Ein oft verkannter atherothrombotischer Risikofaktor

Im letzten Jahrzehnt hat sich ein zunehmendes Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen kardiovaskulärem (CV) Risiko und erhöhten Lipoprotein(a)-Spiegeln, Lp(a), sowohl aus epidemiologischen als auch aus genetischen Studien herauskristallisiert (1, 2, 3). Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die derzeitigen Erkenntnisse zu Bedeutung und Umgang mit Lp(a) und Möglichkeiten der Lp(a)-Senkung.

Lipoprotein (a), Lp(a), ist das Produkt der kovalenten Bindung von Low Density Lipoprotein (LDL) und einem weiteren Protein, welches Apolipoprotein (a) genannt wird (4, 5). Apo (a) weist wie Plasminogen 5 Kringel-Einheiten auf, unterscheidet sich aber im Kringel IV von Plasminogen, welches einen Aminosäureaustausch dort aufweist, wo die Spaltung von Plasminogen in Plasmin erfolgt (6). Lp(a) besitzt deshalb keine Plasminaktivität und wirkt potentiell thrombogen. Aufgrund des LDL-Anteils (apo B) wirkt es zudem atherogen.
Lp(a)-Plasmawerte werden hauptsächlich genetisch durch den LPA-Genlokus kontrolliert, der durch einen umfangreichen Grössenpolymorphismus von apo(a) gekennzeichnet ist. Dieser Grössenpolymorphismus wird durch eine variable Anzahl verschiedener KIV-2-Wiederholungen verursacht. Die Grösse von Lp(a) ist sehr variabel und reicht von 300 bis 800 kDa. Personen mit kleinen apo(a)-Isoformen haben im Vergleich zu solchen mit grossen apo(a)-Isoformen höhere mediane Lp(a)-Spiegel. Die KIV-2-Kopienzahlvariationen allein erklären 19-77% der Variation der Lp(a)-Spiegel (7). Die Blutwerte von Lp(a werden vor allem durch die Genetik beeinflusst (Tab. 1).
Der Grössenpolymorphismus geht mit Schwierigkeiten bei der Etablierung eines allgemein akzeptierten Messverfahrens einher (9). Erstens geben die verfügbaren Assays die Ergebnisse in Masse (mg/dL) anstelle der Konzentration in nmol/L an, und eine direkte Umrechnung ist aufgrund der variablen Anzahl von Wiederholungseinheiten in verschiedenen apo(a)-Isoformen nicht möglich. Zweitens wurde von absoluten Unterschieden in Lp(a)-Messungen für einzelne Proben mit bis zu fast 80 mg/dL berichtet (10). Drittens sind die Lp(a)-Werte unterschiedlich, wenn die verwendeten Proben frisch sind oder über längere Zeit eingefroren wurden.
Lp(a)-Plasma-Werte oberhalb 30-50 mg/dL oder oberhalb 75-125 nmol/L gehen mit einem erhöhten Atherosklerose-Risiko einher (11). Ob ein klinisch relevanter Effekt auf das Thromboserisiko besteht, gilt als umstritten. Das Herzinsuffizienzrisiko ist wahrscheinlich Folge des erhöhten Risikos für KHK und Aortenklappenstenose. Pathophysiologische, epidemiologische und genetische Studien haben überzeugende Evidenz für die Kausalität von Lp(a) als Risikofaktor für die Entstehung von Myokardinfarkt, Schlaganfall, periphere arterielle Verschlusskrankheit, Herzinsuffizienz und kalzifizierte Aortenklappen-Erkrankungen erbracht (11 - 13).
Lp(a) ist auch mit dem Risiko für plötzlichen Herztod (SCD) assoziiert, wie die prospektive Studie Kupio Ischemic Heart Disease gezeigt hat (14). In dieser Studie wurden bei 1881 Männern im Alter zwischen 42 und 61 Jahren nach medianem Follow-up von 24.7 Jahren 141 SCDs registriert. Die Lipoprotein(a)-Werte waren logarithmisch-linear assoziiert mit dem Risiko für SCD. Die HR für ein SCD pro Standardabweichung (3.56-fach erhöht) war 1.24 (1.05-1.47; P = 0.013).

Lp(a) und residuales kardiovaskuläres Risiko

Die Beziehung zwischen LDL-C und kardiovaskulärem Risiko ist unbestritten, ebenso wie der Nutzen einer lipidsenkenden Behandlung. Es zeigt sich aber, dass trotz Erreichung des LDL-C-Zielwerts ein kardiovaskuläres Restrisiko persistiert. Dieses Restrisiko aufgrund der Lipide ist durch einen Anstieg triglyceridreicher Lipoproteine, tiefem HDL-C, qualitativen Veränderungen der LDL-Partikel und durch erhöhtes Lp(a) gekennzeichnet (15).
In der JUPITER-Studie (16) betrug der erreichte LDL-C-Wert 1.6mmol/l, aber Patienten mit Lp(a) > 50 mg/dL) hatten eine Inzidenzrate von 1.20 vs. 0.99 bei Patienten mit Lp(a) < 10 mg/dl. In der LIPID-Studie (17) betrug der erreichte LDL-C-Wert 2.9 nmol/l. Bei Lp(a)-Werten über 73 mg/dL wurde eine Zunahme von 23% in MACE registriert. Diese Daten unterstützen die unabhängige Rolle von Lp(a) in der Erhöhung des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse trotz optimaler Statintherapie.

Management erhöhter Lp(a)-Werte

In den ESC/EAS-Leitlinien 2019 zum Management von Dyslipidämien wurde empfohlen, mindestens einmal im Leben eine Lp(a)-Messung in Betracht zu ziehen (da der Spiegel stark genetisch bedingt ist) (18). Das Ziel besteht darin, Personen mit einem sehr hohen Lp(a)-Spiegel (≥ 180 mg/dL oder ≥430 mmol/L) und damit einem sehr hohen ASCVD-Risiko (atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung) zu identifizieren, welches ungefähr dem mit heFH (heterozygote Familiäre Hypercholesterinämie) verbundenen Risiko entspricht. Es wird ferner empfohlen, die Messung von Lp(a) bei ausgewählten Patienten mit einer Familienanamnese für vorzeitige ASCVD und zur Neuklassifizierung von Personen mit grenzwertigem (moderatem bis hohem) Risiko in Betracht zu ziehen. Während die amerikanischen Experten den anormalen Lp(a)-Spiegel als ≥ 50 mg/dL(≥ 100 nmol/L) definierten, wurde in den europäischen Leitlinien kein spezifischer Schwellenwert angegeben (18). Eine Senkung des Lp(a)-Spiegels kann zu einer Verringerung des Risikos für ASCVD führen. Wie jedoch Schätzungen aus Mendelschen Randomisierungsstudien zeigen, könnte die Senkung des Lp(a)-Spiegels zu einer geringeren Verringerung des KHK-Risikos führen als die gleich grosse Senkung von LDL-C (19, 20). Es wurde geschätzt, dass der Lp(a)-Spiegel um 65,7 mg/dL (95% CI 46,3-88,3) gesenkt werden müsste, um das Niveau der Reduktion des KHK-Ereignisrisikos (um 22%) zu erreichen, das mit einer Senkung von LDL-C um 38,7 mg/dL (ca. 1,0 nmol/L) verbunden ist (21).
In den Empfehlungen der (EAS) und der European Federation of Clinical Chemistry and Laboratory Medicine (EFLM) wird unter dem Titel «Quantified atherogenic lipoproteins for lipid-lowering strategies» vorgeschlagen, Lp(a) zu messen, um eine korrekte Messung des LDL-C bei Patienten mit schlechtem Ansprechen auf eine LDL-C-senkende Therapie zu erhalten (22). Bei solchen Patienten und bei Patienten mit sehr tiefen LDL-C-Werten kann der Lp(a)-Cholesterinanteil wesentlich zum gemessenen oder berechneten LDL-C beitragen und kann der Grund für eine geringere als die erwartete Senkung des LDL-C mit Statinen sein. Die Korrektur von LDL-C mit Lp(a)-Werten, die in mg/dL oder nmol/L angegeben werden, kann wie folgt durchgeführt werden:
Lp(a) korrigiertes LDL-C (mg/dL) = LDL-C(mg/dL) – Lp(a)(mg/dL) x 0,30
Lp(a) korrigiertes LDL-C (mmol/L = LDL-C(mmol/dL) – Lp(nmol/dL)) x 0,0078

