Personalisierte Medizin in der Onkologie

Von jeher versucht die Medizin eine auf den individuellen Patienten ausgerichtete «personalisierte Medizin» mit dem zu der jeweiligen Zeit verfügbaren Wissen, Können und gewonnen Erfahrungen auszuüben. In der Zeit der biochemisch, molekulargenetisch und immunologisch dominierten Medizin, wird es möglich, immer bessere zielgerichtete, hochpräzise Behandlungsformen zu entwickeln. In diesem Artikel wird die Begrifflichkeit der «Personalisierten Medizin» geklärt und mit Beispielen aus der Onkologie erläutert.

Das jeweils aktuell vorherrschende Medizin-Modell war schon immer abhängig vom Einfluss der zeitgleich dominierenden Ergebnisse der Wissenschaften. War in der 1. Hälfte des letzten Jahrhunderts die Psychoanalyse gross en vogue, so verhalf dies der psychosomatisch orientierten Medizin zu einem beachtlichen Aufschwung und in Erweiterung durch die soziologischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zum Model der biopsychosozialen Medizin. Die Entdeckung und Entwicklung der Narkose, das erfolgreiche Konzept der Sterilität und antiinfektiösen Therapien, die Entdeckung der Blutgruppen und damit Etablierung der Transfusionsmedizin sowie die apparative Bildgebung wiederum haben der modernen operativ, pharmakologisch und technisch dominierten Medizin in der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts zu eindrücklichen Höhenflügen verholfen.
Nun befinden wir uns seit der Entschlüsselung des genetischen Codes in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts in der Zeit der biochemisch, molekulargenetisch und immunologisch dominierten Medizin, neuerdings ergänzt mit den grossen Versprechungen der intelligenten «Big Data»-Analysen und künstlichen Intelligenz. Da ist nun potentiell jeder Mensch permanent Objekt und Subjekt in seiner Totalität, mit seiner ganz individuellen vollständigen molekulargenetischen Signatur und seinem Verhalten in Gesundheit und Krankheit. Eine breite öffentliche Diskussion ist nun notwendig, damit die einerseits wohl zu Recht grossen Chancen, andererseits die nicht zu unterschätzenden Risiken für den verletzlichen gläsernen Patienten verstanden werden. Das Bundesamt für Gesundheit hat ein eigenes Merkblatt zur Begrifflichkeit der «Personalisierten Medizin» verfasst, was die Bedeutung dieser Entwicklung für die hiesige Öffentlichkeit klar unterstreicht. In den USA hat sich in letzter Zeit der Begriff «Precision Medicine» vermehrt etabliert gegenüber von «Personalized Medicine», da hier mehr zum Ausdruck kommt, dass es sich um eine genau auf eine für den Patienten passende Zielstruktur gerichtete Medizin handelt. Es soll nicht übersehen werden, dass dieser Begriff auch bewusst manipulativ medial eingesetzt wird, um die teilweise exorbitant hohen Preise und Kosten neuer Therapien zu rechtfertigen.

Definitionen zu personalisierter Medizin und Gesundheit

Bundesamt für Gesundheit (BAG)

«Die personalisierte Medizin (auch Präzisionsmedizin oder individualisierte Medizin genannt) umfasst im Allgemeinen diagnostische, präventive und therapeutische Massnahmen, die auf ein Individuum optimal zugeschnitten sind. Die Person wird untersucht, insbesondere um genetische Merkmale zu bestimmen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen fliessen anschliessend in den Entscheidungsprozess für Therapie- und Präventionsmassnahmen zur Behandlung jener Person ein. Von solch massgeschneiderten Behandlungen erhofft man sich wirksamere Therapien und weniger Nebenwirkungen. Langfristig sollen sie somit auch positiv auf die Kostenentwicklung wirken.
Das Konzept der Personalisierten Gesundheit geht über dasjenige der Personalisierten Medizin hinaus und spielt insbesondere für die Prävention eine wichtige Rolle. Für die Personalisierte Gesundheit stehen nicht nur die Patientinnen und Patienten im Fokus, sondern auch gesunde Personen. Es werden neben Informationen zur «Biologie» der Person weitere gesundheitsbezogene Daten aus unterschiedlichen Quellen berücksichtigt.»

USA National Cancer Institute (NCI-Dictionary)

«Personalized Medicine: A form of medicine that uses information about a person’s genes, proteins, and environment to prevent, diagnose, and treat disease. In cancer, personalized medicine uses specific information about a person’s tumor to help diagnose, plan treatment, find out how well treatment is working, or make a prognosis. Examples of personalized medicine include using targeted therapies to treat specific types of cancer cells, such as HER2-positive breast cancer cells, or using tumor marker testing to help diagnose cancer. Also called precision medicine».

Die personalisierte Medizin und die moderne Onkologie

Die onkologische Hämatologie und Onkologie haben sich als klare medizinische Frontdisziplin dieser rasanten Entwicklung in den letzten 3 Jahrzehnten etabliert und sind somit mit vielen neuen offenen Fragen jeweils als Erste konfrontiert. Schon alleine durch die heute immer rascher verfügbare und auch zunehmend bezahlbare Entschlüsselung der molekulargenetischen Signatur der individuellen Tumorerkrankung unterscheiden wir von Monat zu Monat neue Untergruppen von bisher als einheitlich verstandenen Tumorentitäten. So haben wir es bereits heute mit über 1000 Untergruppen von Malignomen zu tun; letztlich ist jeder Tumor eines individuellen Patienten sogar einzigartig in seinem Muster von Mutationen und weiteren genetischen und epigenetischen Veränderungen. Diese genetische Signatur verändert sich dann noch weiter im Verlauf der Erkrankung mit den vielen Generationen an weiteren fehlerhaften Zellteilungen und ist vom Primärtumor zu den verschiedenen Metastasen dazu noch weiter variabel. Auch die Therapien verändern die genetischen Informationen zusätzlich und können die malignen Zellen mit insbesondere die Resistenz unterstützenden Mutationen selektionieren. Bei diesen häufig tausendfachen genetischen Veränderungen muss man die informativen und nicht-informativen Mutationen unterscheiden.
Für die therapeutische Nutzung dieser Daten ist es entscheidend für den jeweiligen Patienten herauszufinden, welche der vielen genetischen Veränderungen den Krankheitsprozess bestimmen («driver mutations») und welche nicht («passenger mutations»), um die dafür richtigen hochpräzisen Therapien im entsprechenden Krankheitsverlauf zu entwickeln und verwenden.
Das heutige Konzept der «Personalisierten Medizin» ist also im «Management» der einzelnen Patienten mit sehr grossen komplexen Datenmengen, die weit über die Erfahrung des einzelnen Arztes oder eines lokalen Spezialistenteams hinausgehen, konfrontiert. Der unmittelbare Austausch dieser Daten unter den Experten in grossen nationalen und internationalen Netzwerken erlaubt es grundsätzlich, die Ergebnisse bisheriger und neuer diagnostischer und therapeutischer Verfahren zeitnah zu erfassen, zu vergleichen und auszuwerten. Damit wird die Effizienz der neuen Erkenntnisse enorm gesteigert und die jeweils beste diagnostische und therapeutische Vorgehensweise für den individuellen Patienten damit viel schneller verfügbar.
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat mit dem Swiss Personalized Health Network (SPHN) die Infrastrukturen geschaffen, um die vielen Gesundheitsdaten in der Schweiz für die Forschung und letztlich die Patientinnen und Patienten nutzbar zu machen. Das vom Forum Genforschung betriebene Themenportal «Personalisierte Gesundheit» und das Dialogprojekt «Mensch nach Mass» der Stiftung Science et Cité sind weitere Aktivitäten, die von der SAMW mitgetragen werden. In einem eigenen Positionspapier überprüft die SAMW zudem den Nutzen und die Risiken des medizinischen Fortschritts für die nachhaltige Entwicklung des Gesundheitssystems insgesamt. Bei allen Erwartungen, welche die Personalisierte Medizin weckt, ist es auch eine Aufgabe der SAMW und anderer nationaler und internationaler unabhängiger Organisationen, diese im Kontext eines nachhaltigen Gesundheitssystems kritisch zu hinterfragen.

Beispiele der «Personalisierten Onkologie»

Das wohl berühmteste und auch erste Beispiel zielgerichteter Therapie stammt aus der Onkologie, nämlich die Behandlung der chronischen myeloischen Leukämie (CML). Es konnte gezeigt werden, dass sie durch eine einzigartige pathognomonische Translokation zwischen den Chromosomen 9 und 22 verursacht wird, welche zytogenetisch und molekularbiologisch nachgewiesen werden kann. Aus dieser Translokation entsteht ein neues Protein mit einer veränderten Funktion, das BCR-ABL-Eiweiss, welches ein ungebremstes Wachstum und damit die Leukämie auslöst. Diese Funktion kann durch neue Krebsmedikamente, sogenannte Kinase-Inhibitoren wie Imatinib, geblockt werden – mit dramatischer Verbesserung des Überlebens von CML-Patienten. BCR-ABL ist in der CML somit ein diagnostischer Biomarker, wie auch ein prädiktiver Test – er sagt die Wirkung von Kinase-Inhibitoren voraus.
Eine weitere onkologische Erkrankung, bei der zielgerichtete Therapien das Überleben deutlich verlängern konnten, ist das malignes Melanom. Es konnte gezeigt werden, dass rund 60 % der metastasierten Melanome der Haut eine Punktmutation im BRAF-Gen aufweisen. BRAF-Kinase- Inhibitoren (wie Vemurafenib, Dabrafenib oder Encorafenib) sind in dieser Situation sehr gut wirksam; allerdings entwickelt sich meist rasch eine Resistenz, was die Gabe weiterer Medikamente bedingt.

Als Beispiel wie heute die personalisierte Onkologie praktiziert wird sei hier das Nichtkleinzellige Lungenkarzinom NSCLC angeführt. Hatten wir noch vor 20 Jahren im Wesentlichen die Nichtkleinzelligen Lungenkarzinome unterschieden in die Plattenepithel- und Adeno-Karzinome so unterschieden wir heute circa 20 molekulargenetisch verschiedene Typen und diese Zahl nimmt laufend zu. Ein aktueller Behandlungsalgorithmus für Patienten mit NSCLC und nachweisbaren bekannten Driver-Mutationen ist in Abbildung 1 (4) dargestellt.
Trotz den rasanten und sehr kostspieligen Fortschritten in der Onkologie und onkologischen Hämatologie muss festgehalten werden, dass die bisherige konventionelle Chemotherapie und Radiotherapie keineswegs ausgedient haben. In vielen Situationen ergänzen sich die verschiedenen bewährten und neuen Therapieformen und bei vielen Patienten haben wir noch keine zielgerichteten Therapien verfügbar oder sie sind noch nicht ausreichend oder nur kurzfristig wirksam.
Es ist aber auch legitim die bereits absehbaren enormen Erfolge insbesondere auch der Immuntherapien z.B. in der jetzt möglichen kurativen Behandlung der Patienten mit metastasierendem malignen Melanom oder mit bisher therapierefraktären akuten Leukämien oder Lymphomen und anderen mehr zu erwähnen. Wir stehen hier erst am Anfang eines weiten Weges.
In einer breit angelegten Studie in den USA wurde kürzlich untersucht wie viele der 94 157 zielgerichtet behandelten Patienten im Zeitraum 2006-2018 profitiert haben (Abb. 2, 3) (5). In der gleichen Population betrug die Ansprechrate («response rate») 54%, während sich die Dauer des Ansprechens («duration of response») im Median auf 29,5 Monate aufsummierte (5).

Ausblick

Es wird entscheidend sein, dass der Nutzen der personalisierten Medizin als Resultat der weitgehend von der Öffentlichkeit getragenen hunderte von Milliarden Franken schweren Grundlagen- und Klinischen Forschung der breiten Bevölkerung auch umfassend zu Gute kommt. Die bisherige zu einseitige Kommerzialisierung des medizinischen Fortschritts insbesondere durch die zu grosszügige Monopolisierung durch privatisierte Patente aus der öffentlichen Forschung muss den heutigen Realitäten wieder gerecht werden und die Preise der innovativen Medikamente in ein nachvollziehbares transparentes und faires Verhältnis von Aufwand und Ertrag gesetzt werden. Eine freie Preissetzung neuer Medikamente und Indikationen, wie es die USA zulässt, ist nicht mehr haltbar in solidarisch getragenen Gesundheitssystemen wie in Europa.
Für uns als Experten der Medizin sind wir nun mitten im Aufbruch dieser Revolution der Medizin, welche in sehr raschem Tempo voranschreitet, enorm gefordert. Die therapeutischen, diagnostischen und präventiven Optionen der nahen Zukunft sind noch kaum absehbar gross und haben enorme Konsequenzen für die ganze Gesellschaft. Die Demographie, die Prävalenz und Inzidenz der Erkrankungen sind in raschem Wandel mit grossen Auswirkungen auf die Veränderungen der Gesellschaft. Die Möglichkeiten, ins Genom des Menschen, insbesondere auch in die Keimbahn einzugreifen, wie z.B. durch die CRISPER-Cas9 Methoden sind gerade erst in der Initialphase der öffentlichen Diskussion ebenso wie die Optionen der Verschmelzung von Mensch und Technik im «Transhumanismus», wo der einzelne Mensch durch technischen Implantate «verbessert» werden soll.
Prof. Daniel Scheidegger, bis Ende 2019 Präsident der SAMW schreibt: «Alle Gesundheitsfachleute müssen sich heute mit diesen neuen Trends auseinandersetzen. Da die Medizin sich in Zukunft nur noch multi- und interprofessionell weiterentwickeln kann, sind die Inhalte nicht nur auf alle Berufsgruppen ausgerichtet, sondern auch interprofessionell entstanden. Die Personalisierte Medizin wird in den nächsten Jahren rasant an Bedeutung gewinnen. Ob sich die grossen Hoffnungen bewahrheiten, wird die Zukunft zeigen.»

Prof. em. Dr. med.Thomas Cerny

Rosengartenstrasse 1d
9000 St. Gallen

thomas.cerny@kssg.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Personalisierte Medizin und Personalisierte Gesundheit sind als Begriffe jeweils im Kontext zu interpretieren
  • In der Onkologie wird damit meist die zielgerichtete «Precision
    Medicine» gemeint
  • Immer mehr ist «Big Data» unterwegs zum gläsernen Patienten/
    Bürger
  • Die Chancen und Risiken der Personalisierten Medizin und Gesundheit transparent und verständlich zu machen, ist dabei die grösste Herausforderung.

1. Publikation «Personalisierte Medizin» der SAMW: www.samw.ch unter Publikationen
2. Faktenblatt Personalisierte Medizin des BAG: unter www.bag.admin.ch eingeben: Faktenblatt Personalisierte Medizin
3. Swiss Personalized Health Network (SPHN) Initiative: www.sphn.ch
4. Onkopedia Leitlinien: https://www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/lungenkarzinom-nicht-kleinzellig-nsclc/@@guideline/html/index.html)
5. Marquart J, Chen EY, Prasad V. Estimation of the percentage of US patients with cancer who benefit from genome-driven oncology [published online April 17, 2018]. JAMA Oncol.

Topische Phytopharmaka in der Gynäkologie

Gerade in der Gynäkologie besitzt die Phytotherapie einen hohen Stellenwert, fragen Patientinnen doch oftmals gezielt nach «natürlichen» Alternativen oder Ergänzungen ihrer Behandlung, z.B. bei Wechseljahresbeschwerden oder PMS. Auch topisch angewandt haben Arzneipflanzen mit ihren Vielstoffgemischen in der Gynäkologie Einiges zu bieten und lassen sich bei diversen Beschwerden vielseitig, effizient und direkt am Wirkort einsetzen.

Bei hormonell bedingten trockenen und atrophen Schleimhäuten kommen fette Pflanzenöle mit Phytosterolen, die die Schleimhäute hydratisieren und regenerieren, zum Einsatz, allenfalls in Kombination mit hormonausgleichenden, regenerierenden und wundheilenden ätherischen Ölen.

Hormonähnliche Inhaltsstoffe: Granatapfelkern- und Sanddornfruchtfleischöl

Granatapfelkernöl (Punica granatum) (Abb. 1) enthält diverse Phytoöstrogen-Komponenten wie z.B. Coumestrol oder Estron (1, 2), sowie andere hormonähnlich wirkende Stoffe wie Phytosterole, Flavonoide und β-Sitosterol, und hat daher eine hormonausgleichende Wirkung (2, 3). Ferner weist das Öl einen hohen Gehalt an Punicinsäure auf, welche durch ihre inhibierende Wirkung auf die Lipoxygenase und die Cyclooxygenase (COX) entzündungshemmend wirkt (2). Das Öl kann formuliert in Ovula, in halbfesten Zubereitungen oder in Ölmischungen als tägliche Pflege benutzt werden, beispielsweise in Kombination mit Nachtkerzen- oder Johannisöl, sowie eventuell mit regenerierenden oder hormonell ausgleichenden ätherischen Ölen wie Rosengeranie (Pelargonium grav.), Sandelholz (Santalum album), Muskatellersalbei (Salvia sclarea) oder Rose (Rosa damascena) (1).

Sanddornfruchtfleischöl (Hippophae rhamnoides) eignet sich aufgrund seines hohen Gehaltes an Palmitoleinsäure, die auch Bestandteil unseres hauteigenen Fettes ist, besonders für die Behandlung von diversen (Schleim-)Hautkrankheiten. Ebenfalls in hoher Konzentration vorhanden sind Tocopherol und Carotinoide, welche eine zellregenerierende Wirkung aufweisen, sowie das hormonähnliche β-Sitosterol (2). Gerade bei Erosionen, Läsionen und Rissen im Genitalbereich, welche unter anderem auf einen Mangel an B-Carotin und Tocopherol zurückzuführen sind, eignet sich Sanddornfruchtfleischöl als Inhaltsstoff in einer geeigneten Zubereitung (2). Zu beachten ist die starke orange Färbung des Öls.
Andere hormonausgleichende Pflanzenöle sind beispielsweise Lein-, Nachtkerzen- oder Borretschsamenöl, auch sie können lokal pur oder in Rezepturen angewendet werden, oder zur systemischen Therapie trockener (Schleim-)Haut innerlich eingenommen werden.
Eine von vielen GynäkologInnen verschriebene Rezeptur für trockene und juckende Schleimhäute mit Infektionstendenz ist die Vaginalcreme nach Rina Nissim (4) (Rezeptur 1).

Sonderfall Lichen sclerosus

Essentiell ist bei diesem Beschwerdebild die intensive Pflege (5), idealerweise mit obengenannten zellregenerierenden fetten Pflanzenölen in einer Ölmischung oder halbfesten Zubereitung. Bei Rötungen und Reizungen kann der Creme beruhigendes und reizmilderndes Lavendelöl (6) beigegeben werden, je nach Verträglichkeit 1-2%ig. Auch ätherisches Rosmarinöl (Rosmarinus officinalis ct cineol) kann 5-10%ig in einer rückfettenden Grundlage zur Durchblutungsförderung eingesetzt werden, am besten wird die Creme jeweils morgens angewendet (5). Bei Verletzungen durch Kratzen oder akuten entzündlichen Zuständen kommen Waschungen mit verdünnter Calendula- oder Kamillentinktur infrage, oder auch Sitzbäder mit entzündungshemmenden Arzneipflanzen (s. unten).

Bei Entzündungen Gerbstoffdrogen und entzündungshemmende Arzneipflanzen

Gerbstoffdrogen wie Eichenrinde (Quercus cort.), Hamamelis (Hamamelidis cort./fol.) oder Taubnesselblüten (Lamii albi flos) weisen adstringierende, entzündungshemmende und juckreizstillende Eigenschaften auf und eignen sich für nässende, entzündliche oder mit Sekretion verbundene Zustände (z.B. Fluor albus) (7). Taubnessel wirkt dabei aufgrund der Iridoïde über eine Hemmung der Zyklooxygenase zusätzlich entzündungshemmend (7). Die Pflanzen kommen als Waschungen oder Sitzbäder zur Anwendung. Dazu kombiniert werden kann die entzündungshemmende und keimhemmende Kamille (Matricariae flos) oder Schafgarbe (Millefolii flos) (8) (Rezeptur 2). Bei starker Entzündung kann dem Sitzbad zur Wirkungsverstärkung 10-30 ml Kamillenextrakt oder Ringelblumentinktur beigegeben werden. Des Weiteren können im Handel erhältliche Hamamelis-Hämorrhoidalzäpfchen auch vaginal eingeführt werden (z.B. Hametum®) (6); auch Eichenrindenovula in diversen Konzentrationen können magistral hergestellt werden.
Achtung: Eichenrindenauszug ist kräftig gefärbt; es empfiehlt sich, die Badewanne sofort nach Gebrauch zu reinigen (7).

Infektionen im Intimbereich: Ätherische Öle und ihr antimikrobielles Potential

Ätherische Öle wirken je nach Zusammensetzung stark antibakteriell, antiviral und antimykotisch und werden bei diversen Infektionen der Haut sowie in der Wundbehandlung eingesetzt (9). Sie eignen sich gut zur kausalen Behandlung von Mykosen und anderen Infekten im Vaginalbereich.
Bei immer wiederkehrenden Infekten kann mittels eines Vaginalabstriches in einem spezialisierten Labor ein Aromatogramm erstellt und nach den Resultaten eine personalisierte Rezeptur formuliert werden (10).

Teebaumöl & Co bei Vaginalmykosen und bakteriellen Infekten

Viele ätherische Öle zeigen schon in niedrigen Konzentrationen eine fungizide Wirkung (10). Das gut untersuchte Teebaumöl (Melaleuca alternif.) ist aufgrund seiner ausgeprägt fungiziden Wirkung eines der wichtigsten Öl bei (Schleim-)Hautmykosen und kommt insbesondere auch bei chronischen Candidainfektionen zum Einsatz (11). Ihm eigen ist die stark austrocknende Wirkung, eine pflegende Grundlage ist daher wichtig (Rezeptur 3). Monoterpenolhaltige Öle wie Lavendel (Lavandula off.), Thymian Linalool (Thymus vulg. ct linalool), Rosengeranie (Pelargonium grav.) sowie Palmarosa (Cymbopogon martinii) eignen sich ebenfalls gut für (Candida-)Mykosen und sind daneben auch überaus hautpflegend. Palmarosa zeigt auch entzündungshemmende sowie analgetische Wirkungen (11). Für chronisch rezidivierende Pilzinfektionen haben sich Ovula mit dem stark wirksamen Thymian thymol (Thymus vulg. ct thymol) bewährt, die Dosierung pro Ovulum à 3g beträgt maximal 40mg (4). Des Weiteren sei noch Lemongrass (Cymbopogon flex.) erwähnt, das eine gute Wirksamkeit bei diversen Pilzerregern zeigt (10, 11).
Alle genannten Öle weisen neben der fungiziden auch eine breite antibakterielle Wirkung auf und können bei bakteriellen Infekten eingesetzt werden (11).
Allergien auf ätherische Öle sind häufig auf nicht richtig gelagerte Öle und die damit verbundene Bildung von Peroxyden zurückzuführen, welche ihrerseits Auslöser für Dermatitiden oder allergischen Reaktionen sein können (7). Diese Proble-matik ist insbesondere für das vielbenutzte Teebaumöl bekannt, eine gute Ätherisch-Öl-Qualität ist essentiell (9, 11).

Cineolreiche Öle bei viralen Infekten

Bei Genitalherpes (HSV-2) sowie HPV-Infekten können adjuvant antiviral wirkende ätherische Öle eingesetzt werden. Neben Teebaum (Melaleuca alternif.) eignen sich auch Niaouli (Melaleuca viridifl.) sowie Cajeput (Melaleuca leucadend.) (11). Auch Ravintsara (Cinnamomum camph. ct cineol), Eukalyptus (Eucalytus globulus/smithii) und Rosmarin (Rosmarinus off. ct cineol) wirken antiviral, dies v.a. über ihren hohen Cineolgehalt. Cineol wirkt überdies lokal anästhesierend und analgetisch (10, 11). Dazu kombiniert werden können Lavendel (Lavandula off.), Sandelholz (Santalum album), Rosengeranie (Pelargonium grav.), welche entzündungshemmend, schleimhautregenerierend und epithelisierend wirken, Sandelholz zusätzlich antiviral (5, 11). Eichenrindenbäder können die Wirkung unterstützen (5).
Fertigpräparate mit antiviraler Wirkung enthalten wässrigen Melissenextrakt oder Grünteeextrakt (Camellia sinensis) und können insbesondere bei Condylomen eingesetzt werden (5).

Magistralrezepturen mit ätherischen Ölen

In der Regel werden Ovula zu 100-200mg an ätherischen Ölen dosiert. Dabei empfiehlt es sich, mindestens 2 bis 3 verschiedene Öle zu kombinieren, da ätherische Öle in Mischungen durch Synergiebildung effizienter sind als Einzelöle (11).
Bewährt haben sich Vaginalovula à 3g, da so genügend Ovulagrundmasse vorhanden ist, um die betroffenen Schleimhäute ausreichend zu benetzen und den Wirkstoff optimal zu verteilen. Je nach Lokalisation kommen auch Cremes zum Einsatz, in einer Konzentration von 2-5% maximal.
Gerade im sensiblen Vaginalbereich muss ausserdem der Grundlage Beachtung geschenkt werden. Es gilt das Therapieprinzip: Feucht auf feucht – Fett auf trocken. Ein Austausch mit dem herstellenden Apotheker kann sinnvoll sein, damit die jeweils optimale galenische Grundlage für die betreffende Indikation gefunden werden kann.

Karoline Fotinos-Graf

eidg. dipl. Pharm., FPH Phytotherapie
Schweizerische Medizinische Gesellschaft für Phytotherapie SMGP
Diesbachstrasse 11
3012 Bern

k.fotinos@smgp.ch

Die Autorin hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Diverse ausgewählte Arzneipflanzen mit breitem Wirkungsspektrum (hormonähnlich und -ausgleichend, antiphlogistisch, analgetisch, antipruriginös, antiinfektiös, adstringierend, wundheilungsfördernd) stehen für die topische Behandlung von leichten bis mittelschweren Beschwerden des Vulvovaginalbereichs zur Verfügung, als alleinige Therapie oder adjuvant zu einer bestehenden Therapie
  • Von Bedeutung ist insbesondere das grosse antimikrobielle Potential von ätherischen Ölen, was gerade in Zeiten erhöhter Antibiotika- und anderen Resistenzen von grossem Wert sein kann
  • Es stehen ebenfalls diverse antiviral wirkende Phytotherapeutika für die (adjuvante) Behandlung von Genitalherpes oder Condylomen zur Verfügung
  • Dem Arzt, der Ärztin stehen neben einigen pflanzlichen Fertigpräparaten zahlreiche Arzneipflanzen und ätherische Öle in der ALT (Arzneimittelliste mit Tarif) zur Verschreibung einer Magistralrezeptur zur Verfügung, welche über die Grundversicherung vergütet werden

1. Von Braunschweig, R. Pflanzenöle. Wiggensbach : Stadelmann Verlag, 2018.
2. Krist, S., Buchbauer, G. und Klausberger, C. Lexikon der pflanzlichen Fette und Öle. Wien : Springer, 2008.
3. Fischer, H. Punica granatum. Zeitschrift für Komplementärmedizin 08(02). 2016, S. 52-53.
4. Fischer, H. Sanfte Hilfe bei Scheideninfekten. Naturarzt. 20. Februar 2008,
S. 18-20.
5. Fischer, H. Juckreiz und Schmerzen im äusseren Intimbereich. Naturarzt. 17. April 2014, S. 11-13.
6. Widmer, R. Einsatz von Phytotherapeutika bei Vulvovaginalbeschwerden. Schweiz Z Ganzheitsmed (29). 18. Januar 2017, S. 22-24.
7. Schilcher, Heinz, et al. Leitfaden Phytotherapie. München : Elsevier GmbH, 2016.
8. Bäumler, Siegfried. Heilpflanzenpraxis heute: Rezepturen und Anwendung. München : Elsevier Urban & Fischer, 2013. Bd. 2.
9. Fotinos-Graf, Karoline. Ätherische Öle in der Wundheilung und Entwicklung von geeigneten Rezepturen. www.smgp.ch. [Online] 5. November 2014. [Zitat vom: 31. Januar 2020.] http://www.smgp.ch/smgp/homeindex/faehigkeitsprogf/zertifikatsarbeiten/Fotinos-GrafKaroline.pdf.
10. Steflitsch, W., Wolz, D. und Buchbauer, G. Aromatherapie in Wissenschaft und Praxis. Wiggensbach : Stadelmann Verlag, 2013.
11. Wabner, Dietrich und Beier, Christiane. Aromatherapie. München : Elsevier GmbH, 2009.

Hirnmetastasen: Take Home Messages 2020

Das Interesse an einem differenzierten Management von Hirnmetastasen ist gross, zum einen dank Fortschritten der therapeutischen Disziplinen, zum anderen der Grundlagenforscher, welche unser pathophysiologisches Verständnis laufend erweitern. Beides kommt der zunehmenden Zahl betroffener Patienten zugute, die sich durch längeres Überleben mit Hirnmetastasen (BM) konfrontiert sehen. Besonders drei Tumorentitäten haben ein hohes kumulatives Risiko für BM.

La gestion différenciée des métastases cérébrales suscite un grand intérêt, grâce d’une part aux progrès des disciplines thérapeutiques, et d’autre part aux chercheurs de base qui élargissent constamment notre compréhension physiopathologique. Les deux sont bébéfiques pour le nombre croissant de patients atteints de métastases cérébrales (BM) en raison d’une survie plus longue. Trois entités tumorales en particulier présentent un risque cumulé élevé pour des BM.

Beim metastasierten Melanom geht man von einer kumulativen Inzidenz von bis zu 80% aus, für das kleinzellige Bronchuskarzinom ist sie 50-60%, Adenokarzinome der Lunge mit einer Driver-Mutation erreichen 50-70% und beim Her2-positiven metastasierten Mammakarzinom ist sie um die 50% (Abb.1). Wir verstehen heute besser, wie sich BM molekular vom Primärtumor unterscheiden, wie wichtig das ZNS–«Microenvironment» für das Entstehen von BM ist, das sich in Zukunft vielleicht für eine Prävention nutzen lässt. BM sind in klinischen Studien nicht mehr automatisch ein «exclusion criterion», was positive Beobachtungen hinsichtlich Wirksamkeit vieler neuer Substanzen im Gehirn erst möglich macht. Der Mythos einer exklusiven Bluthirnschranke für Systemtherapien ist Vergangenheit.

Das Therapieangebot hängt von der Prognose ab und umgekehrt

Eine Datenbank der RTOG (Radiation Therapy Oncology Group) mit knapp 4000 Patienten ist die Grundlage für einen Prognose-Score, der seit Jahren für die häufigsten Tumoren mit hohem BM- Risiko vorliegt. Der DS-GPA-Score (Diagnosis-Specific Graded Prognostic Assessment) wird mit molekularen Daten laufend angereichert, die neueste Version finden Sie im Internet unter
http://brainmetgpa.com (1). Prognosen variieren von einer Tumor(sub)-entität zur anderen und werden durch molekulare und klinische Faktoren beeinflusst. Klinisch spielen das Alter, der Karnofsky-Performance Status sowie das Ausmass der extrakraniellen Erkrankung eine Rolle. Die Anzahl der BM scheint bei zielgerichteten Therapiemöglichkeiten (ALK, EGFR) eher eine untergeordnete Rolle zu spielen (2). Beim ALK-positiven NSCLC mit BM wird heutzutage ein medianes Überleben von mehr als 6 Jahren erreicht unter Einsatz aller zugänglichen ALK-Inhibitoren, wohingegen bei NSCLC ohne angehbare molekulare Alterationen das mediane Überleben erst knapp über einem Jahr liegt (Abb. 2) (3).

«verzweigte Evolution» und ein Gliom-ähnliches Wachstumsmuster von gewissen Hirnmetastasen
Ein Primärtumor und seine zugehörigen Hirnmetastasen (BM) zeigen unterschiedliche molekulare Alterationen, die im Verlauf der Erkrankung separat erworben werden (sogenannte «branched evolution»), diese müssen nicht identisch sein mit Metastasen in der Peripherie, welche besser zugänglich wären, um mögliche therapeutische Targets zu finden (Abb. 3) (4). Die Konkordanz von therapierbaren Driver-Mutationen im Primärtumor und den zugehörigen Hirnmetastasen ist höher bei BRAF-mutierten Melanomen, bei ALK- positiven NSCLC und etwas weniger zuverlässig bei EGFRmut NSCLC und bei Hormonrezeptor – positiven oder Her2 – amplifizierten Mammakarzinomen.

Etwa 50% der BM zeigen ein infiltratives Wachstum («glioma-like»), was sowohl die lokale Tumorkontrolle (Operation und stereotaktische Radiotherapie, SRT) als auch die Wirksamkeit der Systemtherapie beeinträchtigt (Abb. 4) (5). Infiltrierende Tumorzellen «verstecken» sich hinter einer intakten Bluthirnschranke und sind damit einer Systemtherapie weniger gut zugänglich. Eine infiltrierende Umgebungskolonisation ist typisch für Bronchialkarzinome (SCLC, NSCLC), triple negative Mammakarzinome und Melanome (6).
Ausserhalb von Studien werden Metastasen radiologisch nach dem grössten Diameter ausgemessen, die Vollständigkeit einer Metastasenresektion (EOR, extent of resection) ist aber vom Tumorvolumen abhängig und wird deshalb häufig überschätzt (7).

Entitätsspezifische Therapiemöglichkeiten & Grenzen

1. Lunge

Die kumulative Inzidenz von BM für EGFRmut NSCLC Stadium IIIB/IV beträgt nach 3 Jahren über 45% und für ALK-translozierte Tumoren über die Jahre bis zu 70%. Diese Zahlen sind deutlich höher als für nicht molekular alterierten NSCLC, wo sich die Inzidenz für BM zwischen 20-30% bewegt (Abb. 1) (8). Neben der Lokaltherapie bestehen für molekular alterierte NSCLC-Subtypen sequentielle Systemtherapie- Optionen. Neuere Proteinkinase-Hemmer (meist Tyrosinkinase-Hemmer, TKI) sind mehrheitlich aktiv im ZNS und lassen ein Ansprechen wie in der Peripherie erwarten. Die Frage, ob bei guter Remission auf eine SRT verzichtet werden darf, kann man heute wie folgt beantworten: eine Kombination von SRT und TKI ergibt insgesamt bessere Ergebnisse als die alleinige TKI-Therapie (9), der ideale Zeitpunkt der SRT (upfront versus früh versus spät) bleibt durch weitere Studienergebnisse zu belegen und dürfte durch Krankheitsdynamik und Ansprechen auf Systemtherapie mitbestimmt sein. Bei fehlenden molekularen Alterationen ist auch eine konventionelle Chemotherapie bei manifesten BM wirksam, da diese nicht durch eine intakte Bluthirnschranke geschützt sind, die Präparate-Wahl richtet sich nach der Empfindlichkeit extrakranieller Tumormanifestationen und berücksichtigt Vorbehandlungen.

1.1. Immuntherapie bei Bronchuskarzinomen
überwinden, über virtuelle perivaskuläre Räume (im Bereich postkapillärer Hirnvenulen), via arachnoidale Granulationen und über den Choroidplexus findet immunologische Kommunikation zu den zervikalen und lumbalen Lymphknoten statt (10).
Eine erste Phase II Studie, publiziert 2016 (11), mit Pembrolizumab bei therapie-naiven BM ergab eine intrakranielle ORR von 29.4% und ein medianes OS von 8.9 Monaten bei PDL-1 positiven NSCLC. Daten zu Nivolumab nach erfolgter Chemotherapie und eine Subgruppen Analyse der OAK Studie mit Atezolizumab zeigen unabhängig vom PDL-1 Status eine vergleichbare Wirksamkeit im ZNS wie in der Peripherie und ein ähnliches Nebenwirkungsprofil (12, 13). Die Evaluation der Tumorantwort nach Immuntherapie ist für den Neuroradiologen herausfordernd. Um eine Vereinheitlichung zu ermöglichen, hat die RANO Expertengruppe (RANO: Response Assessment in Neuro-Oncology) RANO-Kriterien für Hirnmetastasen (7) und iRANO Kriterien für Hirnmetastasen unter Immuntherapie definiert. Wichtig sind dabei neben radiologischen auch klinische Parameter, wie der neurologische Zustand und der Steroidbedarf. Die Gruppe empfiehlt bei fehlender neurologischer Verschlechterung eine MR Kontrolluntersuchung nach 3 Monaten (14). iRANO Kriterien sind auf intraaxiale Raumforderungen beschränkt, leptomeningealer Befall und Schädelknochenmetastasen sind schwierig zu objektivieren. Zwischen SRT und Immuntherapie scheint es eine Synergie zu geben, wenn beide Optionen innerhalb von 4 Wochen stattfinden, das lässt eine Metaanalyse mit 534 Patienten vermuten (15). Ob damit auch die Häufigkeit von Radionekrosen zunimmt, bleibt zu beobachten (16).

2. Mammakarzinom

Die kumulative Inzidenz für BM ist mit knapp 50% am höchsten beim Her2-positiven und Hormonrezeptor (HR)-negativen Mammakarzinom Stadium IV (17). Das mediane Überleben mit BM erreicht bei Her2-positiven und HR-positiven Tumoren über zwei Jahre und ist damit besser als für die anderen Subgruppen (18, http://brainmetgpa.com). Zwischen dem Primärtumor und den zugehörigen Hirnmetastasen können Diskordanzen für den Her2- und/oder HR-Status bestehen, was gelegentlich eine erneute Bestimmung dieser Marker am Metastasengewebe rechtfertigt, sofern eine Resektion klinisch indiziert ist. So waren in einer grösseren Serie die Hormon-Rezeptoren (HR, ER oder PR) bei BM in 40/160 (25%) nachweisbar bei sonst HR-negativem Primärtumoren. Her2 war in 22/173 (13%) positiv bei Her2-negativem Primärtumor (19).
Von den neueren Her2-gerichteten TKI war Neratinib (plus Capecitabine) zwar im Hirn gut wirksam, aber mit deutlicher Toxizität verbunden (Diarrhoe Grad 2 und 3), das mag an der zusätzlichen Hemmung des EGFR liegen (20). Tucatinib, ist ein Her2-spezifischer TKI mit deutlich weniger Nebenwirkungen. In einer Phase I
erreicht Tucatinib in der Doppelblockade mit Trastuzumab und Capecitabine bei vorbehandeltem Mammakarzinom im ZNS eine Responserate von 42%. Der primären Endpunkt PFS in der nachfolgenden Placebo-kontrollierten Phase III Studie ergab für die ganze Kohorte (mit und ohne BM) für die Kombination Tucatinib mit Trastuzumab und Capecitabine einen Vorteil mit einen HR von 0.54 (95% CI 0.42-0,71) gegenüber Trastzumab und Capecitabine. In den beiden Armen wiesen 46 % respektive 48% der Patientinnen BM auf (21). Eine erste Interimsanalyse für die BM- Kohorte konnte den PFS Vorteil für die Tucatinib-Kombination bestätigen, das mediane PFS lag bei 7.6 Monaten.
Für CDK 4/6 Inhibitoren liegen erst präliminäre Resultate vor für das Ansprechen von BM auf Abemaciclib und zwar für HR-positive, Her2-negative Tumoren (unpublished). Für triple negative Mammakarzinome gibt es kaum neue und auf Studien gestützte Empfehlungen, Capecitabine, Eribulin, Taxane sind Optionen.

3. Melanom

Zwanzig bis 25% der Patienten mit einem metastasierten Melanom weisen bereits bei Diagnose BM auf. Im Verlauf der Erkrankung erhöht sich die Inzidenz auf 40-60% und in Autopsien findet man bis zu 80% BM. Die prinzipielle Wirksamkeit von Immuntherapie (IO) im Gehirn wurde bereits weiter vorne beschrieben. Erste Phase II Daten für Ipilimumab (CTLA-4 AK) wurden 2012 publiziert (22). Ipilimumab war besser wirksam, wenn die BM asymptomatisch und nicht steroidbedürftig waren. Pembrolizumab zeigt 2016 bei unbehandelten BM ohne Steroidbedarf ebenfalls Wirksamkeit in einer Phase II Studie (11). Es folgten Phase II Kombinationsstudien mit Ipilimumab und Nivolumab (23) und hier war die ORR mit 54 % (davon 29 % CR) erfreulich hoch, unabhängig vom PDL-1 Status und auch dauerhaft (Plateau). Wenn keine Steroide für die BM benötigt wurden, war das Ansprechen im ZNS vergleichbar mit dem in der Peripherie. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die randomisierte Phase II ABC Studie, sie vergleicht die Kombination Ipilimumab und Nivolumab versus Nivolumab-Monotherapie. In dieser Studie konnte zusätzlich gezeigt werden, dass die Ergebnisse mit Immuntherapie ohne vorgängige TKI-Therapie etwas besser ausfielen. Dies könnte Einfluss haben auf die Wahl der Therapie-Sequenz, sind doch beide Therapiestrategien bei BRAFmut Melanomen bezüglich initialem Ansprechen ähnlich. Eine CR (bis 30% in der IO Kombination) scheint einen günstigen, längerfristigen Outcome vorauszusagen (24).
Da sich ein Steroidbedarf aufgrund von BM ungünstig auf die IO Wirkung auswirkt stellt sich die Frage, ob Bevacizumab als Steroidersatz eingesetzt werden könnte, dies wird in Rahmen von Studien untersucht.
Bei BRAFmut Melanomen wirkt die Kombination von BRAF- und MEK-Inhibitoren gleich schnell und gut wie in der Peripherie, allerdings etwas weniger lang (COMBI-MB Studie, 25). Aktuelle Studien prüfen bereits eine Triple Therapie mit BRAF- und MEK-Inhibitoren kombiniert mit IO, eine weitere Erhöhung der Remissionsraten ist zu erwarten, aber auch vermehrt höhergradige Toxizitäten.
Toxizitäten (auch finanzielle) bleiben ein sehr wichtiges Thema. Dosis-Beschränkung von Ipilimumab in der Induktion auf 1mg/ kg anstelle von 3mg/kg (wie in den bisherigen Studien) oder Kombinationen mit besser verträglichen Antikörpern werden geprüft

Dr. med. Silvia Hofer

Universitätsspital Zürich
Institut für Pathologie und Molekularpathologie
Schmelzbergstrasse 12
8091 Zürich

silvia.hofer@usz.ch

Die Autorin deklariert keine Interessenskonflikte für diesen Beitrag

  • Die Prognose von Patienten mit Hirnmetastasen (BM) ist abhängig von der Klinik, der Tumorentität und von molekularen Subgruppen. Jahrelange Verläufe mit guter Lebensqualität sind bei molekular alterierten Entitäten durchaus möglich.
  • Seit dem Einschluss von Patienten mit BM in klinische Studien wissen wir, dass die neueren onkologischen Therapien (TKI und Immuntherapien) eine vergleichbare Wirkung im ZNS aufweisen wie in der Peripherie.
  • Immuntherapien sind auch im Gehirn wirksam, das Gehirn ist nicht immun-isoliert.
  • Der Stellenwert der Lokaltherapien bei BM, die Resektion und die stereotaktische Radiotherapie, ist etabliert und abhängig vom Ausmass und der Anzahl der Raumforderungen. Die Ganzhirnbestrahlung hingegen ist heute weitgehend verlassen, Ausnahmen bleiben die prophylaktische Hirnbestrahlung beim SCLC, ein diffuser leptomeningealer Tumorbefall und seltener palliative Gründe.

Messages à retenir

  • Le pronostic des patients atteints de métastases cérébrales (BM) dépend de la clinique, de l’entité tumorale et des sous-groupes moléculaires. Des années de progression avec une bonne qualité de vie sont tout à fait possibles dans les entités altérées au niveau moléculaire.
  • Depuis l’inclusion des patients atteints de BM dans les études cliniques, nous savons que les nouvelles thérapies oncologiques (IKT et thérapies immunitaires) ont un effet comparable dans le SNC comme dans la périphérie.
  • Les immunothérapies sont également efficaces dans le cerveau ; le cerveau n’est pas immuno-isolé.
  • L’importance des thérapies locales en BM, résection et radiothérapie stéréotaxique, est établie et dépend de l’étendue et du nombre de demandes spatiales. La radiation du cerveau entier, en revanche, est aujourd’hui largement abandonnée, les exceptions restant la radiation prophylactique du cerveau dans le cas du SCLC, une attaque tumorale leptoméningée diffuse et, plus rarement, des raisons palliatives.

1. Albert, M.R. and M.A. Weinstock, Keratinocyte carcinoma. CA Cancer J Clin, 2003. 53(5): p. 292-302.
2. Alam, M. and D. Ratner, Cutaneous squamous-cell carcinoma. N Engl J Med, 2001. 344(13): p. 975-83.
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4. Que, S.K.T., F.O. Zwald, and C.D. Schmults, Cutaneous squamous cell carcinoma: Incidence, risk factors, diagnosis, and staging. J Am Acad Dermatol, 2018. 78(2): p. 237-247.
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14. Guminski, A., Phase 2 study of cemiplimab, a human monclonal anti-PD-1 antibody, in patients witih metastatic cutaneous squamous cell carcinomal (mCSCC; Group 1) 12-month follow-up. J Clin Oncol, 2019. 37(suppl):9526.
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Bronchuskarzinom – NSCLC ohne Treibermutationen

In den letzten Jahren hat die therapeutische Anwendung von Checkpoint Inhibitoren die Therapie des NSCLC revolutioniert. Unter Berücksichtigung der Evidenz aus fünf zwischenzeitlich publizierten randomisierten Phase III Studien – IMPOWER 130 (1), KEYNOTE 189 (2), KEYNOTE 042 (3) IMPOWER 150 (4), KEYNOTE 407 (5) – veröffentlichte die ASCO zusammen mit dem Ontario Cancer Care Center im Januar 2020 ein Update der ASCO Guidelines zur Behandlung des metastasierten Nicht Kleinzelligen Bronchialkarzinoms (NSCLC) ohne Vorliegen einer behandelbaren Treibermutation und ohne programmed death ligand 1 (PD-L1) Vorselektion (6). Die Literaturrecherche umfasste dabei den Zeitraum von Dezember 2015 bis August 2018. Die Ergebnisse der später publizierten CHECKMATE 227 Studie (7) werden in einem zusätzlichen Kommentar diskutiert, führen aber nicht zur Änderung der Empfehlungen und werden hier daher nicht erläutert. Die Empfehlungen zur alleinigen Chemotherapie, zur Zweitlinientherapie und zu weiteren Therapie-linien haben sich nicht geändert, so dass dieser Artikel allein die neuen Empfehlungen zur Erstlinientherapie diskutiert.

Ces dernières années, l’  utilisation thérapeutique des inhibiteurs du checkpoint a révolutionné la thérapie du CPNPC. En tenant compte des résultats de cinq études randomisées de phase III publiées entre-temps – IMPOWER 130 (1), KEYNOTE 189 (2), KEYNOTE 042 (3) IMPOWER 150 (4), NOTA CLÉ 407 (5) – En janvier 2020, l’ ASCO et l’ Ontario Cancer Care Center ont publié une mise à jour des lignes directrices de l’ ASCO pour le traitement du cancer du poumon non à petites cellules (CPNPC) métastatique sans mutation traitable du conducteur et sans présélection du ligand de mort programmé 1 (PD-L1) (6). La recherche documentaire a porté sur la période allant de décembre 2015 à août 2018. Les résultats de l’ étude CHECKMATE 227 (7), publiée ultérieurement, sont examinés dans un commentaire supplémentaire mais n’ entraînent pas de modification des recommandations et ne sont donc pas expliqués ici. Les recommandations pour la chimiothérapie seule, la thérapie de deuxième ligne et les autres lignes de thérapie n’ ont pas changé, de sorte que cet article traite uniquement des nouvelles recommandations pour la thérapie de première ligne.

Die Autoren erarbeiten in den Guidelines nacheinander die Empfehlungen für die Erstlinientherapie des Nicht-Plattenepithel (NSCC) – und Plattenepithelkarzinoms (SCC) entsprechend der PD-L1 Expression am Tumorgewebe (PD-L1 tumour proportion score – TPS) und analysieren hierfür in den fünf als praxisrelevant beurteilten Phase III Studien das Outcome (progressionsfreies Überleben – PFS, Gesamtüberleben – OS) für die Subgruppen mit PD-L1 TPS ≥ 50%, PD-L1 TPS 1-49% bzw. PD-L1 TPS < 1%. Der Empfehlungsgrad wird aus den jeweiligen Subgruppenanalysen abgeleitet. Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die genannten Studien. Tabelle 2 enthält die jeweiligen Empfehlungen im Original. In diesem Übersichtsartikel werden die Empfehlungen zu Themenblöcken zusammengefasst.

Alleinige Therapie mit einem Checkpoint-Inhibitor

Unverändert zu 2017 gilt die alleinige Therapie mit dem Checkpoint-Inhibitor Pembrolizumab als Erstlinien-Therapie der Wahl bei Patienten ohne Kontraindikation für Immuntherapie mit NSCC und SCC, einem PS von 0 -1 und einem PD-L1 TPS von ≥ 50%. Die 2017 Empfehlung bezieht sich auf die Daten der KEYNOTE 024 Studie (8), das 2020 Update betrachtet darüber hinaus das Outcome der Patienten mit PD-L1 ≥ 50% der Patienten in der KEYNOTE 042 Studie. In der KEYNOTE 042 Studie wurden 1274 Patienten mit SCC und NSCC und einer PD-L1 Expression ≥ 1% 1:1 randomisiert zwischen platinhaltiger Chemotherapie und Pembrolizumab Monotherapie. Der primäre Endpunkt war das OS in der Population mit PD-L1 ≥ 50%, ≥ 20% und ≥ 1%, für alle drei Populationen war das OS signifikant länger im Pembrolizumab-Arm. Für die Gesamtpopulation der Patienten mit PD-L1≥ 50% (599 Patienten) ergab sich ein OS Benefit mit einer hazard ratio (HR) von 0.69 (95% CI, 0.56 to 0.85; p = .0003). Eine explorative Analyse für die Subgruppe der Patienten mit einer PD-L1 Expression von 1-49% zeigt allerdings, dass diese Patienten keinen signifikanten Überlebensvorteil durch die Pembrolizumab Monotherapie erfahren (HR 0.92, 95% CI 0.77- 1.11), und somit der Überlebensvorteil in der Gesamtpopulation durch die Subgruppe mit einem PD-L1 TPS ≥ 50% getragen wird. Entsprechend wird die Pembrolizumab Monotherapie für Patienten mit einer PD-L1 TPS 1-49% in den ASCO Guidelines als Möglichkeit im Einzelfall (Patienten, welche nicht für eine Chemotherapie qualifizieren oder diese ablehnen) mit allerdings schwacher Evidenz diskutiert. Wir denken, dass die Empfehlung so unterstützt werden kann und würden ebenfalls von einer unselektionierten Anwendung von Pembrolizumab in der Gruppe der Patienten mit einem PD-L1 TPS 1-49% warnen, insbesondere auch bei Patienten, bei welchen ein rasches Ansprechen erreicht werden sollte. Zudem wäre bei diesen Patienten zuerst eine Kostengutsprache einzuholen, da Pembrolizumab bei einer PD-L1 Expression < 50% in der Schweiz in der Erstlinientherapie nicht zugelassen ist.
Zum Zeitpunkt der Literaturrecherche gibt es keine ausreichende Evidenz zur alleinigen Immuntherapie mit anderen Checkpoint Inhibitoren bei Patienten mit hoher PD-L1 Expression (Daten der IMPOWER 110 Studie nicht berücksichtigt).

Checkpoint Inhibitor und Platinhaltige Kombina-tionschemotherapie bei PD-L1 TPS von 0% -49%

Für Patienten ohne Kontraindikation für eine Immuntherapie mit NSCC und SCC, PD-L1 TPS von 0% -49% sowie einem PS von 0 -1 wird in der ersten Therapielinie die Therapie mit Checkpoint Inhibitor plus platinhaltiger Kombinationschemotherapie empfohlen. Hierfür stehen mittlerweile verschiedene Behandlungsschemata zur Verfügung, welche im Folgenden kurz erörtert werden.
Beim NSCC wird die Therapie mit Carboplatin/Pemetrexed und Pembrolizumab analog der KEYNOTE 189 Studie als bevorzugte Behandlungsoption empfohlen. In der KEYNOTE 189 Studie wurden 616 Patienten mit NSCC unabhängig von der PD-L1 Expression 2:1 randomisiert und erhielten Cis-bzw. Carboplatin/Pemetrexed und Pembrolizumab für vier Zyklen mit anschliessender Erhaltungstherapie mit Pemetrexed und Pembrolizumab (bis zu 35 Zyklen) oder alleinige Chemotherapie. Das Gesamtüberleben war im Interventionsarm signifikant besser und die 12- Monats-Überlebensrate betrug 69 % mit der Pembrolizumab- Kombination versus 49% mit alleiniger Chemotherapie (HR 0,49; 95% CI 0.38-0.64, p < 0.001). Der Benefit war unabhängig von der PD-L1 Expression statistisch signifikant. Auch Patienten mit einer PD-L1 Expression < 1% profitierten von der zusätzlichen Pembrolizumabtherapie (geplante Subgruppenanalyse für PD-L1 <1%, 1-49%, > 50%, Stratifikationsfaktor PD-L1 < 1%, > 1%). Der grösste relative Benefit war bei einer PD-L1 Expression ≥ 50% zu beobachten.
Als weitere Therapieoptionen beim NSCC werden Carboplatin/Paclitaxel/Bevacizumab und Atezolizumab (IMPOWER 150 Studie) und Carboplatin/Nab-Paclitaxel und Atezolizumab (IMPOWER 130 Studie) diskutiert. Auch diese beiden Studien schlossen Patienten unabhängig vom PD-L1 Status ein. Die IMPOWER 150 Studie zeigt einen Vorteil im progressionsfreien Überleben mit Atezolizumab/Carboplatin/Paclitaxel und Bevacizumab im Vergleich zur Therapie mit Carboplatin/Paclitaxel und Bevacizumab, auch der berichtete Überlebensvorteil zum Zeitpunkt der publizierten Interimsanalyse ist statistisch signifikant mit einem medianen OS von 19.2 Monaten mit der Vierfach-Kombination versus 14.7 Monate ohne Atezolizumab (HR 0.78; 95% CI 0.64-0.96, p = 0.02). Neben den fehlenden finalen Überlebensdaten ist einschränkend zu erwähnen, dass in dieser dreiarmigen Studie nur zwei der Arme berichtet wurden – die Resultate des Armes Atezolizumab/Carboplatin und Paclitaxel sind nicht bekannt, so dass der Benefit der Bevacizumabaddition zu Atezolizumab unklar bleibt. Auch entspricht das Testverfahren für PD-L1 mit dem Ventana SP142 nicht dem aktuellen Antikörper, da die Sensitivität gegenüber anderen Verfahren zur PD-L1 Detektion eingeschränkt ist. Die IMPOWER 130 Studie zeigt einen signifikanten Überlebensvorteil für die Kombinationstherapie mit Atezolizumab/Carboplatin und (nab-)Paclitaxel gegenüber alleiniger Chemotherapie bei Patienten mit einem NSSC mit einem medianen OS von 18,6 Monaten im Interventionsarm versus 13.9 Monaten im Chemotherapie Arm HR 0,79 (95% CI 0.64-0.98, p =0.033). Auch hier wird der PD-L1 Status mit dem Ventana SP142 Testverfahren erhoben.
Patienten mit SCC, einer PD-L1 Expression von 0% -49% sowie PS von 0 -1 sollen in der ersten Therapielinie analog zum Vorgehen in der KEYNOTE-407 mit Pembrolizumab/Carboplatin/Paclitaxel oder nab-Paclitaxel behandelt werden. Im Vergleich zur alleinigen Chemotherapie zeigt sich für die Gesamtpopulation hier ein signifikanter Überlebensvorteil mit einem medianen OS von 15.9 Monaten mit der zusätzlichen Pembrolizumabgabe versus 11.3. Monaten im Kontrollarm (HR 0.64, 95% CI 0.49-0.85, p< 0.001) und alle Subgruppen profitierten.
Während die Resultate der KEYNOTE 407 Studie auch in der Schweiz zur Zulassung beim metastasierten SCC geführt haben, ist beim NSCC weder die Kombination mit Atezolizumab, Bevacizumab, Carboplatin/Paclitaxel (IMPOWER 150) noch die Therapie mit Carboplatin /(nab-) Paclitaxel plus Atezolizumab zugelassen. Ersteres Regime wird aktuell in einer in der Schweiz offenen ETOP Studie bei Patienten nach Entwicklung einer EGFR-TKI Resistenz (ETOP ABC Studie) geprüft, da eine Subgruppenanalyse der IMPOWER 150 Studie einen Effekt der Quadruplettherapie bei EGFR- und ALK positiven Patienten nach TKI Resistenz suggeriert.
Das Regime der IMPOWER 130 Studie kann nach vorgängiger Kostengutsprache bei Patienten mit Kontraindikationen gegen Alimta erwogen werden.

Checkpoint Inhibitor und platinhaltige Kombinationschemotherapie bei PD-L1 TPS ≥ 50%

Aktuell gibt es keine vergleichenden Studien, die zeigen ob Patienten mit einer hohen PD-L1 Expression von einer zusätzlichen Chemotherapie im Vergleich zur alleinigen Pembrolizumabtherapie profitieren. In den ASCO Guidelines wird bei Patienten mit einem PD-L1 TPS ≥ 50% die Therapie mit Checkpoint Inhibitor plus platinhaltiger Kombinationschemotherapie als eine mögliche Behandlungsoption genannt, es wird jedoch betont, dass da sowohl Kosten als auch Toxizität der Dreifachtherapie deutlich höher sind, in den meisten Fällen die Pembrolizumab Monotherapie die Therapie der Wahl ist. Als mögliche Situationen, in denen eine Dreierkombination bevorzugt werden könnte, werden unbekannte PD-L1 Expression oder hohe Tumorlast genannt. Die Empfehlung zur Wahl des jeweiligen Therapieregimes entspricht den genannten Empfehlungen für Patienten mit einer PD-L1 Expression von 0%-49%.
In der Schweiz sind beide Optionen prinzipiell zugelassen. Ein Bevorzugen der Kombinations-Immun-Chemotherapie bei hochsymptomatischer Erkrankung eines ansonsten fitten Patienten macht aufgrund der tendenziell höheren Ansprechraten prinzipiell Sinn.

Diskussion

Die Ableitung des Empfehlungsgrades allein aus Subgruppenanalysen von zwar für Lungentumorpatienten eher grossen Phase 3 Studien ist grundsätzlich nicht unproblematisch. Solche Subgruppenanalysen stellen jedoch in der Medizin oft die einzige Evidenz dar, wenn prospektive randomisierte Studien zu einer spezifischen Fragestellung fehlen. Insgesamt können die Empfehlungen der ASCO Guidelines 2020 aus Schweizer Sicht jedoch gut mitgetragen werden und entsprechen der gängigen Praxis, wobei die etwas anderen Zulassungs- und Rückvergütungsbedingungen als in den USA gut berücksichtigt werden sollten. Dies ist im klinischen Alltag aufgrund der zunehmenden Kosten nicht irrelevant, besonders auch dann wenn ein rascher Therapiebeginn notwendig ist. Zumindest formal muss bei jeder der genannten Therapieoptionen eine Kostengutsprache eingeholt werden.
Hervorzuheben ist hier nochmals die Einstufung der Pembrolizumab Monotherapie als Therapie der Wahl bei Patienten mit hoher PD-L1 Expression: solange vergleichende Studien ausstehen, ist dies ein pragmatischer und kostengünstigerer Ansatz. Zu erwähnen ist hier auch, dass uns mit dieser Behandlung längere Follow-up Daten aus der KEYNOTE 024 (25.2 Monate) (9) und KEYNOTE 001 Studie (5 Jahre) (10) vorliegen, während die Langzeitdaten der initialen Chemo-Immunokombinationsbehandlung noch fehlen. Abhängig von der individuellen Situation scheint jedoch bei im indirekten Vergleich etwas höherer Ansprechrate auch der primäre Einsatz der Dreierkombination gerechtfertigt. Verschiedene Studien aus unterschiedlichen Gesundheitssystemen haben quality adjusted life years (QALYs) der Dreier- oder sogar Viererkombinationen berechnet und die fehlende Kosteneffizienz nachgewiesen. Dies gilt es zukünftig bei knapper werdenden Ressourcen im Gesundheitssystem bei der Therapiewahl mitzuberücksichtigen. Für die Schweiz sind solche Analysen zurzeit noch ausstehend bzw. noch nicht publiziert.
Ein wichtiger praktischer Punkt bei der Wahl der Therapie ist neben der PD-L1 Expression auch der Ausschluss behandelbarer Treibermutationen vor Therapiebeginn. Leider führt das Abwarten der molekularen Analysen nicht selten zur Zeitverzögerung – Zeit, die man im klinischen Alltag bei symptomatischen Patienten nicht hat. Das Vorhandensein von genügend Tumorgewebe sowie das umgehende Einleiten (zum Beispiel Reflextesting) der molekularen Analyse und der PD-L1 Bestimmung ist deshalb entscheidend geworden. Ein «blindes» Beginnen einer Immuntherapie bei einem Patienten, bei welchem «im Nachhinein» eine EGFR Mutation detektiert wird, muss aufgrund der Datenlage mit klar eingeschränkter Wirksamkeit einer Immuntherapie bei diesen Patienten als inkorrekte Therapie beurteilt werden.
Abschliessend gilt festzuhalten, dass der Einsatz der Immuntherapie die Langzeitbehandlungsergebnisse eines kleineren Anteils der Patienten mit NSCLC revolutioniert hat und die Immuntherapie fester Bestandteil in der Erstlinienbehandlung geworden ist. Insbesondere die ersten Daten zum 5-Jahres-Überleben der KEYNOTE 001 Studie, welche Überlebensraten von knapp 30% bei Patienten mit PD-L1 TPS ≥ 50% mit Pembrolizumab in der Erstlinientherapie zeigen sind eindeutig besser, als wir dies von historischen Daten kennen. Diese Resultate werfen die Frage auf, ob wir sogar allenfalls eine kleine, bisher noch ungenügend definierte Subgruppe von Patienten langfristig als «geheilt» betrachtet können. Ob diese Langzeitresultate mit einer initialen Chemo-/Immuntherapie oder einer Immunkombinationstherapie noch weiter verbessert werden können bleibt jedoch noch abzuwarten, da die Beobachtungszeiten dieser Studien noch zu kurz sind.

Susanne Weindler

Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St. Gallen

PD Dr. med.Martin Früh

Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacherstrasse 95
9007 St. Gallen

MF: Research Grants from BMS, ASTRA ZENECA fees to institution,
Advisor: BMS; MSD; ASTRA; Bl; ROCHE; TAKEDA fees to institution
SW: Sponsored travel: ROCHE, Merck fees to institution

  • Um die optimale Therapie des NSCLC im Stadium IV festzulegen, muss initial beim NSCC das Vorliegen einer primär behandelbaren Treibermutation ausgeschlossen werden und unabhängig von der Histologie der PD-L1 Status bestimmt werden.
  • Alle Patienten mit PS 0-1 ohne Kontraindikationen für eine Immuntherapie sollten heute in der Erstlinientherapie einen Checkpointinhibitor erhalten
  • Bei einer PD-L1 Expression von 0% und 1-49% sollte der Patient in der Erstlinientherapie eine Kombination aus Checkpointinhibitor und platinhaltiger Kombinationschemotherapie erhalten.
  • Bei einer PD-L1 Expression ≥ 50% kann sowohl die alleinige Pembrolizumab Therapie als auch eine Kombination aus Checkpoint-Inhibitor und Chemotherapie eingesetzt werden. Vergleichende Studien gibt es nicht – Pembrolizumab alleine ist deutlich weniger toxisch und kostengünstiger, bei hoher Tumorlast oder unbekanntem PD-L1 Status stellt die Kombinationstherapie aber eine sinnvolle Alternative dar.

Messages à retenir

  • Afin de déterminer la thérapie optimale pour le CPNPC de stade IV, la présence d’ une mutation conductrice primaire traitable doit être exclue initialement dans le NSCC et le statut PD-L1 doit être déterminé indépendamment de l’ histologie.
  • Tous les patients présentant une PS 0-1 sans contre-indication à l’ immunothérapie devraient recevoir aujourd’ hui un inhibiteur checkpoint dans le cadre d’ un traitement de première intention
  • Avec une expression PD-L1 de 0 % et de 1 à 49 %, le patient doit recevoir une combinaison d’ inhibiteur de checkpoint et de chimiothérapie combinée contenant du platine en première intention.
  • Dans le cas d’ une expression PD-L1 ≥ 50%, on peut utiliser à la fois la thérapie au pembrolizumab seul et une combinaison d’ inhibiteur du checkpoint et de chimiothérapie. Il n’ existe pas d’ études comparatives – le pembrolizumab seul est nettement moins toxique et moins cher, mais en cas de charge tumorale élevée ou de statut PD-L1 inconnu, la thérapie combinée est une alternative raisonnable.

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Tularämie

Die Tularämie ist eine zoonotische Infektionskrankheit durch Francisella tularensis und wird in der Schweiz immer noch selten diagnostiziert. Da die Fallzahlen seit dem Jahr 2015 deutlich ansteigen, besteht jedoch durchaus die Möglichkeit, dass sich Patienten mit Symptomen einer Tularämie in der Grundversorgerpraxis vorstellen. Eine frühzeitige Erkennung und Behandlung der Tularämie ist wichtig, um Komplikationen und unnötige Abklärungen zu verhindern.

Fallbeispiel

Ein 25-jähriger Bauer mit Psoriasis unter Therapie mit Humira (Adalimumab) stellte sich mit seit einigen Tagen bestehendem intermittierendem Fieber, Gewichtsverlust, Nachtschweiss und einem schmerzhaften supraclaviculären Lymphknoten rechts vor. Das CRP (160 mg/l), die Leukozytenzahl (15.2 G/l), das LDH (558 U/l) und die Leberwerte (AST 84 U/l, ALT 126 U/l, GGT 136 U/l) waren erhöht. Im konventionellen Röntgen und im CT Thorax liessen sich eine pulmonale Raumforderung am rechten Hilus sowie eine mediastinale Lymphadenopathie erkennen, so dass der Verdacht auf ein Bronchuskarzinom geäussert wurde. Zur Tumorsuche wurde eine (FDG)-PET/CT, eine Bronchoskopie mit transbronchialer Biopsie und bei unschlüssigen Befunden schliesslich auch eine Mediastinoskopie durchgeführt, alle ohne Nachweis maligner Zellen. Histopathologisch fanden sich Granulome. Mittels positiver PCR auf F. tularensis ssp. holarctica aus den operativ gewonnenen Gewebeproben konnte eine atypische pulmonale Tularämie diagnostiziert und erfolgreich mit Ciprofloxacin p.o. behandelt werden. Der Patient war in der Folge rasch beschwerdefrei und kam mit unnötigen Abklärungen und dem Schrecken davon.

Einleitung und Mikrobiologie

Die Tularämie, auch Hasenpest genannt, ist eine Zoonose, die durch das Gram-negative Bakterium Francisella tularensis verursacht wird. Bereits eine kleine Erregermenge von lediglich 10-25 Bakterien kann die Krankheit auslösen (1). Bei uns in Europa verursacht die Subspezies F. tularensis ssp. holarctica die Krankheitsfälle. Es können zwar langwierige Krankheitsverläufe auftreten, Todesfälle treten jedoch praktisch nie auf. Im Gegensatz dazu ist in den USA und Kanada v.a. der Subtyp F. tularensis ssp. tularensis endemisch, der deutlich virulenter ist und bioterroristisches Potential besitzt.

Epidemiologie

Der Mensch kann sich auf mehrere Arten mit F. tularensis infizieren. Eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung ist jedoch nicht bekannt (1). Der in der Schweiz wichtigste Übertragungsweg ist der Zeckenstich (2). Auch ein direkter Kontakt mit befallenen Tieren (v.a. Nagetiere wie Hasen, Kaninchen, Mäuse, Ratten, Eichhörnchen etc.) aber auch indirekter Kontakt mit kontaminiertem Wasser, Erde oder dessen Inhalation oder orale Aufnahme kann die Keime übertragen, da F. tularensis monatelang in der Umwelt überleben können (3). Gefährdet sind somit Menschen, die sich beruflich oder freizeitlich oft draussen aufhalten oder einen direkten Umgang mit Kleintieren haben wie bspw. Jäger, Gärtner, Kleintierzüchter oder Bauern. Auch Katzen- und Hundehalter sind gefährdet, da deren Haustiere durch ihr Jagdverhalten den Bakterien ausgesetzt sind (4, 5) und diese so dem Besitzer übertragen können. Es wird immer wieder über Fälle mit kuriosen Ansteckungen berichtet wie bspw. die Kopfverletzung einer Joggerin durch einen Greifvogelangriff mit vermuteter Übertragung der Keime über die kontaminierten Krallen oder ein Krankheitsausbruch mit mehreren Erkrankten nach Konsum von frischgepresstem Traubensaft nach der Weintraubenernte (6, 7). Grössere Tularämie-Ausbrüche können nach der Einnahme von kontaminierten Lebensmitteln oder Wasser auftreten. Pneumonien nach Mäharbeiten oder im Umgang mit Laubbläsern durch konsekutive Staub- und Aerosolinhalation sind ebenfalls möglich.
Die Inzidenz der Tularämie ist in nordischen Ländern in Europa am höchsten. Die Fallzahlen der seit 2004 in der Schweiz meldepflichtigen Erkrankung (Labornachweis und Meldung zum klinischen Befund durch den Arzt) sind deutlich steigend mit 146 gemeldeten Fällen im Jahr 2019 (Inzidenz 1.7/100000 Einwohner. Quelle: BAG). Über die Ursachen der steigenden Fallzahlen kann bisher nur spekuliert werden. Es sind lokale Häufungen von Tularämieerkrankungen zu beobachten, wo vielleicht eine höhere Durchseuchung bei Zecken und/oder Kleintieren vorliegt. Die Zunahme der Fallzahlen könnte aber auch teilweise durch sensitivere molekulare Diagnostikmethoden und die zunehmend sensibilisierte Ärzteschaft bedingt sein. Die meisten Fälle im Jahr 2019 stammen aus den Kantonen Zürich, St. Gallen, Aargau und Bern (Quelle: BAG). Ein eindeutiges Reservoir für F. tularensis ist bisher nicht bekannt. Der biologische Zyklus unterliegt vermutlich grossen regionalen Unterschieden.

Klinik

Nach einer kurzen Inkubationszeit von in der Regel 3-5 Tagen (wobei auch sehr kurze und längere Inkubationszeiten von 1-21 Tage beschrieben sind) können plötzlich unspezifische Allgemeinsymptome wie Glieder-/Gelenkschmerzen mit oder ohne Fieber auftreten. Die weiteren Symptome können sechs klinischen Hauptmanifestationsformen zugeordnet werden (Tab. 1). Die häufigste Manifestation bei uns ist die (ulzero-) glanduläre Tularämie mit lokaler Lymphadenopathie und ggf. einem Eschar (lokales, nekrotisches Ulkus) an der Eintrittsstelle des Bakteriums (Ort des Zeckenstichs, Abb. 1). Die Lymphadenopathie kann ein eindrückliches Ausmass annehmen und auch noch unter adäquater antimikrobieller Therapie abszedieren oder fisteln und die weitere Therapie erschweren und verlängern.
Eine atypische oder seltene Klinik ist möglich wie bspw. das oben geschilderte Fallbeispiel einer pulmonalen Tularämie mit initial Neoplasie-suspektem pulmonalen Befund, eine Meningitis oder eine Herzbeteiligung (8).

Differentialdiagnose

Die möglichen Differentialdiagnosen sind zahlreich. Eine Auswahl ist tabellarisch dargestellt (Tab. 2).

Diagnose

Da die initiale Klinik unspezifisch ist, sind die Expositions- und Risikoanamnese und ein genauer Status mit Suche einer Lymphadenopathie und einem Eschar essentiell. Spezifische allgemeine labor-analytische Veränderungen finden sich bei der Tularämie nicht: in der Regel sind jedoch erhöhte Entzündungsparameter und oft auch leicht erhöhte Leberwerte und eine leichte Thrombozytopenie nachweisbar.
Die Diagnose kann mittels Serologie oder einem direkten Erregernachweis in Kultur oder mittels Polymerasekettenreaktion (PCR) gestellt werden. Die heutigen PCR-Untersuchungsmethoden bieten den Vorteil einer raschen und zuverlässigen Diagnostik. Die kulturelle Anzucht ist schwierig und hat in der Klinik kaum Bedeutung, zudem muss auch das Labor wegen des hohen Infektionsrisikos über die Verdachtsdiagnose informiert werden. Eine serologische Diagnose ist wie bei anderen Infektionskrankheiten herausfordernd, da die Serologie in den ersten 1-2 Wochen noch negativ sein kann. Ein einzelner hoher Titer macht eine Tularämie wahrscheinlich, eine Serokonversion oder ein vierfacher Titeranstieg sind beweisend. Für die Praxis empfehlen wir folgendes Vorgehen: bei klinischem Verdacht auf eine (ulzero-)glanduläre Tularämie und Symptomdauer von weniger als 2 Wochen kann primär eine spezifische PCR aus einem Wundabstrich, einer Nadelaspiration oder einer Hautbiopsie des Eschars oder der vergrösserten bzw. abszedierenden Lymphknoten erfolgen (9), wobei ein negatives Resultat eine Tularämie nicht ausschliesst und mit einer Serologie ergänzt werden sollte. Bei Symptomdauer über 2 Wochen kann die Diagnose serologisch gestellt werden. Ist das Resultat der Serologie unschlüssig oder negativ, sollte bei anhaltend hohem Verdacht eine Verlaufsserologie nach 2-4 Wochen erfolgen.
Nach der atypischen pulmonalen Form kann serologisch oder mittels PCR aus einer respiratorischen Probe (bevorzugt aus einer bronchoalveolären Lavage) gesucht werden.
Histologisch können Granulome mit Nekrosen gefunden werden, wobei dann v.a. auch an die Differentialdiagnose einer Tuberkulose gedacht werden sollte.

Therapie

Grundsätzlich ist die Tularämie in der Schweiz gut mit peroralen Antibiotika behandelbar. Die Therapie sollte aber möglichst früh begonnen werden, um Komplikationen (v.a. Abszedierungen, Fisteln, Notwendigkeit von invasiven Eingriffen) zu minimieren.
Grundsätzlich sind für schwere Fälle die bakteriziden Aminoglykoside wie bspw. das Gentamicin Therapie der Wahl, wobei schwere Infektionen mit dem benigneren Subtyp F. tularensis ssp. holarctica in Europa selten sind. Somit kann in der Schweiz meist eine ambulante orale Behandlung mit Doxycyclin oder Ciprofloxacin erfolgen, wobei das bakterizide Ciprofloxacin wahrscheinlich eine bessere Wirkung hat und weniger Rückfälle zeigt. Doxycyclin bietet sich jedoch zur empirischen Therapie nach Zeckenstichen an, da andere Zecken-assoziierte Erreger oder auch Superinfektionen mitbehandelt werden. Makrolide (Azithromycin) sollten wegen der Resistenzlage in der Schweiz nicht als Primärtherapie eingesetzt werden, können aber bei Schwangerschaft eine Behandlungsmöglichkeit darstellen (10). Die antimikrobielle Behandlungsdauer beträgt (10-) 14 Tage, wobei die Therapie wegen Auftreten von Lokalkomplikationen nicht selten verlängert wird. Es ist umstritten, ob die längere Antibiotikagabe sinnvoll ist, da eher ein immunologisches Geschehen als Ursache der anhaltenden Entzündung postuliert wird.
Neben der antimikrobiellen Therapie sollten bei der (ulzero-) glandulären Tularämie grundsätzlich früh kleinchirurgische Eingriffe (repetitive Punktionen, Abszessinzisionen etc.) evaluiert werden, damit langwierige Verläufe mit lokalen Abszedierungen und Fistelungen verhindert werden können. Eine Übersicht der antimikro-biellen Therapieoptionen ist in Tab. 3 zu sehen.

Prävention

(Tote) Wildtiere und insbesondere Nager sollten nicht barhändig angefasst werden. Eine gute Händehygiene im Umgang mit Tieren und nach Garten- oder Waldarbeiten ist wichtig. Zecken- und Mückenstiche sollten vermieden werden (bspw. geschlossene Kleidung tragen, Repellentien benutzen). Nahrungsmittel wie Wildtierfleisch sollten nur gut gekocht konsumiert werden.

Dipl. Arzt Manuel Frischknecht

Klinik für Infektiologie/Spitalhygiene
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St. Gallen
manuel.frischknecht@kssg.ch

manuel.frischknecht@kssg.ch

Dr. med. Carol Strahm

Klinik für Infektiologie/Spitalhygiene
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St. Gallen

Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Die Tularämie ist eine seltene, aber zunehmend häufige Infektionskrankheit, an deren Differentialdiagnose v.a. bei einer Lymphaden-opathie mit oder ohne Eschar gedacht werden sollte.
  • Bei unklarer pulmonaler Raumforderung kann auch eine atypische pulmonale Tularämie vorliegen.
  • Die Erkrankung ist meist gut ambulant mit Ciprofloxacin oder Doxy-cyclin therapierbar, langwierige Verläufe mit Abszedierungen sind jedoch häufig. Grundsätzlich sollten frühzeitig kleinchirurgische Interventionen evaluiert werden.
  • Eine Prävention durch Insektenschutz und gute Händehygiene nach Aussenaktivitäten oder im Umgang mit (Wild-)Tieren ist wichtig.

1. Tärnvik A, Berglund L. Tularaemia. Eur Respir J. 2003 Feb;21(2):361–73.
2. Wittwer M, Altpeter E, Pilo P, Gygli SM, Beuret C, Foucault F, et al. Population Genomics of Francisella tularensis subsp. holarctica and its Implication on the Eco-Epidemiology of Tularemia in Switzerland. Front Cell Infect Microbiol. 2018;8(March):1–16.
3. Maurin M, Gyuranecz M. Tularaemia: clinical aspects in Europe. Lancet Infect Dis. 2016;16(1):113–24.
4. Eliasson H, Lindbäck J, Pekka Nuorti J, Arneborn M, Giesecke J, Tegnell A. The 2000 tularemia outbreak: A case-control study of risk factors in disease-endemic and emergent areas, Sweden. Emerg Infect Dis. 2002;8(9):956–60.
5. Kwit NA, Schwartz A, Kugeler KJ, Mead PS, Nelson CA. Human tularaemia associated with exposure to domestic dogs-United States, 2006-2016. Zoonoses Public Health. 2019 Jun;66(4):417–21.
6. Ehrensperger F, Riederer L, Friedl A. Tularämie nach Angriff eines Mäuse bussards auf eine Joggerin : Ein „ One Health “ -Fallbericht. SAT|ASMV Schwezer Arch für Tierheilkd. 2018;160(3):185–8.
7. Wetzstein N, Kärcher I, Küpper-tetzel CP, Kann G, Hogardt M, Jozsa K, et al. Clinical characteristics in a sentinel case as well as in a cluster of tularemia patients associated with grape harvest. Int J Infect Dis. 2019;84:116–20.
8. Frischknecht M, Meier A, Mani B, Joerg L, Chan O, Kim H, et al. Tularemia : an experience of 13 cases including a rare myocarditis in a referral center in Eastern Switzerland ( Central Europe ) and a review of the literature. Infection. 2019;0(0):0.
9. Tärnvik A, Chu MC. New Approaches to Diagnosis and Therapy of Tularemia. Ann New York Acad Sci. 2007;404:378–404.
10. Johnsrud JJ, Smith CR, Bradsher RW. Serendipitous Treatment of Tularemia in Pregnancy. Open Forum Infect Dis. 2019;6(10):1–3.
11. Mailles A, Vaillant V. 10 years of surveillance of human tularaemia in France. Euro Surveill. 2014 Nov 13;19(45):20956.

Intensiver Gedankenaustausch um den Bluthochdruck und seine Folgen

Am 23. Januar fand am Universitätsspital Zürich der traditionelle, von der Klinik für Kardiologie organisierte Hypertonietag statt. Das Ziel war ein intensiver Gedankenaustausch zwischen den verschiedenen medizinischen Disziplinen rund um den Bluthochdruck und seine Folgen, wobei es galt, neue Horizonte zu entdecken und auch bisher Bekanntes in neuem Lichte zu sehen. Dies ist der zweite Teil der Berichterstattung.

Weisskittelhypertonie und maskierte Hypertonie

Die Weisskittelhypertonie (WKT) ist bei bis zu 30% der Patienten mit erhöhtem Praxis-Blutdruck (> 50% bei sehr betagten Patienten) vorhanden. Die Prävalenz ist tiefer, wenn der Praxis-Blutdruck auf repetitiven Messungen basiert und wenn die Messung nicht durch den Arzt geschieht, stellte Prof. Dr. med. Alain Bernheim, Zürich, einleitend fest.
Die Definitionen für maskierte Hypertonie, anhaltende Hypertonie, normalen Blutdruck und Weisskittelhypertonie sind in der Abb. 1 wiedergegeben.
Die entsprechenden Patientencharakteristika sind häufigeres Vorkommen mit zunehmendem Alter, bei Frauen häufiger als bei Männern und häufiger bei Nicht-Rauchern. Die Weisskittelhypertonie stellt ein kardiovaskuläres Risiko dar, wie Untersuchungen der 10-Jahresinzidenz zeigten. Bei etabliertem Bluthochdruck beträgt die Hazard Ratio WKT vs. normoton 2.51 (p < 0.0001), bei linksventrikulärer Hypertrophie 1.98 (< 0.002) und bei Diabetes 2.89 (p <v00.7). In einer Metaanalyse aus dem Jahr 2017 ergab sich auch eine signifikante Assoziation zur Gesamtmortalität (Huang Y et al. J Hypertens 2017; 35:677-99).
In einem nationalen multizentrischen Register in Spanien wurden an 63 910 Probanden die Praxis-Blutdruckmessung und die 24h Blutdruckmessung miteinander verglichen. Es wurde kategorisiert zwischen Hypertonie, Weisskittelhypertonie, maskierter Hypertonie und Normotonie. Das Outcome wurde nach 4.7 Jahren erfasst. Ambulante Blutdruckmessungen waren ein stärkerer Prädiktor für die Gesamt- und kardiovaskuläre Mortalität als klinische Blutdruckmessungen. Die Weisskittel-Hypertonie war nicht gutartig, und die maskierte Hypertonie war mit einem höheren Sterberisiko verbunden als die anhaltende Hypertonie (Banegas JR et al NEJM 2018; 378:1509-20).
Das Management der Weisskittelhypertonie beinhaltet die Suche nach Endorganschäden, regelmässige «Office» und «Out-of Office» Blutdruckmessungen (HBDM und ABDM), Lebensstiländerungen zur Senkung des kardiovaskulären Risikos. Diese Punkte werden auch in den Guidelines erwähnt (Empfehlung I/C). Gemäss Guidelines kann eine antihypertensive Therapie in Betracht gezogen werden bei Evidenz für HMOD (hypertension-mediated organ damage) oder bei Vorhandensein von hohem oder sehr hohem kardiovaskulärem Risiko (IIb/C). Eine routinemässige medikamentöse Therapie wird nicht empfohlen (III/C).

Maskierte Hypertonie

Sie kommt vor bei ca. 15% der Patienten mit normalem Praxis-Blutdruck. Die Prävalenz ist bei jüngeren Patienten und bei Männern höher als bei Frauen. Sie ist häufiger, wenn der Praxis-Blutdruck im Borderline-Bereich liegt (130-139/80-89 mmHg) und sie ist selten bei Praxis-Blutdruck < 130/80 mmHg. Prädispositionen sind Stress bei der Arbeit oder zu Hause, Rauchen oder übermässiger Alkoholkonsum, Übergewicht, Bewegungsarmut, Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz, Schlafmangel, OSAS → maskierte Hypertonie vor allem infolge nächtlicher Hypertonien.
Diagnostische Aspekte: An eine maskierte Hypertonie sollte gedacht werden bei Patienten mit Borderline Praxis-Blutdruckwerten, bei Prädisposition, bei Patienten mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko sowie bei Hinweisen für Endorganschäden. Bei Verdachtsmomenten sollte eine ABDM durchgeführt werden.
Gemäss dem bereits erwähnten spanischen Register (Banegas JR et al. NEJM 2018; 378:1509-20)beträgt die Hazard Ratio bei markierter Hypertonie sowohl für Gesamtmortalität als auch für kardiovaskuläre Mortalität 2.92 (p < 0.oo1). Die Daten einer Metaanalyse aus dem Jahre 2007 zeigen eine Hazard Ration bei maskierter Hypertonie in der Grundversorgung und bei Spezialisten von insgesamt 2.00 (1.58-2.52). Bei anhaltender Hypertonie betrug die entsprechende HR 2.28 (1.87-2.78).
Das Management der maskierten Hypertonie besteht in der Vermeidung auslösender Faktoren, in Lifestyle-Änderungen zur Reduktion des kardiovaskulären Risikos und im periodischen Monitoring des «Out-of-Office» Blutdrucks (Empfehlung I/C in den Guidelines). Eine antihypertensive Therapie wird empfohlen wegen des deutlich erhöhten kardiovaskulären Risikos in dieser Population; kardiovaskuläre Outcome-Resultate sind allerdings keine vorhanden (IIa/C). Bei maskierter unkontrollierter Hypertonie (MUCH) ist die Hochtitrierung der antihypertensiven Therapie empfohlen (IIa/C).

ESC Hypertonieguidelines: «der Teufel liegt im Detail»

Die besagten Guidelines beginnen mit dem folgenden Aufruf: «Die Angehörigen der Gesundheitsberufe werden ermutigt, die ESC ESH-Leitlinien bei der Ausübung ihres klinischen Urteils sowie bei der Festlegung und Umsetzung von präventiven, diagnostischen oder therapeutischen medizinischen Strategien voll zu berücksichtigen. Die ESC/ESH-Leitlinien setzen jedoch in keiner Weise die individuelle Verantwortung der Angehörigen der Gesundheitsberufe ausser Kraft, angemessene und genaue Entscheidungen in Bezug auf den Gesundheitszustand jedes Patienten und in Absprache mit dem Patienten oder dessen Betreuer zu treffen, wo dies angemessen und/oder notwendig ist. Es liegt auch in der Verantwortung der Angehörigen der Gesundheitsberufe, die zum Zeitpunkt der Verschreibung geltenden Regeln und Vorschriften für Arzneimittel und Geräte zu überprüfen» stellte Frau Prof. Dr. med. Isabella Sudano, Zürich fest.


47 Empfehlungen haben einen Level of Evidence C, d.h. Konsens der Meinung der Experten und/oder kleine Studien, retrospektive Studien, Register. 20 Empfehlungen sind IIa «sollte in Betracht gezogen werden», 14 Empfehlungen sind IIb «kann in Betracht gezogen werden». Wenn die Guidelines eine Diagnose beschreiben aber keine Lösung bieten: Out-of-Office Blutdruckmessung ist eine I/A Empfehlung bei der Identifikation von Weisskittelhypertonie und maskierter Hypertonie zur Quantifizierung der Wirkung der Behandlung und Identifikation der Ursachen von möglichen Nebenwirkungen (z.B. symptomatische Hypotension). In den gleichen Guidelines werden bei der Weisskittelhypertonie die Implementation von Lifestyleänderungen zur Reduktion des kardiovaskulären Risikos, sowie regulärer Follow-up mit periodischem Out-of-Office Blutdruck-Monitoring als I/C Empfehlung aufgeführt, medikamentöse Behandlung kann bei Personen mit HMOD oder bei solchen mit hohem oder sehr hohem kardiovaskulärem Risiko in Betracht gezogen werden (IIb/C). Die Referentin nennt einige ähnliche Beispiele bei der maskierten Hypertonie.
Eine antihypertensive Therapie kann auch in Betracht gezogen werden, falls sie toleriert wird, bei gebrechlichen alten Patienten (IIb/B), wenn sie keinen Diabetes haben, keine Schlaganfall-Vergangenheit, keine symptomatische Herzinsuffizienz innerhalb der letzten 6 Monate, keine reduzierte Auswurffraktion (< 35%), keine klinische Diagnose oder Behandlung für Demenz, wenn die erwartete Lebensdauer nicht weniger als 3 Jahre beträgt, wenn kein unerwarteter Gewichtsverlust (> 10%) während der letzten 6 Monate auftrat, der systolische Blutdruck nicht weniger als 110 mmHg beträgt nach einer Minute im Stehen.
Die Referentin kam zum Schluss auf den eingangs erwähnten Abschnitt zurück und empfahl «wer die Guidelines korrekt anwenden möchte, sollte sie mit Aufmerksamkeit und Neugier selbst lesen».

Lipide und Blutdruck: neue Daten, neue Guidelines

Die erste Beschreibung der Atherosklerose geht auf einen Obduktionsbericht von Edward Jenner aus dem Jahr 1787 zurück. Er schrieb «die Koronararterien wurden zu knöchernen Kanälen, darauf begann ich ein wenig zu verdächtigen». Fast 130 Jahre später publizierte der russische Pathologe Anitzkow einen Beitrag mit dem Titel «Über experimentelle Cholesterinsteatose und ihre Bedeutung für die Entstehung einiger pathologischer Prozesse», so Prof. Dr. med. Augusto Gallino, Bellinzona.
Hundert Jahre nach Anitzkow publizieren die Nobelpreisträger Brown und Goldstein «A century of cholesterol and coronaries» (Cell 2015;161-172), wobei sie feststellen, dass die LDL-Cholesterin Konzentration für sämtliche Apo B enthaltenden Partikel repräsentativ ist. Die Evidenz für die Beziehung zwischen der LDL-Cholesterinsenkung und dem Risiko für koronare Herzkrankheit, sowie die Folgen der Expositionsdauer mit erhöhten LDL-Cholesterinwerten wurden anhand einer Metaanalyse von über 20 Mio. Personenjahre und über 150 000 kardiovaskulären Ereignissen (EHJ 2017;38:2459-2472) eindrücklich demonstriert. Der Referent präsentierte die neuen Zielwerte für die verschiedenen kardiovaskulären Risikokategorien (Tab. 1).
Die neuen Guidelines empfehlen ferner das kardiovaskuläre Imaging als Risikomodulator: Arterieller Ultraschall bei tiefem bis moderatem Risiko (Klasse IIa/B) und Koronarkalk (IIb/B). Der Referent betonte die Bedeutung der familiären Hypercholesterinämie und die Notwendigkeit einer frühen Intervention. Er nannte als wichtigste Erkenntnisse: Je tiefer der LDL-Cholesterinwert desto besser und je früher die Behandlung desto besser. Der neue Zielwert für LDL-Cholesterin bei sehr hohem Risiko ist < 1.4 mmol/l sogar für die Primärprävention. Über die echte Sekundärprävention hinaus sollen alle Personen mit entweder klinisch oder mit Imaging dokumentierter ASCVD eingeschlossen werden.

Telemedizin in der Hypertonie

Die Selbstüberwachung mit oder ohne Telemonitoring führt, wenn sie von Allgemeinmedizinern zur Titration von blutdrucksenkenden Medikamenten bei Personen mit schlecht kontrolliertem Blutdruck eingesetzt wird, zu einem signifikant niedrigeren Blutdruck als die Titration nach klinischen Messungen. Da die meisten Allgemeinmediziner und viele Patienten die Selbstkontrolle verwenden, könnte sie zum Eckpfeiler der Blutdruckbehandlung in der Primärversorgung werden (MacManus RJ et al Lancet 2018; 391:949-959) zitierte Dr. med. Christian Grebner, Luzern.
Die Ziele der EUSTAR® (Eur Soc of Hypertension Telemedicine in Arterial Hypertension Register) sind eine schnelle und sichere Datenbank, telemedizinische Standards für ausgewählte Indikationen etablieren und auswerten, neue telemedizinische Interventionen für zusätzliche Indikationen, epidemiologische Daten, digitale Schnittstelle für Interaktionen zwischen Spezialisten und Allgemeinmedizinern.
Der Referent wies auf die zukünftigen Möglichkeiten hin, so beispielsweise die Smartphone-basierte Blutdruckmessung mi transdermaler optischer Bildgebungstechnologie.
Telemedizin ist bestimmt nicht die Antwort auf alle Probleme unseres sich wandelnden Gesundheitssystems, aber als Instrument könnte die Telemedizin nach einer genauen Indikation eine bedeutende Bereicherung in Bezug auf häufige Krankheiten sein (Schulz EG et al. Swiss Medical Weekly 2015; 145:w14077), so die abschliessende Feststellung des Referenten.

Hypertonie bei Frauen: die lautlose Gefahr

Achtzig Prozent der kardiovaskulären Krankheit bei Frauen können entsprechend eines epidemiologischen europäischen Updates aus dem Jahre 2016 (Townsend N et al Eur Heart J 2016; 37:3232-3245) vermieden werden, stellte Frau PD Dr. med. Jelena Rima Templin Ghadri, Zürich, fest.
Die Hypertonie stellt den wichtigsten kardiovaskulären Risikofaktor bei Frauen dar. Sie betrifft Frauen über den ganzen Lebenszyklus hinweg. Während jüngere Männer häufiger eine Hypertonie aufweisen als jüngere Frauen ist die Prävalenz der Hypertonie im Alter bei Frauen höher als bei Männern; neuere Daten aus der Schweiz zeigen eine Angleichung der Prävalenzen im Alter. Die Referentin erwähnte den Einfluss der Östrogene auf den Blutdruck. Der Verlust der hormonellen Schutzfunktion beeinflusst Gefässwiderstand und Hämodynamik. Hypertensive Frauen entwickeln häufiger Schlaganfall und Demenz, diastolische Dysfunktion, linksventrikuläre Hypertrophie, Herzinsuffizienz, chronische Nierenkrankheit und vermehrte arterielle Steifigkeit. Das Risiko für Schlaganfall steigt bei zunehmendem Blutdruck bei Frauen mehr an als bei Männern.
Frauen sind in Studien zu kardiovaskulären Krankheiten unterrepräsentiert. Allerdings hat sich dies in den letzten Jahren gebessert. Die Teilnahme von Frauen ist aber immer noch gering im Verhältnis zu ihrer Gesamtrepräsentation in Krankheitspopulationen.
Als Antihypertensiva kommen bei der Schwangerschaftshypertonie Alphamethyldopa, Labetalol und Kalziumantagonisten in Frage. ACE-Hemmer, ARBs, direkte Reninhemmer und Diuretika gehen mit schlechten Outcomes auf den Foetus und das Neugeborene einher.
In einem namhaften Anteil der schwangerschaftsbedingten Hypertonie handelte es sich um eine Präeklampsie. Mit Aspirin lässt sich diese wirksam verhindern (1.6% unter Aspirin vs. 4.3% in der Kontrollgruppe, p < 0.004).

Viele Fragen sind noch unbeantwortet, wie die Referentin feststellte. Dazu gehören die folgenden:

  • Gibt es möglicherweise andere Blutdruckgrenzen bei Männern und Frauen, sollen Alter und Hormone berücksichtigt werden?
  • Warum sind besonders Frauen mit Hypertonie vom Schlaganfall betroffen?
  • Warum sind immer noch nicht genügend Frauen in Hypertoniestudien eingeschlossen und warum werden genderspezifische Aspekte immer noch nicht genügend analysiert?
  • Welches Antihypertensivum ist das «Beste» für die Frau?
  • Sollen Antihypertensiva bei Frauen anders dosiert werden?

Quelle: Zürcher Hypertonietag, Universitätsspital Zürich, 23. Januar 2020.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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