Moderne bildgestützte Radiotherapie – Techniken und Perspektiven

In der modernen Radioonkologie ist die bildgestützte Einstellung inzwischen ein fester Bestandteil der Therapie. Die neueste Entwicklung in diesem Bereich ist die Zusammenführung der MRI-Bildgebung mit einem Linearbeschleuniger zu einem sogenannten MRI-LINAC. Dieser Beitrag beleuchtet die aktuelle Entwicklung und Vorteile der modernen bildgeführten Radiotherapie inklusive der neuesten Technologie des MRI-LINAC.

Dans la radio-oncologie moderne, le guidage par l’ image fait désormais partie intégrante de la thérapie. Le dernier développement dans ce domaine est la combinaison de l’ imagerie IRM avec un accélérateur linéaire pour former ce qu’ on appelle un IRM-LINAC. Cet article met en lumière le développement actuel et les avantages de la radiothérapie moderne guidée par l’ image, y compris la toute dernière technologie de l’ IRM-LINAC.

In der modernen Radioonkologie ist heutzutage die sogenannte bildgestützte Einstellung, also die Nutzung diagnostischer Verfahren zur Lokalisation des Zielvolumens, ein fester Bestandteil der Therapie. Mit dem Einsatz intensitätsmodulierter Techniken und Fortschritten bei Geräten und Software wurden die Bereiche, die «unbeabsichtigt» mitbehandelt werden, immer kleiner.
Eine weitere Reduktion der Dosisbelastung für Normalgewebe konnte nur noch mit einer Erhöhung der Präzision bei der Applikation weiter reduziert werden. In den letzten 15 Jahren wurden somit stetig neue Techniken entwickelt, mit denen mittels verschiedenster Bildgebung die erforderlichen Sicherheitsabstände zwischen klinischem Zielbereich (Clinical target volume, CTV) und tatsächlichem Planungsvolumen (Planning target volume, PTV), weiter reduziert werden konnten. Hinzu kamen neue Techniken zur Kontrolle der Atembeweglichkeit, diese werden als Gating bzw. Tracking bezeichnet.
Ursprünglich erfolgte die Bildgebung mit Röntgenbildern, indem die knöchernen Strukturen in Übereinkunft gebracht wurden. Im 21. Jahrhundert kam die Entwicklung des heutzutage zum Standard gehörenden kv-Cone-Beam-CT (CBCT), bei dem mit einer Rotation einer an den Linearbeschleuniger angebrachten kv-Röhre ein CT generiert wird (Abb. 1). Dieses lässt neben der knöchernen Übereinstimmung auch bis zu einem gewissen Grad die Beurteilung der Weichteile und damit auch z.B. der inneren Organe wie Blase oder Darm zu. Diese sogenannte «Image Guided Radiotherapy» (IGRT) konnte sich in klinisch merkbar reduzierter Toxizität niederschlagen und legte den Grundstein für die Einführung von stereotaktischen Techniken (1).
Zusätzlich zur Einstellungs-Bildgebung wurden auch Techniken entwickelt, um Bewegungen des Ziels während der Bestrahlung zu überwachen. Dazu gehören implantierte Goldmarker oder Transponder mit elektromagnetischem Signal, Oberflächenscanner, sowie externe Aufnahme der Atemkurven. Diese Methoden lassen sich alle mit der Radiotherapie koppeln, so dass ausserhalb der prädefinierten Toleranz diese automatisiert gestoppt wird. Diese Techniken haben nochmals die Präzision bei beweglichen Organen deutlich erhöht (2).
Mit der zunehmenden Entwicklung der Radiotherapie hin zu stereotaktischen hypofraktionierten Verfahren, d.h. Applikation einer ablativen Dosis in wenigen Fraktionen, nimmt die Bedeutung dieser intrafraktionellen Überwachung, sowie Techniken zur Verringerung der Sicherheitsabstände stetig zu. Dies brachte die Hybrid-Kombination aus MRI und Beschleuniger, die 2014 erstmals klinisch beschrieben wurde (3).
In der Schweiz wurde diese Technik erstmals im April 2019 am USZ eingeführt. Bis heute wurden hier über 200 Patienten damit behandelt. Anfang 2020 nahm das Hôpital Riviera-Chablais in Rennaz den zweiten MRI LINAC in der Schweiz in Betrieb. Aktuell gibt es zwei kommerzielle Anbieter von MRI LINAC Geräten: der «MRIDIAN» von ViewRay (ViewRay Technologies Inc, Oakwood Village, Ohio) und «Unity» von Elekta (Elekta AB, Stockholm, Sweden).

Anwendungsgebiete der IGRT

Stereotaktische Strahlentherapie

Die intensitätsmodulierte Strahlentherapie, welche hoch-konformale Bestrahlung insbesondere von irregulär konfigurierten Zielvolumina erlaubt, hat sich in der kurativen Behandlung von Tumoren der Lunge, der Kopf-Hals- und Becken-Region mit Nutzung der IGRT mittels CCBCT als Standard etabliert.
Neben dieser Technik gewinnen stereotaktische Hochpräzisionsverfahren zunehmend an Bedeutung. Diese Techniken ermöglichen die Applikation einer hohen, biologisch aktiven Einzeldosis im Tumor, mit steilem Dosisabfall in der Umgebung, und somit die Schonung des umliegenden gesunden Gewebes.

Stereotaktische Radiochirurgie von Hirnmetastasen
Für intakte Hirnmetastasen hat sich die Radiochirurgie, bei der eine sehr hohe Strahlendosis in nur einer Sitzung appliziert wird, als Standardbehandlung etabliert. Für dieses Verfahren wird je nach Technik CBCT und/oder kv-Röntgenbilder in Serie zur Einstellung genutzt. Zunehmend wir die Radiochirurgie inzwischen nicht nur bei solitären Metastasen, sondern auch bei 4-10 Hirnmetastasen durchgeführt, nachdem erste Studien keine Einbusse im Gesamtüberleben zeigen konnten (4).