Lp(a)-Senkung mit PCSK9-Inhibitoren

In der FOURIER-Studie mit Evolocumab war das relative Risiko für CAD-Tod, nicht-tödlichen MI oder die Notwendigkeit einer sofortigen koronaren Revaskularisation über 2,2 Jahre Follow-up im obersten Quartil des Lp(a)-Spiegels am höchsten im Vergleich zum untersten Quartil) und hing nicht vom LDL-C-Spiegel ab (23). Nach 48 Wochen Evolocumab-Therapie war der Lp(a)-Spiegel im Vergleich zu Placebo signifikant um 26,9% gesenkt. Das Risiko betreffend den zusammengesetzten Endpunkt war bei Patienten mit einem Lp(a)-Spiegel über dem Median um 23% niedriger und bei Patienten mit einem Lp(a)-Spiegel unter dem Median nur um 7% reduziert. In der Studie ODYSSEY OUTCOMES mit Alirocumab bei mit Statin-behandelten Patienten nach einem ACS waren die Ergebnisse ähnlich wie in der FOURIER-Studie (24). Die Lp(a)-Basiskonzentration in der Placebogruppe war ein Prädiktor für KHK-Tod, nicht-tödlichen MI, ischämischen Schlaganfall oder Hospitalisierung wegen instabiler Angina pectoris (major adverse CAD events, MACE) über 2,8 Jahre Follow-up (25). Jede Senkung des Lp(a)-Werts um 1,0 mg/dL unter Alirocumab war mit einer signifikanten Reduktion von MACE verbunden (HR 0,994, 95% CI 0,990-0,999). Dies galt auch für Senkung des mit Lp(a)-korrigierten LDL-C-Werts um 1,0 mg/dL. Die Autoren folgerten: «Die Basiskonzentrationen von Lipoprotein(a) und korrigiertem LDL-C sowie deren Senkung durch Alirocumab sagten das Risiko für MACE nach ACS voraus. Die Lp(a)-Senkung durch Alirocumab trägt unabhängig zur MACE-Reduktion bei, was nahelegt, dass Lipoprotein(a) ein unabhängiges Behandlungsziel nach ACS sein sollte.» (25). Die jüngste Post-hoc-Analyse der Phase-III-ODYSSEY-
Studien (ohne ODYSSEY-OUTCOMES) zeigte jedoch, dass die Senkung des Lp(a)-Basiswertes um 23,5 mg/dL mit Alirocumab (um 26,6% vs. 2,5% mit Placebo und um 21,4% vs. 0,0% mit Ezetimibe) nicht zu einer signifikanten Reduktion der schwerwiegenden koronaren Ereignisse (MACE) unabhängig von der Senkung des LDL-C-Wertes führte (26). Die Autoren folgerten, dass die Reduktion des MACE-Risikos durch eine gezielte Lp(a)-Senkung möglicherweise eine stärkere Lp(a)-Senkung mit wirksameren Therapien und/oder höheren Lp(a)-Anfangswerten erfordert.

Lp(a)-Senkung mit Antisense-Oligonukleotiden

Eine wirksamere Senkung von Lp(a) kann mit Antisense-Oligonukleotiden erzielt werden (27-29). Mit dem Antisense-Oligonukleotid AKCEA-APO(a)-LR (TQJ230; Pelacarsen) wurde eine mittlere Reduktion von Lp(a) um mehr als 80% erreicht (30). TQJ230 wird von Novartis weiterentwickelt und vermarktet. Die derzeit laufende HORIZON-Studie hat zum Ziel herauszufinden, ob TQJ230 sicher ist. Ausserdem möchte man untersuchen, ob TQJ230 das Risiko der Herz-Kreislauf-Erkrankten mit erhöhtem Lp(a)-Spiegel verringert, eine akute Verschlechterung zu erleiden.
Eine weitere Option ist die Lp(a)-Senkung durch RNAsilencing mit Olpasiran (Amgen 890) (31).

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Advisory Boards und Referentenhonorare Daiichi Sankyo, Amgen, Recordati, MSD und Sanofi.

◆ Die Bedeutung von Lp(a) als Risikofaktor für kardiovaskuläre und
zerebrovaskuläre Krankheiten ist heute unumstritten.
◆ Lp(a) scheint einen bedeutenden Anteil am residuellen Risiko (bei Statintherapie) zu haben.
◆ Wünschbare Lp(a)-Serumkonzentrationen liegen unter 50 mg/dl
(80. Perzentile)
◆ PCSK9-Inhibitoren senken Serum-Lp(a) um mehr als 25%.
◆ Neue Antisense-Oligonukleotid-basierte Therapien ermöglichen
Senkungen von Lp(a) bis mehr als 80%.

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Akute Lungenembolie

Die akute Lungenembolie (LE) gehört zu den kardiovaskulären Notfällen. Interventionelle Behandlungsansätze der akuten LE versprechen neben einer effektiven Behandlung unter anderem auch ein niedriges Komplikationsprofil. Die vorhandene Literatur gewährt aktuell nur Einblicke in die Effektivität und das Sicherheitsprofil von einzelnen kathetergestützten Therapieoptionen, dennoch sind die Ergebnisse konsistent und vielversprechend. Der nachfolgende Übersichtsartikel bietet einen Einblick in die gängigsten interventionellen Therapieansätze für die LE und die dazugehörigen Studienresultate.

Patienten mit einer akuten Lungenembolie (LE) sind kardiovaskuläre Notfälle, die von einem raschen therapeutischen Vorgehen profitieren. Zur Akutbehandlung der LE zählt, neben dem unmittelbaren Beginn einer Antikoagulation, die unterstützende Gabe von Sauerstoff für die Korrektur der Hypoxämie, die vorsichtige intravenöse Volumen-Bolusgabe zur Erhöhung der kardialen Vorlast, der rechtsventrikulären (RV) Dehnung und somit der RV-Kontraktilität, und der eventuelle Einsatz von kreislaufunterstützenden, vasoaktiven Medikamenten zur Stabilisierung der Hämodynamik. Bei Patienten mit massiver LE oder kardiogenem Schock sollte eine Reperfusionstherapie zur zügigen Auflösung des embolischen Materials und Entlastung des rechten Ventrikels in Erwägung gezogen werden. Obwohl die systemische, thrombolytische Therapie in dieser lebensbedrohlichen Situation mit einem klaren Überlebensvorteil verbunden ist, wird diese potentiell lebensrettende Therapie nur sehr zögerlich und erst nach umfangreicher Abwägung der Alternativen eingesetzt. Hohe Raten an schweren Blutungskomplikationen und die Möglichkeit eines fehlenden Therapieansprechens wurden in der Literatur beschrieben und werden mit der systemischen Thrombolyse in Verbindung gebracht.
Unterschiedliche minimal-invasive, interventionelle Reperfusionstechniken haben in den letzten Jahren Einzug in lokale Behandlungsalgorithmen der akuten LE gefunden und versprechen, neben einer zielgerichteten, vor allem auch eine schonende Behandlung des Patienten bei niedriger Komplikationsrate. Ob nun der Therapieansatz eine lokale und niedrigdosierte Lysetherapie mit einfachen Infusionskathetern umfasst oder mit aufwändiger ultraschallassistierter Kathetertechnik durchgeführt wird oder ob die Therapie durch Aspiration des embolischen Materials oder Extraktion des Embolus durch grosslumige Katheter erfolgt – alle diese Therapieverfahren versprechen eine effektive und sichere Therapiealternative zur systemischen Thrombolyse und der chirurgischen Embolektomie. Ob sich jedoch die einzelnen interventionellen Techniken ergänzen, oder ob die eine der anderen in Effektivität oder Sicherheit der Anwendung überlegen ist, wird durch die aktuelle Studienlage noch nicht beantwortet. Zudem verbleibt bisher unbeantwortet, ob die Wahl des speziellen Kathetersystems durch spezielle anatomische Gegebenheiten, die Lokalisation des Embolus oder auch individuelle klinische Voraussetzungen beeinflusst werden sollte. In erfahrenen Lungenembolie-Zentren wird die derzeitige Anwendung der einzelnen Systeme durch die Menge und Lokalisation des Embolus, die Hämodynamik und Klinik des Patienten, das antizipierte Blutungsrisiko sowie die Erfahrung des Operateurs oder der Institution vorgegeben.
Katheterbasierte und minimalinvasive, perkutane Behandlungsstrategien wurden bereits frühzeitig in der Literatur für die Behandlung der akuten LE beschrieben (1), beschränkten sich damals jedoch auf die mechanische Fragmentation des Embolus und eine lokale Bolusgabe von thrombolytischen Substanzen. Während die mechanische Segmentation des Embolus über eine simple, manuelle Rotation eines Pigtail-Katheters, durch Manipulation mit Führungsdrähten oder mit einem Swan-Ganz-Katheter im Bereich der teilokkludierten Pulmonalarterie erreicht wurde, erfolgte die lokale Lysegabe über kleinkalibrige Infusionskatheter oder den bereits verwendeten Pigtail-Katheter. Die periphere Embolisation des fragmentierten, zentralen Thrombusmaterials führte dabei jedoch zum Teil zu unantizipierbaren Ergebnissen mit klinischer und hämodynamischer Verschlechterung, welche durch eine zusätzliche vaskuläre Widerstandserhöhung und Belastung des RV bedingt waren. Die Entwicklung dedizierter Katheter und Instrumente für die Behandlung der akuten LE machen diese Behandlungstechnik obsolet.

Kathetergestützte Thrombolyse

Der frühe Beginn der kathetergestützten Thrombolyse wurde durch einfache Infusionskatheter geprägt. Die lokale Platzierung dieser 4-5 French grossen Infusionskatheter (Unifuse (Angiodynamics, Latham, NY, USA), oder Cragg-McNamaraTM Katheter (Medtronic, USA)) in den Bereich der betroffenen Lungenarterien führte zu einer effektiven Behandlung der Lungenembolie unter Einsatz von deutlich reduzierten Dosen von medikamentöser Thrombolyse (2).
Die vorliegende Evidenz zur kathetergestützten thrombolytischen Therapie der akuten LE wurde grösstenteils mit dem EkoSonicTM Endovascular System (EKOSTM) generiert. Der EKOSTM-Katheter besteht aus einem 5.4 French grossen Infusionskatheter mit mehreren kleinen Seitenlöchern im Bereich der Behandlungszone und einem integrierten Ultraschallkern (Abb. 1). Die Verwendung von Niedrig-energie-Ultraschall soll dabei durch ein mikroskopisches Aufbrechen der Fibrinfibrillen des Embolus zu einer verbesserten Penetration der medikamentösen Lyse führen, und die kumulative Dosis der Lyse auf das benötigte Minimum beschränken. EKOSTM wurde im Rahmen des randomisierten ULTIMA Trial (ULTrasound Accelerated ThrombolysIs of PulMonAry Embolism) gegen unfraktioniertes Heparin (UFH) bei LE-Patienten mit intermediärem oder hohem Risiko verglichen (3). Auch wenn die Patientenzahl dieser Studie auf gesamthaft 59 Teilnehmer beschränkt war, konnte die Effektivität des Systems in der Entlastung des RV demonstriert werden bei gleichzeitig vergleichbarer Sicherheit in beiden Behandlungsgruppen (EKOSTM und UFH gegen UFH) (Abb. 2). In der Beobachtungsstudie SEATTLE II erfolgte die Bestätigung der Ergebnisse des ULTIMA-Trials bei alltäglichen Patienten (4). In einer Analyse von 150 Studienpatienten zeigte sich bereits innerhalb von 48 Stunden nach Beginn der EKOSTM-Therapie eine Verbesserung der RV-Funktion und Reduktion des pulmonal-arteriellen Druckes. Auch wenn das Behandlungsprotokoll von ULTIMA und SEATTLE II bereits niedrige Dosierungen von 20mg rt-PA während 15 Stunden und 24mg rt-PA während 12 oder 24 Stunden mit EKOSTM vorgesehen hatte, konnte die Dosierung der Lysetherapie in der Studie OPTALYSE PE weiter reduziert werden (5). Dosen von 4–12mg rt-PA / Lunge über einen Behandlungszeitraum zwischen 2 und 6 Stunden bestätigen gleichwohl die Effektivität des EKOSTM-Systems bei einer niedrigen Rate an Blutungskomplikationen. Zugleich war jedoch aufgefallen, dass die Menge der Lysetherapie direkt mit der Resolution der Thrombuslast in den Lungenarterien assoziiert war.


Ob die zusätzliche Ultraschalltechnologie von EKOSTM in vivo die Effektivität der lytischen Wirkung auf den Embolus zusätzlich verbessert, wird aktuell in der Literatur heftig diskutiert (6). Befürworter der Technologie finden sich in den Resultaten einer kürzlich veröffentlichten systematischen Review und Meta-Analyse bestätigt. Nach der Zusammenlegung der Ergebnisse von 20 Studien mit knapp 1200 Patienten zeigte sich ein signifikanter Vorteil durch den Einsatz der ultraschallassistierten lokalen Thrombolyse für den Endpunkt des klinischen Erfolgs (kombinierter Endpunkt aus Überleben während der initialen Hospitalisation ohne hämodynamische Verschlechterung oder schwere Komplikationen) (7). Kritiker jedoch propagieren die Ergebnisse des SUNSET-PE-Trials (8). In dieser Studie wurden 81 Patienten mit akuter LE zur lokalen Lysetherapie mit entweder der ultraschallassistierten Technologie (EKOSTM) oder einem Standard-Infusionskatheter randomisiert. Beide Technologien waren ähnlich effektiv in der Behandlung der LE und zeigten keinen signifikanten Unterschied in der Reduktion der RV-Belastung und in der CT-Auswertung eines Obstruktions-Index während des Beobachtungszeitraums.
Ob die ultraschallassistierte Technologie einen zusätzlichen positiven Effekt auf die lokale Lysetherapie hat, kann aktuell durch die bestehende Datenlage nicht konklusiv beantwortet werden. Gut geplante randomisierte Studien mit einem standardisierten Behandlungsprotokoll müssen in naher Zukunft Antworten auf die verbleibenden Fragen bringen.

Interventionelle Embolektomie

Auch wenn lokale, kathetergestützte Lysetechniken in der klinischen Praxis angekommen sind und in erfahrenen Kliniken routinemässig eingesetzt werden, ist bei einer relevanten Patientenpopulation mit akuter LE der Einsatz jeglicher fibrinolytischer Massnahmen aufgrund eines deutlich erhöhten Blutungsrisikos kontraindiziert. Tabelle 1 gibt einen Überblick über absolute und relative Kontraindikationen für den Einsatz einer thrombolytischen Therapie. Minimal-invasive und kathetergestützte Verfahren zur Embolektomie oder Thrombaspiration komplementieren das Armamentarium für die Behandlung der akuten LE. Zwei unterschiedliche Embolektomie-Systeme haben aufgrund der verfügbaren Studienergebnisse Einzug in den klinischen Alltag gefunden.
Das FlowTriever® Embolektomie/Aspirationssystem (Inari Medical, Irvine, CA, USA) besteht aus einem flexiblen, grosslumigen (16/20/24 French)-Aspirationskatheter, welcher über einen femoralen Venenzugang in die pulmonale Zirkulation eingebracht werden kann. Dabei ist die Spitze des Katheters weich und atraumatisch, erleichtert die Passage durch den RV und vermeidet lokale Traumata an der dünnen Gefässwand. Der Katheter wird mit einer Aspirationsspritze verbunden, und nach Herstellen eines manuellen Vakuums wird der Sog direkt an die Katheterspitze freigegeben. Die manuelle Aspiration verhindert auf der einen Seite eine unkontrolliert starke Sogwirkung auf die Gefässwand und zudem einen unkontrollierten Blutverlust (Abb. 3). Neben der Aspirationsmöglichkeit verfügt das FlowTriever®-System über einen speziellen Katheter, der anhand von drei Nitinol-Disks die zusätzliche manuelle Extraktion des Embolus in den Aspirationskatheter möglich macht. In der multizentrischen FLARE-Studie konnte die unmittelbare Effektivität des FlowTriever® bei niedriger Komplikationsrate gezeigt werden (9). Eindrücklich war dabei, dass durch den sofortigen Effekt der Aspirationstherapie auf Hämodynamik und Beschwerden des Patienten in 4 von 10 Patienten keine Behandlung auf einer Intensivstation oder einer Intermediate-Care-Überwachung notwendig war.
Dem FlowTriever®-Embolektomie/Aspirationssystem steht das Penumbra Indigo®-Aspirationssystem gegenüber. Hier wird über einen 8–12 French-Aspirationskatheter und eine automatisierte Vakuum-Pumpe die Embolektomie bis in die peripheren Gefässe durchgeführt. Während die automatisierte Vakuum-Pumpe einen gewissen Vorteil in der kontinuierlichen Aspiration von Emboluspartikeln hat, ist ein unkontrollierter Blutverlust durch die kontinuierliche Aspiration unbedingt zu vermeiden. Im multizentrischen EXTRACT-PE-Trial wurde der bei 73.1% der Patienten der peri-prozedurale Blutverlust mit <400ml beschrieben (10). Dabei war die Effektivität und das Sicherheitsprofil von Penumbra insgesamt vergleichbar mit der Extraktionstechnologie des FlowTriever®.

Beurteilung

Unterschiedliche interventionelle Behandlungsstrategien finden ihren Einsatz für den Patienten mit akuter LE in der klinischen Routine und im Studiensetting. Dennoch verbietet die aktuell sehr limitierte Studienlage jedoch den unselektiven Einsatz der Katheterverfahren bei Patienten mit akuter LE. Nach einem Update der ESC Guidelines zur Diagnose und dem Management der akuten LE im Jahr 2019 ist es zu einem Upgrade der Behandlungsempfehlung von einer Klasse-IIb- auf eine Klasse-IIa-Empfehlung für die alternative Behandlung mittels Kathetertherapie gekommen (11). Der Einsatz der Katheterbehandlung ist in diesem ESC-Dokument jedoch noch auf Patienten mit einer Hochrisiko-LE, bei denen eine systemische Lysetherapie kontraindiziert ist oder auf Patienten mit hämodynamischer Verschlechterung als Alternative zu einer systemischen Thrombolyse beschränkt.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. med. Stefan Stortecky

Zentrum für Lungenembolien
Klinik und Poliklinik für Kardiologie
Universitätsspital, Inselspital Bern
Freiburgstrasse 20
3010 Bern

stefan.stortecky@insel.ch

Der Autor hat Forschungsgelder an die Institution von Edwards Lifesciences, Medtronic, Abbott Vascular und Boston Scientific erhalten; er fungiert als Berater für Boston Scientific/BTG und Teleflex und hat Honorare für Vortragstätigkeit von Boston Scientific und BTG erhalten.

◆ Minimal-invasive, kathetergestützte Reperfusionstechniken haben in den letzten Jahren Einzug in lokale Behandlungsalgorithmen der akuten LE gefunden,und versprechen neben einer zielgerichteten vor allem auch eine schonende Behandlung des Patienten bei niedriger Komplikationsrate.
◆ Der Therapieansatz einer niedrig-dosierten, lokalen Lysetherapie oder mechanischer Aspiration und Embolusextraktion mittels Kathetertechnik wird Patienten mit akuter LE in erfahrenen Lungenemboliezentren angeboten.
◆ Grossangelegte Studienresultate über die Effektivität und die Sicherheit der einzelnen Systeme fehlen aktuell noch, werden jedoch die entsprechende Literatur in der nahen Zukunft bereichern.

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Vitaminmangel am Beispiel der Folate

Ein Vitaminmangel ist anzunehmen, wenn die Versorgung einer Person mit diesem lebenswichtigen Mikronährstoff über längere Zeit zu gering und damit ungenügend ist. Dies kann sich in bekannten Krankheiten äussern wie beim Vitamine D (Rachitis) oder Vitamin C (Skorbut). Die Ernährungserhebung 2017 in der Schweiz sowie deutsche und europäische Studien zeigen, dass ein grosser Teil der Bevölkerung mit einzelnen Vitaminen unterversorgt ist.

Heute werden 13 für den Stoffwechsel unabdingbare Substanzen aus historischen Gründen als Vitamine bezeichnet. Bei einer ausgewogenen Ernährung, wie sie anhand der Lebensmittelpyramide der Schweiz. Gesellschaft für Ernährung (SGE) und des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) empfohlen wird, werden genügend Vitamine aufgenommen. Leider ist dies nur bei einem geringen Anteil der Bevölkerung der Fall, wie in der 2017 publizierten Ernährungsstudie «menue-CH» gezeigt wurde (1). Daraus lässt sich schliessen, dass ein grosser Teil der Bevölkerung ungenügend mit einzelnen Vitaminen versorgt ist. Insbesondere trifft dies für Folsäure, Vitamin D und B12 zu, wie dies auch deutsche und europäische Studien zeigen (2).

Referenzwerte, Wirkung, Verwertung, Mangel und Überdosierung

Seit der Entdeckung der Vitamine in den Jahren 1909-1941 haben sich die Kenntnisse über die einzelnen Vitamine so vermehrt, dass heute Referenzwerte für den täglichen Bedarf, Wirkung, Verwertung sowie Mangel- und Überdosierungserscheinungen bei allen Vitaminen bekannt sind (Tab. 1) (3). Neueste Erkenntnisse betreffen v.a. epigenetische Einflüsse, insbesondere von Vitamin D oder Folsäure, und Wirkungen im Zusammenhang mit dem Mikrobiom.
Die einzelnen Referenzwerte der Vitamine wurden durch wissenschaftliche Studien bestimmt oder durch Schätzungen festgelegt. Es handelt sich dabei um eine Verteilkurve mit einer optimalen Zufuhr und solchen im unteren oder oberen Normbereich mit Grenzwerten, da der Bedarf je nach körperlicher Verfassung, Leistung und Lebensstil schwanken kann (4). Durch gezielte Ernährungserhebungen von Bevölkerungsgruppen bei Gesundheitsanalysen ist es möglich, die Versorgung nach Altersgruppen, Regionen oder speziellen Fragestellungen zu bestimmen und bei Mangel entsprechende präventive Massnahmen einzuleiten. Indem epidemiologische Studien Personen mit einer Zufuhr im unteren Bereich und solche mit einer Zufuhr im oberen Bereich vergleichen, lassen sich allenfalls unterschiedliche Gesundheitsfaktoren finden, die auf einen marginalen oder subklinischen Vitaminmangel hinweisen. Dabei bestehen meist nur sogenannte Allgemeinsymptome, während sich die typischen Mangelsymptome erst bei einem markanten Vitaminmangel zeigen (4).
Manche Vitamine benötigen für ihre Aufnahme in die Zellen spezielle Rezeptoren und Transportproteine und müssen für die Wirkung in eine aktive Form umgewandelt werden. Diese Vorgänge können durch genetische und andere Faktoren beeinflusst werden und führen so zu Vitaminmangel (so genannter funktioneller Mangel). Dabei kann das ursprüngliche Vitamin, wenn es als solches im Blut bestimmt wird, normal sein. In Tabelle 2 sind die aktiven Wirksubstanzen und die für den Nachweis eines Vitaminmangels im Blut messbaren Wirksubstanzen und andere Indikatoren (Biomarker) zusammengefasst.

Verdacht auf Vitaminmangel

In der Praxis wird der Arzt bei entsprechenden Symptomen eines Patienten einen Vitaminmangel in Betracht ziehen und in der Folge die entsprechenden Untersuchungen zur Bestätigung der Diagnose einleiten. Dies kann einerseits durch eine Ernährungsanamnese oder eine Bestimmung des Vitamins im Blut, in Körperflüssigkeiten und Geweben sein oder kann mit anderen Indikatoren (Biomarkern) erfolgen (Tab. 2).
Steht ein Vitaminmangel fest, erhebt sich die Frage der Ursache eines solchen Mangels. Diese kann vielschichtig sein (Tab. 3). Neben einer Mangelernährung oder einseitigen Ernährung können auch ein erhöhter Bedarf bei Wachstum, Schwangerschaft und sportlichen Leistungen, sowie Einflüsse von Rauchen, Alkohol und Medikamenten von Bedeutung sein. Verluste bei Lagerung und Zubereitung wie auch Krankheiten, v.a. des Darms, können die Aufnahme behindern. Beim funktionellen Mangel fehlt oder ist die Wirkung des aktiven Vitamins reduziert, auch wenn die Nahrungsaufnahme normal erfolgt.
Die Vielschichtigkeit der Ursachen eines Vitaminmangels soll im Folgenden am Beispiel der Folate dargestellt werden.

Folate

Natürlicherweise vorkommende Folatverbindungen (Folate) finden sich in tierischen und pflanzlichen Lebensmitteln. Sie bestehen aus einem Pteridin- und einem Para-Aminobezoesäure-Ring mit bis zu 8 Glutamatresten am Carboxylende (Pteroylpolyglutamate). Sie sind gegen Licht, Sauerstoff und Hitze empfindlich und zerfallen in verschiedene Abbauprodukte. Es ist deshalb mit Lagerungs- und Zubereitungsverlusten zu rechnen. Die aktive Absorption im Darm nach Hydrolyse zu Monogluta-maten beträgt 50-60% (4). Die synthetische Folsäure (FS),
die zur Nahrungsergänzung und als Medikament eingesetzt wird, hat nur einen Glutaminsäurerest (Monoglutamat). Sie ist die stabilste Form des Vitamins, wird durch äussere Einflüsse wenig verändert und nüchtern zu annähernd 100% absorbiert. Wegen der unterschiedlichen Zusammensetzung und Absorptionsrate der Folate und FS wurde für die praktische Bedarfs- und Zufuhr-Berechnung der Begriff Folat-Äquivalent (FÄ) eingeführt: 1 FÄ = 1µg Nahrungsfolat = 0.5µg synth.FS = 0.6µg FS der Nahrung zugesetzt.

Wirkung der Folate

Folate wirken in der Form von Tetrahydrofolat (THF) und dessen Derivaten (5-Methyl-THF und 5,10 Methylen-THF) als Coenzyme, die C1 (Methyl)–Einheiten binden und auf Akzeptoren übertragen (so genannte C1-Donatoren). Sie sind an der Purin- und Pyrimidinsynthese wie auch an der DNS-Synthese und RNS- und DNS-Methylierung beteiligt und haben damit für Zellteilung, Zellwachstum, Zelldifferenzierung und Zellregeneration wichtige Bedeutung (Abb. 1) (5).

Versorgung mit Folaten

Diese erfolgt am besten durch eine ausgewogene Ernährung mit viel Obst und Gemüse. Besonders folatreich sind Leber, rohe Grüngemüse wie Grünkohl, Erbsen, Spinat und Salate. Nach Angaben in den schweizerischen Ernährungsberichten (4./5/.6./1998 – 2012) ist die Zufuhr grenzwertig (295µg /Tag) (6) oder bei manchen Altersgruppen (v.a. Jugendliche und Senioren) unter den Empfehlungen (D-A-CH-Referenzwert 300µg, bis zum Jahr 2015 400µg pro Tag). Serumfolatkonzentrationen < 7nmol/l sind als Folatmangel definiert, Werte < 10nmol/l gelten als subklinischer Mangel (Umrechnung in µg/l durch Division mit 2.266) (4). Besonders für Schwangere und Stillende wird mit einer ausgewogenen Ernährung der Bedarf von 550µg und 450µg/Tag nicht erreicht. Deshalb wird zur Verhütung eines Neuralrohrdefekts (NRD) für Frauen, die schwanger werden können oder möchten, eine zusätzliche tägliche Einnahme von mind. 400µg FS (am besten als Multivitamin) mindestens 4 Wochen vor Beginn der Schwangerschaft und in den ersten 12 Schwangerschaftswochen empfohlen (7). Eine Untersuchung in der Ostschweiz im Jahre 2002 zeigte, dass 97 % der Frauen in der Schwangerschaft Folsäure-Supplemente einnahmen, aber nur 37% bereits 4 Wochen vor Beginn und in den ersten 4 Wochen der Schwangerschaft (8). Dies ist wichtig, weil sich das Neuralrohr aus der Neuralplatte vom 18. – 26. Tag der Schwangerschaft entwickelt. In einer Untersuchung der Erythrocyten-Folat-Werte bei schwangeren Frauen im Jahre 2019 erreichten nur 47% einen Folatwert, der für eine Prävention des offenen Rückens erwünscht wäre (906 nmol/L) (9) Das BAG hat im Jahre 2008 mit der Broschüre «Folsäure ist unentbehrlich für die normale embryonale Entwicklung des Kindes» auf wichtige Aspekte zur Verhütung von NRD und andern Fehlbildungen wie Herzfehler oder Lippen-Kiefer-Gaumenspalten hingewiesen (10) und auch die Stiftung Folsäure Schweiz (SFS) versucht, die Bevölkerung über die optimale Zufuhr der Folsäure zu informieren und hat erreicht, dass in Zusammenarbeit mit ihren Partnern einzelne Nahrungsmittel mit Folsäure angereichert werden (11). Leider kann eine zu hohe Zufuhr von Folsäure auch gewisse negative Folgen haben (siehe unten) so dass die tägliche Zufuhr nicht über 1mg /Tag betragen sollte (12).

Verwertung der Folate

In der Darmmucosa wird Folsäure zu THF reduziert und methyliert und so an das Blut abgegeben. Die Kapazität dieser Umwandlung zu 5-Methyltetrahydrofolat (5-MTHF) ist beschränkt, so dass bei hoher Zufuhr auch unmetabolisierte freie FS ins Blut gelangen kann. Diese wird zu Dihydrofolat umgewandelt. Die Leber ist Hauptstoffwechsel- und Hauptspeicherorgan von Folat und reguliert die Versorgung der anderen Organe (4). Der intrazelluläre Transport erfolgt über verschiedene Transportsysteme (Tab. 4). Es sind dies «Carrier-, Rezeptor- und Transporter-vermittelte» Prozesse, bei denen auch genetische Defekte bekannt sind, wie z.B. die hereditäre Folatmalabsorption oder der cerebrale Folatmangel (13). Die Gesamt-Folatmenge im Körper beträgt 10-100 mg, wobei 3-16 mg in der Leber gespeichert sind. Diese Körperreserven gewährleisten bei fehlender Einnahme eine wünschenswerte Serum-Folatkonzentration über 3-4 Wochen (4). In Abb 1 ist die Bedeutung der FS für den Homocystein (Hcy)–Methionin–Stoffwechsel ersichtlich, bei dem auch andere Vitamine, B2, B6 und B12, beteiligt sind. Dabei ist auch die besondere Bedeutung der FS als Methyl (C1-) Donator erkennbar.
Die Methylierung von DNS/RNS ist ein wichtiger epigenetischer Faktor. Bei der 5,10-MTHF-Reduktase bestehen verschiedene Polymorphismen (z.B. MTHFR C677T), die mit einer verminderten Enzymaktivität verbunden sind und damit den Folatbedarf der Betroffenen erhöhen. Der Folatmangel kann – wie ersichtlich – zu einer verminderten Umwandlung von Hcy zu Methionin und damit zu einer Erhöhung von Hcy führen, was auch indirekt auf einen Folatmangel hinweist neben der direkten Bestimmung der Folate im Serum (Momentanwert) oder in den Erythrocyten (Speicherwert). Hereditäre Defekte der aufgezeigten Enzyme sind bekannt, aber selten, und führen zu deutlichen Entwicklungsstörungen bei den betroffenen Kindern.

Präventive Aspekte der Folsäure

Neben der bedeutenden präventiven Bedeutung der Folsäure (FS) zur Verhütung von Neuralrohrdefekten (NRD) sind bei FS auch Risiken bekannt für chronische Krankheiten, die mit einer Erhöhung von Hcy einhergehen, wie bei kardiovaskulären Krankheiten und Schlaganfall oder Depressionen. Auch eine Risikosenkung durch FS bei neurodegenerativen Krankheiten wurde diskutiert (14). Tabelle 5 fasst einige präventive Aspekte der FS zusammen (15). Insbesondere in der Schwangerschaft (SS) und in den beiden ersten Lebensjahren können sich epigenetische Veränderungen (DNS-Methylierung) auswirken. So haben epidemiologische Untersuchungen in nordischen Ländern mit Mutter-Kind-Paaren mit niedrigem Folatspiegel in der SS ein erhöhtes Risiko für Autismus oder ADHS bei den Kindern gezeigt (16). Zahleiche Arbeiten weisen auf eine präventive Wirkung der FS bei Depressionen und Demenz im Alter hin (14).

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Prof. em. Dr. med. Kurt Baerlocher

Tanneichenstrasse 10
9010 St. Gallen

k.baerlocher@bluewin.ch

Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Folsäure Schweiz.

◆ Bei Arbeiten über die Versorgung mit Folsäure, Vitamin B12 und D wird immer wieder auf einen Mangel in bestimmten Bevölkerungsgruppen hingewiesen.
◆ Die Ursachen für einen Mangel können vielschichtig sein. Eine besondere Bedeutung haben funktionelle Mängel, bei denen – meist durch genetische Faktoren – das aktive Vitamin im Organismus nicht oder nur zu wenig gebildet werden kann.
◆ Folate sind ein gutes Beispiel, um die verschiedenen Ursachen eines Vitaminmangels und auch die präventive Bedeutung eines Vitamins aufzuzeigen. Beispiel dafür ist die Verhütung von NRD bei Frauen, die schwanger werden können oder möchten durch die tägliche Supplementierung von mindestens 400µg Folsäure während der prä- und perikonzeptionellen Phase und in den ersten 12 Schwangerschafts-
wochen.
◆ Bei unausgewogener Ernährung und entsprechenden Symptomen kann sich eine Vitaminsubstitution als hilfreich und präventiv erweisen.

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Harninkontinenz beim Mann

Auch wenn die Harninkontinenz häufig bei Frauen auftritt, betrifft Sie auch einen beträchtlichen Teil der Männer. Die geschätzte Prävalenz von Inkontinenz variiert von 11% bei den 60-64-jährigen bis 31% bei älteren Männern (1). Definiert wird sie gemäss der International Continence Society (ICS) als «unwillkürlicher objektivierbarer Urinverlust, welcher zu sozialen oder hygienischen Problemen führt» (2). Sie wird in drei Hauptformen unterteilt: Dranginkontinenz (urgency urinary incontinence), welche die häufigste Form bei Männern darstellt, Belastungsinkontinenz (stress urinary incontinence), welche in < 10% der Fälle auftritt, sowie Mischinkontinenz (mixed urinary incontinence, Tab. 1) (3).

Bezüglich der Behandlungsmöglichkeiten stehen sowohl Lifestyle- Modifikationen, medikamentöse als auch chirurgische Methoden zur Verfügung. Der folgende Artikel soll einen kurzen Überblick über die Diagnostik sowie die Behandlungsmöglichkeiten schaffen.

Diagnostik

Anamnese

Gemäss ICS kann die Diagnostik in eine Basisabklärung, welche in der hausärztlichen Praxis erfolgen kann, und in eine erweiterte Diagnostik beim Spezialisten eingeteilt werden (4). Zu beachten ist, dass beim Mann die Inkontinenz häufig nicht als alleiniges Symptom auftritt, sondern in Zusammenhang mit anderen Symptomen (LUTS – Lower Urinary Tract Symptoms). Das wichtigste Instrument der Diagnosestellung einer Inkontinenz ist deshalb die ausführliche Anamnese, um mögliche Differentialdiagnosen wie Harnwegsinfekte, die Überlaufblase und eine gutartige Prostatavergrösserung zu erfassen. Hierzu können zur Hilfe auch Fragebögen eingesetzt werden, wie zum Beispiel der ICIQ (International Consultation on Incontinence Questionnaire, https://iciq.net.) (5).
Die wichtigsten Fragen der Anamnese betreffen die Häufigkeit, den Zeitpunkt, die Umstände und die Menge des Urinverlusts (6). Patienten welche zusätzlich über eine Alg- oder Makrohämaturie klagen, oder aber eine Anamnese von rezidivierenden Harnwegsinfekten haben, sollten einem Urologen respektive einer Urologin zu weiteren Abklärungen zugewiesen werden (7).
Zusätzlich sollte eine allgemeine Anamnese über bestehende Krankheiten, insbesondere neurologische Erkrankungen, Voroperationen sowie eine allfällige Medikamenteneinnahme durchgeführt werden.

Miktionsprotokoll

Zur besseren Objektivierung der Trink- und Miktionsgewohnheiten dient die Durchführung eines Miktionsprotokolls. Hierbei sollte an mindestens drei aufeinanderfolgenden Tagen eine genaue Dokumentation der Trinkmenge, Miktionshäufigkeit, der Miktionsmenge, des verspürten Harndrangs sowie allfälligen Inkontinenzereignissen geführt werden.

Körperliche Untersuchung

Neben der Anamnese gehört ebenfalls eine körperliche Untersuchung bei Erstkonsultation dazu. Es sollte hierbei sowohl eine Digital-Rektale Untersuchung (DRU) der Prostata zum Ausschluss eines suspekten Tastbefundes, aber auch zum Ausschluss einer Prostatitis durchgeführt werden. Neben der DRU gehört ebenfalls die abdominale Palpation zum Ausschluss von abdominellen Raumforderungen oder einer Überlaufblase dazu, sowie ein grober neurologischer Status und die Beurteilung des äusseren Genitales (7).

Labor

Zum Ausschluss eines Harnwegsinfektes sollte ein Urinstreifentest durchgeführt werden. Sollte sich hierbei der Hinweis auf eine Leukozyturie zeigen, empfiehlt sich die Anlage einer Urinbakteriologie sowie die resistenzgerechte antibiotische Behandlung. Während eines Harnwegsinfektes können sich die Symptome einer Harninkontinenz verschlechtern (8). Jedoch sollten ältere Menschen mit einer Urininkontinenz und einer asymptomatischen Bakteriurie nicht routinemässig antibiotisch behandelt werden (9).

Sonografie

Mittels sonografischer Untersuchung kann sowohl die postmiktionelle Restharnbestimmung, als auch eine ungefähre Abschätzung der Prostatagrösse erfolgen. Dadurch kann eine Überlaufblase ausgeschlossen werden.

Erweiterte Diagnostik

Zur erweiterten Diagnostik in der urologischen Sprechstunde gehören die Urinflussmessung, welche gewisse Hinweise auf eine infravesikale Obstruktion geben kann. Eine weiterführende urologische Abklärung stellt die Urodynamik dar. Durch die urodynamische Untersuchung kann zwischen einer Harnblasenspeicher- und Entleerungsstörung differenziert werden. Zudem kann die Funktion des Detrusors beurteilt und neurologische Ursachen festgestellt werden. Die Urethrozystoskopie (Blasenspiegelung) kann morphologische Veränderungen der Harnwege detektieren und dient insbesondere bei Hämaturie zum Ausschluss einer Malignität der Harnblase.

Therapie der Harninkontinenz

Konservativ

Zunächst sollte die Behandlung möglicher Begleiterkrankungen wie z.B. Metabolisches Syndrom, Herzinsuffizienz, neurologische Erkrankungen, obstruktives Schlafapnoesyndrom oder Obstipationen behandelt werden (7). Zeigt sich in der Untersuchung eine Blasenentzündung oder Prostatitis, sollte diese ebenso behandelt werden und im Anschluss eine Reevaluation der Inkontinenz stattfinden.
Bei einer vorherrschend störenden Nykturie sollte eine Flüssigkeitsrestriktion abends erfolgen, zusätzlich kann gegebenenfalls die Umstellung einer diuretischen Therapie eine Wirkung zeigen.
Weiter kann ein Beckenbodentraining unter Anleitung einer geschulten Physiotherapiefachkraft eine Besserung bringen. Eine schnellere Rehabilitation der Belastungsinkontinenz nach stattgehabter radikaler Prostatektomie durch Beckenbodentraining konnte nachgewiesen werden (10).

Medikamentöse Therapien

Zeigt sich kein signifikanter Restharn, können als medikamentöse Therapie der Dranginkontinenz Anticholinergika eingesetzt werden. Hierbei gibt es zwischen den auf dem Markt zugelassenen anticholinergen Medikamente keine grossen Unterschiede bezüglich der Wirksamkeit. Als häufigste Nebenwirkungen werden Mundtrockenheit, Obstipation, Fatigue, Verschwommensehen und kognitive Einschränkungen genannt (11). Insbesondere bezüglich letzterem ist bei älteren, kognitiv bereits eingeschränkten Patienten Vorsicht geboten.
Neben einer anticholinergen Therapie besteht die Möglichkeit einer Therapie mit einem Beta-3-Agonisten (Betmiga), welcher in einer Phase-III-Studie signifikant bessere Wirkung verglichen mit Placebo zeigte (12). Es besteht ausserdem die Möglichkeit der Kombination von Betmiga mit einem Anticholinergikum, wobei sich ein verbessertes Therapieansprechen zeigte (13).
Zeigt sich zusätzlich der Verdacht auf eine Prostatahyperplasie, können auch Alphablocker oder 5-Alpha-Reduktasehemmer als Therapie, gegebenenfalls in Kombination mit einem Anticholinergikum oder Beta 3 Mimetikum, eingesetzt werden (4).
Zeigt sich kein gutes Ansprechen auf die Therapie mittels Lifestylemodifikation, Beckenbodentraining und/oder medikamentöser Therapie, ist eine weiterführende urologische Abklärung empfohlen.

Interventionelle und operative Therapien

Sollte sich die medikamentöse Therapie ausgeschöpft oder sollten sich die unerwünschten Wirkungen zu dominant zeigen, gibt es für die Dranginkontinenz die Möglichkeit einer transurethralen Botoxinjektion (Onabotulinum Toxin A) in den Detrusor vesicae. Hierbei gilt zu beachten, dass es zu erhöhten Restharnmengen, sowie gegebenenfalls einer Notwendigkeit eines intermittierenden Selbstkatheterismus kommen kann (14). Die mediane Wirkzeit für Botox-Injektionen zeigte sich bei 7,5 Monaten (15).
Weitere Therapiemöglichkeiten ergeben sich durch elektrische Stimulation. Diese kann sowohl transkutan (TENS,­ transkutane elektrische Nervenstimulation), perkutan (PTNS, perkutane tibiale Nervenstimulation) oder über die sakrale Neuromodulation (SNM) erfolgen. Für die PTNS konnten hierbei Erfolgsraten zwischen 54 und 59% gezeigt werden (16). Eine Cochrane-Analyse konnte die Wirksamkeit von einer SNM-Implantation bei ansonsten therapierefraktären Patienten zeigen (17).
Bei einer Dranginkontinenz aufgrund einer Blasenauslass­obstruktion gibt es neben der medikamentösen Therapie ebenfalls minimalinvasive (iTind, Prostataarterienembolisation etc.) oder operative (TUR-P, HoLEP, Aquaablation etc.) Verfahren.
Operativ gibt es insbesondere bei Belastungsinkontinenz nach radikaler Prostatektomie die Möglichkeit von urethralen Schlingen, welche jedoch mit einer hohen Rate an Komplikationen einhergehen (18). Eine weitere Therapieform besteht mit dem artifiziellen Sphinkter.
Sollten sich ausgesprochen schwere Verläufe einer Harninkontinenz zeigen, kann sowohl eine Blasenaugmentation als auch ein Ileum-Conduit (19) diskutiert werden.

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Med. pract. Anne Neuenschwander

Klinik für Urologie
Kantonsspital St. Gallen,
Rorschacherstrasse 95
9007 St. Gallen

Anne.Neuenschwander@kssg.ch

Dr. med. Janine Langenauer

Klinik für Urologie
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacherstrasse 95
9007 St. Gallen

Prof. Dr. med. Hans-Peter Schmid

Klinik für Urologie
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacherstr. 95
9007 St. Gallen

Die Autoren haben deklariert, keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.

◆ Die Diagnostik der Inkontinenz kann in eine Basisdiagnostik sowie eine erweiterte Abklärung in der urologischen Sprechstunde unterteilt werden
◆ Neben einer ausführlichen Anamnese gehört stets ein Urinstatus sowie eine Sonographie zum Ausschluss eines Infektes und einer Überlaufblase zur Basisdiagnostik in der Praxis
◆ Patienten mit asymptomatischer Bakteriurie sollten nicht routinemässig antibiotisch therapiert werden
◆ Bei Dranginkontinenz können als medikamentöse Therapie Anticholinergika, gegebenenfalls in Kombination mit einem Beta-3-Agonisten eingesetzt werden
◆ Operative Verfahren stehen hauptsächlich bei Belastungsinkontinenz zum Beispiel nach radikaler Prostatektomie zur Verfügung

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Chronische Heiserkeit – wann abklären?

Fragen:

Was ist die Ursache der Heiserkeit?
A. Stimmlippenpolyp
B. Stimmlippenparese
C. Reinke-Ödeme
D. Aufgrund des Stimmbefundes kann keine klinische
Diagnose gestellt werden

Welche sind Ihre weiteren Schritte?
A. Keine Therapie, Kontrolle in 3 Wochen
B. Laryngoskopie oder Überweisung zum HNO Arzt oder Phoniater
C. CT Larynx und Hals
D. MRI Larynx und Hals

Diskussion

Wir haben vor uns eine 58-jährige Raucherin mit chronischer Heiserkeit, ohne weitere Symptome. Zur Beschreibung des Heiserkeitstyps wird das RBH-System benutzt (R = Rauigkeit, B = Behauchtheit, H = Heiserkeit). Dabei werden Werte von 0-3 vergeben. Eine normale Stimme wird mit R0 B0 H0 beurteilt, bei unserer Patientin ist die Stimme mit R2 B0 H2 mittelgradig rau, nicht behaucht und mittelgradig heiser.
Die Ursachen der Heiserkeit sind sehr unterschiedlich, von banalem Infekt bis zu einem malignen Tumor. Dabei kann eine Diagnose rein anhand des akustischen Befundes der Stimme nicht gestellt werden. Man kann zwar anhand der Anamnese und Dauer der Heiserkeit gewisse Vermutungen anstellen, eine Laryngoskopie bei einem HNO Arzt oder Phoniater ist jedoch unerlässlich. Eine Laryngoskopie wird grundsätzlich empfohlen, wenn eine neu aufgetretene Heiserkeit länger als 3 Wochen persistiert und nicht abklingen will. Die Dringlichkeit hängt zudem von den Begleitumständen (Stridor, Hämoptoe) und den Risikofaktoren (Nikotin- und Alkoholabusus) ab.
Bei unserer Patientin mit über Monate rauer Stimme kommen am ehesten folgende Diagnosen in Frage:

Chronische Laryngitis (Abb. 1):
Bei chronischem Nikotinkonsum (als weitere ätiologische Faktoren werden auch ein gastro-ösophagealer Reflux, Allergien, Irritation durch trockene staubige Luft oder ätzende Dämpfe, Mundatmung oder fehlende Stimmschonung nach akuter Laryngitis diskutiert).

Stimmlippenkarzinom (Abb. 2):
Hier würde man eher eine kürzere Symptomdauer von 2-4 Monaten erwarten. Es wäre jedoch auch eine Entartung auf Grund einer chronischen Laryngitis mit somit längerer Anamnese möglich. Bei Stimmlippenkarzinomen ist eine Früherkennung durch eine rechtzeitige Laryngoskopie wichtig und auch möglich, da sich bereits kleine Stimmlippenkarzinome meistens rasch durch Heiserkeit manifestieren. In frühem Stadium kann eine günstige Prognose durch alleinige mikrolaryngoskopische Resektion oder primäre kleinvolumige Bestrahlung erwartet werden.

Stimmlippenpolyp (Abb. 3):
Es spielen ursächlich mechanische Faktoren wie Stimmüberlastung und Rauchen eine Rolle.

Reinke-Ödeme:
Ein Ödem im sogenannten Reinke-Raum der Stimmlippen, also im spaltförmigen Raum zwischen dem Stimmlippenepithel und dem darunterliegenden Bindegewebe. Das Reinke-Ödem ist gut als glasige Schwellung meistens beider Stimmlippen in der Lupenlaryngoskopie erkennbar.

Larynxpapillomatose (Abb. 4):
Diese virale Kehlkopferkrankung, verursacht durch Humane Papillomaviren (HPV), kann in jedem Alter auftreten. Auf den Stimmlippen sind kleine Papillome mit himbeerartigem Charakter erkennbar. Eine Biopsie ist empfehlenswert, einerseits mit Frage nach Virustyp (6 und 11 gehören zur «Low-Risk-Gruppe» für Malignitätspotenzial, 16 und 18 gehören dagegen zur «High-Risk-Gruppe»), anderseits mit Frage nach bereits vorhandenen Dysplasien.
Als weitere Differenzialdiagnosen sind auch Presbyphonie, funktionelle Dysphonie oder Stimmlippenzysten zu erwähnen.

Bei unserer Patientin zeigte sich folgender laryngostroboskopischer Befund:
Bei dieser glasigen und glatten Schwellung der beiden Stimmlippen kann eindeutig die Diagnose eines Reinke-Ödems gestellt werden. Typische Patienten sind rauchende und kommunikative Frauen im Alter von 50-60 Jahren. Eine maligne Entartung muss nicht befürchtet werden. Für die Prognose ist das Sistieren des Nikotinkonsums wichtig. Bei geringem Leidensdruck oder Initialstadium kann mit logopädischer Stimmtherapie und Nikotinstopp eine gewisse Besserung erreicht werden, in den meisten Fällen ist jedoch eine phonochirurgische Abtragung in einer kurzen Narkose nötig. Insbesondere ist eine Abtragung indiziert, wenn es bei grossen Ödemen bereits zur Belastungsdyspnoe kommt.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Christoph Schlegel-Wagner

Klinik für Hals-Nasen-Ohren- und Gesichtschirurgie (HNO)
Luzerner Kantonsspital
Spitalstrasse
6004 Luzern

christoph.schlegel@luks.ch

Dr. med. Andrea Rambousek

Luzerner Kantonsspital Luzern, Abteilung Phoniatrie und
Pädaudiologie
Klinik für Hals-, Nasen-, Ohren- und
Gesichtschirurgie
Spitalstrasse
6000 Luzern 16

andrea.rambousek@luks.ch

Dr. med. Seo Simon Ko

Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie
Klinik für Hals-, Nasen-, Ohren- und Gesichtschirurgie
Luzerner Kantonsspital
Spitalstrasse
6000 Luzern 16

seosimon.ko@luks.ch

Kein Konflikt in Zusammenhang mit diesen Fallbesprechungen.

◆ Eine über 3 Wochen anhaltende und nicht abklingende Heiserkeit soll mittels Laryngoskopie, in der Regel bei einem HNO-Arzt/Phoniater, abgeklärt werden, insbesondere bei Risikofaktoren wie Nikotin- und Alkoholabusus.
◆ Reinke-Ödeme sind typisch bei rauchenden Frauen >40 Jahre mit hoher Stimmbelastung und tiefer rauer Stimme. Je nach subjektivem Leidensdruck durch die Dysphonie können sie mikrolaryngoskopisch abgetragen werden.

Schaum als vielversprechende Applikationsform in der PSO-LONG-Studie

Die Psoriasis vulgaris ist eine chronische, schubweise verlaufende entzündliche Erkrankung. Die langfristige Kontrolle der Krankheit ist eine Herausforderung. Derzeit folgt die Langzeitbehandlung mit topischen Mitteln eher einem reaktiven als einem proaktiven Ansatz zur Erhaltung der Remission. In der kürzlich veröffentlichten PSO-LONG-Studie erwies sich die Langzeitbehandlung mit topischen Wirkstoffen, die eine verbesserte Hautpenetration dank neuer Galenik aufweisen, als vielversprechendes proaktives Management der Plaque-Psoriasis.

Die Psoriasis vulgaris ist hinsichtlich der Zeit bis zum Rückfall in Abhängigkeit von der Behandlung mangelhaft kategorisiert. Topische Wirkstoffe werden bei leichter bis mittelschwerer Erkrankung und als Ergänzung zur Phototherapie verwendet sowie zusätzlich zu den systemischen oder biologischen Wirkstoffen bei mittelschwerer bis schwerer Erkrankung. Die langfristige Krankheitskontrolle stellt eine Herausforderung dar, da viele Patienten unbehandelt oder unterbehandelt bleiben und der Bedarf an einer wirksamen und sicheren Langzeitbehandlung bisher ungedeckt ist.
Als neues Konzept hat sich im letzten Jahrzehnt ein proaktives Therapiemanagement zur Reduktion von Krankheitsexazerbationen bzw. Erhaltung der Remission aus der Therapie mit Calcineurin-Inhibitoren bei atopischer Dermatitis entwickelt. Um dieses auf die Psoriasis zu übertragen, sind langfristige Studien notwendig.
In der kürzlich veröffentlichten PSO-LONG-Studie wurde die Wirksamkeit und Sicherheit einer langfristigen (52 Wochen) zweimal wöchentlichen proaktiven Behandlung mit Calcipotrien/Betamethasondipropionat-Schaum Enstilar® (Gruppe mit proaktivem Therapie-Management) mit einem Vehikelschaum als Placebo (Gruppe mit reaktivem Therapie-Management) zur Vorbeugung von Krankheitsrückfällen bei Erwachsenen mit Psoriasis verglichen.

Methoden der PSO-LONG-Studie

Studiendesign und Interventionen

Diese multizentrische Phase-III-Studie (NCT02899962) umfasste eine Screening- und Washout-Phase von bis zu 4 Wochen, eine 4-wöchige offene Einleitungsphase, eine 52-wöchige randomisierte, doppelblinde, Vehikel-kontrollierte Erhaltungsphase und eine 8-wöchige Nachbeobachtungsphase.
Der Behandlungserfolg war definiert als ein PGA-Score von klar/fast klar (PGA < 2) mit einer Verbesserung von ≥ 2 Grad gegenüber dem Ausgangswert. Diejenigen, die einen Behandlungserfolg erzielten, traten in die Erhaltungsphase ein, die anderen schieden am Ende der offenen Einführungsphase aus. Die Patienten wurden im Verhältnis 1:1 (stratifiziert durch ein interaktives Web-Response-System) randomisiert, um Cal/BD-Schaum (Gruppe mit proaktivem Management) oder Vehikel-Schaum (Gruppe mit reaktivem Management) zweimal wöchentlich (im Abstand von 2 oder 3 Tagen an festgelegten Tagen) für 52 Wochen auf psoriatische Läsionen zu erhalten, die während der offenen Lead-in-Phase oder nach der Behandlung eines Rezidivs (PGA-Score leicht oder höher) abgeklungen waren bzw. fast abgeklungen waren.
Während der Erhaltungsphase erfolgte die Beurteilung auf einen möglichen Rückfall bei Klinikbesuchen (alle 4 Wochen) und ausserplanmässigen Besuchen auf Initiative des Patienten. Bei einem Rückfall erhielten die Patienten beider Behandlungsgruppen eine Notfallbehandlung mit Cal/BD-Schaum, der 4 Wochen lang einmal täglich auf die Läsionen aufgetragen wurde. Wenn nach der 4-wöchigen Notfallbehandlung wieder ein PGA-Score von klar/fast klar erreicht wurde, wurde die Erhaltungstherapie fortgesetzt; andernfalls wurden die Patienten aus der Studie ausgeschlossen.
Der Krankheitsrebound wurde während der 8-wöchigen Nachbeobachtungszeit nach Ende der Behandlung/früherem Absetzen der Behandlung bewertet. Rebound wurde definiert als ein m-PASI ≥12 und ein Anstieg des m-PASI ≥ 125% des Ausgangswertes oder die Entwicklung einer neuen pustulösen, erythrodermischen, stärker entzündlichen Psoriasis innerhalb von 2 Monaten nach Absetzen der Behandlung in der offenen Einleitungsphase, nach Absetzen der einmal täglichen Notfallmedikation oder nach Ende der Erhaltungsphase.

Ergebnisse

Von 650 Patienten, die an der offenen Lead-in-Phase teilnahmen, erreichten 521 (80,2%) einen Behandlungserfolg in Woche 4 und wurden in die Erhaltungsphase randomisiert (vollständiges Analyseset: proaktiv, n = 256; reaktiv, n = 265). Insgesamt 24 Patienten (16 proaktiv, 8 reaktiv), die in Woche 4 keinen Behandlungserfolg erzielten, wurden irrtümlich randomisiert, so dass 545 Patienten in das Sicherheitsanalyseset eingeschlossen wurden (proaktiv, n = 272; reaktiv, n = 273). 251 randomisierte Patienten (46,1%), schlossen die 52-wöchige Erhaltungsphase ab.

Schlussfolgerung

Eine langfristige proaktive Behandlung über 52 Wochen mit Cal/BD-Schaum in fester Dosierung zweimal wöchentlich war im Vergleich zu Vehikelschaum bei Erwachsenen mit Plaque-Psoriasis überlegen in der Verlängerung der Zeit bis zum ersten Schub, der Reduktion der Anzahl Schübe und Erhöhung der Tage in Remission. Die proaktive Behandlung mit Cal/BD-Schaum wurde gut vertragen und wies ein günstiges Sicherheitsprofil über den verlängerten Behandlungszeitraum auf, das mit dem der reaktiven Behandlung vergleichbar war, bei der die Patienten Cal/BD-Schaum nur als 4-wöchige Notfall-Behandlung bei einem Rückfall erhielten. Es wurden keine neuen AEs von Interesse identifiziert, auch keine klinischen Anzeichen von Hautatrophie. Es gab keinen klinisch signifikanten Effekt von Cal/BD-Schaum auf die HPA-Achse oder den Kalziumstoffwechsel. Die Ergebnisse dieser neuartigen Studie sind sehr vielversprechend und deuten darauf hin, dass ein proaktives Management mit fest dosiertem Cal/BD-Schaum eine bessere Langzeit-Kontrolle der Plaque-Psoriasis bieten könnte als die konventionelle reaktive Behandlung.

Quelle: Lebewohl M et al Twice-weekly topical calcipotriene/betamethasone dipropionate foam as proactive management of plaque psoriasis increases time in remission and is well tolerated over 52 weeks (PSO-LONG trial). J Am Acad Dermatol2021 May;84(5):1269-1277.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch