Azacitidin und Venetoclax bei zuvor unbehandelter akuter myeloischer Leukämie

Azacitidin und Venetoclax bei zuvor unbehandelter akuter myeloischer Leukämie

Quelle: DiNardo CC et al. Azacitidine and Venetoclax in Previously Untreated Acute Myeloid LeukemiaC.D. N Engl J Med 2020;383:617-29. DOI: 10.1056/NEJMoa2012971

Hintergrund

Ältere Patienten mit akuter myeloischer Leukämie (AML) haben eine ungünstige Prognose, selbst nach Behandlung mit einer hypomethylierenden Therapie. In einer früheren Phase-1b-Studie zeigte die Azacitidin-Venetoclax Kombination eine vielversprechende Wirksamkeit.

Methoden

Die Autoren randomisierten zuvor unbehandelte Patienten mit bestätigter AML, die aufgrund koexistierender Erkrankungen nicht für eine Standardinduktionstherapie in Frage kamen und/oder weil sie 75 Jahre alt oder älter waren, zu Azacitidin plus entweder Venetoclax oder Placebo. Alle Patienten erhielten eine Standarddosis Azacitidin (75 mg pro Quadratmeter Körperoberfläche subkutan oder intravenös an den Tagen 1 bis 7 in einem 28-tägigen Zyklus); Venetoclax (Zieldosis 400 mg) oder das entsprechende Placebo wurde oral einmal täglich in 28-tägigen Zyklen verabreicht. Der primäre Endpunkt war das Gesamtüberleben.

Resultate

431 Patienten (286 in der Azazitidin-Venetoclax-Gruppe und 145 in der Azazitidin-Placebo-[Kontroll-]gruppe) gehörten zur intention-to-treat Patientenpopulation. Das mittlere Alter betrug in beiden Gruppen 76 Jahre (Bereich 49 bis 91). Bei einem medianen Follow-up von 20.5 Monaten betrug die mediane Gesamtüberlebenszeit 14.7 Monate in der Azazitidin-Venetoclax-Gruppe und 9.6 Monate in der Kontrollgruppe (Hazard-Ratio für Tod, 0,66; 95% Konfidenzintervall, 0,52 bis 0,85; P<0,001). Die Inzidenz einer vollständigen Remission war in der Azazitidin-Venetoclax-Gruppe höher als bei der Kontrollgruppe (36,7% vs. 17,9%; P<0,001), ebenso wie die zusammengesetzte vollständige Remission (komplette Remission oder komplette Remission mit unvollständiger hämatologischer Regeneration) (66,4% vs. 28,3%; P<0,001). Zu den wichtigsten unerwünschten Ereignissen gehörten Übelkeit jeden Grades (bei 44% der Patienten in der Azazitidin-Venetoclax-Gruppe und 35% der Patienten in der Kontrollgruppe) und Thrombozytopenie Grad 3 oder höher (bei 45% bzw. 38%), Neutropenie (bei 42% bzw. 28%) und fieberhafte Neutropenie (bei 42% bzw. 19%). Bei 84% der Patienten in der Azacitidin-Venetoclax-Gruppe und 67% der Patienten in der Kontrollgruppe traten Infektionen jeden Grades auf, und bei 83% bzw. 73% traten schwerwiegende unerwünschte Ereignisse auf.

Schlussfolgerung

Bei zuvor unbehandelten AML Patienten, die für eine intensive Chemotherapie nicht in Frage kamen, war das Gesamtüberleben länger und die Inzidenz von Remissionen höher bei Patienten, die Azacitidin plus Venetoclax erhalten hatten, als bei Patienten, die eine Azacitidin Monotherapie erhielten. Fieber in Neutropenie war in der Venetoclax-Azacitidin-Gruppe häufiger als in der Kontrollgruppe.

10-Tage-Decitabin mit Venetoclax bei neu diagnostizierter, für intensive Chemotherapie nicht geeigneter und rezidivierter oder therapierefraktärer akuter myeloischer Leukämie: eine monozentrische Phase-2-Studie

Quelle: Di Nardo CD et al. 10-day decitabine with venetoclax for newly diagnosed intensive chemotherapy ineligible, and relapsed or refractory acute myeloid leukaemia: a single-centre, phase 2 trial. Lancet Haematol 2020, published online September 4, 2020 https://doi.org/10.1016/ S2352-3026(20)30210-6

Hintergrund

Venetoclax in Kombination mit einer hypomethylierenden Therapie ist ein neuer Behandlungsstandard für Patienten mit neu diagnostizierter akuter myeloischer Leukämie (AML), die 75 Jahre oder älter sind oder für eine intensive Chemotherapie nicht in Frage kommen. Pharmakodynamische Studien haben eine Überlegenheit des längeren 10-Tage-Regimes mit Decitabin suggeriert, welches bei Patienten mit Hochrisiko-AML in Phase 2-Studien vielversprechende Ergebnisse gezeigt hat. In dieser Studie wurde untersucht, ob Venetoclax in Kombination mit 10-Tage-Decitabin die Aktivität bei Patienten mit neu diagnostizierter AML und bei solchen mit rezidivierter oder therapieresistenter AML, insbesondere in Hochrisiko-Subgruppen, verbessern könnte.

Methoden

Diese monozentrische Phase 2-Studie wurde an der University of Texas MD Anderson Cancer Center (Houston, TX, USA) durchgeführt. In die Studie wurden ältere Patienten (Alter >60 Jahre) mit neu diagnostizierter AML, die nicht für eine intensive Chemotherapie in Frage kamen, Patienten mit sekundärer AML (nach myelodysplastischem Syndrom oder chronischer myelomonozytärer Leukämie) und Patienten mit rezidivierter oder therapieresistenter AML eingeschlossen. Die Patienten mussten einen ECOG-Score von 3 oder weniger, eine Leukozytenzahl von weniger als 10×10⁹ pro L und eine adäquate Endorganfunktion aufweisen. Patienten mit günstiger Risikozytogenetik (z.B. t[15;17] oder CBF-AML) oder die zuvor eine BCL2-Inhibitor-Therapie erhalten hatten, wurden ausgeschlossen. Die Patienten erhielten Decitabin 20 mg/m² intravenös während 10 Tagen mit oralem Venetoclax 400 mg täglich zur Induktion, gefolgt von Decitabin während 5 Tagen mit täglichem Venetoclax zur Konsolidierung. Der primäre Endpunkt war das Gesamtansprechen. Zu den sekundären Endpunkten, die im Rahmen dieser Studie analysiert wurden, gehörten Sicherheit, Gesamtüberleben und Ansprechdauer in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Leitlinien des Europäischen Leukämienetzwerks 2017. Alle Patienten, die mindestens eine Behandlungsdosis erhielten, kamen für eine Beurteilung der Sicherheit und des Ansprechens in Frage. Die Studie wurde unter ClinicalTrials.gov (NCT03404193) registriert und schliesst weiterhin Patienten ein.

Resultate

168 Patienten wurden zwischen dem 19. Januar 2018 und dem 16. Dezember 2019 in die Studie eingeschlossen; 70 (42%) hatten eine neu diagnostizierte AML, 15 (9%) eine unbehandelte sekundäre AML, 28 (17%) eine behandelte sekundäre AML und 55 (33%) eine rezidivierte oder therapierefraktäre AML. Das mediane Alter betrug 71 Jahre (IQR 65-76) und 30% der Patienten hatten einen ECOG-Leistungsstatus von 2 oder höher. Die mediane Nachbeobachtung betrug 16 Monate (95% CI 12-18; tatsächliche Nachbeobachtung 6.5 Monate; IQR 3.4-12.4). Das Gesamtansprechen betrug 74% (125 von 168 Patienten; 95% CI 67-80) und in den Subgruppen: 89% bei neu diagnostizierter AML (62 von 70 Patienten; 79-94), 80% bei unbehandelter sekundärer AML (12 von 15 Patienten; 55-93), 61% bei vorbehandelter sekundärer AML (17 von 28 Patienten; 42-76) und 62% bei rezidivierter oder refraktärer AML (34 von 55 Patienten; 49-74). Zu den häufigsten therapiebedingten unerwünschten Ereignissen gehörten Infektionen mit Neutropenie Grad 3 oder 4 (n=79, 47%) und Fieber in Neutropenie (n=49, 29%). 139 (83%) von 168 Patienten hatten schwerwiegende unerwünschte Ereignisse, am häufigsten Fieber in Neutropenie (n=63, 38%), gefolgt von Pneumonie (n=17, 10%) und Sepsis (n=16, 10%). Die 30-Tage-Mortalität betrug 3.6% (n=6, 95% CI 1.7-7.8). Das mediane Gesamtüberleben betrug 18.1 Monate (95% CI 10.0-nicht erreicht) bei neu diagnostizierter AML, 7.8 Monate (2.9-10.7) bei unbehandelter sekundärer AML, 6.0 Monate (3.4-13.7) bei behandelter sekundärer AML und 7.8 Monate (5.4-13.3) bei rezidivierter oder refraktärer AML. Die mediane Dauer des Ansprechens wurde bei neu diagnostizierter AML nicht erreicht (95% CI 9.0-nicht erreicht), war 5.1 Monate (95% CI 0.9-nicht erreicht) bei unbehandelter sekundärer AML, wurde nicht erreicht (95% CI 2.5-nicht erreicht) bei zuvor behandelter sekundärer AML und betrug 16.8 Monate (95% CI 6.6-nicht erreicht) bei rezidivierter oder refraktärer AML.

Schlussfolgerung

Die Kombination aus Venetoclax und 10-Tage-Decitabin weist ein vertretbares Sicherheitsprofil auf und zeigte eine hohe Aktivität bei neu diagnostizierter AML und molekular definierten Subgruppen bei rezidivierter oder refraktärer AML. Zukünftige grössere und randomisierte Studien sind erforderlich, um die Aktivität in Hochrisiko AML-Subgruppen zu definieren.

Prof. Dr. med.Markus G. Manz

Zentrum für Hämatologie und Onkologie
UniversitätsSpital Zürich

PD Dr. med. Alexandre Theocharides

Zentrum für Hämatologie und Onkologie
UniversitätsSpital Zürich

Alexandre.Theocharides@usz.ch

Onko-Kardiologie

Das noch junge und sehr dynamische Gebiet der Onko-Kardiologie hat sich in den letzten Jahren als Subspezialität der Kardiologie etabliert. Während der Fokus zu Beginn vorwiegend auf der Kardiotoxizität klassischer Chemotherapien wie der Anthrazykline lag, hat sich das Gebiet stark weiterentwickelt und auf sämtliche Schnittstellen der Onkologie und der kardiovaskulären Medizin ausgeweitet.

Le domaine encore jeune et très dynamique de l’ onco-cardiologie s’ est imposé comme une sous-spécialité de la cardiologie ces dernières années. Alors qu’ au départ, l’ accent était principalement mis sur la cardiotoxicité des chimiothérapies classiques telles que les anthracyclines, le domaine s’  est considérablement développé et s’ est étendu pour inclure toutes les interfaces entre l’ oncologie et la médecine cardiovasculaire.

Dies widerspiegelt sich in der sogenannten «Multiple Hit» Hypothese (1), gemäss derer die Tumor-assoziierte kardiale (und vaskuläre) Schädigung aus sequentiellen kumulativen Belastungen resultiert, die schon vor der Tumordiagnose ihren Ursprung nehmen (Abb. 1). Dabei ist die «kardiovaskuläre Reserve» vor Beginn der Tumortherapie eine wichtige Determinante. Diese kann durch genetische Faktoren sowie vorbestehende Risikofaktoren und Vorerkrankungen limitiert sein. Hinzu kommen die zusätzlichen Risiken, wie die Tumorerkrankung selber, deren Therapie («major hit») sowie die Progredienz vorbestehender und erworbener Schädigungen.

Gemeinsame Risikofaktoren und pathophysiologische Überlappungen

Nicht nur Nebenwirkungen von Tumortherapien, sondern auch gemeinsame Risikofaktoren für onkologische und kardiovaskuläre Erkrankungen sowie pathophysiologische Mechanismen tragen dazu bei, dass Tumorpatienten gehäuft an kardiovaskulären Erkrankungen leiden (2). Dabei fallen sowohl modifizierbare als auch nicht-modifizierbare Faktoren (z.B. Alter, Geschlecht, genetische Prädisposition) ins Gewicht. Unter den modifizierbaren Risikofaktoren finden sich die klassischen Life-Style Faktoren wie Nikotinabusus, Adipositas und Bewegungsmangel, sowie Dyslipidämie, Diabetes und Hypertonie. Hinzukommen «neue» Risikofaktoren, wie z.B. die klonale Hämatopoiese. Ihnen gemeinsam ist ein systemischer inflammatorischer Zustand, der sowohl Entstehung und Wachstum von Tumoren als auch die Entwicklung kardiovaskulärer Erkrankungen wie Atherosklerose und Herzinsuffizienz fördert und der von beiden Erkrankungen weiter propagiert wird. Dieses Bewusstsein hilft in der interdisziplinären Risikostratifizierung und Behandlung von Tumorpatienten und hat zur Idee von strukturierten gemeinsamen Screen-ing- und Präventions-Programmen geführt. So könnte zum Beispiel anlässlich einer CT-Untersuchung des Thorax im Rahmen eines Lungenkarzinom-Screenings in einer Risikopopulation zugleich der koronare Calcium-Score bestimmt werden (2).

Kardiovaskuläre Toxizität «klassischer» Chemotherapien

Von den klassischen, kardiotoxischen Chemotherapien nach wie vor regelmässig eingesetzt werden Anthrazykline (Doxorubicin, Daunorubicin, Epirubicin, Idarubicin und Mitoxantron) sowie alkylierende Substanzen (Cyclophosphamid und Ifosfamid). Anthrazykline kommen vorwiegend in der Behandlung von Lymphomen, akuten Leukämien, Sarkomen und dem Mammakarzinom zur Anwendung. Die Anthrazyklin-assoziierte kardiale Dysfunktion zeigt eine Abhängigkeit von der kumulativen Dosis und steigt bei > 400 mg/m2 Doxorubicin exponentiell von ca. 5% auf > 26% an (3). Allerdings können bereits niedrigere Dosen kardiotoxisch sein, insbesondere wenn im juvenilen oder jungen Adoleszenzalter verabreicht (> 250 mg / m2). Als diagnostisch für eine Kardiotoxizität gilt eine Abnahme der linksventrikulären Auswurffraktion (LVEF) um mehr als 10 Prozentpunkte unter den Normwert (53% gemäss Definition der Echokardiographie-Gesellschaften) (4). Heutzutage können mit Hilfe eines engmaschigen Monitorings mittels hoch-sensitiver Troponine sowie SpeckleTracking Echokardiographie mit Strain-Messung (globaler longitudinaler Strain, GLS) bereits subklinische Formen der Toxizität erkannt werden, die eine frühzeitige Prophylaxe bzw. Behandlung ermöglichen. Dabei werden ACE-Hemmer (oder Angiotensin Rezeptor Blocker (ARB)) und Beta-Blocker eingesetzt (5). Ein möglicher Therapiealgorithmus ist in Abbildung 2 wiedergegeben (aktueller Algorithmus des Universitätsspitals Basel). Nach Anthrazyklin-haltiger Chemotherapie sollten die Patienten lebenslang, bei normalen Befunden und wenn asymptomatisch z.B. alle 5 Jahre, nachkontrolliert werden, um auch die spät auftretenden Kardiomyopathien nicht zu verpassen. Kardiale Dysfunktion und Kardiomyopathien werden auch in Zusammenhang mit Cyclophosphamid und Ifosfamid beobachtet, welche oft in Kombination mit Anthrazyklinen und in hohen Dosen (z.B. vor Stammzell-Transplantation) verabreicht werden (6). Im Gegensatz zu den Anthrazyklinen tritt diese Toxizität in aller Regel jedoch zeitnah zur Verabreichung auf. Auch diese Patienten bedürfen einem entsprechenden kardialen Monitoring.
Ebenfalls zu den klassischen Chemotherapien gehören die Fluoropyrimidine (5-FU) und die Platinderivate. Beide Substanzklassen können ein akutes Koronarsyndrom auslösen, wenn auch über unterschiedliche Mechanismen. 5-FU führt vorwiegend zu Vasospasmen, welche mit Nitraten und Calcium-Antagonisten therapeutisch angegangen werden können (7). Allerdings können auch Endothel-Schädigungen auftreten. Eine genetische Testung auf Mutationen der Dihydropyrimidin-Dehydrogenase erlaubt die Identifikation von Patienten, die aufgrund eines verminderten Metabolismus von 5-FU ein hohes Risiko für eine Toxizität aufweisen. Platine führen vorwiegend zu Endothelschäden und können über prothrombotische Mechanismen zu einer Gefässokklusion führen (8).

Kardiale Dysfunktion unter Her2-gerichteten Therapien

Anders als die Anthrazyklin-induzierte Kardiotoxizität ist die kardiale Dysfunktion unter Her2-gerichteten Therapien (Trastuzumab, Pertuzumab), die vorwiegend beim Mamma-Karzinom zum Einsatz kommen, mehrheitlich funktionell und nicht strukturell bedingt. Diese Toxizität zeigt eine hohe Reversibilität (bis zu 80%) nach Absetzen der Therapie, allerdings werden auch irreversible Formen beobachtet (9). Während eine Abnahme der LVEF früher oft zu einem Therapieabbruch geführt hat, haben neuere Studien gezeigt, dass kardiale Ereignisse bei asymptomatischen Patientinnen mit eingeschränkter LVEF von 40-49% lediglich bei ca. 10% vorkommen (10). Voraussetzung für eine Fortführung der Therapie bei asymptomatischen Patientinnen mit eingeschränkter LVEF ist allerdings eine engmaschige kardiologische Betreuung und eine adäquate Herzinsuffi-zienztherapie mit ACE-Hemmer/ARB und Betablocker.

Tyrosinkinase-Inhibitoren

Nennenswert sind auch kardiovaskuläre Nebenwirkungen in Zusammenhang mit Tyrosinkinase-Inhibitoren. Erwähnenswert dabei ist insbesondere die arterielle Hypertonie unter Inhibitoren des Vascular Endothelial Growth Factor (Rezeptor) VEGF(R) Signalwegs (11). Diese Hypertonien können schwerwiegend sein, und zu Komplikationen oder einem Behandlungsabbruch führen. Therapeutisch sollte aus nephroprotektiven Überlegungen auf jeden Fall ein ACE-Hemmer oder ARB verabreicht werden. Die Hypertonie lässt sich vorwiegend durch Calcium-Antagonisten vom Nicht-Dihydropyridin-Typ sowie vasodilatierende Betablocker behandeln (12). Vorsicht ist geboten bei Dosisreduktionen des VEGF(R)-Inhibitors oder Therapie-freien Intervallen, da dies zu schweren Rebound-Hypotonien führen kann. In diesem Fall muss die antihypertensive Therapie rasch deeskaliert oder abgesetzt werden. VEGF(R)-Inhibitoren erhöhen zudem das thrombo-embolische Risiko (13) und können ebenfalls zu kardialer Dysfunktion und Herzinsuffizienz führen (14). Auch andere Tyrosinkinase-Inhibitoren können mit signifikanten kardialen und vaskulären Nebenwirkungen einhergehen. Tyrosinkinase-Inhibitoren gehören ferner zu denjenigen Substanzen, die eine Verlängerung der korrigierten QT-Zeit hervorrufen können. Auch wenn diese nur sehr selten zu fatalen Arrhythmien führt, sollten regelmässige EKG Kontrollen durchgeführt und die onkologische oder Begleitmedikation bei Bedarf angepasst werden (15). Eine Liste der QT-Zeit verlängernden Medikamente, die regelmässig aktualisiert wird, kann unter www.crediblemeds.org gefunden werden.

Immuncheckpoint-Inhibitoren und neue Herausforderungen

Neue Herausforderungen haben sich durch den erfolgreichen Einsatz von Immuncheckpoint-Inhibitoren (ICI) ergeben. ICI sind Antikörper, die gegen sogenannte Checkpoints gerichtet sind, welche die Aktivierung von zytotoxischen T-Lymphozyten hemmen. Dies führt zu einer Aktivierung von T-Lymphozyten, die sich auch gegen körpereigene Antigene richten und eine Vielzahl von immunvermittelten Nebenwirkungen verursachen können. Im Falle von Kardiomyozyten kann dies zu teils schwerwiegenden Myokarditiden führen, die einen fatalen Ausgang haben können (16). Auch hier ist das Monitoring von hoch-sensitiven Troponinen wichtig. Vor ICI-Therapie sollte ein EKG, eine Echokardiographie sowie eine Bestimmung der kardialen Biomarker durchgeführt werden, um einen verlässlichen Ausgangsbefund zu haben. Bei Verdacht auf eine ICI-induzierte Myokarditis sollte diese mittels Bildgebung (Herz-MRI), besser aber bioptisch gesichert und eine immunsuppressive Therapie mit hochdosierten Steroiden sowie bei eingeschränkter LVEF eine Herzinsuffizienztherapie eingeleitet werden (17). Bei Non-Respondern kommen zusätzliche Immunsuppressiva zum Zuge. Gefährlich sind in diesem Zusammenhang die Rhythmusstörungen bzw. teils irreversiblen Blockbilder, die durch lymphozytäre Infiltration und Ödem des Reizleitungssystems verursacht werden. Nebst der Myokarditis können ICI zu Vaskulitiden u.a. der Koronararterien führen und ein akutes Koronarsyndrom hervorrufen. Auch Takotsubo-Kardiomyopathien wurden beschrieben (18).
Zahlreiche andere neuere Therapien wie z.B. Proteasom-Inhibitoren (Bortezomib, Carfilzomib) oder Immunomodulatoren (Lenalidomid), beide eingesetzt beim Multiplen Myelom bzw. letzteres auch beim myelodysplastischen Syndrom, können ebenfalls kardiovaskuläre Nebenwirkungen wie kardiale Dysfunktion (19-21) sowie thromboembolische Ereignisse inklusive akutes Koronarsyndrom zur Folge haben (22). Rasche Entwicklungen auf dem Gebiet der Onkologika führen zu einer kontinuierlich grossen Zahl an Neuzulassungen bzw. im Rahmen von Studien verabreichten neuen Substanzen und Substanzklassen. Dadurch werden kardiovaskuläre Nebenwirkungen bei onkologischen Patienten auch in Zukunft von Relevanz sein. Entsprechend sollen auch Patienten, die mit neuen Substanzen behandelt werden, engmaschig auf kardiovaskuläre Nebenwirkungen hin beobachtet werden. Um das Überleben von Tumorpatienten sowohl in Bezug auf die Tumorerkrankung als auch auf kardiovaskuläre Erkrankungen nachhaltig zu verbessern, ist eine enge interdisziplinäre und multiprofessionelle Zusammenarbeit unverzichtbar.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Zweitabdruck des in «info@herz+gefäss» 04-2020 erschienen Originalartikels.

Prof. Dr. med. Gabriela Kuster

Leiterin Kardio-Onkologie
Klinik für Kardiologie, Universitäres Herzzentrum
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
4031 Basel

gabriela.kuster@usb.ch

Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Sacha Rothschild

Kantonsspital Baden
Zentrum für Onkologie & Hämatologie
Im Ergel 1
5404 Baden

sacha.rothschild@ksb.ch

Die Autorin hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.
Der Autor: Forschungsunterstützung durch AbbVie, Astra-Zeneca, BMS, Boehringer-Ingelheim, Merck. Honorare für Advisory Boards (Bezahlung an die Institution) von Astra-Zeneca, BMS, Boehringer-Ingelheim, Eisai, Eli Lilly, Merck, MSD, Novartis, Pfizer, Roche, Takeda. Honorare für Vorträge (Bezahlung an die Institution) von Astra-Zeneca, BMS, Boehringer-Ingelheim, MSD, Novartis, Roche. Bezahlung von Reisen und Kongressteilnahmen durch Amgen, Roche, BMS, MSD, AstraZeneca, Takeda, Boehringer-Ingelheim. Mitglied der Arzneimittelkommission des Bundesamtes für Gesundheit Schweiz und Mitglied des Vorstandes der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK).

  • Tumorpatienten haben bereits aufgrund ihrer Diagnose und unabhängig von der Tumortherapie ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko.
  • Herzinsuffizienz und kardiale Dysfunktion gehören zu den häufigen und prognostisch ungünstigsten Nebenwirkungen von Tumortherapien.
  • Durch kardiales Monitoring (hoch-sensitive Biomarker und Bildgebung) kann eine Kardiotoxizität frühzeitig erkannt und behandelt werden.
  • Bei den Nebenwirkungen der zielgerichteten («targeted») Therapien sind an die VEGF(R)-Signal-Inhibitor-assoziierte Hypertonie (häufig und hartnäckig) und die Immuncheckpoint-Inhibitor-assoziierte Myokarditis (potentiell gefährlich) zu denken.
  • Die erfolgreiche Betreuung von Tumorpatienten setzt eine enge Zusammenarbeit zwischen Kardiologen und den für die Tumorbehandlung zuständigen Spezialisten der Onkologie, Radioonkologie und Hämatologie voraus.

Messages à retenir

  • Les patients atteints de tumeurs présentent déjà un risque cardiovasculaire accru en raison de leur diagnostic et indépendamment de la thérapie tumorale.
  • L’ insuffisance cardiaque et le dysfonctionnement cardiaque sont parmi les effets secondaires les plus fréquents et les plus défavorables au pronostic des thérapies tumorales.
  • La surveillance cardiaque (biomarqueurs et imagerie très sensibles) permet de détecter et de traiter précocement la cardiotoxicité.
  • Les effets secondaires des thérapies ciblées comprennent l’ hypertension associée à l’ inhibiteur du signal VEGF(R) (fréquente et persistante) et la myocardite associée à l’ inhibiteur du checkpoint immunologique (potentiellement dangereuse).
  • La réussite des soins aux patients atteints de tumeurs exige une coopération étroite entre les cardiologues et les spécialistes en oncologie, en radio-oncologie et en hématologie responsables du traitement des tumeurs.

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Endoradiotherapie des Prostatakarzinoms mittels 177Lu-PSMA-Liganden

Die sogenannte PSMA-Therapie ist die einzige, in der Schweiz von den Behörden offiziell genehmigte Drittlinientherapie des metastasierten, kastrationsrefraktären Prostatakarzinoms. Soweit klinisch sinnvoll, kann sie jedoch nach Tumorboard­beschluss auch früher durchgeführt werden. Weitere Einschlusskriterien sind eine ausreichende PSMA-Expression der Tumorherde (sichtbar in der PSMA-PET/CT) sowie eine ausreichende Knochenmarkreserve und Nierenfunktion. Abgesehen von einer Chemotherapie-Karenz von wenigen Wochen (je nach Knochenmarkreserve) bedarf die PSMA-Therapie keiner besonderen Vorbereitung (keine spezifische Diät oder Medikamentenumstellung). Eine Kostengutsprache durch die Ver­sicherungen ist nicht erforderlich.

La thérapie dite PSMA est la seule thérapie de troisième ligne pour le cancer de la prostate métastatique et résistant à la castration qui a été officiellement approuvée par les autorités en Suisse. Toutefois, si elle est cliniquement significative, elle peut également être effectuée à un stade plus précoce, après une décision du conseil des tumeurs. D’autres critères d’inclusion sont une expression suffisante des foyers de la tumeur (visible dans le PSMA-PET/CT) ainsi qu’une réserve de moelle osseuse et une fonction rénale suffisantes. En dehors d’un congé de chimiothérapie de quelques semaines (en fonction de la réserve de moelle osseuse), la thérapie PSMA ne nécessite aucune préparation particulière (pas de changement de régime alimentaire ou de médicament spécifique). Un crédit de frais par les compagnies d’assurance n’est pas nécessaire.

Der erste Patient in der Schweiz wurde im August 2019 mit PSMA therapiert. Seitdem wird diese palliative Therapie routinemässig durchgeführt und zeigt in ca. 1/3 der Patienten eine hohe anti-tumorale Wirkung mit entsprechendem PSA-Abfall und erheblicher Verbesserung des allgemeinen Zustandes. Bei einem weiteren Drittel der Patienten kann ein stable disease erreicht werden. Negative prädiktive Faktoren sind Lebermetastasen und Cabazitaxel-Vorbehandlung. Die PSMA-Therapie ist während der ersten drei Zyklen in der Regel hervorragend verträglich; Nebenwirkungen treten meist ab dem 4. Zyklus auf und betreffen vor allem die Speicheldrüsen sowie das blutbildende Knochenmark. Andere Nebenwirkungen sind selten und treten in der Regel erst in späteren Stadien der PSMA-Therapie auf. Bei Respondern können im Durchschnitt progressionsfreie Überlebensintervalle von 4-5 Monaten erwartet werden.
In den letzten Jahren lag der Fokus innovativer theranostischer Möglichkeiten im Rahmen des Prostatakarzinoms (PC) vor allem auf dem Prostata-Spezifischen-Membran-Antigen (PSMA). PSMA ist ein transmembranes Protein, welches in der Mehrzahl der PC-Zellen signifikant stärker exprimiert wird als in normalen Prostatazellen. Entgegen seines Namens wird PSMA jedoch auch in anderen Geweben des Organismus exprimiert (Abb. 1). Die Zielstruktur PSMA eignet sich nicht nur zur Diagnostik - z.B. mittels Positronen-Emissions-Tomographie (PET), sondern in besonderem Masse auch für eine zielgerichtete, endogene Radiotherapie (Radioligandentherapie). Voraussetzung einer solchen Therapie ist eine ausreichend hohe PSMA-Expression der Tumorherde, die mittels PSMA-Liganden PET/CT sichtbar gemacht werden kann.

Die Anfänge der PSMA-basierten Endoradiotherapie

Die ersten «PSMA-Therapien» in Menschen mit radioaktiv markierten Liganden wurden – ebenso wie die PSMA-PET/CT – im Jahre 2011 in der Nuklearmedizin der Uniklinik Heidelberg (D) durchgeführt (1, 2). Dabei wurde der PSMA-Ligand MIP-1095 der US-amerikanischen Firma Molecular Insight Pharmaceuticals (MIP) mit dem radioaktiven Halogen 131Iod gekoppelt und bei konventionell in der Regel austherapierten Patienten intravenös verabreicht. Bereits nach einer einzigen Gabe (Zyklus) konnten damit teils erstaunliche Ergebnisse mit raschem biochemischem und bildmorphologischem Ansprechen und Herddosen bis zu 300 Gy erzielt werden (1, 2). Beispielsweise zeigten >38% der Patienten nach dem ersten Zyklus einen PSA-Abfall von mindestens 75%. Die Nebenwirkungen waren beim ersten Zyklus zumeist mild und klinisch selten relevant, nahmen jedoch ab dem zweiten Zyklus zu (2). Zum relevanten Nebenwirkungsprofil gehörten Leukozytopenie, Thrombopenie und Xerostomie. Letzteres ist der physiologischen Aufnahme von PSMA-Liganden im Speicheldrüsengewebe geschuldet.
Ein Nachteil der Therapie mit 131Iod-MIP-1095 lag in der langen Hospitalisationsdauer von bis zu 10 Tagen. Der Grund dafür war die lange im Organismus verbleibende Radioaktivität, so dass entsprechend die gesetzlich vorgeschriebenen Werte für die Entlassung nach Hause relativ spät erreicht wurden.

177Lutetium-PSMA-Liganden

Seit 2013 wurde 131Iod-MIP-1095 v.a. aufgrund der langen Hospitalisationsdauer von PSMA-Liganden, die das radioaktive Metall 177Lutetium (177Lu) tragen, abgelöst. Auch wenn nach 2013 unseres Wissens nach keine PSMA-Therapien mehr mit 131Iod-MIP-1095 durchgeführt wurden, hat diese Substanz in hohem Masse dazu beigetragen, diese PSMA-Therapie zu verstehen.
Auch bei den 177Lu-markierten PSMA-Liganden zeigten sich teils vielversprechende Therapieresultate bei einem günstigen Nebenwirkungsprofil und einer kurzen stationären Verweildauer von wenigen Tagen (2-4 Tagen). Aus diesen Gründen hat zunächst innerhalb Deutschlands und wenige Jahre später auch weltweit eine rasche Ausbreitung dieser Therapieform stattgefunden. Die zwei führenden 177Lu-Liganden sind 177Lu-PSMA-617 (entwickelt am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg) sowie 177Lu-PSMA-I&T (entwickelt an der Technischen Universität München). Suffiziente Studien zum Vergleich der beiden Substanzen untereinander bezüglich Wirkung und Nebenwirkungen sind aktuell nicht vorhanden.
Die positiven Ergebnisse multipler Publikationen und Erfahrungsberichte führten schliesslich dazu, dass nach einer aufwendigen Antrags-Prozedur die PSMA-Therapie mit 177Lu-PSMA-617 in 12/2018 auch in der Schweiz von den Behörden genehmigt wurde. Allerdings konnte aufgrund von Lieferschwierigkeiten der Substanz die erste Therapie in der Schweiz erst im August 2019 durchgeführt werden (Uniklinik Bern). Seitdem jedoch wird die PSMA-Therapie mit zunehmenden Fallzahlen routinemässig durchgeführt. Seit Mai 2020 liegt zur PSMA-Therapie mittels 177Lu-PSMA-I&T von den Schweizer Behörden ebenfalls eine Genehmigung vor.

Regularien

Die Regularien für die Durchführung einer PSMA-Therapie in der Schweiz sind wie folgt: die Therapie ist vorgesehen für die Drittlinientherapie des metastasierten, kastrations-resistenten PC (mCRPC). Allerdings kann sie nach Tumorboardbeschluss – sofern sinnvoll erachtet – auch früher als in der dritten Linie durchgeführt werden. Tatsächlich zeigen die Ergebnisse einer klinischen Phase-II-Studie aus Aus­tralien, dass die PSMA-Therapie gegenüber der Therapie mit Cabazitaxel wirkungsvoller und nebenwirkungsärmer war (3). Insgesamt sind international immer häufiger Überlegungen und Bestrebungen ersichtlich, die PSMA-Therapie früher als in der dritten Linie einzusetzen.

Einschlusskriterien

Weitere Einschlusskriterien neben einem interdisziplinären Tumorboardbeschluss und einer ausreichenden PSMA-Expression der Tumorherde sind eine suffiziente Knochenmarkreserve und Nierenfunktion. Abgesehen von einer Chemotherapie-Karenz von wenigen Wochen (je nach Knochenmarkreserve) bedarf die PSMA-Therapie keiner besonderen Vorbereitung; eine spezielle Diät, das Absetzen von Medikamenten oder eine Kostengutsprache mit den Versicherungen sind somit nicht erforderlich. Es ist sinnvoll, die Basismedikation für das PC (z.B. GnRh-Analoga oder knochen-stabilisierende Substanzen bei entsprechender ossärer Metastasierung) fortzuführen.

Wirkungspotential der PSMA-Therapie

Die allgemeinen Erfahrungen mit 177Lu-PSMA-Therapien zeigen, wie oben angedeutet, bereits nach einem einzigen Zyklus vielversprechende, in der Anfangsphase sogar gelegentlich spektakuläre Ergebnisse, auch wenn grundsätzlich keine Heilung in Aussicht gestellt werden kann: bei >60% der Patienten sinkt der PSA-Wert um mindestens 50% (4). In dosimetrischen Analysen konnten Herddosen von bis zu 162 Gy für eine verabreichte Aktivität von 7.4 GBq 177Lu-PSMA-617 nachgewiesen werden (5).
Aktuell werden 4-6 Zyklen PSMA-Therapie à 6 bis 7.4 Gigabecquerel (GBq) in Abständen von 6-8 Wochen empfohlen (6). Jedoch kann – je nach Ausmass der Nebenwirkungen und dem sonstigen Zustand des Patienten – die Therapie bei Respondern über den
6. Zyklus hinaus fortgeführt werden. Bisherigen Erfahrungen nach können die Ansprechraten wie folgt angegeben werden: 1/3 der Patienten weisen eine sehr gute Response auf die PSMA-Therapie auf (Abb. 2-3). Dies zeigt sich innerhalb weniger Wochen auch in einer signifikanten Besserung des zuvor teils erheblich reduzierten Allgemeinzustandes. Bei 1/3 bleibt die Erkrankung für Wochen bis Monaten stabil und 1/3 der Patienten profitieren nicht von der Therapie (4). Bekannte negative prädiktive Faktoren sind Lebermetastasen und eine stattgehabte Cabazitaxel-Therapie.

Nebenwirkungen

Insgesamt ist die 177Lu-PSMA-Therapie während der ersten drei Zyklen hervorragend verträglich und relevante Nebenwirkungen sind nicht zu erwarten. Sollte die PSMA-Therapie darüber hinaus fortgeführt werden (bei Respondern oder denjenigen mit stable disease), so werden die Nebenwirkungen zumeist ab dem vierten Zyklus symptomatisch. Diese äussern sich in zunächst milden, pro weiteren Zy­klus zunehmenden Geschmacksveränderungen und Mundtrockenheit aufgrund von Schäden an den Speicheldrüsen, die auch bei einer längeren Pausierung der PSMA-Therapie kaum ein Erholungspotential zeigen. Bei Respondern gelten die Nebenwirkungen an den Speicheldrüsen als der primär limitierende Faktor der PSMA-Therapie.
Bisher haben mehrere Ansätze zur Reduktion der Schäden an den Speicheldrüsen wie z.B. ein Exkretionsreiz (Zitronensaft etc.) oder Sialoskopie mit Steroidinjektion keinen Erfolg gezeigt. Eine Injektion von Botulinumtoxin in die Speicheldrüsen kann die Aufnahme des PSMA-Liganden zwar reduzieren, ist jedoch aufgrund der langen Wirkung von 3-4 Monaten schwer kontrollierbar und hat sich bisher in der klinischen Routine nicht durchsetzen können. Ein weiterer Ansatz ist die Kühlung der Speicheldrüsen mit dem Ziel, die Perfusion und in der Folge dessen die Aufnahme der PSMA-Liganden zu reduzieren. Obwohl die Effektivität dieser Massnahme bisher nicht bewiesen worden ist, so ist sie dennoch leicht umsetzbar, von den Pateinten gut tolerierbar und auch von den Leitlinien empfohlen (1/2 h vor und 4-6 h nach Beginn der Injektion der PSMA-Liganden) (6).
Die unspezifische Mitbestrahlung des blutbildenden Knochenmarks im Rahmen der PSMA-Therapie äussert sich in einer von Zyklus zu Zyklus häufig abnehmenden Anzahl an entsprechenden Blutzellen wie Leukozyten, Thrombozyten und Erythrozyten. Diese Nebenwirkung stellt häufig einen weiteren limitierenden Faktor der PSMA-Therapie dar und ist vor allem dann eine schwer beherrschbare Herausforderung, wenn Patienten bereits mit einer deutlich reduzierten Knochenmarkreserve infolge multipler Chemotherapien oder infolge einer ausgeprägten Knochenmark­infiltration der PSMA-Therapie zugeführt werden. In Anbetracht dieser Umstände sind Überlegungen, die Chemotherapie frühzeitig zugunsten einer PSMA-Therapie zu pausieren, berechtigt und sinnvoll. Falls die Patienten von der PSMA-Therapie nicht profitieren sollten, kann auf der anderen Seite zeitnah die Chemotherapie wieder begonnen werden.
Ab dem 5. bis 6. Zyklus kann auch eine zunehmende Trockenheit der Augen infolge einer Tränendrüsenschädigung klinisch in Erscheinung treten (ebenfalls kaum Erholungspotential vorhanden). Regelmässig wird auch ein passagares Fatigue-Syndrom beobachtet, wobei noch unklar ist, ob dies infolge der Tumor­erkrankung oder infolge der PSMA-Therapie auftritt. Andere Nebenwirkungen wie eine abnehmende Leistungsfähigkeit der Nieren sind kurzfristig nicht beobachtet worden. Mittel- und langfristig auftretende Niereninsuffizienzen sind noch Gegenstand klinischer Forschung.

Auswirkungen auf das Überleben:

Der aktuellen Datenlage zufolge können progressionsfreie Überlebensintervalle von durchschnittlich 4-5 Monaten bei Respondern erwartet werden (7). Diese Ergebnisse sind in Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei den Patienten in der Regel um end-stage Patienten handelt, beachtlich. Neue prospektive randomisierte Studien zur PSMA-Therapie auch in früheren Stadien werden zukünftig sicherlich weiteres Potential dieser Therapieform in Bezug auf das Gesamtüberleben zeigen.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

PD Dr. med.Ali Afshar-Oromieh

Klinik für Nuklearmedizin
Inselspital Bern
Freiburgstrasse 18
3010 Bern

ali.afshar@insel.ch

Prof. Dr. med.Axel Rominger

Klinik für Nuklearmedizin
Inselspital Bern
Freiburgstrasse 18
3010 Bern

Die Autoren haben im Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Die PSMA-Therapie zeigt bei auf konventionellem Weg austhera­pierten Patienten im kastrationsrefraktären, metastasierten Stadium beachtliches Potential bei gutem Nebenwirkungsprofil.
  • Einschlusskriterien sind eine ausreichend hohe PSMA-Expression, eine suffiziente Knochenmarkreserve sowie Nierenfunktion.
  • Eine Kostengutsprache mit den Versicherungen ist nicht erforderlich.
    – Bekannte negative prädiktive Faktoren sind Cabazitaxel und
    Lebermetastasen.
    – Abgesehen von einer Chemotherapie-Karenz von wenigen Wochen (je nach Knochenmarkreserve) bedarf die PSMA-Therapie keiner besonderen Vorbereitung. Die Basismedikation für das PC (z.B. GnRh-Analoga oder kochen-stabilisierende Substanzen) sollten fortgeführt werden.
  • Nebenwirkungen betreffen vor allem die Speicheldrüsen sowie
    das blutbildende Knochenmark. Andere Nebenwirkungen sind
    selten und treten in der Regel erst in späteren Stadien der PSMA-Therapie auf.
  • Bei Respondern zeigen sich durchschnittlich 4-5 Monate progressionsfreies Überleben.

Messages à retenir

  • La thérapie de PSMA présente un potentiel considérable avec un bon profil d’effets secondaires chez les patients traités de manière conventionnelle au stade métastatique, réfractaire à la castration.
  • Les critères d’inclusion sont une expression PSMA suffisamment élevée, une réserve de moelle osseuse et une fonction rénale.suffisante
  • Un crédit de frais auprès des compagnies d’assurance n’est pas nécessaire.
    – Les facteurs prédictifs négatifs connus sont le cabazitaxel et les métastases hépatiques.
    – En dehors d’un congé de chimiothérapie de quelques semaines (en fonction de la réserve de moelle osseuse), la thérapie PSMA ne nécessite aucune préparation particulière. Les médicaments de base pour le cancer de la prostate (par exemple, les analogues du GnRh ou les substances stabilisant l’ébullition) doivent être poursuivis.
  • Les effets secondaires touchent principalement les glandes salivaires et la moelle osseuse hématopoïétique. Les autres effets secondaires sont rares et ne surviennent généralement qu’à des stades ultérieurs du traitement de la PSMA.
  • Les répondants montrent une moyenne de 4-5 mois de survie sans progression.

1. Zechmann CM, Afshar-Oromieh A, Armor T, Stubbs JB, Mier W, Hadaschik B, et al. Radiation dosimetry and first therapy results with a (124)I/ (131)I-labeled small molecule (MIP-1095) targeting PSMA for prostate cancer therapy. European journal of nuclear medicine and molecular imaging. 2014;41:1280-92. doi:10.1007/s00259-014-2713-y.
2. Afshar-Oromieh A, Haberkorn U, Zechmann C, Armor T, Mier W, Spohn F, et al. Repeated PSMA-targeting radioligand therapy of metastatic prostate cancer with (131)I-MIP-1095. European journal of nuclear medicine and molecular imaging. 2017;44:950-9. doi:10.1007/s00259-017-3665-9.
3. https://www.urotoday.com/conference-highlights/asco-2020/asco-2020-prostate-cancer/121811-asco-2020-therap-a-randomised-phase-ii-trial-of-177lu-psma-617-lupsma-theranostic-versus-cabazitaxel-in-metastatic-castration-resistant-prostate-cancer-mcrpc-progressing-after-docetaxel-initial-results-anzup-protocol-1603.html.
4. Rahbar K, Ahmadzadehfar H, Kratochwil C, Haberkorn U, Schafers M, Essler M, et al. German Multicenter Study Investigating 177Lu-PSMA-617 Radioligand Therapy in Advanced Prostate Cancer Patients. Journal of nuclear medicine : official publication, Society of Nuclear Medicine. 2017;58:85-90. doi:10.2967/jnumed.116.183194.
5. Kratochwil C, Giesel FL, Stefanova M, Benesova M, Bronzel M, Afshar-Oromieh A, et al. PSMA-Targeted Radionuclide Therapy of Metastatic Castration-Resistant Prostate Cancer with 177Lu-Labeled PSMA-617. Journal of nuclear medicine : official publication, Society of Nuclear Medicine. 2016;57:1170-6. doi:10.2967/jnumed.115.171397.
6. Kratochwil C, Fendler WP, Eiber M, Baum R, Bozkurt MF, Czernin J, et al. EANM procedure guidelines for radionuclide therapy with (177)Lu-labelled PSMA-ligands ((177)Lu-PSMA-RLT). European journal of nuclear medicine and molecular imaging. 2019;46:2536-44. doi:10.1007/s00259-019-04485-3.
7. Brauer A, Grubert LS, Roll W, Schrader AJ, Schafers M, Bogemann M, et al. (177)Lu-PSMA-617 radioligand therapy and outcome in patients with metastasized castration-resistant prostate cancer. European journal of nuclear medicine and molecular imaging. 2017;44:1663-70. doi:10.1007/s00259-017-3751-z.

Wenn Informationen zensiert werden

Grosse randomisierte klinische Phase 3 Studien bilden normalerweise die Evidenzgrundlage einer informierten Entscheidung beim individuellen Patienten. Durch das Zensieren von fehlenden Endpunkt-Ereignissen aus verschiedensten Gründen werden jedoch die Ergebnisse der Studien möglicherweise entscheidend beeinflusst, indem die zensierten Patienten zum Zeitpunkt der letzten «Erfassung ohne Ereignis» die Kaplan-Meyer Kurven nicht mehr beeinflussen können. Hier wird an Beispielen gezeigt, wann solche Zensierungen problematisch sind und die Interpretation der Studiendaten wesentlich beeinflussen können, falls sie überhaupt realisiert werden.

Les grands essais cliniques randomisés de phase 3 fournissent généralement la base factuelle permettant de prendre une décision éclairée chez les patients individuels. Cependant, la censure des événements manquants pour diverses raisons peut avoir un impact significatif sur les résultats des études en empêchant les patients censurés d’influencer les courbes de Kaplan-Meyer au moment du dernier recensement «sans événement». Des exemples sont donnés ici pour montrer quand une telle censure est problématique et peut influencer de manière significative l’interprétation des données de l’étude, si elle est mise en œuvre.

Aussagekräftige Studien sind die Grundlage für eine informierte Entscheidung. Bei randomisierten Studien ist der primäre Endpunkt in der Regel ein time to event Endpunkt, das heisst die Zeit bis zum Auftreten eines Ereignisses von Interesse wird zwischen den Studienarmen verglichen. Ereignisse von Interesse können Todesfälle sein (Gesamtüberleben, overall survival), Krankheitsprogression (Progressions-freies Überleben, progression free sruvival), Auftreten von Schmerzen etc. Die mediane Zeit bis zum Auftreten des entsprechenden Ereignisses wird mit der Kaplan-Meier-Methode geschätzt und visuell in Kaplan-Meier-Kurven dargestellt. Die zu vergleichenden Kurven beginnen jeweils zum Zeitpunkt der Randomisierung des einzelnen Patienten. Auf der x-Achse ist die Beobachtungszeit aufgetragen und auf der y-Achse der Anteil von Patienten* vermerkt, welcher kein Ereignis von Interesse hat. Im Prinzip fällt die Kurve im Verlauf der Zeit dann jeweils etwas ab, wenn ein Ereignis aufgetreten ist. Der Verlauf der zu vergleichenden Kurven bestimmt, vereinfacht gesagt, letztlich auch die Hazard Ratio (HR). Diese ist ein Mass für die relative Wahrscheinlichkeit in den beiden Therapiearmen für das Auftreten eines Ereignisses über die Zeit, wobei gilt, dass je näher die HR bei 1 liegt, desto kleiner der Unterschied ist.
Wenn nun ein Patient kein Ereignis von Interesse erlebt bzw. unbekannt ist, wann und ob ein solches aufgetreten ist, wird der Patient zensiert (censored) zum letzten Zeitpunkt an dem gesichert ist, dass kein Ereignis von Interesse vorlag. Ab dem Zeitpunkt der Zensierung trägt der entsprechende Patient nicht mehr zum weiteren Verlauf (Abfall) der Kaplan-Meier-Kurve bei. Dies ist grundsätzlich unproblematisch, sofern der Grund für das Zensieren unabhängig von der Studienintervention ist und in beiden Armen etwa gleich häufig auftritt. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn es einem Patienten an seiner Feriendestination so gut gefällt, dass er entscheidet gleich dort zu bleiben und somit «lost to follow-up» ist, und dann nicht mehr klar ist, ob er noch am Leben ist. Im Falle einer Studie mit dem primären Endpunkt Gesamtüberleben würde dieser Patient zum Zeitpunkt der letzten Konsultation zensiert.
Was geschieht nun in einer Studie mit dem primären Endpunkt radiologisch Progressions-freies Überleben (radiographic progression free survival, rPFS), wenn ein Patient die Studienbehandlung beispielsweise wegen Toxizität abbricht? Üblicherweise wird auch ein solcher Patient zum letzten Zeitpunkt zensiert, an dem radiologisch keine Progression dokumentiert wurde. Eine Zensierung würde in einer Studie mit rPFS als Endpunkt auch geschehen, wenn der Patient seine Einwilligung zur weiteren Studienteilnahme zurückzieht, eine andere Therapie beginnt und auch wenn lediglich eine klinische Progression vorliegt, welche aber nicht radiologisch dokumentiert ist.
Wie erwähnt, ist eine wichtige Annahme beim Zensieren, dass die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines Ereignisses von Interesse gleich gross ist bei zensierten Patienten wie bei in der Studie verbleibenden Patienten (das Risiko für eine Tumorprogression also nicht höher oder tiefer ist) und dass das Zensieren in beiden Armen gleich verteilt ist (1). Sind diese Annahmen nicht erfüllt, spricht man von informativem Zensieren (informative censoring). Dieses steht dem Sinn der Randomisierung entgegen, da das Progressions-freie Übeleben nun nicht mehr in repräsentativen Populationen analysiert wird, welche gemäss Zufallsprinzip einer unterschiedlichen Intervention zugeteilt wurden. Informatives Zensieren führt entsprechend zu einem Bias und wenn das Zensieren häufiger im experimentellen Arm ist (z. B. wegen Toxizitäten), kann es sein, dass die PFS Analyse zu einem falschen Eindruck von klinischem Nutzen führt. Das Ausmass dieses Bias ist dabei proportional zum Anteil der Patienten, welche informativ zensiert wurden. Eine Re-Analyse von 28 onkologischen Studien hat zum Beispiel gezeigt, dass Patienten, welche informativ zensiert wurden, ein etwa 30% höheres Progressionsrisiko hatten wie die gesamte Studienpopulation (2).
Folgendes Beispiel illustriert die konkreten Implikationen: In der Studie BOLERO-2 wurde bei Frauen mit Hormon-Rezeptor positivem metastasiertem Mamakarzinom die Ergänzung von Everolimus bzw. Placebo zum Aromatasehemmer Exemestan verglichen. Der primäre Endpunkt der Studie war das Progressions-freie Überleben, welches als 6.9 Monate für Everolimus plus Exemestan bzw. 2.8 Monate für Placebo plus Exemestan berichtet wurde (HR 0.43, p<0.001) (3). In dieser Studie haben im experimentellen Arm 4x mehr Frauen wegen unerwünschten Wirkungen die Therapie abgebrochen oder ihre Einwilliung zur Studienteilnahme zurückgezogen (24% vs. 6%) und wurden zensiert. Betrachtet man solche Therapieabbrüche zusätzlich zur Krankheitsprogression nicht als Therapieerfolg, beträgt die mediane Zeit bis zum Therapieversagen (time to treatment failure, TTF) 3.4 Monate für Everolimus plus Exemestan bzw. 2.3 Monate für Placebo plus Exemestan (HR 0.68, p<0.001) (4). Andere Beispiele finden sich in der Tabelle 1.

Was gibt es für Möglichkeiten, um informatives Zensieren zu erkennen und dessen Einfluss einschätzen zu können? Zunächst: Bei Studien mit Gesamtüberleben als primärem Endpunkt besteht das Problem nicht. Da dieser Endpunkt (neben sorgfältig untersuchter Lebensqualität) letztlich für den Patienten den bedeutsamsten Endpunkt darstellt, sollten Studien entsprechend geplant werden. Bei Studien mit anderen Endpunkten kann gelegentlich bereits visuell eine ungleiche Verteilung von Zensierungsmarkern in den Kaplan-Meier-Kurven bemerkt werden (meist kleine Kreise oder senkrechte Striche). In diesem Fall lohnt sich ein Blick auf die Raten für discontinuation because of adverse events. Wünschenswert wäre dann neben den numbers at risk unterhalb der Kaplan-Meier-Kurven auch die Angabe der Anzahl zensierter Patienten. In einer guten Publikation sollte zudem ausgewiesen werden, wie häufig Zensierung aus welchen Gründen in den beiden Interventionsgruppen vorkam. In der kürzlich publizierten Studie PROfound, welche Olaparib beim metastasierten Kastrations-resistenten Prostatakarzinom untersucht hat, wurden die Zensierungsraten aus anderen Gründen wie lost to follow-up z. B. im Appendix ausgewiesen (und betrugen in der den primären Endpunkt rPFS definierenden Population 29% im Olaparib-Arm bzw. 13% im Vergleichsarm) (5). Des Weiteren wäre auch nach Therapieabbruch die tatsächliche Nachverfolgung inklusive Bildgebung gemäss Protokoll sinnvoll sowie in Ergänzung zur PFS-Analyse auch eine TTF-Analyse wünschenswert (siehe Beispiel oben). Hilfreich bei der Einschätzung der Relevanz von informativem Zensieren wäre auch die Berechnung und Veröffentlichung von best und worst case Szenarien, in denen angenommen wird, dass bei zensierten Patienten nie bzw. sofort ein Progressionsereignis aufgetreten ist. Auch andere statistische Verfahren können helfen, den durch informatives Zensieren bewirkten Bias besser zu verstehen.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass informatives Zensieren bei Studien mit Progressions-freiem Überleben als primärem Endpunkt zu einer Überschätzung der Therapiewirkung für den Interventionsarm führt, in welchem das Zensieren gehäuft ist. Bei Gesamtüberleben als primärem Studienendpunkt besteht dieses Problem nicht.

Anmerkung: Der vorliegende Text ist angelehnt an den Artikel «Informative censoring – a neglected cause of bias in oncology trials». (A. J. Templeton et al. Nature Reviews Clinical Oncology 2020 Jun; 17(6):327-328. doi: 10.1038/s41571-020-0368-0)

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Prof. Dr. med. Arnoud Templeton

Medizinische Onkologie, St. Claraspital, Basel, Schweiz;
St. Clara Forschung, Basel, Schweiz;
Medizinische Fakultät, Universität Basel, Basel, Schweiz

Arnoud.Templeton@claraspital.ch

Dr. med. Thomas Schmid

Tumorzentrum St. Claraspital
4016 Basel

Thomas.Schmid@claraspital.ch

Arnoud Templeton: Honorare: Astellas; Advisory board: MSD, Astellas, BMS (Inst), MSD (Inst), Janssen (Inst), Roche (Inst), Sanofi (Inst); Kongress-/Reiseunterstützung: Sanofi, Janssen, Ipsen, Roche.
Thomas Schmid: Keine

  • Informatives Zensieren geschieht, wenn die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines Ereignisses von Interesse (Endpunkt) bei zensierten Patienten nicht gleich hoch ist wie bei in der Studie verbleibenden
    Patienten und das Zensieren in beiden Armen ungleich verteilt ist.
  • Informatives Zensieren spielt keine Rolle beim Endpunkt Gesamtüberleben.
  • Bei Studien mit Progressions-freiem Überleben als primärem Endpunkt führt informatives Zensieren zu einer Überschätzung der Therapiewirkung des Interventionsarms, in welchem das Zensieren gehäuft ist.

Messages à retenir

  • La censure informative se produit lorsque la probabilité de survenance d’un événement d’intérêt (critère d’évaluation) chez les patients censurés n’est pas la même que chez les patients restant dans l’étude et que la censure est inégalement répartie dans les deux bras.
  • La censure informative n’est pas pertinente pour le critère de survie globale.
  • Dans les études dont le principal critère d’évaluation est la survie sans progression, la censure informative conduit à une surestimation de l’effet thérapeutique du bras d’intervention dans lequel la censure est fréquente.

1. Ranganathan P, Pramesh CS. Censoring in survival analysis: Potential for bias. Perspect Clin Res 2012;3:40.
2. Stone AM, Bushnell W, Denne J, et al. Research outcomes and recommendations for the assessment of progression in cancer clinical trials from a PhRMA working group. Eur J Cancer 2011;47:1763-71.
3. Baselga J, Campone M, Piccart M, et al. Everolimus in postmenopausal hormone-receptor-positive advanced breast cancer. N Engl J Med 2012;366:520-9.
4. Templeton AJ, Ace O, Amir E, et al. Influence of censoring on conclusions of trials for women with metastatic breast cancer. Eur J Cancer 2015;51:721-4.
5. de Bono J, Mateo J, Fizazi K, et al. Olaparib for Metastatic Castration-Resistant Prostate Cancer. The New England journal of medicine 2020;382:2091-102.
6. Templeton AJ, Amir E, Tannock IF. Informative censoring – a neglected cause of bias in oncology trials. Nat Rev Clin Oncol 2020;17:327-8.
7. Slamon DJ, Neven P, Chia S, et al. Phase III Randomized Study of Ribociclib and Fulvestrant in Hormone Receptor-Positive, Human Epidermal Growth Factor Receptor 2-Negative Advanced Breast Cancer: MONALEESA-3. J Clin Oncol 2018;36:2465-72.
8. Slamon DJ, Neven P, Chia S, et al. Overall Survival with Ribociclib plus Fulvestrant in Advanced Breast Cancer. N Engl J Med 2020;382:514-24.
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16. Piccart M, Hortobagyi GN, Campone M, et al. Everolimus plus exemestane for hormone-receptor-positive, human epidermal growth factor receptor-2-negative advanced breast cancer: overall survival results from BOLERO-2dagger. Ann Oncol 2014;25:2357-62.

Rogaratinib zur Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenem Plattenepithelkarzinom der Lunge

Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK) stellt in dieser Ausgabe eine Studie vor. Die SAKK ist eine Non-Profit-Organi­sation, die klinische Studien in der Onkologie durchführt. Bei Interesse für die hier vorgestellte Studie oder falls Sie eine Patientin oder einen Patienten zuweisen möchten, kontaktieren Sie bitte den Studienverantwortlichen (Coordinating Investigator) oder den Studienkoordinator (Clinical Project Manager).

Die Therapie von Plattenepithelkarzinomen der Lunge (SQCLC) ist oft schwierig, da spezifische molekulare Veränderungen zur Zeit noch fehlen, die gezielt angegangen werden können. Der neue Wirkstoff Rogaratinib könnte für diejenigen Patienten eine Therapieoption sein, deren Tumoren eine Überexpression von FGFR-mRNA aufweisen.

Der zweithäufigste histologische Subtyp des nicht-kleinzelligen Lungenkarzinoms (NSCLC) ist das Plattenepithelkarzinom (SQCLC), der in verschiedenen Regionen der Schweiz mit hohem Raucheranteil in der Bevölkerung bis fast ein Drittel aller NSCLC ausmacht. Wegen verschiedener klinisch-pathologischer Merkmale (höheres Alter der Patienten, oft fortgeschrittene Erkrankung bei der Diagnose, zentrale Lage der Tumoren) und des Fehlens molekularer Veränderungen, die mit einer gezielten Therapie behandelt werden könnten, ist die Therapie des SQCLC oft schwierig. Dementsprechend haben die Patienten in der Regel eine schlechte Prognose; das mediane Überleben ist rund 30% kürzer als bei Patienten mit einem Adenokarzinom der Lunge.

Rogaratinib – ein neuer Wirkstoff

Bei rund 46% der Patienten mit SQCLC liegt in den Tumorzellen eine Überexpression der mRNA des Fibroblasten-Wachstumsfaktor-Rezeptors (FGFR) vor; daher besteht das Potenzial, dass diese Tumoren mit einer FGFR-gerichteten Behandlung therapiert werden können. Rogaratinib ist ein FGFR-Inhibitor, der in präklinischen Modellen eine starke antitumorale Wirksamkeit bei Tumorzellen zeigte, die FGFR überexprimierten. Die klinische Erfahrung mit Rogaratinib stammt aus zwei Phase-I-Studien, in die Patienten mit therapierefraktären, lokal fortgeschrittenen oder metastasierten soliden Tumoren mit Überexpression von FGFR-mRNA aufgenommen wurden. Rogaratinib erwies sich als gut verträglich, ohne dosislimitierende Toxizität, und mit vielversprechender klinischer Aktivität, insbesondere bei Blasenkrebs. Momentan ist Rogaratinib weder in der Schweiz noch in anderen Ländern als Medikament zugelassen.

Ablauf der Studie SAKK 19/18

In der Phase-II-Studie SAKK 19/18 möchten wir herausfinden, ob und wie gut Rogaratinib bei Patienten mit einem fortgeschrittenen SQCLC wirkt und wie verträglich resp. sicher diese Therapie ist. An der Studie können Personen teilnehmen, die an einem fortgeschrittenen SQCLC mit FGFR-mRNA-Überexpression leiden und bei denen mindestens schon eine Behandlung des SQCLC durchgeführt wurde. Insgesamt werden 24 Patienten an der Studie teilnehmen.
Alle Teilnehmenden erhalten den Wirkstoff Rogaratinib (einarmige Studie). Rogaratinib wird zweimal täglich in Tablettenform eingenommen (600 mg pro Dosis, 1200 mg pro Tag). Diese Behandlung wird so lange weitergeführt, bis eine Tumorprogression auftritt, die Therapie wegen untolerierbarer Toxizität abgebrochen werden muss oder der Patient die Therapie beenden möchte. Alle Studienteilnehmenden werden lebenslang nachkontrolliert.

Teilnehmende Zentren:
Kantonsspital Baden, Universitätsspital Basel, EOC – Istituto Oncologico della Svizzera Italiana, Inselspital Bern, Kantonsspital Graubünden, Hôpital Fribourgeois – Hôpital Cantonal, Hôpitaux Universitaires de Genève, Kantonsspital Baselland Liestal,
Kantonsspital St. Gallen, Kantonsspital Winterthur.

Coordinating Investigator:
Dr. med. Alfredo Addeo, Hôpitaux Universitaire de Genève HUG
alfredo.addeo@hcuge.ch

Supporting Coordinating Investigators:
Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Markus Jörger,
Kantonsspital St. Gallen, markus.joerger@kssg.ch

Clinical Project Manager:
Gilles Godar, SAKK Bern, gilles.godar@sakk.ch

Prof. Dr. med. Roger von Moos

Direktor Tumor- und Forschungszentrum
Kantonsspital Graubünden
7000 Chur

tumorzentrum@ksgr.ch

Kosten dominieren die gesundheitspolitische Diskussion (Teil 2)

In der Herbstsession tagten National- und Ständerat wieder im Bundeshaus. Hier der zweite Teil des Überblicks über hängige krebspolitisch relevante Vorlagen (1):

Pflegeinitiative und indirekter Gegenvorschlag (2)

Die Volksinitiative «Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)» will Bund und Kantone verpflichten, für eine ausreichende, allen zugängliche Pflege von hoher Qualität zu sorgen und dazu insbesondere genügend diplomiertes Pflegefachpersonal auszubilden. Der Bundesrat lehnt es ab, «einer spezifischen Berufsgruppe eine Sonderstellung in der Verfassung einzuräumen und ihr insbesondere die Berechtigung zur direkten Abrechnung von Leistungen zu erteilen». Er hat dem Parlament deshalb beantragt, die Initiative Volk und Ständen ohne Gegenentwurf zur Ablehnung zu empfehlen.
Auch die vorberatende Gesundheitskommission des Nationalrates (SGK-N) lehnte die Pflegeinitiative ab, erachtet aber den Status quo als ungenügend. Deshalb hat sie eine parlamentarische Initiative eingereicht, um mit einer Ausbildungsoffensive den Mangel an Pflegefachpersonen zu mildern und die Attraktivität des Pflegeberufs dank zusätzlichen Kompetenzen zu steigern. Die Eckwerte des Gegenvorschlags sind die Folgenden:

  • Zur Sicherung der Pflegequalität und der Patientensicherheit wird genügend Personal (insbesondere Pflegefachpersonen) ausgebildet, eingesetzt und im Beruf erhalten;
  • Eigenverantwortliche Handlungsbereiche werden für Pflegefachpersonen abgebildet;
  • Leistungen, welche in der notwendigen Qualität, effizient und wirtschaftlich erbracht werden, werden angemessen vergütet;
  • Die Aus- und Weiterbildung wird angemessen finanziert.

Der Bundesrat teilt zwar das Anliegen der parlamentarischen Initia­tive und will dem Mangel an im Inland ausgebildeten Pflegefachkräften mit gezielten Bildungsmassnahmen und verschiedenen Massnahmen zur Aufwertung ihres Berufsstatus begegnen. Trotzdem lehnt er auch diesen Entwurf teilweise ab. Insbesondere der vorgeschlagenen KVG-Änderung, die Pflegefachpersonen berechtigt, bestimmte Leistungen direkt zulasten der OKP abzurechnen, steht er kritisch gegenüber. Als Gründe gibt er die Gefahr der Mengenausweitung sowie dem Widerspruch für die koordinierte Versorgung an. Sowohl der Nationalrat wie auch der Ständerat befürworten grundsätzlich den Gegenvorschlag. Der Handlungsbedarf ist weitgehend unbestritten. Beide Räte sind den Pflegenden in einem zentralen Anliegen entgegengekommen: Pflegende sollen gewisse Leistungen selbständig und somit ohne Anordnung einer Ärztin oder eines Arztes zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) abrechnen können. Welche Leistungen genau, soll der Bundesrat festlegen. Zu zwei Aspekten gibt es allerdings Differenzen:

  • Kompetenzen der Pflegefachpersonen: Der Ständerat knüpfte die erweiterten Bedingungen an ein zusätzliches Kriterium: Nur jene Pflegefachpersonen, Spitexorganisationen und Pflegeheime sollen von der neuen Möglichkeit profitieren, die mit den Krankenversicherern vorgängig eine Vereinbarung abgeschlossen haben. Der Nationalrat sprach sich in der Herbstsession gegen diese Vertragspflicht aus.
  • Ausbildungsbeiträge: Der Nationalrat will die Kantone verpflichten, angehende Pflegefachkräfte während der Ausbildung mit einem Beitrag an den Lebensunterhalt zu unterstützen und veranschlagt dafür 469 Millionen Franken. Der Bund soll die Kantone während acht Jahren unterstützen. Der Ständerat will diese Leistung der Kantone jedoch als freiwillig gestalten und beantragt 369 Millionen Franken. Der Nationalrat hat in der Herbstsession an seiner Version festgehalten.

Kostendämpfungspaket 1

  • Basierend auf einem Expertenbericht zu den Gesundheitskosten enthält dieses Paket (3) erste Massnahmen gegen höhere Kosten im Gesundheitswesen, mit denen mehrere hundert Millionen Franken pro Jahr gespart werden sollen:
  • Verschärfung der Rechnungskontrolle (1a)
  • nationale Tariforganisation und Pauschaltarife im ambulanten Bereich (1a)
  • Experimentierartikel (1a)
  • Referenzpreissystem für Generika (1b)
  • Massnahmen zur Kostensteuerung (1b)
  • Beschwerderecht für die Versicherer gegen die kantonale Spitalplanung (1b)

In der Sommersession hat der Nationalrat den Entwurf des Bundesrats in zwei Pakete – 1a mit den weniger umstrittenen und 1b mit umstritteneren Massnahmen – aufgeteilt. Mit diesem Vorgehen will er rasch erste Schritte zur Dämpfung der Gesundheitskosten machen können. Doch auch der erste Teil sorgte in der Debatte des Nationalrats in der Sommerssession und derjenigen des Ständerats in der Herbstsession für Diskussionen:

  • Einig sind sich die Räte, dass die Rechnungskontrolle verbessert werden soll, indem Leistungserbringer den Patientinnen und Patienten immer eine Rechnungskopie zustellen müssen, sofern diese von der Krankenkasse direkt gezahlt wird. Das soll auch elektronisch möglich sein. Wer wiederholte unvollständige oder unkorrekte Rechnungen ausstellt, soll mit bis zu 20’000 Franken gebüsst werden. Der Ständerat lehnt allerdings eine vom Nationalrat beschlossene Möglichkeit für den Bund ab, Organisationen zu subventionieren, die Patientinnen und Patienten bei der Interpretation und allenfalls bei der Anfechtung einer Rechnung unterstützen.
  • National- und Ständerat befürworten den neuen Experimentierartikel, der Pilotprojekte ausserhalb vom geltenden Recht zur Eindämmung der Kosten oder zur Stärkung der Qualität im Gesundheitswesen ermöglichen soll. Der Ständerat ergänzte dabei Projekte zur Förderung der Digitalisierung. Beide Räte lehnen inhaltliche Einschränkungen für Pilotprojekte ab. Der Bundesrat hatte einen entsprechenden Katalog im Gesetz vorgeschlagen, um verfassungswidrige Pilotprojekte zu verunmöglichen. Diese müssen allerdings in jedem Fall vom Innendepartement bewilligt werden.
  • Gutgeheissen hat der Nationalrat die Einführung landesweit einheitlicher Tarifstrukturen für ambulante Pauschaltarife. Vorgesehen ist auch eine Eingriffskompetenz für den Bundesrat, falls sich die Tarifpartner nicht einigen können. Eine Pflicht für Pauschalen soll es aber nicht geben. Der Ständerat lehnt ambulante Pauschaltarife hingegen knapp ab. Er ist der Meinung Pauschalen müssten weiterhin auf Freiwilligkeit beruhen.
  • Beide Räte befürworten zudem die Schaffung eines nationalen Tarifbüros im ambulanten Bereich. Dieses soll für die Erarbeitung und Anpassung der ambulanten Tarifstruktur Tarmed zuständig sein. Ziel ist es, Blockaden zu verhindern.

Die Massnahmen des Pakets 1b berät der Nationalrat anlässlich seiner Sondersession Ende Oktober:

  • Eine der umstrittensten Massnahmen dieses Pakets ist das vom Bundesrat vorgeschlagene Referenzpreissystem für patentabgelaufene Arzneimittel. In ihrer Vorberatung hat sich die nationalrätliche Gesundheitskommission (SGK-N) dagegen ausgesprochen. Stattdessen will die Kommission mit mehreren Massnahmen, die der Bundesrat teilweise auf Verordnungsebene umsetzen kann, rasch dafür sorgen, dass die Kosten sinken.
  • Leistungserbringer und Versicherer sollen verpflichtet werden, in gesamtschweizerisch geltenden Verträgen in den Bereichen, in denen sie die Tarife und Preise vereinbaren müssen, auch Massnahmen zur Steuerung der Kosten vorzusehen. Die SGK-N schlägt zudem vor, dass auch degressive Tarife zur Korrektur bei ungerechtfertigten Mengenerhöhungen und Kosten vorzusehen sind.
  • Vericherer sollen neu ein Recht zur Beschwerde gegen Beschlüsse der Kantonsregierungen zur Spital- und Pflegeheimplanung erhalten. Die SGK-N will verhindern, dass solche Beschwerden eine aufschiebende Wirkung haben.

Kostendämpfungspaket 2 (4)

Am 19. August 2020 hat der Bundesrat das Vernehmlassungsverfahren zum Kostendämpfungspaket 2 eröffnet. Die Vorlage gilt gleichzeitig als indirekter Gegenvorschlag zur Kostenbremse-Initiative. Folgende Massnahmen schlägt der Bundesrat vor:

  • Einführung einer Zielvorgabe, welche Kostenziele für das OKP-Wachstum definieren sowie Massnahmen zur Korrektur bei allfälligen Zielüberschreitungen festlegen sollen.
  • Damit soll übermässige Kostenentwicklung erkannt und gleichzeitig für gerechtfertigte Kostensteigerungen mehr Verständnis erreicht werden. In Bezug auf Korrekturmassnahmen bei nichtgerechtfertigter Kostenzunahmen wird eine verbindliche und eine weniger verbindliche Variante vorgeschlagen.
  • Einführung einer Erstberatungsstelle, an die sich die Versicherten bei gesundheitlichen Problemen zuerst wenden. Diese Stelle berät die Patienten und behandelt sie selber oder verweist sie an einen anderen Leistungserbringer. Die Erstberatungsstelle soll zum Standardversicherungsmodell werden (im Sinne des bisherigen fakultativen prämienreduzierenden Hausarzt- oder Gatekeepingmodell).
  • Stärkung der koordinierten Versorgung durch die Definition von «Netzwerken zur koordinierten Versorgung» als eigene Leistungserbringer. Mit dieser Massnahme sollen Leistungserbringer dazu motiviert werden, sich in Netzwerken zu interprofessionellen und interdisziplinären Teams zusammenzuschliessen – die eine koordinierte, den Patientenbedürfnissen entsprechende medizinische Betreuung über die ganze Versorgungskette hinweg anbieten und gegenüber den Versicherern als eine Organisation (bzw. Leistungserbringer) auftreten.
  • Förderung von Programmen der Patientenversorgung zur Stärkung der koordinierten Versorgung. Im Rahmen von ärztlich geleiteten, strukturierten Programmen zur koordinierten Patientenversorgung mit Beteiligung verschiedener Leistungserbringer sowie Qualitätssicherungsmassnahmen sollen spezifische Leistungen neu auch durch nicht-ärztliche Leistungserbringer (die nach KVG zugelassen sind) zu Lasten der OKP erbracht werden können.
  • Regelung für die Vereinbarung von Preismodellen und allfälligen Rückerstattungen. Die rechtlichen Grundlagen für Preismodelle sollen auf Gesetzesstufe zur Stärkung der Rechtssicherheit gefestigt werden. Der Bundesrat soll dabei die Kompetenz erhalten zu regeln, wie und wann Preismodelle eingesetzt werden. Dazu gehört, bei der Preisfestsetzung Rückerstattungen auf dem Höchstpreis der Spezialitätenliste festzulegen.
  • Ausnahme vom Zugang zu amtlichen Dokumenten betreffend die Höhe, Berechnung und Modalitäten von Rückerstattungen im Rahmen von Preismodellen. Der Zugang nach dem Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (BGÖ) zu Unterlagen in Bezug auf die Rückerstattung auf die Höchstpreise der Spezialitätenliste soll verweigert werden können um die Rolle des Bundes in den Preisverhandlungen zu stärken.
  • Schaffung von Rechtsgrundlagen für eine differenzierte Prüfung der WZW-Kriterien sowie für die Bemessung einer möglichst kostengünstigen Vergütung von Analysen, Arzneimitteln sowie Mitteln und Gegenständen.
  • Festlegung von Referenztarifen für ausserkantonale Wahlbehandlungen zur Förderung des kantonsübergreifenden Wettbewerbs unter den Spitälern.
  • Verpflichtung der Leistungserbringer und Versicherer zur elektronischen Rechnungsübermittlung. Die genaue Ausgestaltung der elektronischen Übermittlung wird den Tarifpartnern überlassen. Die Versicherten werden nicht zum elektronischen Empfang einer Rechnung verpflichtet.
  • Analoge oder gleichgerichtete Ausgestaltung der Invalidenversicherung wie im KVG betreffend einzelner oben genannten Bestimmungen.

Seit der Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens werden die vorgeschlagenen Massnahmen unter den Akteuren im Gesundheitswesen und auch medial kontrovers diskutiert. Mit Spannung dürfen die Vernehmlassungsantworten der interessierten Kreise erwartet werden und – sobald der Bundesrat im nächsten Jahr seinen Entwurf verabschiedet hat – die Diskussion im Parlament.

Franziska Lenz

Leiterin Politik und Public Affairs Krebsliga Schweiz