Extrakranielle stereotaktische Strahlentherapie (SBRT)
Aktuell ist die SBRT für Tumore der Lunge im Frühstadium als Alternative zur Operation, sowie bei Lungen-, Leber- und Knochenmetastasen fest etabliert. Es können dabei lokale Kontrollraten von 80-90% nach 3 Jahren erreicht werden, sofern aufgrund von Grösse und Lage der Metastasen eine ablative Strahlendosis appliziert werden kann (5). Je nach Lokalisation reicht die Einstellung mittels CBCT aus, jedoch sind bei abdominellen Zielen auch Techniken zur Atemkontrolle und –Überwachung nötig. (Abb. 2)

Adaptive Strahlentherapie

Technologische Weiterentwicklungen im Bereich der automatisierten Konturanpassung und Bestrahlungsplanung erlaubten die Einführung der adaptiven Bestrahlungsplanung.
Die Rationale für die adaptive Radiotherapie ist, geometrische oder biologische Veränderungen des Tumors oder von Risikoorganen während einer Strahlenbehandlung zu detektieren und eine Anpassung des Bestrahlungsplans durchzuführen. Dies erhöht die Präzision und Wirksamkeit der Therapie im Tumor, bei gleichzeitig besserer Schonung von Normalgewebe.
Grundsätzlich wird die adaptive Planung bereits in der klinischen Routine gelebt, indem bei relevanten systematischen Veränderungen der Anatomie eine Planadaptation durchgeführt wird (z.B. Verkleinerung eines Bronchialkarzinoms im Laufe der Behandlung). Tagesaktuelle Veränderungen (z.B. täglich wechselnde anatomische Lage von Risikoorganen) oder Reaktionen des Tumors bleiben hierbei bisher unberücksichtigt.
Idealvorstellung einer adaptiven Strahlentherapie ist jedoch Änderungen am Bestrahlungsplan gemäss der aktuellen Anatomie kurz vor der tatsächlichen Strahlenbehandlung durchführen zu können, mit anschliessend sofortiger Applikation der Dosis gemäss den aktuellen Gegebenheiten. Hierfür existieren bereits diverse technische und technologische Ansätze, von denen die Erfahrungen mittels MRI-Linac im Moment am weitesten fortgeschritten ist. Auf die technischen Herausforderungen und klinischen Möglichkeit soll im Folgenden eingegangen werden.

MRT-geführte Radiotherapie (MRgRT)

Wie bereits ausgeführt haben in der Vergangenheit beträchtliche technologische Entwicklungen zu einer Verbesserung der Präzision in der Radiotherapie geführt. Am (vorläufigen) Ende der Entwicklung der IGRT steht die Einführung der MRgRT. Bestrebungen die MRI-Bildgebung mit ihrem besseren Weichteilkontrast in die Bestrahlung zu integrieren, bestehen bereits seit Jahrzenten. Eine der grossen Herausforderungen in der Entwicklung lag in der Wechselwirkung zwischen dem Magnetfeld des MRIs, welches permanent wirkt, und dessen Auswirkungen auf die Bahn der durch die Photonenstrahlung erzeugten Sekundärelektronen. Dies muss in den Berechnungen während des Planungs-Prozesses berücksichtigt werden.
Die Gefahr der geometrisch verzerrten Darstellung der Anatomie im MRI («geometrical distortion») ist in der Radio-Onkologie äusserst relevant, insbesondere bei der Stereotaxie, in welcher eine Präzision bis auf wenige Millimeter gefordert ist. Diese «geometrical distortion» nimmt zu, je weiter weg sich die darzustellende Struktur vom Zielpunkt befindet. Zudem führen Unterschiede in der Magnetisierbarkeit von Eigen- oder Fremdgewebe im Patienten – z.B. Metallimplantate, Clips oder Lufthöhlen – auch zu geometrischen Verzerrungen. Dies muss bei der Selektion von Patienten für die Behandlung am MRI-LINAC bedacht werden.
Von dem unter Versuchsbedingungen erfolgreichen «proof of concept» der Anwendung dieser Hybrid-Technik bis zur ersten klinischen Behandlung an einem MRI-LINAC 2014 vergingen einige Jahre (3). Seither hat die Verfügbarkeit der MRI-LINAC Geräte kontinuierlich zugenommen, mit zuletzt weltweit insgesamt 60 verfügbaren Geräten der zwei oben genannten Firmen (6, 7). Eine weitere Zunahme ist in nächster Zeit zu erwarten. Denn nebst dem verbesserten Weichteilkontrast bietet sich mit den neuen Hybridgeräten auch das erste Mal die Möglichkeit die Anatomie live unter Bestrahlung abzubilden. Damit ist ein «Live-Tracking» des Behandlungsziels möglich. Dies ist insbesondere bei atemvariablen Tumoren von Vorteil, da damit das zu bestrahlende Volumen kleiner gehalten werden kann: indem in Atemanhaltetechnik in einer vordefinierten Atemphase bestrahlt wird, muss die Läsion nicht mit Ihrer ganzen Amplitude erfasst werden. Ein weiterer Vorteil dieses «Live-Trackings» ist die Möglichkeit zum Verzicht auf implantierte Marker, da damit ein invasiver Eingriff vermieden wird und weder Röntgenstrahlen noch elektromagnetische Wellen zur intrafraktionellen Überwachung benötigt werden.
Nicht nur die Atemvariabilität der Organe ist ein bekanntes Phänomen, auch die Lagevariabilität der inneren Organe, insbesondere Magen und Darm, können bei der Strahlentherapie relevant werden (8). Am MRI-LINAC wird diese Variabilität berücksichtigt, indem täglich in Bestrahlungsposition eine Aufnahme durchgeführt wird und anhand dieser der Bestrahlungsplan täglich in ca. 15-20 Minuten adaptiert wird, während der Patient noch auf dem Behandlungstisch liegt. (Abb. 3)
Diese verlässlichere Darstellung der Lage der Normalgewebsstrukturen, des Tumors sowie deren Lagebeziehung zueinander hat zusammen mit den oben erwähnten weiteren Vorteilen des MRI-LINACs den Weg zur weiteren Dosiserhöhung innerhalb des Zielvolumens unter gleichzeitiger Schonung kritischer Risikostrukturen geebnet und damit die sogenannte Therapeutische Breite verbessert (9).
Dem erwarteten Nutzen bei ausgewählten Indikationen gegenüberzustellen ist der erhöhte Aufwand einer MRT-geführten Radiotherapie, der auch einhergeht mit einer deutlich längeren Liegezeit für den Patienten in immobilisierter Position. Diese erstreckt sich von im Mittel circa 40 Minuten, wenn keine tägliche Planadaptation erfolgt bis zu 47-60 Minuten, wenn eine Planadaptation erfolgt (10, 11). Der Arbeitsablauf im interprofessionellen Team wird in (Abb. 4) dargestellt.
Ein weiterer Aspekt ist, dass Radio-OnkologInnen heutzutage v.a. in der Beurteilung von CT-Bildern vertraut sind, da bisher auf dem CT, häufig gestützt durch fusionierte PET- oder MRI-Bildgebung, die Bestrahlungsplanung stattfindet und die IGRT bisher hauptsächlich mit CBCT erfolgt. Mit dem MRI-LINAC ist der Gebrauch von MRI-Bildern nicht mehr nur auf den initialen Planungsprozess beschränkt, sondern wird zum Haupt-Arbeitsinstrument. Folglich ist die Fähigkeit zur Interpretation von MRI-Bildern bei der Arbeit an der Maschine essentiell. Mittlerweile sind am MRIDIAN auch Aufnahmen in verschiedenen Sequenzen möglich – damit gewinnen radiologische Kenntnisse in der Radio-Onkologischen Weiterbildung an Bedeutung.

Aktuelle klinische und wissenschaftliche Fragestellungen

Die beschriebene adaptive Strahlentherapie wird die Radio-Onkologie entscheidend verändern. Dafür gilt es basierend auf den bisherigen Daten und praktischen Erfahrungen wichtige Aspekte zu verbessern und wissenschaftlich zu fundieren. Nur so wird eine flächendeckende und praktisch mögliche Umsetzung tatsächlich in greifbare Nähe kommen. Dazu gehören folgende Aspekte:

  • Verbesserung des adaptiven Workflows: Verkürzung der Bildakquisitionszeit; Automatisierung der Konturadaptierung; Optimierung der Bestrahlungsplanung und Qualitätssicherung
  • Tägliche Dosisakkumulation durch Berechnung der «Dose of the day», um eine präzisere Abschätzung der tatsächlich applizierten Dosis zu ermöglichen und Dosis-Wirkungsmodellierung verlässlicher zu machen
  • Entwicklung von bildgebenden Biomarker unter Anwendung von klassischen qualitativen und semi-quantitativen Verfahren, um eine Patienten-individuelle Vorhersage des Tumoransprechens zu ermöglichen und Anpassung von Zielvolumina ohne Einbusse der lokalen Kontrolle auf eine biologische Basis zu stellen.
  • Geräte, bei denen die Plananpassung auf CBCT-Basis erfolgen kann, sind in der klinischen Erprobung.

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Dr. med. Helena Garcia Schüler

Universitätsspital Zürich
Radioonkologie
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Helena.Garcia@usz.ch

Prof. Dr. med. Nicolaus Andratschke

Universitätsspital Zürich
Radioonkologie
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Nicolaus.Andratschke@usz.ch

Dr. med. Matea Pavic

Oberärztin, RadioOnkologie
Universitätsspital Zürich
Radioonkologie
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Matea.Pavic@usz.ch

keine; NA: Forschungsstipendium ViewRay und Brainlab, Referentenhonorar ViewRay; MP: Forschungsstipendium ViewRay.

◆ Die Bildgestützte Einstellung mit verschiedensten Techniken ist Standard in der modernen Radioonkologie und insbesondere bei stereotaktischen Verfahren nicht mehr wegzudenken.
◆ Die MR-geführte Radiotherapie bringt Vorteile wie höhere Weichteilauflösung, die Möglichkeit einer täglichen Planadaptation bei variabler Anatomie und einem zuverlässigen intrafraktionellen Monitoring und Gating atembeweglicher Tumore. Demgegenüber steht die höhere Liegezeit für den Patienten mit einem aufwendigen und personalintensiveren Workflow.
◆ Bei richtiger Patientenselektion ist die MR-geführte Radiotherapie v.a. in Tumoren des Oberbauchs, Leber aber auch für Stereotaxie der Lunge und Prostata eine wertvolle Technik, die die Präzision erhöht und Potential birgt, Nebenwirkungsraten weiter zu verringern.
◆ Insbesondere laufende klinische Studien werden weiter dazu beitragen, die Kollektive zu erkennen, die besonders von dieser Technik profitieren können.
◆ Eine weitere Zunahme von MRI-LINAC Geräten ist aufgrund der Vorteile für bestimmte Krankheitsbilder in Zukunft zu erwarten. Aufgrund der zeit- und personalintensiven Abläufe ist jedoch ein flächendeckender Einsatz in nächster Zukunft unwahrscheinlich. Bis dahin können geeignete Patienten entsprechend an die Zentren mit verfügbarer Technik zugewiesen werden.

Messages à retenir
◆ L’ ajustement guidé par l’image à l’ aide d’ une grande variété de techniques est la norme en radio-oncologie moderne et est devenu indispensable, notamment pour les procédures stéréotaxiques.
◆ La radiothérapie guidée par RM apporte des avantages tels qu’ une résolution plus élevée des tissus mous, la possibilité d’ adapter le plan quotidien à une anatomie variable, ainsi qu’ un monitoring intrafractionnel fiable et le gating des tumeurs respiratoires. D’ un autre côté, le temps de repos du patient est plus long, car le flux de travail est plus complexe et nécessite davantage de personnel.
◆ Avec une sélection adéquate des patients, la radiothérapie guidée par RM est une technique précieuse, en particulier pour les tumeurs de l’ abdomen supérieur et du foie, mais aussi pour la stéréotaxie du poumon et de la prostate, qui augmente la précision et a le potentiel de réduire davantage les taux d’ effets secondaires.
◆ En particulier, les essais cliniques en cours permettront de mieux identifier les collectifs qui peuvent particulièrement bénéficier de cette technique.
◆ On peut s’ attendre à une nouvelle augmentation des appareils IRM-LINAC à l’ avenir, vu les avantages qu’ ils présentent pour certaines pathologies. Toutefois, en raison du temps et du personnel nécessaires, il est peu probable qu’ une utilisation généralisée soit envisagée dans un avenir proche. En attendant, les patients appropriés peuvent être orientés de manière adéquate aux centres disposant de la technologie disponible.

ASCO 2021 – Ein erster Eindruck

Das zweite virtuelle ASCO Annual Meeting hat an den Börsen weniger Staub aufgewirbelt als auch schon und die überraschenden alltagstauglichen «Breaking News» waren sehr überblickbar. Besonders positiv herausgestochen ist sicherlich der Bereich der urologischen Onkologie, insbesondere für Prostata- und Nierenzellkarzinome.

Dagegen eher blass waren die Neuigkeiten in der gastrointestinalen Onkologie. Beim Mamma- und Lungenkarzinom waren in spezifischen Teilbereichen positive Resultate durchaus vorhanden, wie auch bei vielen weiteren Entitäten.
Das heisst auch, dass an den vielen Fronten wie gehabt in kleineren Schritten gearbeitet wird, neue Targets und Substanzen erprobt, bewährte Therapien optimiert, prädiktive und prognostische Faktoren sowie «companion diagnostics» getestet werden. Da und dort wird über erwartete Langzeit-Daten berichtet und natürlich sind auch erste COVID-19-bezogene Daten bei Krebspatienten bereits greifbar. Nicht überraschend, aber bedrückend sind die vielen Berichte über schlechtere Behandlungsergebnisse bei sozial deprivierten Patientinnen und Patienten – nicht nur, aber vor allem auch wegen massiv zu hohen Kosten sowie fehlender Informationen und fehlender sozialer Unterstützung.
Für unsere LeserInnen mag die Liste der Late Breaking Abstracts (LBA) und die Best-of-Wahl der Kolleginnen und Kollegen vom «Chicago in the Mountains» ein hilfreiches Instrument sein, um sich schnell einen ersten Überblick zu verschaffen. Diese Nachbearbeitung und Einordnung der wichtigsten Präsentationen des ASCO war wiederum ausgezeichnet gemacht und allen Beteiligten gehört ein grosses Kompliment ausgesprochen. Die Diskussion der GU-Session, z.B. mit Zuschaltung von Tom Powles direkt aus London, war herausragend.
Hier also die LBAs der Plenary Session des ASCO 2021und die Hitliste des Teams «Chicago in the Mountains», wobei die LBAs auch Teil davon sind:

Prof. em. Dr. med.Thomas Cerny

Rosengartenstrasse 1d
9000 St. Gallen

thomas.cerny@kssg.ch

Patienten mit AML oder Hochrisiko-MDS und FLT3-Mutation: Chemotherapie unter Zugabe von Gilteritinib oder Midostaurin

Bei etwa 30% aller Patienten mit einer neu diagnostizierten, akuten myeloischen Leukämie (AML) bestehen aktivierende Mutationen des FMS-Tyrosinkinase 3-Gens (FLT3). Bei diesen Patienten kann die Zugabe des Kinaseinhibitors Midostaurin zur Standard-Chemotherapie das ereignisfreie Überleben (EFS) und das Gesamtüberleben (OS) verlängern – dennoch ist das Risiko für ein Therapieversagen resp. ein Rezidiv in dieser Patientengruppe sehr hoch. Der Wirkstoff Gilteritinib kann das mutierte FLT3 stärker und spezifischer hemmen als Midostaurin; in verschiedenen klinischen Studien hat Gilteritinib bei AML-Patienten vielversprechende Aktivität gezeigt.
In der Studie HOVON 156 wird die Wirksamkeit von Gilteritinib und Midostaurin direkt verglichen. Patienten mit einer neu diagnostizierten AML und einer FLT3-Mutation, die sich einer intensiven Chemotherapie unterziehen, werden in zwei Gruppen randomisiert: Patienten der Gruppe A erhalten während Induktions-, Konsolidierungs- und Erhaltungstherapie zusätzlich Midostaurin, Patienten der Gruppe B zusätzlich Gilteritinib (Abb. 1). Insgesamt sollen 768 Patienten in die Studie eingeschlossen werden (384 Patienten pro Arm), davon ca. 50 Patienten in der Schweiz. Der primäre Endpunkt besteht im EFS, sekundäre Endpunkte sind unter anderem OS, Sicherheit, Verträglichkeit und Lebensqualität. Wir hoffen, dass die zusätzliche Gabe von Gilteritinib zur Chemotherapie dazu beiträgt, das Rezidivrisiko von AML-Patienten mit FLT3-Mutation zu senken und ihre Prognose zu verbessern.
Diese Studie wird unterstützt durch Forschungsvereinbarungen mit folgenden Institutionen: Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI, Stiftung Krebsforschung Schweiz und Krebsliga Schweiz.

Studiendesign: Prospective, multicenter, open-label, randomized, phase III clinical study.
Studientitel: HOVON 156 / AMLSG 28-18: A phase 3, multicenter, open-label, randomized, study of Gilteritinib versus Midostaurin in combination with induction and consolidation therapy followed by one-year maintenance in patients with newly diagnosed acute myeloid leukemia (AML) or myelodysplastic syndromes with excess blasts-2 (MDS-EB2) with FLT3 mutations eligible for intensive chemotherapy.
Teilnehmende Zentren: Kantonsspital Aarau, Universitätsspital Basel, EOC – Istituto Oncologico della Svizzera Italiana,
Inselspital Bern, Hôpital Fribourgeois – Hôpital Cantonal, Hôpitaux Universitaires de Genève, CHUV – Centre hospitalier universitaire vaudois, Luzerner Kantonsspital, Kantonsspital St. Gallen, UniversitätsSpital Zürich.
Coordinating Investigator: Prof. Dr. med. Thomas Pabst, Inselspital Bern, thomas.pabst@insel.ch
Clinical Project Manager: Corinne Vorburger, Klinische Forschungseinheit Onkologie, Inselspital Bern, corinne.vorburger@insel.ch.
SAKK Verantwortliche: Céline Hummel, SAKK Koordinations-zentrum Bern, celine.hummel@sakk.ch.

Weitere Informationen zur SAKK
www.sakk.ch

Prof. Dr. med. Roger von Moos

Direktor Tumor- und Forschungszentrum
Kantonsspital Graubünden
7000 Chur

tumorzentrum@ksgr.ch

Verbesserungsbedarf in der Versorgung von Menschen mit seltenen Krankheiten

Die Versorgung und Integration von Menschen mit seltenen Krankheiten stellt das Schweizer Gesundheits- und Sozialversicherungssystem vor besondere Herausforderungen. Ein Bericht des Bundesrats zeigt nun auf, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um eine angemessene Gesundheitsversorgung im Bereich der seltenen Krankheiten sicherzustellen. Insbesondere in der Versorgung, der Vergütung und bei der Information von Menschen mit seltenen Krankheiten und Gesundheitsfachpersonen sieht der Bundesrat Handlungsbedarf.

In der Schweiz leiden mehr als eine halbe Million Menschen an einer seltenen Krankheit. Eine Krankheit gilt hierzulande als selten, wenn sie höchstens fünf von 10 000 Personen betrifft und lebensbedrohlich oder chronisch einschränkend ist. Allerdings ist zwar die Zahl der von einer einzelnen Krankheit betroffenen Menschen tief – alle seltenen Krankheiten zusammen sind zahlreich: Bisher sind weltweit 6 000 bis 8 000 seltene Krankheiten beschrieben worden. Die meisten von ihnen sind kaum erforscht und es kommen immer wieder neue dazu (1). Auch seltene Krebserkrankungen sind häufiger, als die Bezeichnung vermuten lässt: Zwischen 2008 und 2012 erkrankten jährlich rund 1250 Männer und 1230 Frauen an einer seltenen Krebsart. Gemäss dem Schweizerischen Krebsbericht 2015 machen sie damit 6% aller Krebserkrankungen bei Männern und 7% bei Frauen aus. Die häufigsten der seltenen Krebsarten sind Plasmozytome und bösartige Plasmazellen-Neubildungen sowie Krebs der Gallenblase und der Gallenwege. Weitere Beispiele sind Krebserkrankungen des Knochens und Knorpels, der Nebennieren und anderer endokriner Drüsen oder auch bösartige Erkrankungen ohne bekannten Ursprung. Zudem gelten alle Krebserkrankungen bei Kindern als selten (2).

Nicht nur Krankheiten sind selten, es gibt auch wenig Fachwissen

Eine seltene (Krebs-)Erkrankung bringt nicht nur Patient:innen, sondern auch medizinische Fachleute an ihre Grenzen. Diagnose und Therapie dieser Krankheiten gestalten sich oft schwierig. Neben den Betroffenen sind auch Gesundheitsfachpersonen auf medizinische, rechtliche, administrative, soziale, schulische und berufliche Informationen angewiesen. Im Hinblick auf eine Verbesserung in der Versorgung bedarf es deshalb einer Bündelung von Expertise und der verstärkten Verbreitung von Informationen. Entscheidend sind Teamwork und Vernetzung aller beteiligten Akteure: Patient:innen, Leistungserbringer, Sozialversicherungen, Forscher:innen etc. Um schnell die richtigen Diagnosen zu stellen und die Betroffenen angemessen zu versorgen ist zudem die landesweite und auch internationale Zusammenarbeit zentral.
Patientenorganisationen und verschiedene Interessensgemeinschaften verlangen schon länger, dass die Situation von Menschen mit seltenen Krankheiten in der Schweiz verbessert wird. Beispielsweise forderte bereits 2010 ein Postulat von Nationalrätin Ruth Humbel die Erarbeitung einer nationalen Strategie für seltene Krankheiten (3). Unter Berücksichtigung der gesundheitspolitischen Prioritäten seiner Strategie «Gesundheit 2020» hat der Bundesrat als Antwort darauf 2014 das «Nationale Konzept Seltene Krankheiten» (NKSK) und im Jahr darauf den dazugehörigen Umsetzungsplan verabschiedet. Angesichts der damaligen Situation und der Tatsache, dass 2014 auch die «Nationale Strategie gegen Krebs» lanciert wurde, wurden seltene Krebserkrankungen im Konzept nicht berücksichtigt.
Die Umsetzung des «Nationalen Konzepts Seltene Krankheiten» lief Ende 2019 aus, noch nicht abschliessend umgesetzte Massnahmen begleitet das BAG noch weiter. Bei vielen Massnahmen des NKSK fehlten allerdings ein gesetzlicher Auftrag oder die rechtlichen Voraussetzungen für die Durchführung der Projekte oder deren Finanzierung, wie die Unterstützung durch den Bund. Das Parlament hat deshalb 2018 den Bundesrat beauftragt, zu prüfen, wo gesetzlicher Handlungsbedarf besteht, um die Versorgung im Bereich der seltenen Krankheiten sicherzustellen.

Zahlreiche Herausforderungen und Handlungsoptionen

Der Bericht «Gesetzliche Grundlage und finanzielle Rahmenbedingungen zur Sicherstellung der Versorgung im Bereich der seltenen Krankheiten» wurde im Februar 2021 publiziert (4). Er hält fest, dass der Handlungsbedarf – sowohl in legiferierender sowie in finanzieller Hinsicht – vor allem Aspekte der Versorgung, der Vergütung sowie der Information betrifft:

  • Zur angemessenen Versorgung von Menschen mit seltenen Krankheiten braucht es spezialisierte Strukturen. In diesem Zusammenhang begrüsst der Bundesrat die bisher geleistete Arbeit der Nationalen Koordination seltene Krankheiten (kosek) sowie der zuständigen Leistungserbringer und der Kantone: Im Jahr 2020 wurde eine erste Liste mit anerkannten, krankheitsübergreifenden Diagnosezentren publiziert. Referenzzentren mit angeschlossenen Netzwerken werden hinzukommen. Es wird sich herausstellen, ob der auf Freiwilligkeit beruhende Prozess gelingt und langfristig sichergestellt werden kann. Falls nicht, muss geprüft werden, ob es einer gesetzlichen Grundlage auf Bundesebene bedarf.
  • Diese Versorgungsstrukturen wären auch der richtige Ort, um spezifische Aus-, Weiter- und Fortbildungsangebote anzubieten.
  • Eine einheitliche Erfassung der seltenen Krankheiten wäre wesentlich zur Identifikation von Versorgungslücken. Das Schweizer Register für seltene Krankheiten (SRSK) befindet sich derzeit im Aufbau und ist dem Institut für Sozial und Präventivmedizin in Bern angegliedert. Auf der Grundlage des Krebsregistrierungsgesetzes hat das BAG für den Betrieb des Registers eine Finanzhilfe von 250’000 CHF für 2020-2024 gewährt. Längerfristig nachhaltige Finanzierungsmechanismen müssen noch entwickelt werden.
  • Anlässlich eines Stakeholdertreffens 2017 haben Forschende signalisiert, dass die heute bestehenden Möglichkeiten hinsichtlich der finanziellen Projekt- bzw. Personenförderung innerhalb der Schweiz für den Bereich der seltenen Krankheiten grundsätzlich ausreichen. Handlungsbedarf besteht aber neben dem Register auch hinsichtlich der Vernetzung (auf nationaler und internationaler Ebene). Neben der Unterstützung von nationalen Forschungsnetzwerken ist das Kernanliegen seitens Forschung die internationale Anbindung – beispielsweise die Teilnahme an Forschungsrahmenprogrammen der EU wie «Horizon Europe».
  • Neben der schweizweiten ist die internationale Zusammenarbeit unerlässlich, um Menschen mit seltenen Krankheiten bestmöglich zu versorgen und effizient korrekte Diagnosen stellen zu können. Heute pflegen Schweizer Expert:innen und spezialisierte Zentren rege internationale Kontakte und verfolgen insbesondere die Entwicklungen der Europäischen Referenznetzwerke (ERNs). Leider gibt es heute keine formelle Möglichkeit für Schweizer Einrichtungen, sich diesen anzuschliessen. Das BAG arbeitet an einer Liste über bestehende Mechanismen auf internationaler Ebene, die Schweizer Forschende für die Mittelbeschaffung und Vernetzung nutzen können.
  • Heute fehlen nachhaltige Finanzierungslösungen für den in der Versorgung von Patient:innen mit seltenen Krankheiten anfallenden Mehraufwand wie beispielsweise die koordinativen Leistungen durch Leistungserbringer. Einerseits sind hier die Tarifpartner gefordert, andererseits müssen bei Leistungen ausserhalb der Krankheitsbehandlungen oder durch nicht ärztliche Leistungserbringer andere Finanzierungsquellen gefunden werden.
  • Die Herausforderungen bei der Vergütung von Arzneimitteln will der Bundesrat in laufenden Gesetzes- oder Verordnungs-Revisionen angehen, wie beispielsweise die Umsetzung von Preismodellen im Rahmen des zweiten Kostendämpfungspakets oder die Vergütung von Arzneimitteln im Einzelfall (off-label-use) in der geplanten KVV-Revision gemäss den Empfehlungen der kürzlich durchgeführten Evaluation von Art. 71a-71d.
  • Im Rahmen der IV-Revision wird zurzeit die Geburtsgebrechenliste aktualisiert. Ausserdem soll diese häufiger und nach vorgängiger Anhörung der betroffenen Fachgesellschaften – und wünschenswert auch mit den Patientenorganisationen – angepasst werden.
  • Weiterhin nicht zur Diskussion steht für den Bundesrat dagegen eine gesetzliche Grundlage für die Vergütung der Kosten genetischer Analysen, die der Bestätigung einer klinischen Diagnose bzw. gemeinsam mit einer Präimplantationsdiagnostik (PID) einer Trägerabklärung im Hinblick auf eine Schwangerschaft dienen.
  • Zur dringend notwendigen Orientierungshilfe ist die Schaffung einer schweizweiten Informationsplattform Seltene Krankheiten in Diskussion, die sowohl medizinische Informationen wie auch Zugang zu geeigneten Beratungsangeboten, Selbsthilfegruppen etc. umfassen könnte. Ausgestaltung und Finanzierung ist allerdings noch offen.
    Eine Schlüsselrolle bezüglich fachkompetenter Informationsvermittlung spielen die bestehenden Helplines, die von Universitätsspitälern in Zusammenarbeit mit anderen (beispielsweise Patientenorganisationen) betrieben werden. Ihre nachhaltige Finanzierung gilt es zu sichern. Kantone (GDK), die Betreiber und die kosek sollten einen gemeinsamen Betrieb prüfen.
    Das Referenzportal von dem aus 40 Partnerländern bestehende Konsortium «Orphanet» sammelt Informationen zu seltenen Krankheiten und Orphan Drugs, aber auch zu Expertenzentren, Diagnoselabors, zu Forschung und klinischen Studien, zu Patientenorganisationen sowie Fachleuten und Zentren. Bislang finanziert das Universitätsspital Genf (und bis Ende 2020 auch die kosek) die Leistung von «Orphanet Schweiz». Auch hier gilt es, eine nachhaltige Finanzierungsquelle zu erschliessen.
    Der Bericht hält zudem fest, dass die Expertise der Patientenorganisationen nicht nur bei der Information und Beratung unerlässlich ist, sondern auch in der Versorgung. Gleichzeitig fehlen ihnen aber oft nachhaltige finanzielle Mittel, um die Informationen aufzubereiten und zu verbreiten. Deshalb wäre die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage (analog zum Konsumentenschutz oder bei Gleichstellungsfragen) erforderlich, die finanzielle Unterstützung zulassen würde. Der Bundesrat hat deshalb das EDI (BAG) beauftragt, bis Ende 2022 dem Bundesrat Bericht zu erstatten, ob und wie eine rechtliche Grundlage für die subsidiäre Finanzierung der Beratungs- und Informationstätigkeit von Patientenorganisationen geschaffen werden soll. Dies ist begrüssenswert, weil Fach- und Patientenorganisationen wie beispielsweise die regionalen und kantonalen Krebsligen bereits heute mit der einfach zugänglichen Beratung und Unterstützung von Betroffenen und Angehörigen sowie den Informationen für Interessierte und Fachleuten einen wesentlichen Beitrag leisten – heute nur ermöglicht durch Spendengelder.

Die aufgezeigten Handlungsoptionen sind auch im Hinblick auf die Herausforderungen der Versorgung von seltenen Krebserkrankungen und insbesondere in der pädiatrischen Onkologie zentral. Es gilt nun, die Bestrebungen zur Verbesserung der gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen bestmöglich zu unterstützen, damit Menschen mit seltenen Krankheiten langfristig optimal versorgt werden können.

Franziska Lenz

Leiterin Politik und Public Affairs Krebsliga Schweiz

1. Website BAG Seltene Krankheiten: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/krankheiten-im-ueberblick/viele-seltene-krankheiten.html
2. Schweizerischer Krebsbericht 2015 des EDI/BFS, NICER und SKKR: https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/nat-gesundheitspolitik/krebs/krebserkrankungen-schweiz/schweizerischer-krebsbericht-2015-stand.pdf.download.pdf/schweizerischer-krebsbericht-2015-stand.pdf
3. Website BAG Nationales Konzept Seltene Krankheiten: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/politische-auftraege-und-aktionsplaene/nationales-konzept-seltene-krankheiten.html
4. Bericht des Bundesrates vom 17. Februar 2021: https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/kuv-leistungen/seltene-krankheiten/bericht-des-br-gesetzliche-grundlage-sicherstellung-versorgung-seltene-krankheiten.pdf.download.pdf/Gesetzliche%20Grundlage%20und%20finanzielle%20Rahmenbedingungen%20zur%20Sicherstellung%20der%20Versorgung%20im%20Bereich%20seltene%20Krankheiten.pdf und Medienmitteilung: https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-82361.html

Das Los der Mütter

Als Geburtshelfer*innen begegnen wir vielen verschiedenen Familien und ihren Lebensentwürfen. Wir verhelfen den Frauen mit Top-Medizin zu einer sicheren Geburt und den Kindern zu einem bestmöglichen Start ins Leben.

Selber sind viele von uns auch Eltern und so mit ähnlichen Problemen in Bezug auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf konfrontiert. Bereits jetzt erleben wir in einzelnen Fachdisziplinen einen Mangel an Fachärztinnen und Fachärzten. Wieso fehlen unseren Patient*innen und unseren Kolleg*innen Perspektiven und Aufstiegsmöglichkeiten? Wieso finden wir unter den Topkadern in Spitälern immer noch viel mehr Männer als Frauen?
Die Zeit der Familiengründung fällt häufig in die Zeit zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr. In diese Zeit fallen auch die ersten Beförderungen, wobei Mütter, welche in der Schweiz nach der Geburt häufig Teilzeit arbeiten, als zu wenig qualifiziert oder belastbar angesehen und übergangen werden. Einige Firmen haben bei der Bearbeitung von Bewerbungen gar Algorithmen etabliert, welche Dossiers mit längerer Pause im Erwerbsleben aussortieren, so zum Beispiel Frauen mit längerer Kinderpause. Frauen, die gar nicht oder länger Teilzeit arbeiten, haben demnach langfristig einen Nachteil in Bezug auf Beförderung und entsprechenden Lohn. Bei der Altersrente macht sich die fehlende Berufszeit dann nochmals deutlich bemerkbar. Vor allem nach einer Scheidung schlittern betroffene Frauen nicht selten in eine Altersarmut.
Frauen kommen in ein Dilemma, entweder eine gute Mutter oder eine erfolgreiche Berufsfrau zu sein. Unter uns Ärztinnen sehen wir viele Teilzeitarbeitende, häufig auch, weil eine 100%-Anstellung deutlich mehr als eine 42-Stunden-Woche bedeutet. Zudem sind es meist die Mütter, die sich bei medizinischen Problemen der Kinder vom Arbeitsplatz abmelden. Viele Kliniken sehen sich bereits mit einem Nachwuchsengpass konfrontiert, Kolleginnen in der Praxis finden keine Nachfolger*innen mehr.
Was wäre also zu tun? Neben der bezahlbaren und qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung sind flexible Arbeitszeiten mit Blockzeiten und Jobsharing eine gute Basis. Arbeitsinhalt soll Sinn stiften und nicht mit administrativen Leerläufen gefüllt sein. Gerade in dieser Corona-Zeit haben wir gelernt, von zuhause aus an Meetings teilzunehmen, administrative Arbeit von zuhause aus zu erledigen, gar Telefon- und Videokonsultationen wurden möglich und sind insbesondere für Beratungsgespräche eine Option. Wenn wir uns als Gesellschaft das Ziel setzen, weiter zu existieren und in dem Sinne familienfreundlich zu sein, ist es auch unsere Aufgabe zu überlegen, wie wir den Eltern Arbeitsbedingungen bieten können, welche ein Familienleben ermöglichen. Für unsere Kolleg*innen hoffen wir, dass unsere Arbeit auch in Zukunft so spannend und sinnhaft ist, sodass sich das zeitliche Engagement lohnt.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen unserer aktuellen Ausgabe.

Dr. med. Stephanie von Orelli
Stephanie.VonOrelli@zuerich.ch

KD Dr. med. Stephanie von Orelli

Stadtspital Triemli
Frauenklinik
Birmensdorferstrasse 497
8063 Zürich

stephanie.vonorelli@zuerich.ch

Expertenbrief zum Thromboembolierisiko unter hormonaler Kontrazeption

Prof. Dr. med. Gabriele S. Merki Leiterin Kontrazeption Universitätsspital, Zürich

Frau Prof. Gabriele S. Merki ist Leiterin Kontrazeption am Universitätsspital Zürich und war langjährige Präsidentin der ESC (European Society of Contraception). Sie publizierte zum Thema Kontrazeption viele Original- und Übersichtsarbeiten in renommierten internationalen Journals und ist mit Vorlesungen im Medizinstudium an der Universität Zürich und an der ETHZ engagiert. Sie ist somit eine national und international renommierte Expertin sowohl im praktischen Umgang im Gebiet der Kontrazeption als auch in Lehre und Forschung. Daher ist es naheliegend, dass sie den Expertenbrief zum Thromboembolie-risiko unter hormonaler Kontrazeption federführend erarbeitet hat.

Warum war es notwendig, den Expertenbrief Nr. 35 zum gleichen Thema jetzt zu überarbeiten?

Die wissenschaftlichen Daten waren zuvor bis zum Jahre 2013 zusammengestellt worden und für interessierte Leser war es natürlich schwierig zu beurteilen, ob diese Daten überhaupt noch aktuell sind und ob man sich auch weiterhin nach dem Expertenbrief richten kann. Ich habe zwar die Literatur immer im Auge behalten als federführende Autorin und hätte mich gemeldet, wenn es inzwischen etwas sehr Wichtiges Neues gegeben hätte. Jetzt war es aber Zeit für eine Neuauflage.

Was sind die wichtigsten Änderungen im Vergleich zum Expertenbrief Nr. 35 aus dem Jahre 2013?

Es gibt keine so bahnbrechenden Neuerungen. Einige neuere Studien bestätigen, was wir bereits empfohlen haben. Unsicherheit wegen fehlender Daten im letzten Expertenbrief gab es für die Pillen mit natürlichen Östrogenen (Estradiol und Estradiolvalerat) und das Kombinationspräparat mit Ethinylestradiol/Dienogest. Von den Pillen mit natürlichen Östrogenen hat man sich ein niedrigeres Thromboserisiko erhofft. Die Studien zur kombinierten Pille mit Estradiolvalerat zeigt, dass das Präparat hinsichtlich der Thromboserate wahrscheinlich zwischen den Zweit- und Drittgenerationspillen liegt und somit punkto Thromboserisiko leider nicht wirklich besser ist als die gängigen Pillen. Das Präparat hat jedoch andere Vorteile und erweitert das Spektrum der Kombinationspräparate positiv.
Eine neue Metananlyse zur obgenannten Pille mit Ethinylestradiol/Dienogest zeigt, dass auch diese Pille mit einem 1,5- bis zweifach höheren Risiko assoziiert ist als die kombinierte Pille mit Levonorgestrel. Dies entspricht der Risikoerhöhung bei den sogenannten Drittgenerationspillen.
Das heute zu erwartende Risiko in Zahlen beträgt bei gesunden Frauen 2-5 Thrombosen auf 10 000 Frauenjahre (FJ), bei Frauen unter der Zweitgenerationspille mit Levonorgestrel 6-8 Thrombosen auf 10 000 FJ, und bei den Frauen, die andere Pillen nehmen, liegt es zwischen 9 und 12 auf 10 000 FJ.

Aussergewöhnlich an diesem Expertenbrief Nr. 72 wie auch am Expertenbrief Nr. 35 ist, dass diese mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) diskutiert wurden. Was ist der Grund dafür?

In den Jahren 2011, 2012 gab es immer mehr Berichte über Thrombosen bei jungen Pillenanwenderinnen. Es wurde darauf in der Fachliteratur weltweit diskutiert, dass möglicherweise die neueren Drittgenerationspillen mit einem höheren Thromboserisiko assoziiert sind. Als die Datenlage dann aufgrund von mehreren qualitativ hochstehenden Studien sehr klar war, hat das BAG richtigerweise kritisiert, dass in der Schweiz deutlich mehr die Pillen mit hohem Thromboserisiko verschrieben würden als solche mit dem etwas niedrigeren Risiko und empfahl die diesbezügliche Schulung der ÄrztInnen durch die Fachgesellschaft SGGG. Falls sich die Verschreibungspraxis nicht ändere, müsse das BAG Vorschriften erlassen, dass eine Erstverschreibung mit levonogestrelhaltigen Präparaten zu erfolgen habe. Zur Schulung der ÄrztInnen wurde die Datenlage zum VTE-Risiko unter hormonaler Kontrazeption und die Wertigkeit der verschiedenen Risikofaktoren in einem Expertenbrief zusammengefasst und an Kongressen und in Zeitschriften immer wieder publiziert. Weiterhin wurden dazugehörig Dokumente für die Praxis erstellt: Eine Checkliste für die verschreibenden ÄrztInnen zum Ausschluss von Kontraindikationen und zum Abschätzen der Risikofaktoren sowie ein Formular gemacht für die Patientinnen, in welchem erklärt wird, welche Symptome auf eine Thrombose hinweisen, damit diese in einer solchen Situation schnell ärztliche Hilfe suchen und die Thrombose früh diagnostiziert wird, um möglichst eine Lungenembolie oder weitere Komplikationen zu verhindern. Weiter haben wir ein Aufklärungsformular für die Patientin erstellt, damit sie die Unterschiede zwischen den Präparaten bezüglich des Thromboserisikos kennt, und auf dem sie sich einverstanden erklärt, dass sie das wenig höhere Thromboserisiko mit den Drittgenerationspillen, dem Verhütungspatch oder dem Vaginalring in Kauf nimmt. Dieses Formular ist besonders wichtig, wenn Gründe gegen die Verschreibung der Pille mit Levonorgestrel sprechen.

Seit einigen Jahren ist das Thromboembolierisiko unter hormonaler Kontrazeption ein grosses Thema sowohl in der Wissenschafts-Community, aber auch in den Medien. Hat das Thromboserisiko zugenommen?

Das Thromboserisiko durch die Pille hat natürlich nicht zugenommen. Ich bin der Meinung, dass in der Schweiz das Thromboserisiko durch die verschiedenen Schulungen nicht nur bei den Frauenärzten, sondern auch bei den Allgemeinärzten und den Neurologen eher abnimmt, weil man eine bessere Risikoanamnese macht. Das Hauptrisiko liegt, wenn man jungen Frauen die Pille verschreibt, bekanntlich in der belasteten Familienanamnese. Bei Frauen > 35 Jahre gibt es andere Risiken, auch auf der arteriellen Seite. Nikotin, Adipositas, das Alter selbst, hoher Blutdruck und Dyslipidämien stehen hier im Vordergrund. Es können mit modernen diagnostischen Methoden heute viel kleinere Thrombosen und kleinere Lungenembolien diagnostiziert werden. Das erhöht natürlich in der Summe die absolute Anzahl der Fälle, die wir sehen. Früher hat man gesagt, dass jede hundertste Thrombose zu einer Lungenembolie führt. In den neueren Studien ist das ungefähr jede zehnte, weil auch kleinere Embolien diagnostiziert werden.

Wo ist heute der Stellenwert der Kombinationspräparate im Vergleich zur reinen Gestagenverhütung und zur nicht-hormonellen Kontrazeption?

Es ist tatsächlich so, dass weniger junge Frauen nach Kombinationspräparaten fragen. Sie wollen sicher verhüten, kein Risiko eingehen und nicht die potentiellen Nebenwirkungen der kombinierten Präparate und der reinen Gestagenkontrazeption in Kauf nehmen. Von den Benefits wird heute fast nicht mehr gesprochen, wie zum Beispiel dem Schutz vor dem Ovarialkarzinom und der Risikoreduktion für das Darmkarzinom. Es braucht häufig ein längeres informatives Gespräch, um eine geeignete Methode zu finden. Ich denke, dass es eine grosse Verunsicherung durch die Medien gibt, wo auch viele falsche Informationen kursieren. Eine Alternative für Frauen, die keinesfalls Hormone möchten, aber dennoch sicher verhüten wollen, ist die Kupferspirale. Nachteile sind eine stärkere und längere Menstruationsblutung und mehr Schmerzen bei der Menstruation. Jede Frau muss für sich entscheiden, welche Methode ihr am ehesten entspricht. Es gibt keine sichere Verhütung ohne ein minimales Zusatzrisiko oder Nebenwirkungen. Ich denke aber, dass die heutigen Pillen für gesunde Frauen enorm sicher sind.

Was sind die Vor- und Nachteile der zunehmend benützten Verhütungs-Apps?

Es gibt eigentlich nur eine wirklich zugelassene Verhütungs-App, alle anderen sind eher Zyklusbeobachtungs-Apps, die in der Regel dazu entwickelt wurden, den Zeitpunkt des Eisprungs zu eruieren. Dies ursprünglich für Frauen, die schwanger werden möchten. Die eine zugelassene Verhütungs-App verlangt natürlich, dass man täglich die Temperatur misst, etwa um die gleiche Zeit. Wenn man die Packungsbeilage liest, sieht man, dass man am Abend keinen Extremsport gemacht haben darf, dass man nicht zu viel Alkohol getrunken haben darf und dass man so und so viel Schlaf gehabt haben muss. Diese App ist zugelassen in Deutschland und in den USA. Es sind aber Berichte erschienen, z.B. aus Schweden, dass überraschend viele Frauen mit dieser Methode schwanger werden. Die Frage ist, ob Paare bereit sind, die mit der App verbundenen Einschränkungen auf sich zu nehmen. Bei falscher Anwendung nimmt die Sicherheit ab. Ich denke, dass dies nicht für ein Paar geeignet ist, das auf keinen Fall eine Schwangerschaft möchte. Die App ist auch weniger sicher bei Frauen, die eine unregelmässige Menstruation haben. Die Anforderungen passen eigentlich nicht zum Lebensstil einer jungen Frau von heute.

Die Tubensterilisation kann als Ligatur oder als Salpingektomie durchgeführt werden. Welche Vorgehensweise ist heute zu favorisieren?

Ausser nach Geburt des letzten Wunschkindes wird die Tubensterilisation in der Schweiz eher selten durchgeführt. Bei einigen Paaren liegt der Grund darin, dass die Kosten nicht von der Krankenkasse übernommen werden. Es ist so, dass die Tubensterilisation als Ligatur zu einer Reduktion des Risikos für ein Ovarialkarzinom führt. Die Salpingektomie führt zu einer noch etwas höheren Risikoreduktion. Wie gross genau der Unterschied ist, ist aus den verfügbaren Zahlen nicht ganz klar fassbar. Doch wenn man heute so einen Eingriff plant, ist die Salpingektomie meiner Meinung nach die Methode der Wahl. Es muss jedoch ganz klar sein, dass der Kinderwunsch bei dem Paar abgeschlossen ist. Falls es sich um eine Patientin mit abdominalen Vor-operationen und Verwachsungen handelt, ist eine normale Sterilisation vertretbar. Ich empfehle als Alternative oft die wesentlich günstigere und weniger aufwendige Vasektomie.

Was ist mit den Männern? Wie populär sind Vasektomien? Sie könnten mit einer Vasektomie risikoarm für beide Partner die Frage des Thromboembolierisikos unter hormonaler Kontrazeption eliminieren.

Was ich immer wieder höre ist, dass Frauen sagen, dass dies für ihren Mann nicht in Frage käme. Wenn ich aber die Männer mit in der Sprechstunde habe, merke ich, dass die Männer diesbezüglich auch zugänglich sind und sich nach Aufklärung einen solchen Eingriff durchaus überlegen. Ich weiss nicht, ob dies eine Generationenfrage ist. In den Niederlanden ist die Vasektomie weit verbreitet. Hier in der Schweiz, denke ich, dass Männer vielleicht zu wenig darüber wissen. Wir achten bei Frau und Mann darauf, so einen definitiven Eingriff wie die Unterbindung nicht in zu jungen Jahren zu machen.

Hat die COVID-19-Pandemie zu einer Änderung des kontrazeptiven Verhaltens und der Zahl unerwünschter Schwangerschaften geführt?

In der Schweiz sicher nicht. Wir haben das gut im Griff, global aber ja. Die europäische Gesellschaft für Kontrazeption ist sehr besorgt, die WHO auch. Das Problem ist, dass Patientinnen vieler Länder mit hohen COVID-19-Infektionsraten keinen Zugang haben zu den sehr wichtigen und zuverlässigen Langzeitmethoden, den Verhütungsimplantaten und Spiralen. Nicht in allen Ländern und Regionen ist es aktuell möglich, die Pillenverschreibung zu verlängern. Ausserdem ist im Fall unerwünschter Schwangerschaften, wegen Überlastung der Krankenhäuser, der Zugang zum Schwangerschaftsabbruch nicht gewährleistet. Das ist in vielen Ländern und für viele Frauen ein sehr schwieriges und grosses Problem. In der Schweiz haben wir am Anfang der Pandemie Telefonsprechstunden gemacht. Spiralen und Implantationseinlagen waren ebenfalls kein Problem, Tubenligaturen mussten sicher in einigen Kliniken verschoben werden. Diese Frauen hatten aber für den Übergang Zugang zu den anderen Verhütungsmethoden.

Vielen herzlichen Dank, Frau Professor Merki, für dieses sehr aufschlussreiche und interessante Interview!

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch