragestellungen wird eine interdisziplinäre Zusammenarbeit entscheidend sein, um eine qualitativ gesicherte Patientenversorgung zu gewährleisten. Dabei ist nicht zu vergessen, dass vorgeburtliche Untersuchungen eine Option sind und die werdenden Eltern bzw. die Schwangere letztendlich entscheidet, ob und in welcher Konsequenz sie die heutigen Möglichkeiten wahrnehmen möchte.

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Zweitabdruck des in info@gynäkologie 04-2021 erschienen Originalartikels.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. med. Isabel Filges

FMH/FAMH Medizinische Genetik, Ärztliche Leiterin der Medizinischen Genetik, Institut für Medizinische Genetik und Pathologie,
Universitätsspital Basel
Schönbeinstrasse 40
4031 Basel

isabel.filges@usb.ch

Die Autorin hat keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Die genetische Beratung ist freiwillig, erfolgt ergebnisoffen, nicht-direktiv und umfassend.
◆ Die Familienanamnese hat für die Identifikation eines a priori erhöhten Risikos für genetische Erkrankungen eine besondere Bedeutung in Bezug auf die weitere individuelle Wahl der pränatalen Untersuchungsverfahren.
◆ Verfahren zur Risikoabschätzung häufiger Chromosomenanomalien sollten allen Schwangeren angeboten werden.
◆ Bei komplexen Fragestellungen wird empfohlen, Fachärzt*innen für Medizinische Genetik zu involvieren.

1. Harper PS, Hodder A: Practical genetic counselling. 7th edition. 2010
2. Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG): ww.bag.admin.ch
3. McClatchey T et al.: Missed opportunities: unidentified genetic risk factors in prenatal care. Prenat Diagn 2018;38(1): 75-79 4
4. Ochsenbein N et al.: Pränatale nicht-invasive Risikoabschätzung fetaler Aneuploidien. Expertenbrief Nr. 52
5. Bianchi DW: Cherchez la femme: maternal incidental findings can explain discordant prenatal cellfree DNA sequencing results. Genet Med 2018;20(9):910-917
6. Van Opstal et al.: Origin and clinical relevance of chromosomal aberrations other than the common trisomies detected by genome-wide NIPS: results of the trident study. Genet Med 2018; 20(5): 480-485
7. Van der Meij KRM et al. TRIDENT-2: National implementation of Genome-wide non-invaisve Prenatal Testing as a First-Tier Screening Test in the Netherlands. Am J Hum Genet. 2019;105(6):1091-1101
8. Moog U, Riess O (Hg.): Medizinische Genetik für die Praxis. Georg Thieme Verlag 2014

Günstiger Einfluss der Vitamin-D-Konzentration auf die Urinflussrate

Miktionsstörungen sind ein Problem in der Allgemeinbevölkerung, das mit zunehmendem Alter sowohl bei Männern als auch bei Frauen zunimmt. In den letzten Jahrzehnten wurde der Zusammenhang zwischen Miktionssymptomen und dem biochemischen Status des Körpers in verschiedenen Disziplinen erforscht. Es wird davon ausgegangen, dass Mikronährstoffe verschiedene Aspekte des Harnflusses beeinflussen, darunter die Neuroregulation, die Funktion des Detrusormuskels und die Strukturen rund um den Blasenausgang wie den Beckenboden und die Prostata.
In einer kürzlich veröffentlichten Studie wurde die Beziehung zwischen der Urinflussrate (UFR) und 25-Hydroxyvitamin D (25(OH)D) in der gesunden Allgemeinbevölkerung untersucht.
Die Studie umfasste 3981 erwachsene Teilnehmer über 20 Jahre aus den Datensätzen des U.S. National Health and Nutrition Examination Survey (2011-2012). Die Zusammenhänge zwischen UFR und der 25(OH)D-Konzentration im Serum wurden mittels multivariater Regressionsmodelle analysiert.

Resultate

Es bestand ein signifikanter positiver Zusammenhang zwischen der 25(OH)D-Konzentration im Serum und der UFR (25(OH)D2 + 25(OH)D3: β-Koeffizient: 0,003; 95% CI: 0,002, 0,004; p < 0,001, 25(OH)D3; p = 0,003; epi-25(OH)D3, p = 0,020) in einem unangepassten Modell. Die substantiellen Zusammenhänge wurden auch in den Untergruppen Geschlecht und Alter beobachtet. In der Analyse der Altersuntergruppe war die Assoziation der Serum-25(OH)D-Konzentration mit der Urinflussrate im vollständig angepassten Modell signifikant (Alter< 60: 25(OH)D2 + 25(OH)D3: β-Koeffizient: 0. 004, p < 0.001; 25(OH)D3: p = < 0.001, epi-25(OH)D3: p = 0.007; Alter ≥ 60: 25(OH)D2 + 25(OH)D3: β-Koeffizient: 0.004, p = 0.002; 25(OH)D3: p = 0.001, epi-25(OH)D3: p = 0.001). In der geschlechtsspezifischen Subgruppenanalyse beträgt der β-Koeffizient von 25(OH)D2+25(OH)D3 bei Männern 0,004 (p < 0,001) und bei Frauen 0,004 (p < 0,001) im vollständig angepassten Modell. Die höheren Quartile der UFR wiesen tendenziell höhere 25(OH)D3-Werte auf, die in der quartil- basierten Analyse statistisch signifikant waren.

Schlussfolgerungen

UFR war mit einem erhöhten Gesamtvitamin-D-Spiegel und der bioaktiven Form von Vitamin D3 verbunden. Vitamin-D-Präparate können eine einfache und wirksame Methode zur Verbesserung der Blasenfunktion sein.

Quelle: Cheng YW Beneficial relevance of vitamin D concentration and urine flow rate. Clin Nutr 2021;40:2121-2127.

Überleben bei nicht-metastasiertem, kastrationsresistentem Prostatakarzinom

Antiandrogene (Androgenrezeptorblocker) der zweiten Generation (Apalutamid, Darolutamid, Enzalutamid) haben heute einen festen Platz in der Behandlung von Männern mit einem metastasierenden Prostatakarzinom (mCRPC) mit Progression unter konventioneller antiandrogener Therapie. Inwieweit das nicht-metastasierende kastrationsresistente Prostatakarzinom (nmCRPC) ein eigenständiges Krankheitsbild ist oder ein anderes Stadium desselben, kann kontrovers diskutiert werden, jedenfalls war es sinnvoll, die Wirkung von Androgenrezeptorblockern auch in dieser Situation zu testen.

In der von Pfizer und Astellas Pharma finanzierten doppelblinden Phase-3-Studie PROSPER wurden Männer mit nmCRPC (definiert aufgrund der konventionellen Bildgebung und einer PSA-Verdoppelungszeit von ≤10 Monaten) im Verhältnis 2:1 randomisiert mit Enzalutamid (XTANDI™) in einer Dosis von 160 mg oder Placebo einmal täglich behandelt unter fortgesetzter Androgen-Entzugstherapie. In einer früheren Publikation wurde ein 71% tieferes Risiko für Metastasierung oder Tod gezeigt, aktuell wird die Auswertung in Bezug auf das Gesamtüberleben publiziert.

Bis zum 15. Oktober 2019 waren insgesamt 288 von 933 Patienten (31%) in der Enzalutamid-Gruppe und 178 von 468 (38%) in der Placebo-Gruppe gestorben. Die mediane Gesamtüberlebenszeit betrug 67,0 Monate (95% Konfidenzintervall [KI], 64,0 bis nicht erreicht) in der Enzalutamidgruppe und 56,3 Monate (95% KI, 54,4 bis 63,0) in der Placebogruppe (Hazard-Ratio für Tod, 0,73; 95% KI, 0,61 bis 0,89; P = 0,001). Die expositionsbereinigte Gesamtrate an Nebenwirkungen im Grad 3 oder höher betrug 17 pro 100 Patientenjahre in der Enzalutamidgruppe und 20 pro 100 Patientenjahre in der Placebogruppe. Jedoch wird im zugehörigen Editorial speziell auf das erhöhte Risiko von Fatigue (424/930 vs. 103/465), Stürzen 164/930 vs. 25/465), Hypertonie (167/930 vs. 28/465) und Tod kardiovaskulärer Ursache (14/930 vs. 2/465) hingewiesen.

Die Autoren kommen zum Schluss, dass Enzalutamid plus Androgen-Entzugstherapie bei Männern mit nicht metastasiertem, kastrationsresistentem Prostatakarzinom und einem rasch ansteigenden PSA-Wert zu einer längeren medianen Gesamtüberlebenszeit führte als Placebo plus Androgen-Entzugstherapie. Das mit Enzalutamid verbundene Sterberisiko war um 27% geringer als bei Placebo.
Aufgrund des Sicherheitsprofils rät die Kommentatorin, vor einem Einsatz dieser Behandlung bei asymptomatischen Männern mit Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen wie Hypertonie, Übergewicht, Diabetes und Hyperlipidämie insbesondere bei einer PSA-Verdoppelungszeit von 10 und mehr Monaten und damit eher einem gutartigeren Verlauf das Nutzen-Schadenverhältnis zu bedenken.

Quelle: Enzalutamide and Survival in Nonmetastatic, Castration-Resistant Prostate Cancer. Sternberg C.N. et al. N Engl J Med 2020;382:2197-206 Cardiovascular Diesease and Androgen Axis-Targeted Drugs for Prostate Cancer. Higano C.S. N Engl J Med 2020;382:2257-9

Viollier Preis 2020 und 2021

Mit dem Viollier Preis werden jedes Jahr wissenschaftliche Originalarbeiten aus Schweizer Institutionen über klinische und experimentelle Studien auf den Gebieten des Preisstifters (Klinische Labordiagnostik, Kardiologie, Pathologie und ART) ausgezeichnet. Der Preis steht unter dem Patronat der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM).

Im Jahr 2020 konnte die Übergabe durch Verwaltungsratspräsident von Viollier, Dr. med. Edouard H. Viollier wegen der COVID-19 Pandemie erst in diesem Jahr anlässlich der Herbsttagung der SGAIM 2021 in Interlaken stattfinden. Gleichzeitig wurde der Viollier-Preis für das Jahr 2021 vergeben. Den mit CHF 10 000.- dotierten Preis durfte für das Jahr 2020 Dr. med. Jasper Boeddinghaus aus der Forschungsgruppe von Prof. Dr. med. Christian Müller von der Klinik für Kardiologie des Universitätsspitals Basel entgegennehmen. Der Viollier-Preis 2021 wurde Frau Dr. med. Sandrine Urwyler, die im Departement Biomedizin der Universität Basel tätig ist, verliehen.
Die Jury hatte in beiden Jahren die Aufgabe aus einer bedeutenden Anzahl von hervorragenden Arbeiten, die allesamt in hochrangigen internationalen Fachzeitschriften publiziert wurden, die den Kriterien am ehesten entsprechenden Arbeiten auszuwählen.

Viollier Preis 2020

Preisträger 2020 Dr. Jasper Boeddinghaus

Für das Jahr 2020 fiel die geheime Wahl der Jury auf die Arbeit «Early Diagnosis of Myocardial Infarction With Point-of-Care High-Sensitivity Cardiac Troponin I», von Dr. med. Jasper Boeddinghaus und der APACE (Advantageous Predictors of Acute Coronary Syndrome Evaluation)-Forschungsgruppe, welche in der renommierten Zeitschrift Journal of the American College of Cardiology im Jahre 2020 erschienen ist.

Eines der Ziele von APACE war es, die klinische Leistung eines Point-of-Care (POC)-hs-cTnI-Tests bei Patienten mit Verdacht auf einen Myokardinfarkt (MI) zu beurteilen. Die hochempfindlichen Tests für die kardialen Troponine-(hs-cTn) waren bislang hauptsächlich den grossen Zentrallaboratorien vorbehalten. Dies bedeutet oft eine längere Turn-Around-Time als ein patientennaher Test (POCT), der in der Notfallstation oder im Praxislabor durchgeführt werden kann.

In die Studie wurden Patienten aufgenommen, die in der Notaufnahme Symptome zeigten, die auf einen MI hindeuteten. Zwei Kardiologen entschieden zentral unter Verwendung aller klinischen Daten einschliesslich der kardialen Bildgebung über die endgültige Diagnose. Das primäre Ziel war der direkte Vergleich der dia-gnostischen Genauigkeit von POC-hs-cTnI-TriageTrue mit den am besten validierten zentralen Laboruntersuchungen (hs-cTnT-Elecsys, Roche, hs-cTnI-Architect, Abbott). Zu den sekundären Zielen gehörte die Ableitung und Validierung eines POC-hs-cTnI-TriageTrue-spezifischen 0/1-h-Algorithmus. Dieser 0/1-h-Algorithmus, der von der Forschungsgruppe um Prof. Christian Müller und Dr. Boeddinghaus entwickelt wurde, wird von der European Society of Cardiology in ihren Guidelines empfohlen und gelangt generell heute bei Verdacht auf Herzinfarkt zur Anwendung.

In der preisgekrönten Arbeit konnten Jasper Boeddinghaus und Kollegen aufzeigen, dass die diagnostische Genauigkeit des neuen «Point-of-Care» Assays mindestens so hoch ist wie die der am besten validierten labor-basierten Assays. Zudem konnten sie feststellen, dass bei nahezu der Hälfte aller Patientinnen und Patienten, die mit einem möglichen Herzinfarkt eingeliefert werden, ein akuter Herzinfarkt mit nur einer einzigen Troponin-Messung ausgeschlossen werden kann und hierbei kein einziger Herzinfarkt verpasst wird (Sensitivität und Negativ Prädiktiver Wert von 100%). Der neue Assay, der mithilfe eines kompakten und einfach transportierbaren Geräts gemessen wird, ermöglicht demnach eine sehr schnelle Entscheidungsfindung. Innerhalb von 15 Minuten werden die Resultate rapportiert. Dies ermöglicht nicht nur eine frühere Diagnose, sondern darüber hinaus eine Anwendung des Assays in ambulanten Praxen und Notfalleinrichtungen. Die klinische Verwendung dieses neuen hochsensitiven «Point-of-Care» Assays hat somit Potential die Herzinfarktdiagnostik weltweit entscheidend zu verbessern.
Dr. Jasper Boeddinghaus konnte leider an der Preiszeremonie nicht teilnehmen.

Quelle: Early Diagnosis of Myocardial Infarction With Point-of-Care High-Sensitivity Cardiac Troponin I. Boeddinghaus J, Nestelberger T, Koechlin L, Wussler D, Lopez-Ayala P, Walter JE, Troester V, Ratmann PD, Seidel F, Zimmermann T, Badertscher P, Wildi K, Rubini Giménez M, Potlukova E, Strebel I, Freese M, Miró Ò, Martin-Sanchez FJ, Kawecki D, Keller DI, Gualandro DM, Christ M, Twerenbold R, Mueller C; APACE Investigators. J Am Coll Cardiol. 2020 Mar 17;75(10): 1111-1124.

Viollier Preis 2021

Preisträgerin 2021 Dr. Sandrine Urwyler mit Dr. Edouard Viollier

Für das Jahr 2021 fiel die Wahl aufgrund einer sorgfältigen Evaluation und Diskussion nach geheimer schriftlicher Abstimmung auf die Arbeit «IL (Interleukin-1-Receptor Antagonist Increases Ang (Angiotensin [1–7] and Decreases Blood Pressure in Obese Individuals» von Dr. med. Sandrine Andrea Urwyler aus der Forschungsgruppe der Professoren Miriam Christ-Crain, Marc Donath und Christian Müller von der Universität Basel.
Frau Dr. Urwyler durfte den Preis aus den Händen von Dr. med. Edouard H. Viollier, Verwaltungsratspräsident von Viollier, anlässlich der SGAIM Herbsttagung in Interlaken entgegennehmen.
In der Arbeit von Frau Dr. Urwyler konnte erstmals ein Zusammenhang zwischen dem Anstieg des Angiotensin (1-7) Peptids mit seinen vasodilatatorischen Eigenschaften und einer Senkung des arteriellen Blutdrucks durch Reduktion des peripheren Widerstands mittels antiinflammatorischer Behandlung mit einem IL-1 Antagonisten bei Patienten mit Metabolischem Syndrom gezeigt werden.
Es stellte sich die Frage, weshalb die Anwendung eines Interleukin (IL)-1 Antagonisten zu einer signifikanten Blutdrucksenkung bei Patienten mit einem Metabolischen Syndrom führt. In zwei prospektiven Studien, in welchen 140 Patienten mit einem Metabolischen Syndrom eingeschlossen wurden, fanden die Autoren eine signifikante Reduktion des systolischen Blutdrucks um 5 mmHg nach Injektion des Interleukin (IL)-1 Antagonisten Anakinra im Vergleich zur Placebogruppe. Basierend auf experimentellen Tierdaten untersuchten sie die Hypothese, dass der blutdrucksenkende Mechanismus des IL-1 Antagonismus auf eine Modulation des Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS) zurückzuführen ist. In der Tat zeigte sich, dass parallel zum Blutdruckabfall das vasodilatatorische Peptid Angiotensin-(1- 7) nach 4 Wochen Therapie mit dem IL-1 Antagonisten Anakinra signifikant ansteigt, ohne Effekt in der Placebogruppe. In der hämodynamischen Untersuchung nahm passend dazu der systemische Widerstand (SVRI) bei den mit Anakinra behandelten Patienten im Vergleich zur Placebogruppe signifikant ab. Daraus liess sich schliessen, dass es durch die Blockade des IL-1 Pathways zu einer Modulation des RAAS-Systems kommt, insbesondere mit Anstieg des Angiotensin-(1-7) Peptids, welches mit seinen vasodilatatorischen Eigenschaften zu einer Senkung des peripheren Widerstands und so des systemischen Blutdrucks führt. Die Arbeit von Dr. Urwyler et al ist die erste Arbeit, welche zeigt, dass die antiinflammatorische Therapie mit einer IL-1 Blockade via Modulation der RAAS-Peptide, insbesondere des vasodilatorischen Peptids Angiotensin- (1-7), zu einer signifikanten Blutdrucksenkung bei Patienten mit einem Metabolischen Syndrom führt. Durch diese Erkenntnisse eröffnen sich neue Ansatzpunkte zur Optimierung von therapieresistenten Hypertonien. Dies ist von grossem Interesse: einerseits, weil die Folgen einer unbehandelten oder ungenügend behandelten Hypertonie für die betroffenen Patienten erheblich sein können, andererseits sind diese Erkenntnisse auch von gesundheitspolitischer Relevanz, da die Inzidenz der arteriellen Hypertonie im Rahmen der globalen Zunahme der Adipositas und des Metabolischen Syndroms ansteigt.

Quelle: «IL (Interleukin-1-Receptor Antagonist Increases Ang (Angiotensin [1–7] and Decreases Blood Pressure in Obese Individuals» Sandrine Andrea Urwyler*, Fahim Ebrahimi*, Thilo Burkard, Philipp Schuetz, Marko Poglitsch, Beat Mueller, Marc Y. Donath, Mirjam Christ-Crain. Hypertension. 2020;75:  1455-1463.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch