Der kürzlich publizierte Monitoringbericht zur Brustkrebsfrüherkennung in der Schweiz zeigt: Die kantonalen Brustkrebs-Screening-Programme entsprechen grösstenteils den nationalen und internationalen Qualitätsstandards. Allerdings sind die Resultate je nach Kanton sehr heterogen. Das Monitoring erlaubt es, mögliche Probleme zu identifizieren – beispielsweise eine hohe Anzahl falsch-positiver Befunde – und in den betroffenen Kantonen entsprechende Massnahmen zu ergreifen.
In der Schweiz verfügen bereits 12 Kantone über ein Programm zur Früherkennung von Brustkrebs. Sie laden alle Frauen über 50 alle zwei Jahre zu einer Mammografie ein. Ziel dieser Screenings ist es, möglichst viele Frauen zu erreichen und Brustkrebs möglichst früh zu entdecken und damit die Erfolgsaussichten der Behandlung und die Überlebenschancen der betroffenen Frauen zu verbessern. Swiss Cancer Screening überprüft die Qualität der laufenden Programme regelmässig und veröffentlicht die Resultate in einem nationalen Monitoringbericht. Dieser liegt nun für die Zeitperiode 2016-2018 vor. Im Folgenden die wichtigsten Erkenntnisse:
Nach einem Rückgang der Teilnahme in den Vorjahren konnten die Programme ihre Teilnahmeraten wieder erhöhen: Nahmen von 2013–2015 42% der eingeladenen Frauen am Screeningprogramm teil, stieg der Wert für die Berichtsperiode auf 46% an.
Erhielten die Frauen zum ersten Mal eine Einladung, liessen 40% von ihnen eine Mammografie machen. 2013–15 waren es erst 32% (Teilnahmerate in der Prävalenzrunde). Von den Frauen, die schon früher teilgenommen hatten, entschieden sich rund 80% für eine erneute Teilnahme (Teilnahmerate Inzidenzrunde).
Bei erstmaliger Teilnahme (Prävalenzrunde) wurden 80 von 1000 Teilnehmerinnen für weitere Abklärungen aufgeboten. In den nachfolgenden Runden (Inzidenzrunde) waren es 32 von 1000 Frauen.
Bei Frauen im Alter von 70–74 Jahren sind bei gut 35 von 1000 Teilnehmerinnen zusätzliche Abklärungen notwendig (Zeitraum 2016–2018)
Nehmen Frauen zum ersten Mal an der Früherkennung teil, wird bei knapp 7 von 1000 untersuchten Frauen Brustkrebs entdeckt (Prävalenzrunde). In den nachfolgenden Untersuchungsrunden nimmt der Anteil der Krebsdiagnosen ab. Dann wird nur noch bei knapp 5 von 1000 Teilnehmerinnen Brustkrebs diagnostiziert (Inzidenzrunde).
Datenqualität stetig verbessern
Die Brustkrebs-Screening-Programme entsprachen im Allgemeinen den nationalen und internationalen Standards. Die Bestrebungen zur Verbesserung der Datenqualität wirkten: Im Vergleich zum Monitoring 2013–2015 nimmt der Anteil der Krebserkrankungen mit unbestimmtem Stadium für 2015–2018 ab. Dies erlaubt präzisere Aussagen zur Wirksamkeit der Früherkennung.
Damit die Sterblichkeitsrate bei Brustkrebs gesenkt werden kann, muss der Brustkrebs in einem frühen Stadium entdeckt werden. Im Zeitraum 2016–2018 konnten etwa 70% der Brustkrebse in einem frühen Stadium entdeckt werden. Rund 25% der gefundenen Krebserkrankungen waren in einem fortgeschrittenen Stadium. Dies unabhängig davon, ob eine Frau das erste Mal oder erneut teilgenommen hatte.
Falsch-positive Befunde minimieren
Auffällig ist die Abklärungsrate in der Prävalenzrunde. Dieser Wert liegt in der Schweiz bei 80 von 1000, sollte aber gemäss den geltenden europäischen Standards bei weniger als 70 von 1000 Teilnehmerinnen liegen. Bei hohen Abklärungsraten steigt auch die Falsch-Positiv-Rate. Bei den meisten zusätzlichen Abklärungen stellt sich dann heraus, dass die Frauen keinen Brustkrebs haben. Die anfängliche Ungewissheit ist für die betroffenen Frauen oft sehr belastend.
Massnahmen zur Qualitätsverbesserung einleiten
Die Abklärungsraten variieren stark zwischen den verschiedenen Programmen. Die betroffenen Programme haben basierend auf den Erfahrungen aus anderen Kantonen bereits entsprechende Korrekturmassnahmen eingeleitet. Sie überprüfen nun wöchentlich die Abklärungsraten der Radiologinnen und Radiologen. Bei einem opportunistischen Screening (also einem Screening ausserhalb eines qualitätsgeprüften Programms) wäre der hohe Anteil an falsch-positiven Fällen nicht identifiziert worden. Das zeigt, dass es Sinn macht, solche Screenings im Rahmen von Programmen zu machen. Nur so können solche Probleme entdeckt und korrigiert werden. Das nächste nationale Monitoring wird den Effekt der Korrekturmassnahmen aufzeigen.
Die Krebsliga Schweiz empfiehlt und unterstützt Mammografie-Screening-Programme, die gemäss den europäischen Qualitätsrichtlinien durchgeführt werden. Gemeinsam mit Swiss Cancer Screening setzt sie sich dafür ein, die Qualität der Brustkrebsscreening-Programme in der Schweiz weiter zu erhöhen. Die Krebsliga begrüsst daher, dass der Monitoringbericht die Stärken und Schwächen der Programme transparent aufzeigt und damit die Qualität der Screenings noch weiter verbessert werden kann.
Der Monitoringbericht in voller Länge ist unter www.swisscancerscreening.ch auf Englisch abrufbar.
Angesichts von immer stärker interdisziplinär ausgerichteten onkologischen Behandlungsmöglichkeiten ist eine semantisch und technisch möglichst einheitliche und effiziente Erfassung von medizinischen, pathologischen und genetischen Daten durch alle Leistungserbringer entlang des Patientenpfades von grösster Wichtigkeit. Erst sie ermöglicht den zielführenden Datenaustausch zwischen den Fachdisziplinen, Spitälern und klinischer Forschung. Auf Initiative der Swiss Cancer Foundation (SCF) wird seit 2019 das Projekt «SmartOncology» vorangetrieben, das genau dies sicherstellen will. Am Inselspital in Bern wird die Applikation derzeit in einem Pilotversuch getestet. Der Direktor der Universitätsklinik für Radio-Onkologie (UKRO), Prof. Dr. med. Daniel Aebersold, erläutert im Gespräch die Details des Projektes.
Interview mit Prof. Dr. med. Daniel Aebersold, Projektleiter, Klinikdirektor UKRO und Vorsteher des University Cancer Center Inselspital UCI
Auf Initiative der Swiss Cancer Foundation entwickeln Sie am Inselspital Bern das digitale Instrumentarium «SmartOncology». Um was geht es bei diesem Projekt?
Daniel Aebersold: Im Klinikalltag wird sehr viel Zeit für die Erfassung und die Auswertung von medizinischen Daten verwendet, wobei jedes Spital und jede Fachabteilung unterschiedliche Systeme und Sprachregelungen verwendet. Es fehlt bisher ein «single-data-entry-point» und ein national akzeptierter und international abgeglichener Thesaurus respektive eine sogenannte Ontologie für die Beschreibung von Krankheitsfällen, pathologischen Befunden und genetischen Analysen. Wir wollen das für die Onkologie ändern.
Dann ist SmartOncology eine Software?
Zunächst ist SmartOncology eine Methodologie. Es geht darum, onkologische Daten möglichst von Beginn an semantisch und technisch interoperabel nutzbar zu machen, und zwar nicht nur auf der Ebene der einzelnen medizinischen Abteilung, sondern auch zwischen Spitälern und Forschungsinstituten. Und zweitens: SmartOncology ist eine Open-source-Technologie, ein Schlüsselelement, das nicht nur die Datenerfassung, sondern auch den Datenaustausch und die Datenarchivierung vereinfacht.
Wie funktioniert das konkret?
Kernelement von SmartOncology ist ein gemeinsam vereinbartes Medical Data Set. Es legt fest, mit welchen Beobachtungsgrössen Krankheitsbild, Therapie und Patientenzustände beschrieben werden. Das Medical Data Set muss in medizinisch standardisierten Begriffen ausgeführt sein, die in Form von medizinischen Thesauri zuhanden des Benutzers hinterlegt sind. Dadurch entsteht von erster Dateneingabe an die medizinische Interoperabilität, die wir dringend im Hinblick auf komplexe Auswertungen benötigen.
Die SmartOncology-Software ist das Unterstützungstool, das den Nutzer durch diesen Vorgang hindurchführt. Der Nutzer sieht in erster Linie ein digitales Formular, das «SmartForm», das die Ressourcen bereitstellt, die Dateneingabe entgegennimmt und im Hintergrund die erforderlichen Verknüpfungen durchführt. Das «SmartForm» kann mit geringem Aufwand an jede Arbeitsplatzsituation angepasst werden. Das ist für eine betriebswirtschaftliche Klinikführung ein wesentlicher Punkt.
Wie müssen wir uns dieses SmartForm vorstellen?
Die Benutzeroberfläche sieht genau gleich aus wie ein herkömmliches PDF oder ähnliche Formate. Bei der Eingabe der Daten aber wird im Hintergrund ein Abgleich mit einem einheitlichen Thesaurus vorgenommen. Die Daten werden in einem international standardisierten Format (HL7/FHIR) gespeichert. Damit werden sie auch für den Datentausch mit Klinikinformationssystemen interoperabel. Dies bedeutet für die Mitarbeitenden, dass auf einfachere Art der Datentausch zwischen allen angeschlossenen onkologischen Kliniken ermöglicht wird.
Was sind denn die wesentlichen Vorteile dieser Lösung?
Ärztinnen und Ärzte sollten im Alltag viel weniger Zeit für die Datenerfassung und -auswertung aufwenden müssen. Heute beträgt der Zeitbedarf für die Datenerfassung und die patientenbezogene Dokumentation oft mehrere Stunden. Zudem können mit SmartOncology Daten viel einfacher für die Forschung genutzt werden. Schliesslich werden auch betriebliche Arbeitsabläufe effizienter, was gleichzeitig die Behandlungsqualität erhöht. All dies dient am Ende dem Patientenwohl.
Welche Rolle spielt die UKRO des Inselspitals bei diesem Projekt?
Die Initiative für die Verbesserung der Kommunikation unter Schweizer Krebszentren hat die SCF ergriffen, die auch die Entwicklung mit Grants ermöglicht hat. Das Inselspital bringt die notwendige technische und medizinische Expertise mit und beteiligt sich an den Projektkosten. Die technische Entwicklung leitet Dr. med. Nikola Cihoric, der als Oberarzt und Informatiker an der UKRO arbeitet. Ich trage die Verantwortung für den wissenschaftlichen Projektlead. Seit Anfang Jahr wird zudem in der UKRO das Pilotprojekt «Head and Neck Cancer» durchgeführt, das nun die Praxistauglichkeit unter Beweis stellen muss.
Können Sie schon erste Ergebnisse bekanntgeben?
Es wurden bereits erste SmartForms für Dokumentation der Behandlung von Kopf-Hals-Tumor-Patienten produziert. In enger Zusammenarbeit mit der IT-Abteilung der Inselgruppe wird nun die Integration in die spitaleigene Software-Umgebung erarbeitet.
Warum wird das Pilotprojekt gerade im Bereich von «Head and Neck Center» durchgeführt?
Es handelt sich um eine wichtige Patientengruppe mit steigenden Fallzahlen. Typischerweise ist eine komplexe und oft auch sehr lange Behandlung notwendig. Es sind nicht nur verschiedene onkologische Disziplinen involviert, sondern auch die Chirurgie, die Zahnmedizin, die Logopädie, Ernährungsberatung und Pflege. Mit SmartOncology können wir sehr viel effizienter die spezifischen Therapie- und Behandlungsbedürfnisse des einzelnen Patienten erfassen und austauschen. Mit dem Pilotprojekt wollen wir auf der Basis eines Pflichtenheftes sowohl medizinische als auch betriebliche Schlüsselfragen beantworten. Das erst schafft die Voraussetzung für eine Implementierung.
Beteiligen sich auch weitere Spitäler an diesem Projekt?
Ja, wir haben bereits die Zusage des Kantonsspital Graubünden in Chur, dass man ebenfalls einen Test durchführen möchte, und wir stehen in Kontakt mit weiteren Universitäts- und Kantonsspitälern in der ganzen Schweiz. Wir sind sehr interessiert daran, dass SmartOncology in unterschiedlichen klinischen Konstellationen evaluiert wird.
Welche Erwartungen verknüpfen Sie persönlich mit dem Projekt?
Wir erleben in der Onkologie eine rasant zunehmende Anzahl von interdisziplinären Behandlungsmöglichkeiten, die aber auch verbunden ist mit einer immer grösser werdenden Komplexität beim Informations- und Wissensaustausch. Die möglichst einfache Erfassung und der Austausch von onkologischen Daten ist daher besonders in einem föderal ausgestalteten Gesundheitssystem wie dem unsrigen extrem wichtig. Wenn es uns gelingt, dies mit SmartOncology gleich zu Beginn des klinischen Patientenpfades zu leisten, sind wir einen grossen Schritt weiter.
Die 2018 in einer aktualisierten Version von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) publizierten S3-Leitlinien zur Diagnostik und Therapie der Essstörungen bieten für die primärärztliche Praxis wichtige Anhaltspunkte zur Früherkennung und Diagnosestellung. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die S3-Leitlinien und legt deren Relevanz für die primärärztliche Praxis dar.
Die Früherkennung und Diagnosestellung von Essstörungen sind von zentraler Bedeutung, da gestörtes Essverhalten bis hin zu diagnostizierbaren Essstörungen in der Allgemeinbevölkerung weit verbreitet und mit psychischen und sozialen Belastungen sowie körperlichen Beeinträchtigungen assoziiert sind. Für die spezialisierte psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung enthalten die Leitlinien den aktuellen empirischen Erkenntnisstand zur Diagnostik sowie zu Behandlungsansätzen und deren Wirksamkeit.
Leitlinienbasierte Diagnostik und Therapie von Essstörungen
Hohe Relevanz von Essstörungen in der Allgemeinbevölkerung
Die primärärztliche Praxis in unterschiedlichen Settings ist mit Fragen hinsichtlich ausgewogener Ernährung, angepasstem Essverhalten und einem gesunden Umgang mit dem Körper konfrontiert. Sowohl das Ernährungs- und Bewegungsverhalten als auch der Umgang mit dem eigenen Körper sind bedeutsame Faktoren hinsichtlich einer Vielzahl körperlicher und psychischer Krankheiten. Ein gesundes Essverhalten und ein positiver Umgang mit dem eigenen Körper stellen in der heutigen Gesellschaft eine zunehmend grosse Herausforderung dar. So findet sich auf der einen Seite ein Überangebot von Nahrungsmitteln bei gleichzeitig bewegungsarmer Alltagsgestaltung, und auf der anderen Seite der Druck, mit einem schlanken, muskulösen und fitten Körper einem Ideal zu entsprechen (1).
Das Vollbild einer Essstörung lässt sich in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung der Schweiz bei 3.5% (Lebenszeitprävalenz) feststellen (2). Bei Adoleszenten ist subklinisch (bis zu 20%) und klinisch gestörtes Essverhalten (bis zu 10%) noch deutlich häufiger vorliegend, wobei nur ein kleiner Teil der Betroffenen adäquat diagnostiziert und behandelt wird (3, 4).
Die Psychopathologie der Essstörungen besteht längst nicht allein darin, dass zu viel oder zu wenig gegessen wird oder das Gewicht zu hoch oder zu niedrig ist. Die Hauptmerkmale umfassen u.a. ein restriktives Essverhalten, Essanfälle mit Kontrollverlust, kompensatorische Verhaltensweisen wie Erbrechen oder exzessive körperliche Aktivität, ein negatives Körperbild, kognitive Dysfunktionen und Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation (5, 6).
Die drei häufigsten Formen von Essstörungen sind die Anorexia Nervosa (AN; ausgeprägte Restriktion der Nahrungszufuhr, verzerrte Wahrnehmung des Gewichts), die Bulimia Nervosa (BN; Essanfälle mit Kompensationsverhalten, starker Einfluss der Figur auf die Selbstbewertung) und die Binge-Eating-Störung (BES; Essanfälle ohne Kompensationsverhalten oft assoziiert mit Übergewicht). Des Weiteren werden im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-5; 7) sowie in den S3-Leitlinien der AWMF (8) die Essstörungen Pica (Essen von nicht-essbaren Substanzen), Ruminationsstörung (Heraufwürgen von Nahrung gefolgt von erneutem Kauen/Herunterschlucken/Ausspucken) und Störung mit Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme (Desinteresse am Essen, Vermeidung von Nahrung aufgrund sensorischer Merkmale oder antizipierter negativer Folgen) aufgeführt. In der Kategorie der «anderen näher bezeichneten Essstörungen» des DSM-5 sowie in den Leitlinien sind zudem die Purging-Störung (wiederkehrendes Erbrechen; Missbrauch von Laxantien; Diuretika um Gewicht/Figur zu beeinflussen ohne Essanfälle) und das Night-Eating-Syndrom (Kontrollverlust bei Nahrungsaufnahme bei Erwachen in der Nacht oder essen grosser Nahrungsmengen nach Abendessen) beschrieben (7-9).
Was sind S3-Leitlinien?
Die S3-Leitlinien zur Diagnostik und Therapie der Essstörungen sind online frei verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-026.html
Leitlinien im deutschen Sprachraum werden entwickelt und publiziert von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). «S3» bedeutet, dass es sich um evidenzbasierte Leitlinien handelt (Daten aus randomisiert-kontrollierten Studien). Leitlinien bilden anhand von systematisch entwickelten Aussagen den gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand sowie praxis-
orientierte Handlungsempfehlungen zur Diagnostik und Therapie eines Störungsbildes ab. Abhängig von der empirischen Datenbasis variiert der Grad der Evidenzbasierung einer Aussage (von Expertenmeinungen bis hin zu Daten aus randomisiert-kontrollierten Studien). Zu jedem Unterkapitel in den Leitlinien werden Empfehlung abgegeben; je nach Evidenzgrad handelt es sich dabei um «Soll»-, «Sollte»-, «Kann-Empfehlungen» oder einen «Klinischen Konsenspunkt» (KKP). Leitlinien bieten eine Unterstützung hinsichtlich des Vorgehens in allen Phasen der Behandlung (Diagnostik, Prävention, Therapie, Nachsorge). Leitlinien dienen den folgenden Zielen: 1) Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis, 2) Verbesserung der Versorgungsergebnisse, 3) gesteigerte Therapiesicherheit und erhöhte Wirtschaftlichkeit bei reduziertem Risiko inadäquater Praxis (8, 10).
Diagnostikempfehlungen der S3-Leitlinien
Die differenzierte Beschreibung und valide/reliable Diagnosestellung bildet die Grundlage einer adäquaten Behandlung. Gerade im Bereich der Essstörungen sind die Früherkennung und Frühintervention entscheidend und können massgeblich zum Behandlungserfolg beitragen (11, 12). Das DSM-5 (7) mit seiner in Vergleich zur Vorgängerversion (DSM-IV-TR) deutlich differenzierteren Klassifikation der Essstörungen (und mit Einbezug subklinischer Formen) begünstigt die Früherkennung von Essstörungen (13); dem wird in der aktualisierten Version der S3-Leitlinien Rechnung getragen.
Hinsichtlich der Diagnostik sollte zwischen einem Screening im primärärztlichen Setting und einer spezifischen Diagnostik in der Spezialversorgung unterschieden werden. Tabelle 1 fasst die Empfehlungen der S3-Leitlinien hinsichtlich des Screenings in der Primärversorgung zusammen.
Als klinischer Konsens wird in den S3-Leitlinien festgehalten, dass im primärärztlichen Setting bei Vorsorgeuntersuchungen (speziell im Jugendalter zwischen 12-14 Jahren) das Essverhalten und der Gewichtsverlauf erfragt werden sollten. Bei Verdacht auf das Vorliegen einer Essstörung sollte eine systematische Diagnostik anhand der aktuellen Diagnosekriterien durchgeführt werden, vorzugsweise anhand von validierten diagnostischen Interviews. Eine Mitbeurteilung durch eine Fachperson (ärztliche*r oder psychologische*r Psychotherapeut*in) wird von den Leitlinien empfohlen. Es ist sinnvoll, wenn im primärärztlichen Setting die körperliche Diagnostik bereits gemacht wird und die Ergebnisse bei der Überweisung an den spezialisierten psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandler übermittelt werden (u.a. EKG, Blutbild, vgl. Tab. 1).
Strukturierte Diagnostische Interviews
Im deutschen Sprachraum etablierte und in ihrer Validität/ Reliabilität bestätigte strukturierte diagnostische Interviews sind frei verfügbar.
Beispielsweise:
«Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen» (14):
https://omp.ub.rub.de/index.php/RUB/catalog/ book/100
«Eating Disorder Examination» (Interview und Fragebogen) (15, 16): https://www.dgvt-
verlag.de/
Behandlungsempfehlungen der S3-Leitlinien
Die 2018 in einer überarbeiteten Version erschienenen S3-Leitlinien beinhalten Informationen zur Behandlung der weiter oben genannten Störungsbilder sowie subklinischer Essstörungen. Thematisiert werden des Weiteren spezifische Risikogruppen (z.B. Leistungssportler*innen, Tänzer*innen), sowie Essstörungen bei Männern. Die Leitlinien schlagen ein stufenweises Vorgehen («stepped care») vor, welches in erster Linie eine ambulante Behandlung oder wenn möglich und indiziert ein angeleitetes Selbsthilfeprogramm vorsieht. Hierzu liegen für die BN und BES gute erste Wirksamkeitsbelege vor (17).
Die erste Wahl zur Behandlung der AN ist die spezifische Psychotherapie, jedoch besteht hierfür aktuell bestenfalls eine moderate Evidenz in Bezug auf deren Wirksamkeit. Dazu gehört u.a. die erweiterte kognitiv-behaviorale Therapie (CBT-E) und die Fokale psychodynamische Therapie (FPT) sowie familienbasierte Ansätze bei Kindern und Jugendlichen. Es existieren mehrere evidenzbasierte Psychotherapieansätze, wobei sich in Studien keine als den anderen überlegen erwies (18). Nach Abschluss der Behandlung sollen zur Aufrechterhaltung des Behandlungsergebnisses über mindestens ein Jahr Auffrischungstermine angeboten werden. Pharmakotherapiestudien waren bisher in ihrer methodischen Qualität nicht ausreichend; aufgrund fehlender Evidenz sollten daher weder Antipsychotika noch Antidepressiva zur Gewichtszunahme eingesetzt werden. Eine stationäre Behandlung der AN ist u.a. erforderlich bei einem raschen und deutlichen Gewichtsverlust (>20%) im Zeitraum von 6 Monaten, bei deutlichem Untergewicht (BMI<15kg/m2 oder unterhalb der 3. Altersperzentile im Kindes- und Jugendalter), bei weiterem Gewichtsverlust oder unzureichender Gewichtszunahme im Verlauf einer ambulanten oder teilstationären Behandlung, bei ausgeprägter psychischer Komorbidität und bei körperlicher Gefährdung oder Komplikationen (8).
Auch bei der BN ist die Psychotherapie, hier spezifisch die Kognitive-Verhaltenstherapie (KVT), die Behandlung der Wahl, wofür eine breite Evidenzabsicherung besteht. Eine psychopharmakologische Behandlung mit Fluoxetin kann als Ergänzung zur Psychotherapie erfolgen (sollte jedoch nicht alleinstehen). Grundsätzlich sollte die BN ambulant behandelt werden; bei unzureichender Wirksamkeit der ambulanten Therapie, bei schweren therapiehinderlichen sozialen Umständen und bei erheblicher psychischer oder physischer Komorbidität sollte eine teil- oder vollstationäre Behandlung erfolgen (8).
Bei der Behandlung der BES ist der Effekt der Psychotherapie ausgeprägt; auch hier liegen für die KVT die umfassendsten Wirksamkeitsbelege vor. Zur Behandlung der BES wirksam ist auch die auf KVT basierende manualisierte, strukturierte und angeleitete Selbsthilfe, weshalb diese als ersten Behandlungsschritt bei der BES explizit empfohlen wird. Psychopharmakologische Behandlungen sind für die BES nicht zugelassen. Eine stationäre Behandlung der BES kann unter bestimmten Umständen (z.B. ausgeprägte somatische Komorbidität) erwogen werden, jedoch liegt bisher nur eine begrenzte Evidenz für die Wirksamkeit vor (8).
Zur Behandlung der weiteren genannten Störungsbilder und subklinischen Formen von Essstörungen besteht noch keine ausreichende Datenlage, um evidenzbasierte Aussagen machen zu können. Die Empfehlungen der Leitlinien diesbezüglich stützen sich mehrheitlich auf einzelne Studien und KKPs. Als zentrale Elemente werden sorgfältige diagnostische Abklärungen sowie medizinische und psychologische differenzialdiagnostische Untersuchungen empfohlen, wie z.B. Mangelerscheinungen bei Pica, Diabetes beim Night-Eating-Syndrom, ebenso ist auf Komorbiditäten zu achten, wie z.B. Angststörungen, Depressionen und Schlafstörungen. Bei subklinischen Formen der AN, BN und BES wird eine Behandlung analog zum Vollbild empfohlen, zudem wird die Anwendung von internet-basierten KVT-Programmen (angeleitete Selbsthilfe) nahegelegt, welche zur Symptomreduktion und Vorbeugung eines Vollbildes der jeweiligen Störung gute Wirksamkeitsbelege zeigen (8).
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Dr. phil. Andrea Wyssen
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psycho-
therapie Universität Bern
Bolligenstrasse 111
3000 Bern 60
andrea.wyssen@upd.unibe.ch
med. pract. Robin Halioua
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Lenggstrasse 31
8032 Zürich
robin.halioua@pukzh.ch
Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.
◆ Essstörungen sind im primärärztlichen Setting von hoher Relevanz; Probleme und Belastungen im Zusammenhang mit Essen, Gewicht und Körperbild sollten angesprochen/ erfragt werden.
◆ Von hoher Wichtigkeit ist die Früherkennung und Frühintervention bei Essstörungen, was durch die differenziertere Beschreibung der Störungsbilder im DSM-5 und die entsprechenden Behandlungsempfehlungen in den S3-Leitlinien unterstützt wird. Eine differenzierte psychologische und medizinische Diagnostik ist unerlässlich.
◆ Die beste Evidenz besteht zur Behandlung von Essstörungen für die Psychotherapie. Bei der AN besteht weiterhin lediglich eine moderate Wirksamkeit der Behandlungsansätze. Neuere Entwicklungen wie der Einsatz von internetbasierten Programmen sind vor allem für subklinische Formen der Essstörungen sowie im Rahmen eines Stepped-CareAnsatzes bei der BN und BES nicht nur vielversprechend, sondern weisen bereits gute Wirksamkeitsbelege auf, weshalb sie von den Leitlinien empfohlen werden.
1. Swami V, Frederick DA, Aavik T, Alcalay L, Allik J, Anderson D, et al. The attractive female body weight and female body dissatisfaction in 26 countries across 10 world regions: Results of the International Body Project I. Personality and social psychology bulletin. 2010;36(3):309-25.
2. Mohler-Kuo M, Schnyder U, Dermota P, Wei W, Milos G. The prevalence, correlates, and help-seeking of eating disorders in Switzerland. Psychological medicine. 2016;46(13):2749-58.
3. Hammerle F, Huss M, Ernst V, Bürger A. Thinking dimensional: prevalence of DSM-5 early adolescent full syndrome, partial and subthreshold eating disorders in a cross-sectional survey in German schools. BMJ open. 2016;6(5).
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16. Hilbert A, Tuschen-Caffier B. Eating Disorder Examination-Questionnaire. Deutschsprachige Übersetzung. Tübingen: dgvt-Verlag; 2016.
17. Aardoom JJ, Dingemans AE, Spinhoven P, Van Furth EF. Treating eating disorders over the internet: a systematic review and future research directions. Int J Eat Disord. 2013;46(6):539-52.
18. Zeeck A, Herpertz-Dahlmann B, Friederich HC, Brockmeyer T, Resmark G, Hagenah U, et al. Psychotherapeutic Treatment for Anorexia Nervosa: A Systematic Review and Network Meta-Analysis. Frontiers in psychiatry. 2018;9:158.
Essstörungen gehören in den westlichen Industrieländern zu den häufigsten psychosomatischen bzw. psychischen Erkrankungen bei weiblichen Jugendlichen und jungen Frauen. Sie stellen eine grosse Belastung für die Betroffenen und deren Umfeld, aber auch für das Versorgungssystem dar. Die klassischen Essstörungen sind die Magersucht (Anorexia nervosa) und die Ess-Brecht-Sucht (Bulimia nervosa). In den letzten Jahren wird vermehrt über drei neue Erkrankungen berichtet: die Binge-Eating-Störung, das Nachtesser-Syndrom und die Orthorexia nervosa, die im Fokus dieses Artikels steht.
Der Begriff Orthorexia nervosa bedeutet eine krankhafte Fixierung auf gesundes Essen sowie eine obsessive Beschäftigung mit gesunden Lebensmitteln. Es ist derzeit unklar, ob dieses Essverhalten als pathologisches Störungsbild anerkannt werden soll.
Ziel dieses Artikels ist die Darstellung des derzeitig lückenhaften Kenntnisstands über die Orthorexie sowie die Ableitung bedeutender Implikationen für die medizinische und psychotherapeutische Praxis.
Theoretischer Hintergrund und Prävalenz
Essstörungen sind ernstzunehmende Erkrankungen, die mit schwerwiegenden somatischen, psychischen und sozialen Konsequenzen einhergehen. In der Schweiz liegt die Lebenszeitprävalenz für das Entwickeln einer Essstörung bei ca. 3.5% (1). Die bekanntesten Essstörungen sind die Magersucht (Anorexia nervosa) und die Ess-Brecht-Sucht (Bulimia nervosa). In den letzten Jahren sind bei Therapeuten, Ärzten und Wissenschaftlern drei weitere Erkrankungen aufgefallen, die bisher wenig Aufmerksamkeit in Forschung und Praxis erhielten. Diese drei eher unbekannten Essstörungen sind die sogenannte Binge-Eating-Störung (neu als eigenständige Diagnose im DSM 5 vorhanden), das Nachtesser-Syndrom (im DSM 5 unter «anderen und näher bezeichneten Futter- und Essstörungen» aufgenommen) und die Orthorexia nervosa (im Bereich der vermeidend-restriktiven Essstörungen einzuordnen).
Epidemiologische Studien zeigen, dass es sich bei der Orthorexie um ein kulturübergreifendes, weit verbreitetes Phänomen handelt. Da die Abgrenzung von einer unproblematischen zu einer zwanghaften Beschäftigung mit gesunden Lebensmitteln noch unklar ist, liegen keine verlässlichen Daten vor. In der deutschen Bevölkerung wird die Prävalenz auf 1 bis 7% geschätzt (2). Eine Untersuchung im Auftrag des BAG aus dem Jahr 2012 fand sogar deutlich höhere Prävalenzraten von ca. 30%, wobei Vergleichsstudien derzeit fehlen, um verlässliche Aussagen über die Häufigkeit der Orthorexia nervosa in der Schweiz zu treffen (1).
Im Vergleich zu den bekannten Essstörungen zeigen epidemiologische Untersuchungen eine geschlechterunabhängige Verteilung der Orthorexie. Uneindeutig ist die Befundlage hinsichtlich Altersverteilung, Bildungsgrad und sozioökonomischer Status. Auch Studien über den Zusammenhang zwischen Körpergewicht und orthorektischem Ernährungsverhalten liefern inkonsistente Befunde
(3). Es finden sich Hinweise, dass sowohl Unter- als auch Übergewicht mit einem erhöhten Risiko orthorektischen Essverhaltens korreliert. Bedeutendere Korrelate orthorektischen Verhaltens liegen auf der psychologischen Ebene. Studien zeigten mehrfach, dass psychologische Faktoren wie Perfektionismus, Gesundheitsorientierung, Sportverhalten und Schönheitsideal bedeutende Korrelate der Orthorexia nervosa sind (2). Zukünftige Forschung sollte die Frage nach biologischen Korrelaten vertiefen. Es ist zu vermuten, dass Betroffene Auffälligkeiten im serotonergen und dopaminergen System zeigen, sowie in der Emotions- und Stressregulationsfähigkeit. Vertieftes Wissen über diese Faktoren ist insbesondere für die Entwicklung adäquater psychotherapeutischer Behandlungsoptionen erforderlich.
Erklärungsversuche und Ursachen
Die Orthorexie wird als neuartiges Phänomen betrachtet. Demnach ist derzeit wenig über Häufigkeit, Ursache und Behandlungsmöglichkeiten bekannt. Menschen, die von einer Orthorexia nervosa betroffen sind, setzen sich sehr stark mit Ernährung auseinander, sie empfinden es regelrecht als Zwang, sich ausschliesslich gesund zu ernähren. Häufig befürchten sie, bei der Aufnahme «ungesunder» Lebensmittel eine schwere Krankheit zu bekommen und haben eine in der Regel sehr geringe Anzahl an Nahrungsmitteln, die als gut und gesund, bzw. als ungefährlich klassifiziert werden und konsumiert werden dürfen (3). Häufig beginnt diese Problematik mit dem Wunsch, das körperliche Wohlbefinden zu steigern oder den eigenen Gesundheitszustand zu verbessern, bzw. die Symptome einer chronischen Krankheit zu bekämpfen (4). Aber auch aktuelle Informationen über Tierhaltung oder Berichte über Skandale der Lebensmittelindustrie nennen Betroffene als mögliche Auslöser für das veränderte Essverhalten. Dies bedeutet, dass der Beginn dieser Obsession in der Regel kurzfristig zu positiven, gesellschaftlich erwünschten Konsequenzen führt.
Mittel- und langfristig führt die zwanghafte Fixierung auf gesunde Nahrungsmittel hingegen oft dazu, dass Betroffene ihren Tagesablauf auf den Kauf und die Zubereitung von Nahrungsmittel abstimmen, sowie sich unfähig fühlen, von den zwanghaften Gewohnheiten abzusehen und beispielsweise im Restaurant oder bei einer Einladung Nahrungsmittel zu konsumieren, die sie als ungesund bezeichnen (3). Mangelernährung, Zwangsgedanken, soziale Isolation und Untergewicht sind häufig die langfristigen Konsequenzen dieser Essproblematik. Die gedankliche Beschäftigung mit gesundem Essen dominiert den Alltag. Die somatischen Auswirkungen der Orthorexie sind in der Regel weniger bedrohlich als bei der Anorexie (4), was wiederum die Identifikation und Behandlung Betroffener unwahrscheinlicher macht. Die Diagnostik der Orthorexie ist zusätzlich erschwert, da die Symptome auf qualitative Weise und nicht wie bei der Anorexie oder Bulimie auf quantitative Weise ausgedrückt werden, wie z.B. mit Hilfe des Bratman- Tests für Orthorexie, der sich aus 10 Ja-Nein-Fragen zusammensetzt (1).
Es besteht derzeit noch Unklarheit, wie diese Problematik differentialdiagnostisch einzuordnen ist. Neben der Ähnlichkeit zu den bekannten Essstörungen finden sich deutliche Gemeinsamkeiten zu Zwangsstörungen und Verhaltenssüchten (2). Durch die Überlappung einer gesellschaftlich erwünschten Lebensführung, die eine gesunde, bewusste Ernährung empfiehlt und fördert, gibt es auch Stimmen, die dieses Syndrom in erster Linie als gesellschaftliches Phänomen einordnen. Die Abgrenzung zwischen erwünschten Gesundheitsverhalten und der andauernden, obsessiven Fixierung auf gesunde Nahrungsmittel, sowie des ausschliesslichen Konsums von Nahrung, die als gesund eingestuft wird, ist nicht eindeutig zu ziehen (3). Das Kriterium der klinischen Relevanz ist bedeutend, um einerseits betroffene Personen zu identifizieren und andererseits adäquate Unterstützungsangebote zu entwickeln. Strahler und Kollegen (2019) nennen folgende Aspekte, die eine Differenzierung zwischen Lebensstil und orthorektischen Ernährungsverhalten ermöglichen, wie beispielsweise Mangel- und Fehlernährung aufgrund des restriktiven Essverhaltens, Angst vor «schädlichen» Lebensmitteln und übertriebene Gesundheitsängste, Depression, Erschöpfung, soziale Isolation, ständiges Gedankenkreisen um zukünftige Mahlzeiten, sowie eine generelle Reduktion der Lebensqualität. Diese Faktoren legen nahe, die Orthorexie als Störung einzuordnen, auch wenn ein Teil der Betroffenen angibt, von diesen negativen Konsequenzen kaum oder nicht betroffen zu sein (2).
Kritiker des Störungskonzepts der Orthorexie beziehen sich auf die Omnipräsenz der Themen Fitness, gesunde Ernährung, sowie das omnipräsente gesunde, fitte, schlanke Schönheitsideal in den Medien. Sie sehen die Fixierung auf gesunde Lebensmittel als ein aktuelles, gesellschaftliches Phänomen in einer Zeit, in der Optimierung und Perfektionismus gefördert und erwünscht zu sein scheint. Die Forschung der letzten Jahre fand uneindeutige Zusammenhänge mit anderen restriktiven Ernährungsstilen, vor allem hinsichtlich gezügeltem Essverhalten als potentieller Mediator. Schwierig ist die Interpretation dieser Zusammenhänge insbesondere dann, wenn medizinische und gesellschaftliche Faktoren dieses Essverhalten verstärken. Bezüglich Sportverhalten zeigt die bestehende Forschung Zusammenhänge zu Sportsucht. Der Zusammenhang zwischen exzessiven Sport- und orthorektischen Ernährungsverhalten wird vermutlich durch ein internalisiertes soziokulturelles Schönheits- bzw. Schlankheitsideal erklärt. Diese Befunde lassen vermuten, dass Orthorexie als eigenständiges Störungsbild nicht ausreichend erklärt werden kann (2).
Da diese Erkrankung noch recht unerforscht ist, gibt es wenig Kenntnis über Ursachen. Betroffene Personen berichten, dass sich die später zwanghafte Beschäftigung mit gesunder Ernährung langsam aus dem Wunsch, einen gesunden Lebensstil zu führen und auf die Ernährung zu achten, entwickelte. Des Weiteren litten einige vor Entstehung der Erkrankung an einer Unverträglichkeit oder einer somatischen Krankheit, die eine Ernährungsumstellung erforderte. Auch gesellschaftliche Normen scheinen eine hohe Bedeutung zu haben. Insbesondere in der westlichen Gesellschaft wird Selbstdisziplin und gesunde Ernährung anerkannt und als erstrebenswert angesehen (3).
Erste Beobachtungen zur Therapie dieser Problematik zeigen, dass eine multidisziplinäre Therapie mit Psychotherapie, Ernährungsberatung und medizinischer Behandlung hilfreich ist. So können problematische Bewertungen von Nahrungsmitteln und zwanghafte Rituale, Gewichtszunahme und eine Normalisierung des Essverhaltens gefördert werden (3).
Implikationen für die Praxis
Zusammenfassend zeigt die bestehende Literatur, dass der Kenntnisstand derzeit unbefriedigend ist. Sowohl die Frage nach der klinischen Bedeutung als auch die Forderung einer eindeutigen differentialdiagnostischen Abgrenzung, die für die medizinische und psychotherapeutische Praxis von höchster Relevanz ist, sind derzeit unzureichend geklärt. Dieses Wissensdefizit manifestiert sich in der Schwierigkeit, Betroffene einerseits verlässlich zu identifizieren, andererseits eine passende Behandlung zu ermöglichen. Aufgrund der hohen Prävalenzraten ist davon auszugehen, dass viele Betroffene zwar Patienten in Hausarztpraxen sind, das Leiden und das Störungspotential aber häufig unerkannt bleibt. Auch in der psychotherapeutischen Praxis werden in erster Linie Merkmale wie BMI oder problematisches Gesundheitsverhalten (z.B. körperliche Passivität, ungesunde Ernährung, Substanzkonsum) erfasst, die potentielle Obsession gegenüber gesunden Verhaltensweisen findet häufig wenig Beachtung. Es ist demzufolge zu empfehlen, insbesondere bei Patienten, die angeben, auf eine gesunde Ernährung zu achten, genauer nachzufragen, um zu erkennen, ob es sich hier um eine zwanghafte Fixierung mit den beschriebenen negativen Konsequenzen auf Lebenszufriedenheit, soziale Kontakte und gegebenenfalls körperliche Gesundheit handelt.
In der Beziehungsgestaltung und Gesprächsführung mit Betroffenen ist insbesondere auf die Schambesetztheit der Themen Körperbild, Schönheitsideal, Perfektionismus und Gesundheitsangst zu achten. Die Nähe zu Zwangsstörungen, Verhaltenssüchten und den bekannten Essstörungen lassen vermuten, dass die Behandlung von Betroffenen, die einen Leidensdruck aufgrund der Orthorexie empfinden, sich an den therapeutischen Interventionen bei Zwangs- und Essstörungen orientieren soll. Psychotherapeutische Interventionen, die bei Orthorexiepatienten indiziert sind, sind aus der Kognitiven Verhaltenstherapie bekannt. Betroffene können von kognitiver Umstrukturierung dysfunktionaler Grundüberzeugungen, perfektionistischer Selbstansprüche, irrationaler Gesundheitsängste und der Bearbeitung dysfunktionaler Katastrophengedanken profitieren. Des Weiteren kann die Förderung der Emotionsregulation, sowie der Entspannungsfähigkeit und das Erlernen eines ausgeglichenen, nicht restriktiven Ernährungsverhaltens, sowie achtsamkeitsbasierte Kompetenzen wie Selbstmitgefühl hilfreiche Kompetenzen für Patienten darstellen. Insbesondere die Förderung der Genussfähigkeit und Ressourcenaktivierung hinsichtlich positiver Aktivitäten und Freizeitbeschäftigungen, die sich nicht mit dem Thema Ernährung, Sport und Gesundheitsverhalten beschäftigen, sind empfehlenswert. Hinsichtlich medikamentöser Unterstützung finden sich aufgrund der hohen Bedeutung einer gesunden Lebensführung gehäuft Widerstände bezüglich potentieller Gesundheitsrisiken durch Psychopharmaka.
Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG
Dr. phil. Dipl. Psych. Melanie Braun
Fachpsychologin für Psychotherapie
Klaus-Grawe-Institut für Psychologische Therapie
Grossmünsterplatz 1
8001 Zürich
https://www.klaus-grawe-institut.ch/ueber-uns/
klinischesteam/dr-phil-dipl-psych-melanie-braun/
mbraun@ifpt.ch
Die Autorin hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
◆ Die bestehende Forschung zeigt eindeutig, dass Orthorexia nervosa ein Phänomen darstellt, das bei Betroffenen zu einem hohen Leidensdruck führen kann.
◆ Es ist zukünftig eine wichtige Aufgabe des Gesundheitssystems, Betroffene zu identifizieren und adäquat zu behandeln.
◆ Die Annahme, dass die Orthorexie einen Lebensstil und daher ein gesellschaftliches Phänomen ohne Krankheitswert darstellt, wird der Belastung und den diversen negativen Auswirkungen dieses Syndroms nicht gerecht.
◆ So ist es ratsam, bei der Hausarztversorgung darauf zu achten, wenn Patienten über die Wichtigkeit einer gesunden, restriktiven Ernährung sprechen und gegebenenfalls Mangelerscheinungen, depressive Symptome, Einsamkeitsgefühle oder Erschöpfung präsentieren.
◆ Bei der alleinigen Betrachtung von somatischen Parametern wie Körpergewicht oder BMI kann eine Orthorexie nicht verlässlich erkannt und demzufolge keine passende Behandlung initiiert werden.
◆ Es ist dringend erforderlich, dass im Versorgungssystem in Hausarztpraxen, bei Internisten, Psychotherapeuten oder Fachkräften aus verwandten Bereichen eine Sensibilität für betroffene Patienten entwickelt wird.
◆ Aufgrund der Nähe zu den bekannten Essstörungen und den zwangsähnlichen Symptomen ist eine psychotherapeutische Unterstützung ratsam.
◆ Des Weiteren ist eine zukünftige intensive Erforschung der Problematik bedeutend, um einerseits ein besseres Verständnis der Orthorexie zu entwickeln, andererseits die Versorgung und Behandlung zu optimieren.
1. Schnyder, U., Milos, G., Mohler-Kuo, M., & Dermota, P. (2012). Prävalenz von Essstörungen in der Schweiz. Im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit. Verfügbar unter: file:///C:/Users/lenovo/Desktop/ON/Pr%C3%A4valenz%20von%20Essst%C3%B6rungen%20in%20der%20Schweiz.pdf/
2. Strahler, J. & Stark, R. (2019). Orthorexia nervosa: Verhaltensauffälligkeit oder neue Störungskategorie? Suchttherapie, 20, 1, 24-34. DOI: 10.1055/a-0707-7722
3. Braun, M. (2016). Orthorexia nervosa: Die unbekannte Essstörung. Verfügbar unter: https://www.klaus-grawe-institut.ch/blog/1226/
4. Kinzl., J. F., Kiefer, I., & Kunze, M. (2004). Besessen vom Essen. Leoben: Kneipp-Verlag.
Tiefe Beinvenenthrombosen zählen zu den häufigsten kardiovaskulären Erkrankungen. Das Ziel der Behandlung einer tiefen Beinvenenthrombose ist das Vermeiden einer Lungenembolie und/oder einer Thrombusprogression. Im besten Fall soll die Auflösung des Thrombus und die Verhinderung eines postthrombotischen Syndroms erreicht werden.
Die optimale Dauer der Antikoagulation ist weiterhin eine der schwierigsten Entscheidungen beim Management der tiefen Beinvenenthrombose (TVT) / venösen Thrombembolie (VTE). Die Antikoagulation ist hocheffektiv zur Verhinderung von Rezidiven einer VTE, aber dieser Schutz geht verloren, sobald die Antikoagulation beendet wird. Die Entscheidung, ob und welche Patienten* für eine unbefristete Antikoagulation in Frage kommen, erfordert die Abschätzung des mutmasslichen Rezidivrisikos, welche auch heute noch unsicher ist und die therapeutische Entscheidung sehr schwierig macht. Die Behandlung der TVT richtet sich nach der Aetiologie, der Lokalisation und der Ausdehnung der Thrombose sowie den Begleiterkrankungen des Betroffenen. Wir unterscheiden gemäss Guidelines die initiale Antikoagulation, die Erhaltungstherapie und die verlängerte Erhaltungstherapie.
Initiale Antikoagulation und Erhaltungstherapie
Bereits bei hoher klinischer Wahrscheinlichkeit (Wells-Score ≥ 2) für das Vorliegen einer VTE (venösen Thrombembolie) sollte mit einer blutverdünnenden Therapie begonnen werden. Gleichzeitig soll die Diagnostik (Kompressionsultraschall / farbkodierte Duplexsonographie und evtl. CT-Angio bei Beckenvenenthrombosen) komplettiert werden. Die in der Schweiz zugelassenen Substanzen für die Antikoagulation sind die direkten oralen Antikoagulantien (Rivaroxaban, Apixaban, Dabigatran und Edoxaban), niedrigmolekulares Heparin (NMH), Fondaparinux, Heparin sowie Vitamin K Antagonisten (VKA).
Direkte orale Antikoagulantien (DOAKs)
Gemäss den CHEST Guidelines ist primär bei nicht tumorassoziierter, proximaler Beinvenenthrombose der Einsatz von DOAKs vor dem Einsatz von Vitamin-K-Antagonisten empfohlen (1). Vor Dabigatran und Edoxaban ist eine initiale parenterale Antikoagulation indiziert. Bei Rivaroxaban und Apixaban kann direkt mit der peroralen Therapie begonnen werden.
Niedermolekulares Heparin (NMH) und Fondaparinux
Die Gabe von NMH war bis vor der Etablierung der DOAKs Standard für die Initialtherapie bei VTE, zusammen mit den VKA. Sie können nach wie vor (z.B. bei Schwangerschaft, Nicht-Verfügbarkeit von DOAKs, medikamentösen Interaktionen) zur Behandlung der Thrombose eingesetzt werden.
Unfraktioniertes Heparin (UFH)
UFH wird fast nur noch bei schwerer Niereninsuffizienz eingesetzt, oder wenn NMH, Fondaparinux oder DOAKs kontraindiziert sind, und gelegentlich in der Schwangerschaft, z.B. peripartal.
Vitamin K Antagonisten (VKA)
Wenn kein Tumor vorliegt und keine DOAKs verwendet werden können, sind VKA dem NMH vorzuziehen (1). Initial soll parenteral antikoaguliert werden, parallel mit dem VKA begonnen werden, bis der INR an 2 aufeinanderfolgenden Tagen im Zielbereich (2-3) ist.
Lysetherapie
Eine primäre rekanalisierende Massnahme kann bei ilio-femoraler Thrombose eingesetzt werden, dies insbesondere bei jungen Patienten und niedrigem Blutungsrisiko. Ziel ist die Verringerung von Häufigkeit und Schwere des postthrombotischen Syndroms. Als Behandlungsmöglichkeiten kommen die venöse Thrombektomie, die Kombination von Thromboylse und Thrombektomie sowie die katheter-technische, pharmako-mechanische Thrombektomie infrage (6).
Mobilisation
Patienten mit akuter tiefen Beinvenenthrombose sollen (auch bei «flottierendem Thrombus») nicht immobilisiert werden. Die Aktivierung der Wadenmuskelpumpe durch die Mobilisation fördert den venösen Rückstrom, was gerade bei der Verlegung des Venensystems wichtig ist.
Kompressionstherapie
Das Ziel ist das Auftreten, die Häufigkeit und den Schweregrad eines postthrombotischen Syndroms (PTS) zu reduzieren. Über die Wirksamkeit der Kompressionstherapie liegen widersprüchliche Daten vor. Zwei randomisiert kontrollierte Studien (RCTs) zeigen eine Reduktion der Inzidenz eines PTS um 50% unter konsequenter Kompression (2, 3), was in einer anderen Studie mit zweifelhaft kontrolliertem Studiendesign nicht bestätigt werden konnte (4).
Die Kompressionstherapie sollte früh begonnen werden, initial vor allem bei massivem Beinödem mittels Kompressionsverband, danach mittels rundgestrickten Kompressionsstrümpfen der Kompressionsklasse 2 – wadenhoch bei distaler und schenkelhoch bei proximaler TVT.
Insbesondere bei proximaler TVT (iliaco-femoro-popliteal) ist aufgrund des erhöhten Risikos eines PTS eine Kompressionstherapie empfohlen. Die Dauer soll individuell nach Klinik, Schwellung, Restthrombuslast/Rekanalisation und Ausmass der postthrombotischen Klappensuffizienz angepasst werden. Bei Verdacht auf ein PTS soll die Erfassung vom Schweregrad mittels Villalta Score erfolgen, um den Verlauf zu dokumentieren. Die Kompressionsbehandlung ist bei Patienten mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit im Stadium III und IV nach Fontaine kontraindiziert (Tab. 1).
Verlängerte Erhaltungstherapie
Provozierte tiefe Beinvenenthrombose
Bei der durch einen transienten Risikofaktor (RF) wie Operation, Trauma, Immobilisation getriggerten VTE ist eine therapeutische Antikoagulation für 3 Monate empfohlen. Bei fortbestehendem RF (z.B. aktive Tumorerkrankung, laufende Chemotherapie) ist eine Langzeitantikoagulation unter regelmässiger Abwägung des Blutungsrisikos empfohlen. Nach 3 Monaten kann die therapeutische AK bei (durch einen transienten RF) provozierter tiefer Beinvenenthrombose sistiert werden, wenn sie unkompliziert war. Bei proximaler TVT sollte nach 3 Monaten eine duplexsonografische Kontrolle mit Frage nach postthrombotischen Veränderungen erfolgen, insbesondere zur Beurteilung der Dauer der Kompressionstherapie.
Unprovozierte tiefe Beinvenenthrombose
In 6-10% der Fälle liess sich innerhalb von 6 Monaten nach Erstdiagnose einer idiopathischen tiefen Beinvenenthrombose eine Neoplasie nachweisen (5). Deshalb sollte bei fehlendem Provokationsfaktor ab dem Zeitpunkt der Diagnosestellung eine systemische Grunderkrankung gesucht werden, insbesondere ein okkultes Malignom.
Die Festlegung der optimalen Dauer der Antikoagulation bei unprovozierter VTE ist sehr schwierig. Sobald die Antikoagulation beendet wird, entfällt der Schutz vor einem Rezidiv. Daher wird bei niedrigem Blutungsrisiko nach unprovozierter VTE eine langfristige AK empfohlen. Dem gegenüber steht das Blutungsrisiko, das unter der Antikoagulation bei 1-3% pro Jahr liegt (Majorblutungen). Daher sollte unter Erhaltungstherapie 1-2x pro Jahr eine Re-Evaluation mit Nutzen- Risiko-Abwägung erfolgen. Prinzipiell wird empfohlen, während 3 Monaten zu antikoagulieren und danach eine Neubeurteilung vorzunehmen (6).
Verlaufskontrolle
Vor Absetzen der Antikoagulation sollte, wenn immer möglich, eine duplexsonografische Verlaufskontrolle mit Frage nach Restthrombuslast / Grad der Rekanalisation resp. postthrombotischer Venenklappeninsuffizienz durchgeführt werden. Bei einer Restthrombuslast von > 40% (6) in der Verlaufskontrolle oder hohem Risikoprofil für ein Rezidiv (männliches Geschlecht, Alter, Adipositas, bei Frauen: erhöhte D-Dimere) ist die Fortführung der AK entsprechend dem Blutungsrisiko empfohlen (Tab. 2).
Etwas differenzierter wird unterteilt in ein hohes, intermediäres und niedriges Rezidivrisiko bei der VTE, je nachdem, ob ein Provokationsfaktor vorliegt und/oder welcher Art die Risikofaktoren für ein Rezidiv sind. Bei transientem Provokationsfaktor geht man von einem niedrigen Rezidivrisiko aus, weshalb die AK nach 3 Monaten sistiert werden kann. Zur intermediären Risikogruppe gehören Patienten mit unprovozierter VTE und nicht klar eruierbaren Risikofaktoren (vgl. Tabelle unten) (12).
Auch kommen geschlechtsspezifische Unterschiede zum Zug: Die Inzidenz für eine Rezidiv-VTE 2,5 und 10 Jahre nach Beendigung einer mindestens dreimonatigen AK nach unprovozierter VTE ist bei Männern mit 41.2% deutlich höher als bei Frauen mit 28.8% (9).
Ein hohes Rezidivrisiko nach unprovozierter VTE liegt bei persistierendem Risikofaktor vor. Hier ist eine AK unbefristeter Dauer (bis zum Auftreten von Kontraindikationen) empfohlen (vgl. Tabelle unten). Beim Antiphospholipid-Antikörper-Syndrom werden VKA als Antikoagulans empfohlen (Tab. 3).
Spezielle Situationen
Oberflächliche Venenthrombose
Eine oberflächliche Venenthrombose einer Stammvene (V. saphena magna / parva (VSM / VSP), vormals Thrombophlebitis und Varikophlebitis) kann aufgrund einer Varikose entstehen oder idiopathisch, traumatisch, septisch, iatrogen oder paraneoplastisch bedingt sein.
Bei Thrombosen in kleinkalibrigen Astvarizen mit kurzer Ausdehnung kann eine Lokaltherapie mit Kühlung, Kompression, NSAR oder eine Stichinzision empfohlen werden. Wichtig ist die fortgeführte Mobilisation zur Thromboseprophylaxe.
Bei einer Thrombose der Stammvene der VSM/VSP besteht gemäss POST Studie (10) in 30% der Fälle zusätzlich eine TVT und in bis zu 4% der Fälle eine LE, weshalb der Ausschluss einer TVT empfohlen wird, insbesondere bei Thrombosen im Bereich vom Knie und oberhalb vom Knie (11).
Um ein appositionelles Wachstum in das tiefe Venensystem zu verhindern, wird ab einer Thrombuslänge von > 5 cm der Stammvene oder von grösseren Seitenästen eine Therapie in prophylaktischer AK für 6 Wochen empfohlen (13).
Bei einem Abstand von ≤ 3 cm zum tiefen Venensystem oder bei Fortschreiten in das tiefe Venensystem ist eine therapeutische AK empfohlen wie bei einer TVT.
Bei einer infolge einer Varize bedingten oberflächlichen Thrombose wird empfohlen, im beschwerdefreien Intervall die Varikose zu sanieren. Dann besteht eine geringere Komplikationsrate als bei der sofortigen Sanierung (14). Rezidivthrombose
Bei einem Rezidiv einer VTE unter AK (DOAK oder VKA) soll während mindestens einem Monat auf NMH gewechselt werden. Bei einem Rezidiv unter Langzeit-NMH ist empfohlen, die NMH-Dosis um 25-30% zu erhöhen, wenn glaubhaft eine gute Compliance besteht. Bei Zweifel an der Compliance kann eine Rezidiv-VTE wie eine erste VTE behandelt werden und die AK kann «neu» begonnen werden (15).
Tumor assoziierte Thrombose (CAT = Cancer Associated Thrombosis)
Es besteht ein erhöhtes Rezidivrisiko und je nach Lokalisation des Tumors ein erhöhtes Blutungsrisiko im Vergleich zu Patienten ohne Malignom (16). Grundsätzlich wird bei der CAT bei einer Nierenfunktion mit einer GFR > 30 ml/min die Gabe von NMH empfohlen. NMH zeigen längerfristig eine bessere Nutzen-Risiko-Bilanz im Vergleich zu VKA (16). Bei einer GFR > 30 ml/min und fehlenden Hinweisen auf einen gastrointestinalen oder urogenitalen Tumor (Blutungskomplikationen) kann alternativ nach mindestens 5 Tagen parenteraler AK mit Rivaroxaban/Edoxaban begonnen werden (16). Ebenfalls müssen medikamentöse Interaktionen, die die intestinale Absorption verhindern, berücksichtigt werden. Die empfohlene Therapiedauer beträgt 3-6 Monate (6, 16). Bei persistierendem RF nach 3-6 Monaten (z.B. fortbestehender Tumoraktivität) ist eine verlängerte AK empfohlen mit regelmässiger Re-Evaluation des Nutzen-Risiko-Verhältnisses.
Eine Thrombolyse soll bei Tumorpatienten nur individuell und in Abhängigkeit der Art des Tumors (CAVE Metastasierung Hirn) an einem Zentrumspital mit entsprechender Expertise vorgenommen werden.
Schwangerschaft und Wochenbett
Da NMH nicht plazentagängig sind, sind sie Therapie der Wahl bei einer VTE während der Schwangerschaft. DOAKs und Marcoumar sind in der Schwangerschaft kontraindiziert (11).
Die Antikoagulation soll bis 6 Wochen postpartal fortgeführt werden (6). Es besteht ein erhöhtes Risiko für ein Rezidiv während der nächsten Schwangerschaft im Vergleich zur nicht Schwangerschaft assoziierten VTE (17). Daher wird bei der nächsten Schwangerschaft eine prophylaktische AK ab Beginn der Schwangerschaft empfohlen.
Langzeitimmobilität
Eine persistierende Lähmung z.B. nach Apoplex ist keine Indikation zur Langzeit-AK oder Langzeit-Prophylaxe. Vielmehr wird empfohlen, die AK risikoadaptiert sowie zeitlich limitiert einzusetzen, z.B. während eines akuten fieberhaften Infektes.
Inzidentelle / asymptomatische tiefe Beinvenenthrombose. Die Therapie und die sekundäre Ursachensuche soll analog zur symptomatischen VTE erfolgen (6): therapeutische AK während mindestens 3 Monaten.
Dr. med. Regula Jenelten Dr. med. Yves Jaccard Dr. med. Denise Luchsinger Dr. med. Naim Mehmeti Abteilung für Angiologie Kantonsspital Winterthur, Brauerstrasse 15, 8401 Winterthur
*In der folgenden Übersichtsarbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschliesslich die männliche Form verwendet.
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Dr. med. Regula Jenelten
Abteilung für Angiologie
Kantonsspital Winterthur
Brauerstrasse 15
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Dr. med. Denise Luchsinger
Abteilung für Angiologie
Kantonsspital Winterthur
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8401 Winterthur
Die Autorinnen und Autoren haben deklariert, in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte zu haben.
◆ Bei klinisch hohem Verdacht auf eine VTE Beginn mit AK (NMH oder DOAK)
◆ Dauer der AK mindestens 3 Monate
◆ Diagnostik zeitnah
◆ Ursachensuche bei idiopathischem Ereignis
◆ Duplexsonografische Verlaufskontrolle nach 3 Monaten: Restthrombuslast, postthrombotische Veränderungen
◆ Bei idiopathischer VTE eher Langzeit-AK (vgl. Tabelle)
◆ Jährliches Re-Assessment bei Langzeit-AK
◆ Bei Vorliegen einer Thrombophlebitis: Ausschluss TVT
◆ Bei Vorliegen einer Thrombose in einer Varize: Sanierung der Varikose
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Ein neuartiger Anti-KIT-Antikörper, CDX-0159, ist wirksam bei der Behandlung von Patienten mit chronisch induzierbarer Urtikaria, die gegenüber anderen Therapien refraktär waren, so die Zwischenergebnisse, die auf dem Virtual 2021 Annual Congress der European Academy of Allergy and Clinical Immunology (EAACI) vorgestellt wurden. «Urtikaria wird von Mastzellen angetrieben», so Prof. Dr. med. Marcus Maurer, Forschungsdirektor der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie, Charité Berlin. Die neuartige Therapie führt zu einer Verarmung an Mastzellen mit entsprechender Wirkung auf die Urtikaria. Sie scheint sicher und sehr effektiv zu sein. Die Patienten werden mit einer einzigen Spritze über 12 Wochen geschützt.
In die laufende Studie wurden 20 Patienten aufgenommen, von denen 11 eine chronisch induzierbare Urtikaria hatten, die durch Kälte ausgelöst wird, und 9, die von einer Urtikaria betroffen waren, die durch Kratzen der Haut bei symptomatischem Dermographismus ausgelöst wird.
Insgesamt 14 Patienten haben die 12-wöchige Nachbeobachtungszeit der einmaligen Infusionstherapie, die mit 3 mg/kg verabreicht wurde, abgeschlossen. Die Prüfärzte verwendeten in der Studie verschiedene Messgrössen wie Provokationsschwellentests, die globale Bewertung des Patienten und die globale Bewertung des Arztes.
Ein komplettes Ansprechen, definiert als kleine Quaddel nach dem Provokationstest, wurde bei 8 Patienten mit kältegetriggerter Urtikaria für eine mediane Dauer von 77 Tagen und bei 6 Patienten mit symptomatischem Dermographismus für eine mediane Dauer von 57 Tagen aufrechterhalten.
Zu den unerwünschten Wirkungen gehörten Veränderungen der Haarfarbe (14/20), Infusionsreaktionen (9/20) und Geschmacksstörungen (8/20).
«Die in dieser Studie behandelten Patienten haben eine schwere Erkrankung. Bei ihnen haben mehrere frühere Behandlungen versagt und sie sind in ihrem täglichen Leben erheblich beeinträchtigt», kommentierte Prof. Maurer und ergänzte, dass die Patienten in der Studie bereits andere Therapien wie Omalizumab ausprobiert hatten. «Ein komplettes Ansprechen zu haben, zu einem normalen Leben zurückkehren zu können – für viele von ihnen zum ersten Mal nach vielen Jahren – ist ein grosser Vorteil», so der Referent.
Quelle: Maurer M. The Anti-KIT Antibody, CDX-0159, Reduces Disease Activity and Tryptase Levels in Patients With Chronic Inducible Urticaria. EAACI Virtual Congress 18.07.2021 Abstract 1046