Hautkrebs ist eine der häufigsten Krebserkrankungen des Menschen. UVA- und UVB-Strahlen sind eine der Hauptursachen für Hautkrebs. Als Schutz gegen die schädlichen Sonnenstrahlen bilden Pigmentzellen der Haut den Farbstoff Melanin, der die Haut dunkler färbt. Die Hautfarbe wird durch ultraviolettes Licht und andere nicht vollständig verstandene genetische und epigenetische Variationen bestimmt.
Ein Team um Dr. med. Elisabeth Roider, Oberärztin an der Klinik für Dermatologie des Universitätsspitals Basel, hat mit Kollegen der Harvard Universität und anderen weltweit führenden Forschungsinstitutionen in einer Studie den entsprechenden Biomechanismus untersucht. Die Forschungsgruppe entdeckte einen vom UV- und Mikrophthalmie-assoziierten Transkriptionsfaktor (MITF) unabhängigen Mechanismus der Hautpigmentierung. Die Autoren fanden heraus, dass Nicotinamid-Nukleotid-Transhydrogenase (NNT) ein wichtiges Enzym für die Pigmentierung ist. Das Targeting dieses Enzyms führt zu zellulären Redox-Veränderungen, die den Tyrosinase-Abbau beeinflussen. Diese Veränderungen regulieren die Melanosomenreifung und folglich den Eumelaninspiegel und die Pigmentierung. Die topische Anwendung von niedermolekularen Inhibitoren führte bei menschlicher Haut zu einer Verdunkelung der Haut, und Mäuse mit verminderter NNT-Funktion zeigten eine verstärkte Pigmentierung. Die Analyse von vier verschiedenen Humankohorten ergab signifikante Assoziationen von Hautfarbe, Bräunung und Sonnenschutznutzung mit verschiedenen Einzelnukleotid-Polymorphismen innerhalb der NNT. Personen mit post-
inflammatorischer Hyperpigmentierung oder Lentigines wiesen verringerte NNT-Werte der Haut auf, was auf einen NNT-gesteuerten, Redox-abhängigen Pigmentierungsmechanismus hindeutet. Dieser kann mit NNT-modifizierenden topischen Medikamenten für medizinische und kosmetische Zwecke angegangen werden. «Wir hoffen, die Hautkrebsprävention zu verbessern und den Millionen von Menschen, die an Pigmentstörungen leiden, wirksame Behandlungsmöglichkeiten zu bieten», so die Studienleiterin. Die Resultate wurden in der renommierten Zeitschrift Cell publiziert.
Quelle: Allouche J et al.NNT modulates redox dependent pigmentation via a UVB- and MITF-independent mechanism. Cell. 2021 Jun 29:S0092-8674(21)00757-1. doi: 10.1016/j.cell.2021.06.022. Online ahead of print
Ein von Novartis unterstütztes Webinar unter dem Vorsitz der Professoren Thomas F. Lüscher, London und Zürich, und Nils Kucher, Zürich, mit internationaler Besetzung, widmete sich den ungelösten medizinischen Bedürfnissen in der Therapie von Dyslipidämien. Der folgende Bericht fasst die Referate zusammen.
Behandlungslücken in der realen Welt: das Da Vinci-Register
Prof. Kausik K. Ray
DA VINCI, eine europaweite Observationsstudie, untersuchte die Lipid-modifizierende Therapie in der Primär- und Sekundärprävention mit dem Ziel, die lipidsenkende Therapie (LLT) über ein breites Spektrum von Patientenpopulationen in Europa zu beschreiben und zu untersuchen, wie die derzeitige Praxis die Zielwerterreichung beeinflusst. Die Studie wurde von Prof. Dr. med. Kausik K. Ray, London, dem Studienleiter vorgestellt.
Von den Patienten, bei denen ein Lipidsenker verabreicht wurde und das LDL-C-Ziel bestimmt werden konnte, nahmen 94% der Primärpräventionspatienten und 94% der etablierten ASCVD-Patienten ein Statin ein. Die Verwendung von Statinen hoher Intensität lag bei 22% der Patienten in der Primärprävention und bei 42% der ASCVD-Patienten. Statine mit mittlerer Intensität als Monotherapie waren in allen Risikokategorien die häufigste Therapieform. Ezetimibe in Kombination mit Statinen wurde bei 9% aller Patienten eingesetzt und PCSK9-Inhibitoren bei 1% aller Patienten.
2016 wurde das LDL-C-Ziel bei 54% der Patienten erreicht. Bei den Patienten mit niedrigem, moderatem, hohem und sehr hohem CV-Risiko waren dies 63%, 75%, 63% und 39%.
In der Primärpräventionsgruppe war die Zielerreichung unter Verwendung eines Statins niedriger Intensität bei Patienten mit mittlerem Risiko höher (67%) als bei Patienten mit sehr hohem Risiko (25%). Nur wenige Patienten mit sehr hohem Risiko erreichten ihr LDL-C-Ziel, unabhängig vom Statinschema. Nur zwei Patienten in dieser Gruppe erhielten ein hochintensives Statin plus Ezetimibe und erreichten ihr Ziel nicht.
In der Gruppe der Sekundärprävention erreichten 39% ihr LDL-C-Ziel. Die Zielerreichung war wahrscheinlicher bei Verwendung eines hochwirksamen Statins (45%), in Kombination mit Ezetimibe (54%), oder mit einem PCSK9-Inhibitor (67%).
Insgesamt erreichten weniger Patienten die LDL-C-Ziele von 2019 als die Ziele von 2016 (33%, 95% CI: 32-35 vs. 54%, 95%, wobei die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung mit steigendem Risiko geringer war. Die Zielerreichung auf Basis der 2019er-Leitlinie lag bei 18% (95% CI: 17-20) der Patienten mit sehr hohem Risiko. Bei Personen mit hohem und sehr hohem Risiko in der Primärprävention war die Zielerreichung 2019 etwa halb so hoch wie 2016 (25% vs. 63% und 11% vs. 21%).
Auch in der Gruppe der etablierten ASCVD-Patienten war die Zielerreichung 2019 etwa halb so hoch wie 2016 (18 % vs. 39 %).
Fazit des Referenten
Die DA VINCI-Studie zeigte, dass bei den Patienten, die eine LLT erhielten, 54% ihr risikobasiertes LDL-C-Ziel nach den Leitlinien von 2016 und 33% nach den Leitlinien von 2019 erreichten.
Die Autoren schlussfolgern, dass «selbst mit optimierten Statinen eine stärkere Nutzung einer zusätzlichen LLT wahrscheinlich erforderlich ist, um diese Lücken für Patienten mit höchstem Risiko zu reduzieren».
Behandlungslücken in der Schweiz: Lipid-Ziele in der Allgemeinpraxis
Prof. T. Rosemann
Hausärzte spielen eine Schlüsselrolle im Schweizer Gesundheitssystem. Durchschnittlich 1,7 RFE (Reason For Encounter) pro Konsultation und ein breites klinisches Spektrum an Problemen wurden in der Primärversorgung registriert. 94,3% aller Probleme wurden indessen in der Primärversorgung gelöst, was die entscheidende Rolle der Hausärzte als Koordinatoren der Gesundheitsversorgung unterstreicht, stellte Prof. Dr. med. Thomas Rosemann, Zürich, fest.
Der Referent präsentierte anschliessend Daten zur Bedeutung der ESC-Guidelines für das kardiovaskuläre Risikomanagement aus der FIRE-Studie, einer Studie in der Allgemeinpraxis. Ziel dieser Studie war es, die Auswirkungen der 2019 veröffentlichten Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC)/European Atherosclerosis Society (EAS) zum kardiovaskulären (CV) Risikomanagement im Vergleich zu ihrem Vorgänger von 2016 in einer Kohorte in der allgemeinen Praxis zu bewerten. Die Studie war eine retrospektive Querschnittsstudie mit Daten aus elektronischen Krankenakten. Die Studienkohorte umfasste 103 351 Patienten mit bekanntem CV-Risiko. Es wurden die Veränderungen in der CV-Risikoklassifizierung und den LDL-Cholesterin-Zielwerten, die Auswirkungen auf die LDL-C-Erfolgsraten und die aktuellen lipidsenkenden Behandlungen bewertet. Nach der ESC-Richtlinie 2019 änderten sich die CV-Risikokategorien bei 27,5% der Patienten, die LDL-C-Zielwerte sanken bei 71,4% der Patienten, und die LDL-C-Zielerfolgsrate sank von 31,1 % auf 16,5%. Unter denjenigen, die die Zielwerte von 2019 nicht erreichten, fehlten bei 52,2% die lipidsenkenden Medikamente vollständig und 41,5% hatten konventionelle Medikamente mit einer submaximalen Intensität. Von den Patienten in den Kategorien mit hohem und sehr hohem Risiko erreichten mindestens 5% trotz der Behandlung mit herkömmlichen lipidsenkenden Medikamenten den LDL-C-Zielwert nicht, so dass sie für PCSK-9-Inhibitoren in Frage kamen. Insgesamt bewirkte die ESC/EAS-Leitlinie 2019 eine Senkung der LDL-C-Zielwerte für die Mehrheit der Patienten in der allgemeinen Praxis und halbierte die Zielerfolgsraten für LDL-C. Es besteht nach wie vor grosses Potenzial, das CV-Risiko durch die Einführung konventioneller lipidsenkender Medikamente zu vermindern, insbesondere bei Patienten mit hohem oder sehr hohem CV-Risiko. Ein erheblicher Teil der Patienten kann die LDL-C-Ziele nur mit PCSK-9-Inhibitoren erreichen, was derzeit eine mindestens 10-fache Erhöhung der Verschreibung dieser Medikamente erfordern würde.
Fazit des Referenten
Hausärzte spielen eine entscheidende Rolle im Lipidmanagement in der Schweiz.
Daten aus der Praxis zeigen, dass viele Patienten gar nicht oder zumindest unzureichend behandelt werden und die empfohlenen Ziele nicht erreichen
Dies gilt sowohl für die Primärprävention als auch für die Sekundärprävention
Die Unterbehandlung hat mit den neuen ESC-Leitlinien zugenommen
Lipoprotein (a): der Rückkehrer
Prof. F. Mach
Hohe Lp(a)-Werte werden als kausaler Risikofaktor für kardiovaskuläre Krankheit betrachtet. Ein Vergleich mit LDL-Cholesterin zeigt, dass sowohl Lp(a) als auch LDL-C eine direkte Assoziation mit dem kardiovaskulären Risiko in verschiedenen epidemiologischen und in genetischen Studien aufweisen, stellte Prof. Dr. med. François Mach, Genf, fest.
LDL-C und Lp(a) sind proatherogen, wie zahlreiche Studien ergaben. Die Kausalität für kardiovaskuläres Risiko wurde indessen nur für LDL-C mit den Statinstudien belegt, während dies für Lp(a) noch nicht eindeutig belegt ist. Die Blutwerte von Lp(a) stehen vor allem unter genetischer Kontrolle. Die Tabelle 1 gibt einen Überblick über weitere Beeinflussungsmöglichkeiten.
Statine erhöhen Lp(a). In verschiedenen Studien wurden unter Statintherapie Konzentrationszunahmen von Lp(a) bis über 20% festgestellt.
Möglichkeiten zur Senkung von Lp(a)
Verschiedene Hormone senken die Plasmakonzentration von Lp(a). So Thyroxin (10-25% Senkung), Estrogene (37% Reduktion), Progesteron (3-5% Reduktion), Tamoxifen (35% Reduktion), Tibolon (35% Reduktion), Raloxifen (18% Reduktion), Testosteron (30-40% Reduktion), anabole Steroide (60-70% Reduktion), ACTH (30-40% Reduktion). In der Schwangerschaft tritt eine 2.5- bis 3-fache Lp(a) Erhöhung auf.
Obwohl Niacin Lp(a) senkt, ergab die Studie HPS2-THRIVE mit Extended release Niacin und Laropiprant keine signifikante Senkung des kardiovaskulären Risikos, aber eine Zunahme der Nebenwirkungen. PCSK9-Hemmer senken Lp(a) in der Grössenordnung von bis zu 35%. Evolocumab senkte die Lp(a)-Spiegel signifikant, wobei Patienten mit höheren Ausgangs-Lp(a)-Spiegeln eine stärkere absolute Senkung des Lp(a) erfuhren und tendenziell einen grösseren koronaren Nutzen aus der PCSK9-Hemmung zogen. Die Senkung von Lp(a) durch Alirocumab sagte das MACE-Risiko nach einem kürzlichen ACS voraus, wie die Daten aus ODYSSEY OUTCOMES zeigten. Inclisiran, ein siRNA gegen PCSK9, senkt Lp(a) ebenfalls. Mit einem Apo(a)-Antisense-Oligonucleotid lässt sich Lp(a) um bis zu 90% senken (Koren MJ et al.Circulation. 2020;142:A13951). Das Oligonucletid TQJ230 wird von Novartis auf seine Wirkung auf kardiovaskuläre Ereignisse in der HORIZON-Studie untersucht.
Personalisierte Prävention: Füllen der Behandlungslücken
Die personalisierte Prävention umfasst die Behandlung der Risikofaktoren Inflammation (Canakinumab, Anakindra bei CRP >2 mg/dl, LDL-Cholesterin mit hochdosiertem Statin plus Ezetimibe bei LDL-C >1.8 mmol/l, Lp(a) mit Antisense und RNA Interferenz bei L(p) >300 mg/l, Triglyceride >2 mmol/l mit Antisense-Oligonucleotiden, Diabetes Typ 2 mit Metformin, SGLT2-Inhibitoren und GLP-1-RA bei HbA1c 7.5%, die Thrombose mit DAPT, niedrig dosiertem NOAC, stellte Prof. Dr. med. Thomas F. Lüscher, London und Zürich eingangs seines Referates fest.
Inflammation
Die Atherosklerose ist eine chronische Inflammation der Koronargefässe. Entsprechend konnten klinische Effekte in Studien mit anti-inflammatorischen Medikamenten gezeigt werden. Canakinumab senkte das kardiovaskuläre Risiko bei Patienten nach Myokardinfarkt signifikant um 15% ohne Senkung von LDL-C. Weitere Untersuchungen bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit mit Colchicin (COLCOT Trial) und LoDoCo Trial ergaben ebenfalls signifikante Senkungen um 23% resp. 31%.
LDL-Cholesterin
Randomisierte kontrollierte klinische Studien, prospektive Kohortenstudien und Mendelsche Randomisierungsstudien zeigten alle: Je geringer die Exposition für LDL-Cholesterin ist, desto geringer sind die kardiovaskulären Endpunkte. Diese Erkenntnisse führten zu den neuesten Lipid-Guidelines der ESC/EAS, die für sehr hohes Risiko einen Zielwert für LDL-Cholesterin von 1.4 mmol/l und eine 50%ige Senkung von LDL-Cholesterin empfehlen. Der Referent präsentierte die Resultate der GLAGOV-Studie mit Evolocumab, die eine Rückbildung atheroskerotischer Plaques bei LDL-Cholesterinwerten unter 1.4 mmol/l zeigten. Dies war das erste Mal, dass eine Rückbildung atherosklerotischer Plaques nachgewiesen werden konnte.
Lp(a)
Lp(a) ist zu einem anerkannten Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen geworden, aber der endgültige Nachweis der Kausalität steht noch aus. Die Hemmung der Apolipoprotein(a)-Produktion in Hepatozyten mit RNA-Silencing hat sich als elegante und effektive Lösung zur Senkung des Lp(a)-Plasmaspiegels erwiesen. Klinische Studien der Phase II haben gezeigt, dass das Antisense-Oligonukleotid Pelacarsen den mittleren Lp(a)-Spiegel um 80% senkte und es 98% der Probanden ermöglichte, unter der Behandlung Werte von <125 nmol/l (ca. 50 mg/dl) zu erreichen. In die Phase-III-Studie Lp(a) HORIZON (Assessing the Impact of Lipoprotein(a) Lowering With TQJ230 on Major Cardiovascular Events in Patients With CVD) werden derzeit ca. 7680 Patienten mit Myokardinfarkt, ischämischem Schlaganfall und symptomatischer peripherer arterieller Verschlusskrankheit in der Vorgeschichte und kontrolliertem Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin mit TQJ230 (Pelacarsen) im Vergleich zu Placebo aufgenommen.
Triglyceride
Während die Phase-III-Studie STRENGTH vorzeitig mit hochdosierten Omega-3-Fettsäuren wegen Ineffektivität vorzeitig beendet wurde, war die REDUCE-IT-Studie mit dem verschreibungspflichtigen Präparat (Vascepa), das ausschliesslich EPA in Form von hochgereinigtem EPA-Ethylester (Icosapent-Ethyl) ohne DHA-Anteil enthält, sehr erfolgreich. Die relative Senkung des primären Endpunktes betrug ca. 25%. Die Number needed to treat (NNT) war 21. Neue Antisense-Oligonucleotid-Therapien zur Senkung der Triglyceride sind derzeit am Laufen.
Diabetes Typ 2
Metformin, SGLT-2 Hemmer und GLP-1-Rezeptoragonisten sind die derzeit als Erstlinientherapie eingesetzten Medikamente. Die SGLT2-Hemmer haben eine Reduktion der kardiovaskulären Ereignisse und der Herzinsuffizienz (auch bei Nichtdiabetikern) gezeigt. Die neuen ESC-Guidelines empfehlen eine enge Glukosekontrolle und einen Zielwert von HbA1c <7% (I/A). Der HbA1c-Zielwert sollte individuell der Diabetesdauer, den Komorbiditäten und dem Alter angepasst und Hypoglykämien sollten vermieden werden (I/C). Eine antihypertensive Therapie ist empfohlen, wenn der Blutdruck 140/90 mmHg übersteigt, bei älteren Patienten sollte ein Wert unter 120 mmHg vermieden werden (I/A). Der diastolische Druck sollte <80 mmHg sein, jedoch nicht <70 (I/C).
Thrombose
DAPT und niedrig dosierte NOACs sind die derzeit gängigen Massnahmen. Eine beeinträchtigte Fibrinolyse kann Patienten mit STEMI, die trotz PPCI und DAPT auf hohem kardiovaskulärem Risiko bleiben, identifizieren (Farag M et al Eur Heart J 2019;40:295-305). Das Verständnis der Thrombusfestigkeit könnte die Basis für eine personalisierte Antikoagulation ohne Blutung sein.
RNA-Interferenz und Antisense-Technologien als neue Form der Pharmakotherapie
Genetische Studien zeigen, dass Varianten in HMG-CoA-Reduktase, NPC1L1 und PCSK9 mit niedrigeren LDL-Cholesterinwerten und einem reduzierten Risiko für koronare Erkrankungen assoziiert sind, was mit den Ergebnissen der jüngsten gross angelegten klinischen Studien übereinstimmt. Mendelsche Randomisierungsstudien legen auch nahe, dass genetische Varianten, die zu hohen Lp(a)-Spiegeln führen, kausal mit einem erhöhten Risiko für koronare Erkrankungen verbunden sind.
Genetische Studien, die Varianten im endothelialen Lipase- oder SR-B1-Gen untersuchten, haben eine Assoziation in Zusammenhang mit erhöhten HDL-Cholesterinspiegeln gezeigt, berichteten aber nicht über ein verringertes Risiko für koronare Erkrankungen, was mit dem Konzept vereinbar ist, dass HDL-Cholesterinspiegel nicht notwendigerweise kausal mit einer koronaren Erkrankung verbunden sind. Dies steht auch im Einklang mit neueren klinischen Ergebnisstudien, die keine Verringerung des kardiovaskulären Risikos durch HDL-Cholesterin-erhöhende Behandlungen nachweisen konnten.
Prof. U. Landmesser
Vor allem neuere Studien, die über Gene berichten, die mit Triglycerid-reichen Lipoproteinen, wie z.B. apo-CIII, in Zusammenhang stehen, haben eine Assoziation mit niedrigeren Triglyzerid-Spiegeln (wenn auch nicht ausschliesslich) und einem reduzierten HDL-Cholesterin gezeigt, erläuterte Prof. Dr. med. Ulf Landmesser, Berlin.
RNA-gerichtete Therapien sind daran, die klassischen pharmakologischen Therapien zu ersetzen. RNA-gerichtete Therapien (z.B. apo(a)-ASO und PCSK9-siRNA) sind in gross angelegten klinischen Studien getestet worden und werden höchstwahrscheinlich in naher Zukunft eine neue effektive und sichere therapeutische Option für CVD darstellen, so der Referent. Die RNA-Interferenz geht auf Andreas Z. Fire und Craig C. Mello zurück, die dafür mit dem Nobelpreis für Medizin im Jahre 2006 ausgezeichnet wurden (Fire A, Mello CC. Potent and specific. Genetic interference by double-stranded RNA in Caenorhabditis elegans. Nature 1998 ; 391:
806-11). siRNA sind kurze Ribonukleinsäure-Moleküle, die keine Proteine kodieren, sondern sich mit komplementären einzelsträngigen Ribonukleinsäure-Molekülen verbinden, wodurch sie deren normale Funktion unterbinden. Die RNA wird über den Asialoglycoproteinrezeptor in die Zelle eingeschleust.
ORION-Studien mit Inclisiran
Der Referent präsentierte anschliessend die Resultate der Phase-II-
ORION-1-Studie, die Inclisiran, einen siRNA gegen PCSK9, untersucht hatte. Dabei senkte das am Tag 90 erneut verabreichte Medikament das LDL-Cholesterin über die Zeitdauer von 270 Tagen um im Mittel 51% (Ray KK et al NEJM 2017;376:1430-1441). In ORION 9 waren 482 Patienten mit heterozygoter familiärer Hypercholesterinämie (FH) behandelt worden (Raal FJ. N Engl J Med. 2020;382:1520-309), in ORION 10 und 11 zusammen 3178 Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen oder entsprechenden Risikofaktoren (Ray KK et al. N Engl J Med. 2020;382:1507-19). Die LDL-Ausgangswerte lagen unter Statin- und ggf. Ezetimibe-Therapie in ORION 10 und 11 knapp über 100 mg/dl sowie knapp über 150 mg/dl in ORION 9. In allen drei Studien wurde Inclisiran nach einer initialen Dosis erneut nach drei Monaten und dann alle 6 Monate appliziert. Primäre Endpunkte waren die LDL-C-Senkung nach 17 Monaten) und die mittlere LDL-C-Senkung zwischen Monat 3 und Monat 18. Im Vergleich zu den Placebogruppen erzielten Patienten der Verumgruppen absolute LDL-C-Senkungen um die 50%. 41% der FH-Patienten sowie 70% bzw. 74% der Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen erreichten Werte < 70 mg/dl. Nennenswerte Nebenwirkungen wurden nicht beobachtet.
Einen Ausblick auf die Zukunft der lipidsenkenden Therapie gab Prof. Landmesser mit dem in vivo CRISPR base editing von PCSK9, womit Cholesterin dauerhaft gesenkt werden könnte (Musunuru K et al. In vivo CRISPR base editing of PCSK9 durably lowers cholesterol in primates. Nature 2021;593:429-434).
Lp(a)
Das Antisense Oligonucleotid APO(a)-LRx reduzierte Lipoprotein(a) in einer Dosis-abhängigen Art bei Patienten mit erhöhten Lp(a)-Werten und etablierter kardiovaskulärer Krankheit (Tsimikas S et al. NEJM 2020;382: 244-255).
ANGPLT3 – bei erhöhten Triglyceriden
ANGPTL3 ist ein neues Ziel in der Lipid-gerichteten Prävention der koronaren Herzkrankheit. Klinische Ergebnisse stehen allerdings noch aus.
Präzisionsmanagement zur Prävention atherosklerotischer vaskulärer Herzkrankheit
Die zukünftigen Optionen für ein personalisiertes Risikomanagement umfassen primär eine Optimierung des Lebensstils und eine von den ESC-Guidelines empfohlene medizinische Behandlung inkl. Hypertonie-Management. Dabei sollen die atherogenen Lipoproteine (LDL durch PCSK9-Inhibition (mAB, siRNA), Lp(a) mit Antisense Oligonucleotid) und Triglycerid-reiche Lipoproteine gesenkt werden (ANGPLT3 ASO, Apo CIII ASO). Dies soll begleitet werden von einem Anti-Thrombosemanagement (gekürzte oder ausgedehnte duale antithrombotische Therapie), Immunmodulation (CRP, IL-6, CHIP durch Colchicin, IL-1βAntikörper), dem Management des metabolischen Risikos (HbA1c, Typ-2-Diabetes mit SGLT2-Hemmern, GLP-1-RA) und der Behandlung der Herzinsuffizienz (SGLT-2-Inhibitoren, ARNI).
Quelle: Unmet Medical Needs in Lipid Management: Current and Future Opportunities, Webinar 17.06.2021, Zurich Heart House, Zürich.
Die intestinale Mikrobiota, das «Mikrobiom», ist in den Fokus des medizinischen, wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses gerückt. Die Darm-Mikrobiota spielt eine grosse Rolle bei verschiedenen Erkrankungen, nicht nur des Intestinums, sondern auch in der psychiatrischen, kardiologischen, rheumatologischen und onkologischen Praxis. Im Folgenden werden aktuelle Studienergebnisse zu den Einflüssen der Ernährung auf die Mikrobiota-Zusammensetzung des menschlichen Darms beleuchtet.
Die Zusammensetzung der Darm-Mikrobiota ist bei einer Vielzahl von Erkrankungen verändert. Dies ist nicht nur bei Darmerkrankungen, wie z.B. dem Reizdarmsyndrom oder chronisch entzündlichen Darmerkrankungen der Fall, sondern auch bei psychiatrischen Erkrankungen, wie z.B. Depression oder Autismus, bei kardialen Erkrankungen wie bei der koronaren Herzkrankheit oder der Herzinsuffizienz, bei Erkrankungen des rheumatologischen Formenkreises und bei Tumorerkrankungen. Eine grosse Zahl an Laboratorien hat die Zeichen der Zeit erkannt und bietet «Stuhlanalysen» oder «Mikrobiota-Analysen» zu teilweise erheblichen Kosten an. Es werden dann häufig gleichzeitig mit der Analyse der Mikrobiota-Veränderungen Ernährungsempfehlungen an die Patientinnen weitergegeben, die eine diagnostizierte «Dysbiose» wieder ins Gleichgewicht bringen soll. Wie ist aber die Evidenz dafür, dass die Mikrobiota-Zusammensetzung durch Ernährung beeinflusst werden kann? Besteht die Möglichkeit, durch Ernährungsumstellungen gezielt in das intestinale Mikrobiota-Ökosystem einzugreifen?
Mikrobiota und Mikrobiom, Mycobiom, Virom – einige Fakten
Die normale Darm-Mikrobiota des Menschen besteht neben den Bakterien aus eukaryontischen Pilzen, Viren und einigen Archaeen, die vorwiegend den unteren Darmtrakt besiedeln (1). Während die Zusammensetzung der Bakterien inzwischen recht gut untersucht ist, wissen wir noch wenig über das Virom, über die Bakteriophagen und das Mycobiom. Bis zu 100 Billionen (1014) Mikroorganismen pro Mensch besiedeln den Darm und machen etwa 2 kg des Körpergewichts aus (2).
Bei den heutigen Bakterienkultur-unabhängigen Analyse-Methoden werden hauptsächlich Variationen von Genen (meist der 16sRNA) sequenziert, die einerseits bei allen Bakterien gemeinsam sind und in der Evolution stark konserviert wurden, andererseits jedoch mit speziesspezifischen Unterschieden behaftet sind (3-6). Wenn wir durch Sequenzierung die genetische Zusammensetzung der Mikrobiota (Mikrobiom = Gesamtheit aller Bakteriengene im Darm) bestimmen, wissen wir allerdings noch gar nichts über die Funktion der Bakterien in einem spezifischen, individuellen, menschlichen Darm-Ökosystem. Dieselbe Bakterienspezies kann in unterschiedlichen Menschen unterschiedlich Funktionen übernehmen. Das metabolische Profil verschiedener Bakterienspezies hängt von deren Umgebung und der Funktion anderer Spezies in der Umgebung ab.
Daher sagen die allermeisten der kommerziell durchgeführten Mikrobiota-Untersuchungen überhaupt nichts darüber aus, wie sich jemand ernähren sollte. Die meisten Stuhlbakterien-Analysen werden nach unkontrollierten Entnahmebedingungen und unkontrollierten Transportbedingungen durchgeführt. Die allermeisten Spezies der menschlichen Darmmikrobiota sind obligate Anaerobier, die rasch sterben, während fakultative Anaerobier und Aerobier auch bei Raum(Transport-)Temperatur weiterwachsen können. Entsprechende Empfehlungen sind nicht Evidenz-basiert.
Neben genetischen Einflüssen sind Umwelteinflüsse wie die Ernährung von Bedeutung für die Zusammensetzung der menschlichen Mikrobiota (7-11). Die am häufigsten vorkommenden Phyla (Stämme) des menschlichen Gastrointestinaltraktes sind Actinobacteria, Bacteriodetes, Firmicutes und Proteobacteria (12). Während diese grossen Phyla allen Menschen gemeinsam sind, gibt es ein hohes Mass an interindividueller Variabilität der Darm-Mikrobiota-Zusammensetzung auf niedrigeren taxonomischen Ebenen.
Einflüsse der Ernährung auf die Mikrobiota-Zusammensetzung in der frühen Kindheit
Es wird derzeit diskutiert, ob nicht bereits in utero diätetische Einflüsse auf die Zusammensetzung der Darmmikrobiota vorhanden sind (12, 13). Die Ernährung von Müttern in der Schwangerschaft hat einen signifikanten Einfluss auf das Risiko einer Dysbiose oder von Stoffwechselerkrankungen der Nachkommen (13). Die Darmmikrobiota wird dabei als potenzieller vermittelnder Faktor angesehen, zumal die intrauterine Umgebung nicht steril ist, was darauf hindeutet, dass eine mütterlich-fetale Übertragung von Mikrobiota-Komponenten während der Schwangerschaft auftreten kann (12, 13). So wurden die Bakterien der Phyla Firmicutes, Tenericutes, Proteobacteria, Bacteriodetes und Fusobacteria in der menschlichen Plazenta gefunden (14).
Nach der Geburt unterscheidet sich die Darm-Mikrobiota von gestillten Säuglingen deutlich von derjenigen von nicht gestillten Babys. Gesunde Säuglinge, die in den ersten 6 Lebensmonaten gestillt wurden, zeigten eine signifikante Zunahme von Actinobacteria (wie z.B. Bifidobacterium) und Proteobacteria (Enterobacteriaceae) (15). Dies wurde in mehreren Untersuchungen bestätigt: Bei gestillten Säuglingen findet sich in den ersten Lebenswochen eine starke Zunahme von Bifidobacterien, während mit Säuglingsnahrung ernährte Kinder hohe Anteile von Klebsiella und Serratia aufwiesen (16). Bei Frühgeborenen auf einer Neugeborenen-Intensivstation zeigte sich ein erhöhter Staphylokokken-Anteil an der Dammikrobiota im Vergleich zu gesunden Säuglingen, und die Besiedlung mit Bifidobacteriaceae war verzögert (17). Eine längere Stilldauer begünstigt die Proliferation von Bifidobacterium und Veillonella und verringert die Menge Lachnospiraceae, Ruminococcaceae, und anderen selteneren Bakterien (18).
Neben der Ernährung hat allerdings auch die Art der Geburt einen grossen Einfluss auf die Mikrobiota-Zusammensetzung der Säuglinge. Bei vaginaler Geburt wird schnell das intestinale Mikrobiom der Mutter aufgenommen und im Dickdarm etabliert. Eine Sectio stört die Übertragung der Mikrobiota von der Mutter auf den Säugling, eine fäkale Mikrobiota Übertragung (FMT) kann die «natürliche» Darmmikrobiota Sectio-geborener Säuglinge postnatal wiederherstellen (19).
Mit der Einführung fester Nahrung verändert sich die Darmmikrobiota bei Säuglingen wieder. Die mikrobielle Diversität ist höher bei 9 Monate alten Kleinkindern mit einer protein- und ballaststoffreichen und relativ fettarmen Diät (18). Eine positive Korrelation wurde zudem zwischen Proteinaufnahme und Vorhandensein von Lachnospiraceae gefunden, während eine negative Korrelation mit Bifidobacteriaceae zu existieren scheint. Nach Beendigung des Stillens geht der relative Anteil Bifidobacteriaceae zurück (18). Die Aufnahme von Ballaststoffen war positiv mit der Häufigkeit von Pasteurellaceae korreliert (18). Diese Daten legen nahe, dass die Zunahme der Darm-Mikrobiota-Diversität vom Säuglingsalter zur Kindheit stark durch Änderungen der Ernährung beeinflusst wird (12).
Einflüsse von spezifischen Diätmustern auf die Mikrobiota-Zusammensetzung beim Erwachsenen
Auch beim Erwachsenen wurden signifikante Einflüsse der Zusammensetzung der Ernährung auf die Zusammensetzung der Mikrobiota berichtet. Die Darmmikrobiota reagiert schnell auf Ernährungsumstellungen. Es wurde postuliert, dass die Ernährung in der Lage ist, fast 60% der Mikrobiota zu ändern (20). Beim Menschen werden auch die dominanten Phyla Bakterioides, Firmicutes und Actinobacteria beeinflusst (21). Es werden drei «Enterotypen» im Hinblick auf die Zusammensetzung der Mikrobiota unterschieden (Tab. 1): Der Enterotyp 1 ist ein Bacteroides-dominanter Typ. Eine Diät, die vor allem tierische Proteine und gesättigte Fette enthält (was auch häufig mit dem Terminus «Westernized Diet» in der Literatur umschrieben wird), führt zu diesem Enterotyp, der wie erwähnt von Bacteroides dominiert wird (22). Eine Ernährung, die vor allem auf Kohlenhydrate aufbaut, führt zu dem Prevotella-dominanten Enterotyp 2 (22). Als Enterotyp 3 wird eine Ruminococcus-dominante Darmmikrobiota bezeichnet. Diese Mikroorganismen spalten effizient Zucker und Muzine. Normalerweise machen die Phyla Firmicutes und Bacteroidetes 90% der Darmmikrobiota aus. Das Phylum Firmicutes besteht hauptsächlich aus den Gattungen Clostridium, Enterococcus, Lactobacillus und Ruminococcus. Die Hauptgattungen des Phylums Bacteroides sind Prevotella und Bacteroides.
Während eine «Westernized Diet» vorwiegend tierisches Protein und gesättigte Fettsäuren enthält, ist eine mediterrane Diät durch eine hohe Menge an Ballaststoffen, ungesättigten Fettsäuren und auch von Polyphenolen gekennzeichnet (für die eine präbiotische Wirkung auf bestimmte Bakterien-Stämme postuliert wird) (23-29). Das NU-AGE-Projekt untersuchte daher, ob eine einjährige mediterrane Diät-Intervention die Darmmikrobiota verändern kann und gesundheitsfördernd wirkt. Bei 612 Probanden in fünf europäischen Ländern (UK, Frankreich, Niederlande, Italien und Polen) wurde die Mikrobiota-Zusammensetzung vor und nach einer 12-monatigen mediterranen Diät analysiert. Eine hohe Diät-Adhärenz war mit spezifischen Mikrobiom-Änderungen assoziiert (29). Bakterielle Taxa, die durch die Einhaltung der Diät angereichert wurden waren positiv mit mehreren Gesundheits-Markern und verbesserten kognitiven Funktionen verbunden, und waren negativ mit Entzündungsmarkern, wie C-reaktivem Protein und Interleukin-17 assoziiert (29). Die Analyse der mikrobiellen Metaboliten zeigte, dass die ernährungsmodulierte Mikrobiomveränderung mit einer Zunahme der kurz-/verzweigtkettigen Fettsäureproduktion und einer geringeren Produktion von sekundären Gallensäuren, p-Cresolen, Ethanol und Kohlendioxid verbunden war (29). Ähnliche Studien kamen zu vergleichbaren Resultaten (28, 30-33). Bei Übergewichtigen führte eine mediterrane Diät zu einer Zunahme des Ballaststoff-abbauenden Bakteriums Faecalibacterium prausnitzii und zur vermehrten Bildung von kurzkettigen Fettsäuren (32). Eine mediterrane Diät scheint also mit einer günstigen Änderung der Mikrobiota verbunden zu sein, was ihre gesundheitsfördernden Eigenschaften teilweise erklären mag.
Während sich die Literatur zu den Effekten einer mediterranen Diät weitgehend einig ist, ist das bei einer vegetarischen Diät weniger der Fall: Die Mikrobiota-Zusammensetzung von Vegetariern scheint sich aber gegenüber der von Omnivoren zu unterscheiden (zumindest in den meisten Studien, siehe 34-37). Menschen, die längere Zeit (> 3 Monate) eine vegetarische Diät einhalten, weisen z.B. einen grösseren relativen Anteil von Bacteriodes-Prevotella, Bacteriodes thetaiotamicron und Clostridium clostridioforme, aber weniger Clostridium coccoides im Stuhl im Vergleich zu Omnivoren auf (37). Allerdings konnte eine systemtische Übersichtsarbeit keine konsistente Korrelation zwischen veganer Ernährung oder vegetarischer Ernährung und der Mikrobiota-Zusammensetzung im Vergleich zu Omnivoren finden (38).
In einer eigenen Studie bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen sahen wir signifikante Unterschiede zwischen Patienten mit vegetarischer Ernährung, Gluten-freier Diät und omnivorer Ernährung (39). Diese waren aber nicht mit einem besseren Krankheitsverlauf oder einer Steigerung des Wohlbefindens bzw. einer Reduktion von depressiven Verstimmungen assoziiert (38). Wie erwähnt sagt das Vorhandensein bestimmter Bakterienarten nichts über deren jeweilige spezifische Funktion aus.
Unterschiedliche Diäteinflüsse je nach Grunderkrankung?
Zu bedenken ist zudem, dass Ernährungsinterventionen oder spezifische Diäten je nach Grunderkrankung unterschiedliche Effekte auf die Mikrobiota-Zusammensetzung haben können. Bei Zöliakie-Patienten findet sich eine Reduktion probiotischer Spezies, wie z.B. Lactobacillus und Bifidobakterien, und eine relative Zunahme entzündungsfördernder Bakterien der Gattung Veillonaceae (40). Zöliakie-Patienten müssen eine lebenslange Gluten-freie Diät einhalten. Eine Gluten-freie Diät ist aber aufgrund von populärwissenschaftlichen Hypothesen nun auch bei Menschen mit NCGS (nicht-Zöliakie-Glutensensitivität) und bei Gesunden weit verbreitet. Wenn man diese drei Gruppen untersucht, zeigt sich, dass die Gluten-freie Diät bei allen den Bakterienreichtum reduziert und gleichzeitig die Zusammensetzung der Darmmikrobiota je nach Grunderkrankung (asymptomatische Probanden) und Krankheitszustand (Zöliakie und NCGS) unterschiedlich beeinflusst (40): Bei gesunden Probanden führt eine Gluten-freie Diät zur Depletion nützlicher Spezies, z.B. Bifidobakterien, zugunsten opportunistischer Pathogene, z.B. Enterobacteriaceae und Escherichia coli (40). Im Gegensatz dazu führt eine Gluten-freie Diät bei Zöliakie und NCGS zur Wiederherstellung der Diversität der Mikrobiota-Population und zur Verringerung entzündungsfördernder Spezies (40).
Zusammenfassung
Wir stehen erst am Anfang des Verständnisses der komplexen Interaktionen zwischen unserer Mikrobiota und unseren Körperfunktionen. Schon jetzt ist aber klar, dass die Mikrobiota-Zusammensetzung unseres Darmes und deren Produktion von Metaboliten Einfluss auf Gesundheitsrisiken, entzündliche Erkrankungen, kardiovaskuläre Erkrankungen und auch psychiatrische Erkrankungen hat.
Die Zusammensetzung der Darm-Mikrobiota wird durch Umweltfaktoren bestimmt. Daher liegt es nahe, den Einfluss der Ernährung auf das Mikrobiom zu untersuchen. Viele solcher Einflüsse wurden festgestellt. Stillen nach einer vaginalen Entbindung führt zu einem diverseren Mikrobiom. Eine mediterrane Diät führt zu einer diverseren und günstigeren Mikrobiota. Dagegen hat eine vegetarische oder vegane Diät keinen konsistenten Einfluss. Wichtig ist darüber hinaus, dass eine Ernährungsintervention je nach Grunderkrankung unterschiedliche Auswirkungen haben kann. Eine Gluten-freie Diät führt bei Zöliakie-Patienten zu einer «Verbesserung» der Mikrobiota, bei Gesunden jedoch zu negativen Auswirkungen. Diätempfehlungen, wie sie von einschlägigen Labors auf der Basis einer individuellen Stuhlprobensequenzierung gemacht werden, sind nicht evidenzbasiert und können im Einzelfall durchaus schädlich sein. Patientinnen sollte abgeraten werden, für diese Untersuchungen sinnlos Geld auszugeben.
Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG
Prof. Dr. med. Dr. phil. Gerhard Rogler
Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie
UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich
gerhard.rogler@usz.ch
Consulting und Advisory Boards für Abbvie, Arena, Astra Zeneca, Augurix, BMS, Boehringer, Calypso, Celgene, FALK, Ferring, Fisher, Genentech, Gilead, Janssen, MSD, Novartis, Pfizer, Phadia, Roche, UCB, Takeda, Tillots, Vifor, Vital Solutions und Zeller; Vortragshonorare von Astra Zeneca, Abbvie, BMS, FALK, Janssen, MSD, Pfizer, Phadia, Takeda, Tillots, UCB, Vifor und Zeller; Grant Support von Abbvie, Ardeypharm, Augurix, Calypso, FALK, Flamentera, MSD, Novartis, Pfizer, Roche, Takeda, Tillots, UCB und Zeller. Co-Founder von PharmaBiome, einem Start-up zur Mikrobiomtherapie.
◆ Die Zusammensetzung der Darm-Mikrobiota wird durch Umweltfaktoren, wie z.B. unsere Diät mitbestimmt.
◆ Eine mediterrane Diät ist jedoch die einzige Ernährungsform, bei der sich die Studien einig sind, dass sie zu einer günstigen Mikrobiota-Zusammensetzung führt (Enterotyp 2).
◆ Gesunde sollten keine restriktiven Diäten (wie z.B. Gluten-freie Ernährung) durchführen. Dies kann – im Gegensatz zu Patienten – zu einer Dysbiose des Mikrobioms führen.
◆ Mikrobiomuntersuchungen durch kommerzielle Anbieter sind häufig aufgrund der Entnahmebedingungen wenig aussagekräftig. Darauf basierende Ernährungsempfehlungen sind nicht sinnvoll und entbehren einer soliden Evidenz.
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Hausärzte begegnen routinemässig in ihrer Praxis Patienten mit Schlafstörungen. Die Patienten klagen meist entweder über Müdigkeit, Schläfrigkeit, Ein-, Durchschlafstörungen oder Früherwachen. Schlafwachstörungen sind bei einer Gesamtprävalenz von etwa 44% in Schweizer Allgemeinpraxen ein häufig anzutreffendes Krankheitsbild (1).
Wichtig ist zunächst eine Begriffsklärung mit dem Patienten: Tagesmüdigkeit beschreibt die rasche mentale und körperliche Ermüdbarkeit, wohingegen Tagesschläfrigkeit eine hohe Einschlafneigung in unpassenden Situationen bezeichnet. Die Ursachen einer Schlafstörung sind vielfältig und bedürfen eines systematischen Vorgehens, damit die korrekte Diagnose gestellt und Behandlung eingeleitet wird (Abb. 1).
Schlafanamnese
An erster Stelle einer Abklärung steht neben einer vollständigen Anamnese unter Berücksichtigung der eingenommenen Medikamente und beruflichen Situation (Schichtarbeit, Arbeitsbelastung) ein 2-wöchiges Schlaftagebuch. Es eignet sich gemeinsam mit dem Patienten einen 24-Stundenablauf durchzugehen und dabei folgende Dinge zu erfassen: Bettgeh- und Aufstehzeiten, Einschlaflatenz, unruhige Beine im Bett, die Dauer des Wachliegens, Häufigkeit der Toilettengänge, Einschlaflatenz nach dem Erwachen in der Nacht, belastende Träume und Ausleben von Träumen (2). Eine zusätzliche Schlafdauer von mehr als 90 Minuten am Wochenende liefert Hinweise auf eine relative Schlafinsuffizienz als mögliche Ursache einer Tagesschläfrigkeit. Auch die Angaben des Bettpartners liefern wichtige Informationen: Schnarchen, nächtliche Atempausen und Bewegungen im Schlaf. Während Parasomnien wie Schlafwandel und Nachtschreck bei bis zu 10% der Kinder auftreten (3), sollten abnormale Verhaltensweisen im Schlaf, wie Ausleben der Träume bei Erwachsenen schlafmedizinisch abgeklärt werden.
Die Schlafanamnese wird durch die Krankengeschichte (chronische Erkrankungen, Schmerzerkrankungen) ergänzt. Viele Medikamente stören den Schlaf oder sedieren und verursachen so eine Tagesschläfrigkeit (Tab. 1). Ergänzend sollten Leber- und Nierenfunktionswerte, Eisenstatus inklusive Ferritin, Vitamin D, TSH Blutdruck, Körpergewicht und Grösse bestimmt werden. Ein kurzer Blick in den Rachen erlaubt Hinweise auf enge obere Rachenverhältnisse. Dies und ein grosser Halsumfang machen das Vorliegen einer schlafbezogenen Atemstörung wahrscheinlicher (4, 5).
Der wachliegende Patient
Ein grosser Teil der Patienten mit Schlaf-Wach-Störungen klagen über Einschlaf- und Durchschlafstörungen oder morgendliches Früherwachen. Dauern die Symptome länger als einen Monat, ist die Tagesbefindlichkeit eingeschränkt oder der Patient mit dem Schlaf nicht zufrieden, lässt sich eine Insomnie diagnostizieren (6). Wichtig ist, die Insomnie nicht nur als Begleitsymptom, sondern auch als eigenständig diagnostische Erkrankung zu bewerten. Denn: Eine unbehandelte Insomnie kann zu Depression und zu einer Verschlechterung von Komorbiditäten führen (7-9). Eine jüngste Studie belegt eine Prävalenz von 36% insomnischer Symptome in den Hausarztpraxen, 11% erfüllen die Kriterien einer chronischen Insomnie (10).
Mit Hilfe der Schlafanamnese kann zwischen einer chronischen Insomnie und einer zirkadianen Schlafwachrhythmusstörung (Schichtarbeit), fehlenden Tagesstruktur mit unregelmässigen Aufstehzeiten und spätem Chronotyp («Eule») unterschieden werden.
Restless-Legs Syndrom
Schlafbezogene Bewegungsstörungen wie das Restless-Legs Syndrom (RLS) oder eine obstruktive Schlafapnoe sind häufig verkannte Ursachen einer Ein- und Durchschlafinsomnie (11). Die vier obligaten klinischen Kriterien für die Diagnose eines RLS sind: (i) Missempfindungen in den Beinen assoziiert mit Bewegungsdrang, (ii) ausschliesslich in Ruhe und Entspannung, (iii) Besserung durch Bewegung und (iv) Betonung am Abend. Eine positive Familienanamnese, Ansprechen auf eine dopaminerge Therapie und der Nachweis von periodischen Beinbewegungen im Schlaf mittels Polysomnografie stützen die Diagnose (12). Sekundäre Ursachen eines RLS sind Eisenmangel, schwere Nierenfunktionsstörung, Medikamente (SSRI, Neuroleptika, Antiemetika und paradoxe Wirkung einer dopaminergen Therapie) oder Schwangerschaft und werden vom idiopathischen RLS unterschieden. Unabhängig der Ursache wird zunächst immer bei einem Ferritinwert unter 75 ug/mL eine orale Eisensubstitution empfohlen. Die weitere symptomatische Behandlung erfolgt je nach Schwergrad und Komorbiditäten:
Meistens durch eine dopaminerge Therapie oder mit alpha-2-delta-Liganden (Gabapentin, Pregabalin). Bei letzteren ist die Augmentationsgefahr (paradoxe Reaktion mit zeitlicher und topografischer Ausweitung der Beschwerden) deutlich geringer (13).
Belastungssituationen
Eine Insomnie tritt häufig gepaart mit einer Stimmungs- oder Angststörung auf, die allerdings nicht die Kriterien einer eigenständigen psychischen Erkrankung erfüllt. In diesen Bereich fallen auch Albträume: Diese sind ernst zu nehmen und können nachhaltig psychotherapeutisch mit Imagery Rehearsal Therapie behandelt werden (14). Zur Erfassung des Schwergrades der Insomnie eignet sich der Insomnia Severity Index (ISI) (15). Eine Polysomnographie ist gemäss Leitlinien nur bei Verdacht auf eine unterlagerte schlafbezogene Atemstörung, einer Bewegungsstörung im Schlaf oder bei fehlender Besserung unter Therapie indiziert (16).
Kognitive Verhaltenstherapie
Therapie der Wahl zur Behandlung der Insomnie ist die kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie (KVT-I). Ihre Wirksamkeit ist sowohl als kurz- als auch langfristige Therapie und bei älteren Patienten belegt (17). Zentrale wirksame Elemente sind Bettzeitrestriktion (Erhöhung des Schlafdrucks durch Verkürzung der Zeit im Bett) und Stimulus-Kontrolle (das Bett nur fürs Schlafen nutzen). Weiter werden Schlafedukation, schlafhygienische Empfehlungen und Entspannungsübungen vermittelt. Online-Therapieprogramme der KVT-I (www.somn.io, www.ksm-somnet.ch) haben sich in klinischen Studien als wirkungsvoll erwiesen (18, 19). Zudem stehen bereits Apps zur Verfügung (7Schläfer, sleepio). Eine medikamentöse Behandlung kann die kognitive Verhaltenstherapie bei Insomnie unterstützen, ist jedoch nicht zur langfristigen Therapie empfohlen. Zur kurzzeitigen Intervention von maximal 4 Wochen können Schlafmedikamente sinnvoll sein. Z-Medikamente (Zopiclon, Zolpidem) sind klassischen Benzodiazepinen aufgrund Nebenwirkungsprofil und Suchtpotential vorzuziehen. Antidepressiva mit schlafanstossender Wirkung wie zum Beispiel Trazodon sind eine wirksame Alternative (16). Obwohl die KVT-I in den Leitlinien empfohlen wird, erhalten derzeit nur 1% der Patienten in Schweizer Allgemeinpraxen diese Therapie (10).
Der schläfrige Patient
Exzessive Tagesschläfrigkeit bezeichnet einen erhöhten Schlafdruck mit unüberwindbarer Schlafneigung während des Tages (6). Diese führt zu Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit und Partizipation in Familie, Beruf (Strassenverkehr) und Gesellschaft. Der Epworth Sleepiness Scale (ESS) erfasst die subjektive Wahrscheinlichkeit des Einschlafens in verschiedenen Situationen (20). Eine exzessive Tagesschläfrigkeit wird dabei durch einen ESS-Wert ≥10 definiert (Skala von 0 bis 24). Die häufigste Ursache einer exzessiven Tagesschläfrigkeit bei jungen Menschen ist die chronische Schlafinsuffizienz (21, 22). Im Gegensatz dazu bezeichnet die Tagesmüdigkeit die mentale und körperliche Erschöpfbarkeit. Die Tagesmüdigkeit wird durch den Fatigue Severity Score (FSS) erfasst (23).
Schlafbezogene Atmungsstörungen
Häufige Auslöser einer exzessiven Tagesschläfrigkeit und unerholsamen Schlafes sind schlafbezogene Atemstörungen. Darunter fallen Atemflussunterbrüche oder -Limitationen (Apnoen und Hypopnoen) im Schlaf. Ein obstruktives Schlafapnoesyndrom wird diagnostiziert, wenn ein Apopnoe-Hypopnoe Index (AHI) >15/h vorliegt oder ein AHI >5/h zusätzlich neben einem weiteren typischen Symptom (6): Schnarchen, beobachtete Atemaussetzer, Gewichtszunahme, Nykturie sowie morgendlicher trockener Mund und Kopfschmerzen. Häufig weisen Frauen eine weniger ausgeprägte Symptomatik gegenüber Männern auf (siehe Fallbeispiel). Bei Frauen kann sich eine obstruktive Schlafapnoe atypisch als Durchschlafstörung oder Tagesmüdigkeit präsentieren. Bei tiefer Vortestwahrscheinlichkeit einer obstruktiven Schlafapnoe (STOP-Bang-Test) empfehlen wir eine Polysomnographie. Bei hoher Vortestwahrscheinlichkeit kann alternativ eine ambulante respiratorische Polygraphie durchgeführt werden (24, 25). Eine Polysomnographie dient auch zur Abgrenzung einer zentralen Schlafapnoe oder eines schlafassoziierten Hypoventilationssyndroms. Zur Behandlung einer relevanten Schlafapnoe (AHI >15/h) wird eine nächtliche Überdruckbeatmung empfohlen, oder abhängig von der Anzahl von Atemflusslimitation, eine Kieferprotrusionsschiene. Weitere flankierende Massnahmen sind: Gewichtsreduktion (eine 10%-Reduktion halbiert den AHI und führt häufig zur Symptomfreiheit (26)), regelmässige körperliche Bewegung, Rachenmuskeltraining, Vermeidung von abendlichem Alkohol und relaxierender Medikamente (insbesondere Benzodiazepine).
Fallbeispiel: Schnarchen hat viele Gesichter
Eine 64-jährige Patientin wird ambulant mit einer seit 2 Jahren bestehenden Durchschlafstörung mit Früherwachen vorstellig. Sie berichtet über eine ausgeprägte Tagesmüdigkeit und gedrückte Stimmung. Ein Therapieversuch mit Surmontil brachte keine Besserung der Beschwerden. Ergänzend zeigte sich anamnestisch eine Gewichtszunahme von 5 kg über 2 Jahre (BMI 28kg/m2), Nykturie und trockener Mund morgens. Die arterielle Hypertonie der Patientin wurde im letzten Jahr therapieresistent. Eine Polysomnographie wurde durchgeführt, welche einen AHI von 34/h zeigte.
Kommentar: Diese Patientin zeigte zwar nicht das klassische Bild einer Schlafapnoe mit Tagesschläfrigkeit und Schnarchen, aber bei gezielten anamnestischen Fragen wurden Hinweise auf eine schlafbezogene Atmungsstörung gefunden. Die Polysomnographie bestätigte die Verdachtsdiagnose mit einer schweren obstruktiven Schlafapnoe. Eine PAP-Therapie wird empfohlen. Die zusätzliche Behandlung der Insomnie mit der kognitiven Verhaltenstherapie ist ebenfalls in Betracht zu ziehen.
Hypersomnien
Eine zentrale Hypersomnie ist eine seltene, jedoch wichtige Differenzialdiagnose einer exzessiven Tagesschläfrigkeit. In dieser Krankheitsgruppe steht die Narkolepsie, die mehrheitlich auf eine Autoimmunreaktion gegen die hypocretinergen Nervenzellen im Hypothalamus zurückzuführen ist und in zwei Unterformen unterschieden wird: Bei der Narkolepsie Typ 1 (NT1) treten neben einer exzessiven Tagesschläfrigkeit auch Kataplexien auf. Dies sind kurze Episoden mit Verlust des Muskeltonus bei erhaltenem Bewusstsein, überwiegend ausgelöst durch eine deutliche emotionale (positiv) Auslenkung. Weitere Schlaf-Wach-Symptome sind hypnagoge und hypnopompe (beim Einschlafen bzw. beim Erwachen) Schlaflähmungen, schlafbezogene Halluzinationen und fragmentierter Schlaf. Der Nachweis eines verminderten Hypokretinwerts im Liquor (≤110 pg/ml) ist spezifisch für NT1. Patienten mit Narkolepsie Typ 2 weisen hingegen keine Kataplexien oder niedrige Hypokretin-Werte auf. Die Symptome sind im Vergleich zu Patienten mit NT1 weniger ausgeprägt (27, 28). Eine weitere bedeutsame Unterform der zentralen Hypersomnien ist die idiopathische Hypersomnie, welche durch unerholsame, lange Hauptruhephasen (>10 Stunden) und Tagesschläfchen definiert wird. Die Patienten weisen in der Regel ein erschwertes Erwachen und eine lange Schlaftrunkenheit auf (29). Sowohl die Narkolepsie Typ 2 als auch die idiopathische Hypersomnie sind Ausschlussdiagnosen und bedürfen einer schlafmedizinischen Abklärung mit Polysomnographie und Tagesuntersuchungen. Die Patienten profitieren von einer Therapie mit Stimulantien.
Livia G. Fregolente, MD Dipl. Biol. Albrecht P. A. Vorster Dr. med. Jurka Meichtry Prof. Dr. med. Claudio L. A. Bassetti Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital Bern Freiburgstrasse 18, 3010 Bern claudio.bassetti@insel.ch
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Die Autorinnen und Autoren haben keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
◆ Zentral zur Beurteilung einer Schlaf-Wachstörung ist die Anamnese zusammen mit einem Schlafprotokoll über zwei Wochen.
◆ Ergänzt wird die Anamnese durch Fragebögen (Epworth-Sleepiness Scale, Fatique Severity Score, Insomnia Severity Index).
◆ Bei Verdacht auf eine zentrale Ursache einer Hypersomnie, Augmentation eines Restless-Legs-Syndroms, Verdacht auf eine schlafassoziierte Atemstörung bei tiefer Vortestwahrscheinlichkeit, Parasomnien und chronische Insomnien empfehlen wir die Zuweisung zur Mitbeurteilung in ein Schlaf-Wach-Zentrum.
◆ Für Patienten mit einer Insomnie ist die kognitive Verhaltenstherapie die Therapie der ersten Wahl, diese ist mittlerweile auch online verfügbar.
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Unkomplizierte Harnwegsinfekte gehören zu den häufigsten bakteriellen Infektionen und damit zu den Spitzenreitern bezüglich der Verschreibung von Antibiotika. Die schnell steigenden Raten an antibiotikaresistenten Keimen sind gemäss WHO alarmierend, auch im ambulanten Bereich. Welche Rolle können pflanzliche Arzneimittel spielen in der Prävention und Therapie von Harnwegsinfekten im Sinne eines antibiotikasparenden Ansatzes?
Gemäss den aktuellen SSI-Guidelines (1) empfehlen das BAG und die Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie im Zeitalter der Antibiotikaresistenz bei unkomplizierten Harnwegsinfekten antibiotikasparende Therapieansätze, wie erhöhte Flüssigkeitsauf-nahme und NSAR (insbesondere Ibuprofen). In der Praxis werden diese Empfehlungen erweitert, indem unter anderem auch D-Mannose und ausgewählte pflanzliche Arzneimittel diskutiert werden (2). Bei unkomplizierten Harnwegsinfekten und in der Rezidivprophylaxe nimmt die Phytotherapie in vielen Praxen bereits einen festen Platz ein.
Im Folgenden werden Arzneipflanzen, welche häufig und traditionell breit abgestützt bei der Prophylaxe und Therapie von Zystitiden eingesetzt werden, aufgrund der pharmakologischen und klinischen Datenlage beurteilt.
Senfölhaltige Arzneipflanzen wie Meerrettich (Armoracia rusticana) und Kapuzinerkresse (Tropaeolum majus)
Die antibakterielle Wirkung der Isothiocyanate (Senföle) – auch gegen multiresistente Bakterienstämme – ist schon lange bekannt und konnte in vitro mehrfach belegt werden. Bezüglich Reduktion der Resistenzbildung und der Rezidivrate scheint die nachgewiesene Hemmung der bakteriellen Virulenzfaktoren (Internalisierung, Beweglichkeit) sowie der gefürchteten Biofilmbildung eine wichtige Rolle zu spielen. Angocin®, ein Kombinationspräparat mit Meerrettichwurzel (Armoracia rusticana) und Kapuzinerkressenkraut (Tropaeolum majus), welches in Deutschland seit Jahrzehnten und seit einigen Jahren nun auch in der Schweiz erhältlich ist, zeigt in den zahlreichen klinischen Studien deutliche antiinfektive und antientzündliche Eigenschaften bei Infekten der Harnwege sowie eine signifikante Reduktion der Rezidivrate von Harnwegsinfekten bei einer prophylaktischen Einnahme von zwei mal zwei Tabletten pro Tag (3). Da die Tabletten keine Extrakte, sondern die getrockneten Pflanzenteile enthalten, werden für die Akuttherapie hohe Tagesdosen von bis zu fünf mal fünf Tabletten für zwei Tage empfohlen, danach wird die Dosis reduziert. Die publizierten Studien verwendeten meist tiefere Dosen, wohl aus Adhärenzgründen. Es braucht zwar für die Ausheilung mit phytotherapeutischen Ansätzen generell eine längere Therapiedauer als mit Antibiotika, hingegen sinkt die Rezidivrate sowohl bei der alleinigen als auch bei der Add-on-Therapie von Angocin® zu Antibiotika (4).
Echte Goldrute (Solidago virgaurea)
Solidago virgaurea ist in der traditionellen Phytotherapie als typische Nierenpflanze bekannt. Verschiedene pharmakologische Untersuchungen zeigen diuretische, antiphlogistische und immunmodulierende Wirkungen, welche jedoch auf keinen einzelnen Inhaltsstoff zurückgeführt werden können. Daher bieten sich Zubereitungen aus Goldrutenkraut als Ergänzung zu rein antiseptisch wirkenden Arzneipflanzen an, um die Entzündungsreaktion der Schleimhäute zu dämpfen. Die gute Verträglichkeit ermöglicht den längerfristigen Einsatz auch zur Rezidivprophylaxe. Diese Erkenntnisse basieren jedoch auf der Erfahrungsmedizin und offenen, nicht randomisierten Studien (5).
Bärentraube (Arctostaphylos uva-ursi)
Extrakte aus Blättern der Bärentraube, Wirkstoff von Cystinol®, sowie das isolierte Arbutin zeigten nach enzymatischer Spaltung zu Hydrochinon bei unkomplizierten Harnwegsinfekten in vitro antibakterielle Effekte auch gegen relevante pathogene Keime. Obwohl die Forschung über Bärentraubenblätter auf die antibakterielle Wirkung von Arbutin bzw. Hydrochinon fokussierte, dürften auch der hohe Gerbstoffgehalt sowie die Flavonoide zur antibakteriellen und in vitro nachgewiesenen antiphlogistischen Wirkung beitragen. Die immer wieder diskutierte Toxizität von Arbutin kann nach aktuellem Wissensstand bei sachgemässem Gebrauch ausgeschlossen werden (6). Offiziell empfohlen wird nach wie vor eine Einnahme von maximal fünf mal pro Jahr während je maximal einer Woche. Auch ist der pH-Wert des Urins nicht relevant für die Wirksamkeit. Während für die Therapie von Harnwegsinfekten überzeugende klinische Daten fehlen, werden in den deutschen S3-Leitlinien zur Prävention von Harnwegsinfekten Bärentraubenblätterextrakte für maximal einen Monat empfohlen basierend auf einer Studie, welche nach einmonatiger Gabe in Kombination mit Löwenzahn eine lang anhaltende Rezidivreduktion beschreibt (7).
Kranbeere (Vaccinium macrocarpon) und Preiselbeere (Vaccinium vitis-idaea)
In vitro konnten Proanthocyanidine aus der in Nordamerika angebauten Kranbeere (Cranberry) die Adhäsionsfähigkeit von E. coli in höheren Konzentrationen sowie die Biofilmbildung hemmen (8). In der mit der Kranbeere verwandten europäischen Preiselbeere wurden ebenfalls zahlreiche phenolische Inhaltsstoffe, auch zahlreiche Proanthocyanidine gefunden. Zwar können die klinischen Daten zur Kranbeere nicht direkt auf die Preiselbeeren übertragen werden, aber es kann davon ausgegangen werden, dass die auf den Proanthocyanidinen bzw. deren Metaboliten basierende antiadhäsive Wirkung auch analog für die Preiselbeere gelten. Zumindest scheint eine Wirkung der derzeit zur Verfügung stehenden Preiselbeersäfte (als Nahrungsergänzungsmittel) aufgrund der Rückmeldungen der Patientinnen in den Hausarztpraxen und in den Apotheken vorhanden zu sein. Eine systematische Dokumentation fehlt aber leider. Möglicherweise ist die Effektivität auch der Proanthocyanidine eine Frage der Dosierung.
Ätherische Oele
Zunehmend werden auch ätherische Öle bezüglich ihrer antimikrobiellen und antiinflammatorischen Eigenschaften untersucht. Gegen E. coli sehr gute Wirkung und zum Teil auch eine ausgeprägte Hemmung der Biofilmbildung zeigten bei in vitro-Untersuchungen die ätherischen Öle von Thymian (Thymus zygis), Majoran (Origanum majorana), Oregano (Origanum vulgare) und Rosmarin (Rosmarinus officinalis). Für Oregano-Öl konnte in vitro eine gute antimikrobielle Wirkung gegen E. coli nachgewiesen werden, welche sich in der stationären Phase und nicht in der Wachstumsphase befanden, was bezüglich Persistenz der Bakterien und Rezidive relevant sein dürfte. Die Kombination von Oregano-Öl mit Chinolonen erreichte sogar eine mit Antibiotika allein nicht mögliche vollständige Eradikation der geprüften E. coli, die Wirkung von Nitrofurantoin wurde verstärkt (9). Solche Kombinationen bieten ganz neue therapeutische Ansätze. Denn ätherische Öle zeigen vielversprechende Optionen als Alternative oder Ergänzung zu Antibiotika, die es sich lohnt genauer in klinischen Studien zu untersuchen.
Phytotherapeutika – ungenutztes Potential
Wie zahlreiche in vitro-Untersuchungen und teilweise auch klinische Studien zeigen, liegt in Vielstoffgemischen, wie es Arzneipflanzen sind, ein interessantes antibakterielles Potential, welches die Resistenzbildung verhindern kann und auch bei multiresistenten Keimen zu greifen vermag. Es ist daher dringend notwendig, diese Erkenntnisse aus in vitro-Forschungen weiter klinisch zu prüfen. Es lohnt sich, Arzneipflanzen mit ihren diversen, auch die Virulenzfaktoren beeinflussenden Wirkprinzipien einzusetzen, um den Antibiotikaverbrauch zu minimieren. Dagegen erwähnen die aktuellen SSI-Guidelines lediglich Cranberry-Saft mit der Wertung, dass es bislang kaum Hinweise darauf gebe, dass Cranberry-Saft Harnwegsinfekte erfolgreich verhindere (1). Verschiedene Review-Artikel und die Erfahrungen aus dem Praxisalltag zeigen jedoch eine Rezidivreduktion insbesondere bei jungen Frauen (10).
Für einen erfolgreichen alleinigen therapeutischen Einsatz von pflanzlichen Arzneimitteln bei unkomplizierten Zystitiden gilt zu beachten, dass eine ausreichend hohe Dosierung gewählt werden muss, um die nötige Konzentration im Zielgewebe zu erreichen (s. Beispiel Senföle). Von Vorteil sind auch Kombinationen von Arzneipflanzen mit verschiedenen Wirkprofilen. So hat sich das Kombinationspräparat mit Tausendgüldenkraut, Liebstöckelwurzel und Rosmarinblättern (Canephron®), das seit kurzem auch in der Schweiz auf dem Markt ist, bei akuten Harnwegsinfekten bewährt (11). Individuelle Urtinkturen- oder Teemischungen – magistral zu verschreiben – mit antibakteriell, antientzündlich und aquaretisch wirkenden Arzneipflanzen wie Bärentraubenblätter (Uvae-ursi folium), Echtes Goldrutenkraut (Solidaginis virgaureae herba), Brennesselblätter (Urticae folium), Birkenblätter (Betulae folium), Schachtelhalmkraut (Equiseti herba) erweitern ebenfalls die Therapieoptionen.
Ein weiterer interessanter Ansatz ist die Kombination von Antibiotika mit pflanzlichen Zubereitungen. Erste klinische Studien mit Kombinationstherapien von Antibiotika mit Angocin® zeigten weniger Rezidive. Auch ätherische Öle in Kombination mit Antibiotika haben das Potential, die Entwicklung von Resistenzen zu hemmen. Angesichts des enormen Problems mit antibiotikaresistenten Keimen sind Forschungsansätze in dieser Richtung unerlässlich.
Urtinkturenmischung nach Rezeptur von Frau Dr. med. M. Oberholzer-von Tolnai
Tropaeoli majoris (Kaupuzinerkresse) tinctura 15 ml
Solidaginis virgaureae (Echte Goldrute) tinctura 20 ml
Urticae dioicae (Brennessel) tinctura 15 ml
D.S.: akut: 5 mal 20 gtt/d, prophylaktisch 3 mal 20 gtt/d oder vor
dem Schlafengehen 30 gtt nüchtern in etwas Wasser einnehmen.
Die Schweizerische Medizinische Gesellschaft für Phytotherapie SMGP ist der einzige Verband in der Schweiz, der eine kontinuierliche Fort- und Weiterbildung in Phytotherapie für die akademischen Medizinalberufe anbietet. Das Fähigkeitsprogramm Phytotherapie (SMGP) ist von den entsprechenden Gremien der Schweizer Medizin, Veterinärmedizin und Pharmazie anerkannt und seit vielen Jahren bewährt. Vermittelt werden Theorie und Praxis. Die jedes Jahr stattfindende Jahrestagung bietet einen vielfältigen Überblick zu aktuellen Themen. Die 35. Schweizerische Jahrestagung für Phytotherapie beleuchtet das Thema «Das therapeutische Potential antientzündlicher Arzneipflanzen» und findet am 25.11.2021 in Baden statt. Das Thema Harnwegsinfekte wird am 28. Oktober 2021 im Rahmen des Fähigkeitsprogramms in Wädenswil vertieft. Informationen zur SMGP und zu den Anlässen finden Sie hier:
www.smgp.ch
Ein herzlicher Dank gilt Herrn Dr. sc. nat. Beat Baumgartner, Herborama GmbH, für die zur Verfügung gestellten Fotos, sowie Herrn Prof. Dr. sc. nat. Beat Meier für die wertvolle Unterstützung.
Die Autorinnen haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.
◆ Senfölhaltige Pflanzen zeigen in vitro und in vivo gute prophylaktische und therapeutische antibakterielle Wirkung.
◆ Die Blätter der Bärentraube zeigen eine gute antibakterielle Wirkung bei bisher überschätzter Toxizität.
◆ Ätherische Öle bergen ein grosses antibakterielles Potential. Sie ermöglichen eine bessere Eradikation, auch von multiresistenten Keimen (hier ist auch eine Kombination mit Antibiotika denkbar).
◆ Kombinationen von antibakteriellen, aquaretischen und antiinflammatorischen Wirkprinzipien verschiedener Pflanzen haben sich in der Praxis bewährt.
◆ Für einen Antibiotika-sparenden Ansatz bei HWI können Phytotherapeutika einen wichtigen Beitrag in der Prophylaxe und Therapie, ev. als Add-on-Therapie, leisten.
1. https://ssi.guidelines.ch/guideline/2981 (Stand 28.4.21)
2. Altwegg O, Weisskopf S, Mattmüller M, Spieler P, Grandinetti T, Hilfiker A, Carp PC, Huttner A, Calmy A, Hasse B, Etter G, Tarr P., Akute Blasenentzündung – Behandlung ohne Antibiotika. Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(01):23-28.
3. Albrecht U, Goos KH, Schneider B., A randomised, double-blind, placebo-controlled trial of a herbal medicinal product containing Tropaeoli majoris herba (Nasturtium) and Armoraciae rusticanae radix (Horseradish) for the prophylactic treatment of patients with chronically recurrent lower urinary tract infections. Current Medical Research and Opinion. 2007;23(10):2415-2422.
4. Lau I, Albrecht U, Kirschner-Hermanns R., Phytotherapie bei katheterassoziierten Harnwegsinfekten: Beobachtungsstudie zur Wirksamkeit und Sicherheit einer fixen Kombination mit Kapuzinerkressenkraut und Meerrettichwurzel. Urologe A. 2018 Dec;57(12):1472-1480.
5. HMPC Assessment Report on Soliago virgaurea L., herba., 2008;Doc. Ref. EMEA/HMPC/285759/2007
6. de Arriba SG, Naser B, Nolte KU., Risk assessment of free hydroquinone derived from Arctostaphylos Uva-ursi folium herbal preparations. Int J Toxicol. 2013 Nov-Dec;32(6):442-53.
7. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/043-044l_S3_Harnwegsinfektionen_2017-05.pdf (Stand 21.5.21)
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La polypharmacie est un problème important et difficile à gérer dans la pratique quotidienne de tout médecin. Elle s’observe tout particulièrement chez les patients âgés. L’addition de pathologies nouvelles se surajoutant aux autres définit le principe de polymorbidité, elle-même responsable de cette polypharmacie. Même si ce problème concerne des patients par définition relativement fragiles, ayant un risque absolu plus élevé de mourir, l’intérêt de la dé-prescription médicamenteuse s’est tout de même (im)posé ces dernières années (1). Et ceci dans un contexte où l’on a peu à peu mis en balance l’utilité et l’efficacité des médicaments face aux attentes des patients (2).
Une étude italienne (3), parue très récemment, est intéressante à ce point de vue, car elle démontre les conséquences néfastes de l’interruption d’un traitement. Il s’agit d’une étude de cohorte qui a examiné 29 047 patients de Lombardie, âgés de plus de 65 ans, recevant simultanément un traitement à base de statines, d’anti-hypertenseurs, d’anti-diabétiques et d’anti-agrégants. De l’ensemble, 5 819 patients (20%) ont cessé de prendre leur statine, tout en continuant de prendre leurs autres traitements. Le suivi était de 3 ans. Comparativement au groupe de maintien, ces patients ont présenté un risque accru d’hospitalisation pour insuffisance cardiaque de 24 %, de nouvel évènement cardio-vasculaire de 14 %, de consultation dans un service d’urgence (de toute cause) de 12 %, et finalement de décès (de toute cause) de 15 %.
A noter que ce risque a été observé indépendamment du sexe, et autant en prévention primaire que secondaire. Une des faiblesses de l’étude est de ne pouvoir préciser la cause de l’arrêt des statines (décision du patient, de son médecin, conjointe ?).
Quoi qu’il en soit, alors que la plupart des essais randomisés excluent généralement les patients polymorbides et polymédiqués, cette étude permet de bien mieux préciser le rôle des statines dans cette catégorie de patients. Par ailleurs, ce travail soutient indirectement la nécessité d’une utilisation plus large des polypills, afin de diminuer le fléau de la polypharmacie.
Bonne lecture !
Dr Jérôme Morisod
jerome.morisod@hopitalvs.ch
Références :
1. Boyd CM et al. Clinical practice guidelines and quality of care for older patients with multiple comorbid diseases: implications for pay for performance. JAMA. 2005 Aug 10;294(6):716-24.
2. Riat F et al. Principes d’évaluation et de prise en charge des patients âgés polymorbides: guide a l’intention des cliniciens. Rev Med Suisse. 2012 Nov 7;8(361):2109-14.
3. Rea F et al. Cardiovascular Outcomes and Mortality Associated With Discontinuing Statins in Older Patients Receiving Polypharmacy. JAMA Netw Open. 2021 Jun 1;4(6):e2113186.