Mit dieser kurzen geschichtlichen Würdigung der Geschichte der Fachgebiete Allergologie und Immunologie soll deren herausragende Bedeutung im klinischen Alltag und auch im Zusammenhang mit der Entwicklung neuester Therapieansätze in Erinnerung gerufen werden.
Nach den schrecklichen Ereignissen des 2. Weltkriegs hatte sich die wissenschaftliche Forschung in Europa nur allmählich erholt. Die Allergologie und die Immunologie waren noch nicht als eigenständige Disziplinen etabliert und anerkannt, obwohl vor dem Krieg verschiedene ausgezeichnete Forscher auf diesem Gebiet tätig waren. Es seien nur die Namen von Carl Prausnitz (geboren am 11. Oktober 1876 in Hamburg; gestorben am 21. April 1963 in Ventnor, Isle of Wight), und Paul Kallos (geboren 1902 in Budapest; gestorben 1988 in Stockholm), erwähnt. Das Feld der Allergologie, sowohl aus Sicht der experimentellen Forschung als auch der klinischen Praxis, erhielt ab den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts Auftrieb durch die Gründung verschiedener nationaler und internationaler Gesellschaften, die sich als «Gesellschaft für Allergie, für Allergologie, für Allergie und Klinische Immunologie, für Allergie und Immunitätsforschung» u. a. nannten.
Es wurde das Ziel einer engeren europäischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Allergie verfolgt, und 1950 fand in Paris der 1. Europäische Kongress für Allergie statt. Im Jahre 1951 wurde die «International Association of Allergy and Clinical Immunology» (IAACI) gegründet und kurz danach die «European Academy of Allergology (heute European Academy of Allergology and Clinical Immunology» [EAACI]) (1).
Die Schweizerische Gesellschaft für Allergie
Eine Gruppe renommierter Ärzte aus unterschiedlichen medizinischen Fachbereichen, wie der Inneren Medizin (Wilhelm Löffler, Werner Hadorn), der Mikrobiologie (Arthur Grumbach), der Dermatologie (Guido Miescher, Hans Storck, Werner Jadassohn) sowie weitere Repräsentanten der Fächer Pneumologie und Innere Medizin gründeten am 25. Februar 1950 die «Schweizerische Gesellschaft für Allergie» und hielten innerhalb von 2 Tagen ihre erste Jahresversammlung ab. Präsident der SGA wurde Arthur Grumbach, Professor für Mikrobiologie in Zürich (Abb. 1).
Nebst Einzelvorträgen wurden drei Hauptreferate gehalten, und zwar von Manfred Curry, Chicago/USA über «Klimatologische Aspekte der Allergie», vom in der Schweiz geborenen italienischen Forscher Daniele Bovet (Abb. 2), Direktor des Istituto Superiore di Sanità in Rom, Entdecker der Antihistaminika 1944, über «Aspects pharmacodynamiques de l’ allergie» und von Alexander Mitscherlich, Heidelberg über «Psychosomatische Aspekte der Allergie», alles noch aktuelle Themen. Die Vorträge und die freien Mitteilungen wurden 1951 publiziert (2). In diesem Band finden sich auch die Namen der 130 Einzelmitglieder der SAG, darunter die späteren Nobelpreisträger Paul Karrer und T. Reichstein. Hans Storck (Abb. 3) hatte 1946 an der Dermatologischen Universitätsklinik Zürich als Privatdozent die erste Allergiepoliklinik (Allergiestation) in Europa gegründet, nachdem er nach dem Krieg in den USA verschiedene Allergiezentren besucht hatte. Er führte zur Testung und Desensibilisierungstherapie die Allergenextrakte von Hollister-Stier (Spokane, USA) ein. Die SGA wurde 1972 in «Schweizerische Gesellschaft für Allergologie und Immunologie» (SGAI) umbenannt, da die Allergologie, die klinische Immunologie und die Grundlagenimmunologie in einer Gesellschaft vereint wurden.
Der erste Europäische Kongress für Allergie
Auf Initiative von Louis-Pasteur Vallery Radot, Bernhard N. Halpern und Pierre Blamoutier wurde vom 31. Mai bis 1. Juni 1950 in Paris der erste Kongress auf europäischer Ebene organisiert. Bei diesem Anlass wurde ein «European Council» gegründet mit der Aufgabe, künftige Kongresse zu organisieren und eine europäische Gesellschaft ins Leben zu rufen.
Der erste Internationale Kongress für Allergie
Der «First International Congress for Allergy» wurde vom 20. – 23. September 1951 in Zürich gehalten, wo auch die IAACI gegründet wurde – ein Meilenstein für die Entwicklung der Allergologie.
Präsident des Kongresses und der Gesellschaft war Prof. Fred W. Wittich, Minnesota (USA), als Organisatoren fungierten der Internist Prof. Ch. W. Löffler und der Hygieniker und Mikrobiologe Prof. A. S. Grumbach, beide von der Universität Zürich. Der Kongressbericht erschien 1952 im S. Karger-Verlag, Basel – New York und umfasst 1 143 Seiten (3). Als Ehrengäste werden Prof. Arthur F. Coca (Oradell N.J.), Sir Henry Dale (London), Prof. Robert Dörr (Basel), Prof. Michael Heidelberger (New York), Prof. R. Otto (Frankfurt), Prof. Paul Portier (Paris), Prof. Bela Schick (New York) und Prof. Arne Tiselius (Uppsala) aufgeführt.
Auf diesem Kongress waren 13 Nationale Europäische Allergie Gesellschaften anwesend, wie aus den Proceedings hervorgeht.
Teile dieses Artikels hat der Autor entnommen aus: Wüthrich B. Die Allergologie in Europa nach dem 2.Weltkrieg. Allergologie 2018; 41: 203-213 entnommen. Die Genehmigung des Dustri-Verlags Dr. Karl Feistle (www.dustri.de) für die Publikation liegt vor.
Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG
Prof. em. Brunello Wüthrich
Langjähriger Leiter der Allergiestation
der Dermatologischen Klinik,
Universitätsspital Zürich,
Im Ahorn 18, 8125 Zollikerberg
bs.wuethrich@bluewin.ch
Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.
1. European Academy of Allergology and Clinical Immunology. History. https://www.eaaci.org/attachments/1283_eaaci%20history%20booklet.pdf
2. Schweizerische Allergie-Gesellschaft. 1. Jahresversammlung in Zürich, 25. – 26. Februar 1950. Int. Archs Allergy appl Immun. 1950; 1: 1-2.
3. Grumbach AS, Rivkine A. Erster Internationaler Allergie Kongress, Kongressbericht. Basel – New York: S. Karger; 1952.
Die Atherothrombose ist eine chronisch progrediente Erkrankung. Nach einem ersten vaskulären Ereignis besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für ein weiteres und somit ist das Sterberisiko erhöht. Deshalb sollten alle Möglichkeiten der Sekundärprävention genutzt werden. Dazu gehören neben Lifestyle-Veränderungen und optimaler Kontrolle der Risikofaktoren wie Diabetes und Hypertonie die antithrombotische Therapie und die Lipidsenkung.
Im Vergleich mit Gesunden ist die Lebenserwartung bei Patienten nach einem kardiovaskulären Ereignis um 7,7 Jahre, nach einem Infarkt um 9,2 Jahre und nach einem Insult sogar um 12 Jahre verkürzt. «Diese Zahlen untermauern die Notwendigkeit für eine optimale Sekundärprävention», so Professor Jan Steffel, Zürich. Die stabile KHK sei gar nicht stabil, deshalb sei es sinnvoll, von einem chronischen Koronarsyndrom zu sprechen.
Hochrisiko-Patienten profitieren von einer verlängerten dualen Plättchenhemmung
Das akute Koronarsyndrom (ACS) ist zwar ein akutes Ereignis, bedeutet jedoch eine chronische lebenslange Erkrankung, so dass die Sekundärprävention mit zwei Plättchenhemmern nicht immer nach 12 Monaten enden sollte. Die bisherigen Empfehlungen für eine duale Thrombozytenaggregationshemmung über 12 Monate bei diesem Krankheitsbild sind ausschliesslich der Dauer der entsprechenden Studien geschuldet, aber nicht dem klinischen Verlauf. Registerstudien zeigen, dass bei einem von fünf Patienten mit einem ACS erst im zweiten oder dritten Jahr nach dem initialen ACS ein erneutes kardiovaskuläres Ereignis auftritt. Dieses manifestiert sich in ca. 50% der Fälle an einer anderen Stelle des Koronarsystems. Dies ist die Rationale für eine über 12 Monate hinausgehende duale Thrombozytenaggregationshemmung mit dem Ziel, bei Hochrisiko-Patienten die kardiovaskuläre Rezidivrate weiter zu senken.
Im Rahmen der PEGASUS-TIMI 54-Studie (PrEvention with TicaGrelor of SecondAry Thrombotic Events in High-RiSk Patients with Prior AcUte Coronary Syndrome – Thrombolysis In Myocardial Infarction Study Group) , einer prospektiven, kontrolliert-randomisierten klinischen Studie mit 21.000 Patienten, wurde die Wirksamkeit einer Kombinationstherapie mit 2 x 60 mg oder 2 x 90 mg Ticagrelor (Brilique®) plus 75-100 mg ASS mit einer ASS-Monotherapie verglichen. Aufgenommen in die Studie wurden Hochrisiko-Patienten, bei denen das ACS ein bis drei Jahre zurücklag, die ein Mindestalter von 50 Jahren hatten und mindestens ein weiteres Hochrisiko-Charakteristikum aufwiesen. Dazu gehören ein Alter von mindestens 65 Jahren, ein medikamentös behandlungspflichtiger Diabetes mellitus, ein zweiter Myokardinfarkt in der Anamnese, eine koronare Mehrgefässerkrankung und/oder eine chronische Niereninsuffizienz mit einer Kreatinin-Clearance < 60 ml/Minute. Nach einer 36-monatigen Laufzeit mit einer medianen Beobachtungszeit von 33 Monaten wurde der kombinierte Endpunkt kardiovaskulärer Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall um relativ 16% gesenkt (7,7% vs. 9,04%; HR: 0.84; 95% KI: 0,74-0,95; p = 0,004). Auch die Auswertung der Einzelkomponenten ergab eine signifikante Überlegenheit für Ticagrelor. Der Vorteil von Ticagrelor fand sich in allen Subgruppen (Diabetes, Stent, chronische Niereninsuffizienz) und stieg im Laufe der 33-monatigen medianen Nachbeobachtungszeit sogar an. Die eingeschränkte Nierenfunktion war mit einem erhöhten Risiko für ischämische Ereignisse bei vergleichbarem Blutungsrisiko assoziiert. Bei gleicher relativer Risikoreduktion ergibt sich daraus angesichts des erhöhten Risikos aber eine höhere absolute Risikoreduktion. Zwischen den beiden Dosisregimen fand sich kein signifikanter Unterschied.
Bzgl. der Sicherheit traten schwere Blutungen unter Ticagrelor signifikant häufiger auf (2,3% vs. 1,06%; HR: 2,32; 95% KI: 1,68-3,21; p < 0,001). Die jährlichen Raten schwerer Blutungen und der Unterschied zu Placebo nahmen jedoch im Studienverlauf ab. Keine signifikanten Unterschiede wurden hinsichtlich intrakranieller und fataler Blutungen beobachtet. Unter Ticagrelor wurde statistisch signifikant häufiger über Dyspnoe geklagt. Diese trat meist zu Beginn der Behandlung auf, war von relativ kurzer Dauer und von leichter bis mittlerer Intensität. Auch Gicht-Anfälle wurden häufiger beobachtet.
Fortschritte mit Faktor-Xa-Inhibitor
Bei der Atherothrombose handelt es sich immer um eine chronisch-progressive, systemische, multivaskuläre Erkrankung. Für den KHK-Patienten bedeutet das: Nach dem Infarkt ist vor dem Infarkt. Und 3 von 5 Patienten mit pAVK leiden auch unter atherothrombotischen Läsionen an anderen Gefässen. «Bereits in den ersten zwölf Monaten nach erstmaliger Behandlung der chronischen Extremitätenischämie verstirbt jeder Vierte, und zwar meist an einem kardiovaskulären Ereignis», so Steffel. Die gegenwärtigen antithrombotischen Therapien mit Plättchenhemmern seien im Hinblick auf die Reduktion kardiovaskulärer und Extremitäten-bezogener Ereignisse nur begrenzt wirksam. Deshalb bestehe Bedarf an neuen therapeutischen Ansätzen, wobei nach den Ergebnissen der COMPASS-Studie die duale Strategie mit dem direkten Faktor-Xa-Inhibitor plus ASS einen grossen Fortschritt darstellt.
Im Rahmen dieser Studie wurde die Kombination von Rivaroxaban in vaskulärer Dosierung (2 x 2,5 mg täglich) plus 100 mg ASS mit einer ASS-Monotherapie verglichen. Mit der zusätzlichen Gabe von Rivaroxaban konnte bei pAVK-Patienten die MACE-Rate um 28% und die Rate an Extremitäten-bezogenen Endpunkten (MALE) sogar um 46% gesenkt werden. Die Majoramputationen nahmen um 70% ab. Trotz eines Anstiegs schwerwiegender Blutungen (Rivaroxaban 3,1% vs. 1,9% ASS-Monotherapie) kam es nicht zu einem Anstieg bei tödlichen oder kritischen Organblutungen. Bei KHK-Patienten wurde die MACE-Rate um 26% und die Gesamtsterblichkeit um 23% gesenkt. Und Diabetiker profitierten gleichermassen von der dualen Therapie wie Stoffwechselgesunde.
Innovative Visionen
Trotz aller interventionellen und operativen Fortschritte ist die Behandlung der zugrunde liegenden Arteriosklerose bisher unbefriedigend. Weder mit einer Bypass-Operation noch durch die Implantation von Stents kann dieser Erkrankung, bei der es sich um eine chronische Entzündung handelt, Einhalt geboten werden. Folgerichtig sind innovative Forschungsansätze notwendig, mit dem Ziel neue pharmakologische Therapieverfahren zu entwickeln, die das Potential haben, die Behandlung der Atherosklerose wesentlich zu verändern. Dabei könnten spezifisch wirkenden antientzündlichen Strategien z.B. mit spezifischen Antikörpern, die gegen Entzündungsmediatoren oder Entzündungszellen gerichtet sind, eine grosse Bedeutung auch im Sinne einer individualisierten Therapie zukommen vergleichbar mit der personalisierten Tumortherapie. Studien mit unspezifisch wirkenden Substanzen wie Methotrexat konnten dagegen nicht überzeugen. Mit spezifisch wirkenden Therapieoptionen könnten gezielt Signalkaskaden attackiert werden, die an der Progression der KHK beteiligt sind. Auch die Idee, eine Impfung gegen Epitope von Cholesterinpartikeln, die besonders atherogen wirken, zu entwickeln, ist sehr attraktiv und gegenwärtig Ziel intensiver Forschungsbemühungen. Es wäre aber naiv zu glauben, dass man mit einer einzigen Substanz ein so komplexes Krankheitsbild wie die Atherosklerose rückgängig machen oder ihre Entstehung verhindern könnte.
Neue ESC-Guideline für die Lipidsenkung
«Der entscheidende Risikofaktor für die KHK ist ein erhöhtes LDL-Cholesterin», erläuterte Steffel. Das LDL-Cholesterin sei kein Risikomarker, sondern kausal in die Manifestation und Progression der Atherogenese involviert.
Nach der neuen ESC Leitlinie von 2019 sollten sich die Zielwerte für das LDL-C am individuellen Risiko orientieren, wobei ein höchstes, sehr hohes, hohes und moderates Risiko unterschieden werden. Der niedrigste Zielwert von < 40 mg/dl wird für Höchst-Risiko-Patienten empfohlen, die ein zweites vaskuläres Ereignis innerhalb von zwei Jahren trotz maximaler lipidsenkender Therapie erlitten haben. Bei Patienten mit einem sehr hohen Risiko (bekannte KHK, St.n. Myokardinfarkt, St.n. ischämischen Schlaganfall, pAVK, dokumentierte atherosklerotische Gefässerkrankung, Typ-2-Diabetiker, Typ-1-Diabetiker mit Endorganschäden) sollte ein LDL-C-Wert von < 55 mg/dl bzw. eine > 50%ige LDL-C-Senkung angestrebt werden. Als hohes Risiko gilt, wenn ein Risikofaktor wie eine familiäre Hypercholesterinämie oder eine schwere Hypertonie oder ein Diabetes mellitus ohne Folgeschäden vorliegt bzw. die Ereignisrate in den nächsten 10 Jahren 5 – 10% beträgt. Bei solchen Patienten sollte ein Zielwert von < 70 mg/dl erreicht werden. Bei einem moderaten Risiko, d.h. einer Ereigniswahrscheinlichkeit in den nächsten 10 Jahren von 1 – 5%, gilt als LDL-Zielwert < 116 mg/dl.
Durch ein Statin kann das kardiovaskuläre Risiko aber nur um relativ 20-25% gesenkt werden. Und auch bei einer Hochdosis und unter modernen Kombinationen mit Ezetimib oder PCSK9-Inhibitoren werden die Zielwerte oft nicht erreicht, wobei aber Nebenwirkungen und auch eine unzureichende Adhärenz eine Rolle spielen.
Innovative Diabetestherapie
2018 wurde von der amerikanischen (ADA) und der europäischen (EASD) Diabetes-Gesellschaft ein gemeinsames Konsensus-Statement veröffentlicht. «Konkret sollte bei einem Patienten mit einer KHK oder einer anderen atherosklerotischen Erkrankung nach Metformin vorrangig ein GLP-1-Rezeptor-Agonist oder ein SGLT2-Inhibitor mit einem nachgewiesenen kardiovaskulären Vorteil eingesetzt werden» so Steffel. Bei Patienten mit Herzinsuffizienz oder chronischer Niereninsuffizienz (CKD) sollte nach Metformin als Zweites ein SGLT2-Inhibitor mit bei diesen Krankheitsbildern nachgewiesenem Wirkprofil zum Einsatz kommen. Wenn der SGLT2-Inhibitor aber nicht vertragen wird oder bei stark erniedrigter GFR nicht gegeben werden kann, sollte als Alternative der GLP-1-Rezeptor-Agonist verordnet werden.
2019 wurde von der ESC und der EASD eine Aktualisierung der Leitlinie vorgestellt. Danach kann bei Vorliegen einer atherosklerotischen Erkrankung die Therapie auch sofort mit einem GLP-1-RA oder einem SGLT2-Inhibitor begonnen werden, also auch ohne vorangegangene Metformin-Therapie.
Quelle: Prof. Jan Steffel, MediDays 2020, Zürich, 3.9.2020
Schmerzen an einer grossen Sehne (Achilles- und Patellarsehne) sind ein häufig geklagtes Symptom vor allem von Sportlern. Dabei muss eine Tendinopathie, die nicht entzündlich bedingt ist, zunächst von anderen ähnlichen Krankheitsbildern mit entzündlichen Prozessen in der Umgebung abgegrenzt werden. Therapeutisch wird vieles propagiert, aber nicht alles ist auch evidenzbasiert.
Unter einer Tendinopathie versteht man eine schmerzhafte Dysfunktion einer Sehne. «Tendinitis und Tendinose gelten als überholte Bezeichnungen», so Dr. Stefan Fröhlich, Oberarzt an der orthopädischen Universitätsklinik Balgrist in Zürich. Abzugrenzen von der eigentlichen Tendinopathie sind die Peritendinitis, Tendosynovitis und Tendovaginitis, die durch einen entzündlichen Prozess in der Umgebung charakterisiert sind. Und der Begriff Enthesiopathie bezeichnet das Problem des Sehnen-Knochen-Übergangs.
Keine Entzündung
Die Pathogenese der Tendinopathien ist nicht vollständig geklärt. «Früher hat man das Krankheitsbild als klassische Entzündungsreaktion verstanden, doch nach heutigem Verständnis handelt es sich um einen degenerativen Prozess», so Fröhlich. Intrinsische Risikofaktoren sind männliches Geschlecht, Alter, Diabetes, Autoimmunerkrankungen, Hyperlipidämie und Adipositas und der entscheidende extrinsische Risikofaktor ist die Überbelastung.
Das wichtigste Prinzip im Hinblick auf die Pathogenese und die Therapie ist: Die Sehnen reagieren auf eine Belastung mit strukturellen Mal-Adaptationen. So kommt es an der tendopathischen Sehne zu vielfältigen Veränderungen, nämlich zu einer Proliferation von Tenozyten, einem erhöhten Gehalt an Proteoglykanen und zu einem ungeordnet erhöhten Kollagengehalt. Dadurch verdickt sich die Sehne und es kommt zu einer verstärkten Neovaskularisation.
Ultraschall ist Goldstandard
Die Tendinopathie ist primär eine klinische Diagnose mit typischem Palpitationsbefund. Bei der Bildgebung ist der Ultraschall der Goldstandard. Ein MRI kann ergänzend zum Einsatz kommen, jedoch eher zum Ausschluss zusätzlicher Pathologien wie auch das konventionelle Röntgen.
Viele Therapieoptionen
Für die Therapie der Tendinopathien wird vieles propagiert. «Die beste Evidenz liegt für aktives Training vor», so Fröhlich. Eine vollständige Entlastung bzw. Schonung sei daher nicht empfehlenswert. Besonders kritisch zu bewerten sei der Wechsel zwischen kompletter Schonung und hochintensiver Belastung. Keine Evidenz gebe es für Orthesen/Bandagen bei einer Achillessehnen-Tendinopathie. Eine geringe Evidenz für Taping/Bandagen gebe es bei einer Patellasehnen-Tendinopathie bzgl. kurzfristiger Symptomlinderung. Eine mässige Evidenz besteht auch für die Stosswellentherapie der Patella- und Achillessehnen-Tendinopathie.
Und wie steht es mit der Injektion von plättchenreichem Plasma (PRP), einer besonderen Form der Eigenbluttherapie? Je nach Aufbereitung unterscheiden sich die verschiedenen PRP-Präparate deutlich, wobei zwischen Leukozyten-armen und Leukozyten-reichen Präparaten unterschieden wird. Die Evidenz ist gering, doch bei Tendinopathien wurden Vorteile der Leukozyten-reichen PRP-Präparate gezeigt.
Keine generelle Empfehlung für Kortikosteroid Infiltrationen
Sehr beliebt, aber auch umstritten sind Kortikosteroid Infiltrationen. «Es gibt zwar Evidenz für eine kurzfristige Wirksamkeit, jedoch nicht für eine langfristige Wirkung», so Fröhlich. Dem gegenüber stünden jedoch mögliche Nebenwirkungen wie Ruptur und Atrophie. Daher könne keine generelle Empfehlung für Kortikosteroid Infiltrationen an Körpergewicht-tragenden Sehnen gegeben werden. Auch was chirurgische Massnahmen bei der Tendinopathia patellae angeht, ist die Evidenz unsicher. Eine gute Evidenz gibt es nur für das chirurgische Debridement bei der Tendinopathie der Achillessehne.
Training ist wichtig
Das klassische exzentrische Training ist am besten erforscht und die Wirkung entsprechend belegt. Doch das Problem ist die Schmerzhaftigkeit, was die Compliance senkt. Auch ein isometrisches Training reduziert die Symptomatik bei einer Tendinopathie und die Wirkung tritt schnell ein. Deswegen kommt ein solches Training vor allem, jedoch nicht nur zu Beginn einer Therapie zum Einsatz. Diese Wirkung konnte auch für Athleten während der Wettkampfsaison gezeigt werden, für die eine Sport-Pause nicht in Frage kam.
Quelle: Dr. Stefan Fröhlich, MediDays 2020, 2.9.2020
Der Hype um das Thema «Mikrobiom» ist ungebrochen. Und es mehren sich die wissenschaftlichen Daten, die zeigen, dass an der kausalen Bedeutung der Darmflora nicht nur bei Darminfektionen, sondern auch bei metabolischen Störungen und zentralnervösen Erkrankungen etwas dran sein könnte.
Die Schleimhäute des Menschen sind mit Bakterien besiedelt, wobei das Kolon die höchste Bakteriendichte aufweist. Insgesamt besteht das intestinale Mikrobiom aus bis zu 100 Trillionen (1014) Organsimen aus 300 - 1000 Spezies. Bis vor einigen Jahren war kaum etwas darüber bekannt, um welche Bakterienstämme es sich handelt und welche Funktionen diese wahrnehmen. «Wir wissen heute, dass das Mikrobiom eine wichtige Rolle für unsere Gesundheit spielt», so Professor Michael Scharl, Zürich. Es entfalte metabolische, strukturelle und metabolische Funktionen.
Neue molekularbiologische Methoden erlauben heute die detaillierte Analyse der Bakterienspezies und ihrer Funktionen, auch solcher Bakterien, die kaum kultivierbar sind. Auch ist unbestritten, dass eine Modulation des Mikrobioms durch Ernährung, Prä- und Probiotika oder Stuhltransplantation positive Wirkungen zeigt. Grundsätzlich scheint eine Abnahme der Bakterienstämme, also eine geringere Diversität für Alles ungünstig zu sein. Dieser neue Angriffspunkt für therapeutische Massnahmen wird die medizinische Therapie der Zukunft verändern. Darüber sind sich die Experten einig.
Eine ursächliche Bedeutung bei Darmerkrankungen
Eine wichtige Schlüsselfunktion des Mikrobioms ist die Unterstützung der mukosalen Immunabwehr. Eine Dysbiose im Bereich des Darmmikrobioms führt in tierexperimentellen Untersuchungen zu Störungen im Bereich des intestinalen Immunsystems. Folgen sind vermehrte Darminfektionen, Entzündungen und Diarrhöen. Und auch der Reizdarm ist mit Veränderungen des Mikrobioms assoziiert. Dasselbe gilt für intestinale Tumorerkrankungen; denn sie treten bei Dysbiose häufiger auf. Sollten sich diese Ergebnisse beim Menschen reproduzieren lassen, so könnten daraus neue Behandlungskonzepte zur Prävention und Therapie von Darmentzündungen und -tumoren entwickelt werden. Schon heute ist die fäkale Microbiota Transfer (FMT) eine etablierte Therapie bei der refraktären Clostridium difficile-Infektion. «Und erste randomisierte Studien belegen eine gewisse Wirksamkeit bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen», so Scharl. Auch könne der FMT ein neuer Ansatz bei der Checkpoint-Inhibitor-Kolitis und auch beim Reizdarm sein. Erste Studienergebnisse sprechen dafür, dass die mikrobielle Stuhlanalyse beim Kolonkarzinom als prognostischer Marker und als Screening-Test Verwendung finden könnte.
Darm und Psyche
Schon in Volksweisheiten wird eine Verbindung zwischen Darm und Psyche beschrieben: «Stress schlägt auf den Magen». «Nach neueren Forschungsergebnissen können Veränderungen des Mikrobioms, also eine Dysbiose, wesentliche Körperfunktionen auch im ZNS verändern», so Dr. Patrick Pasi, Zürich. Das Mikrobiom sei entscheidend für die Entwicklung einer gesunden Stressreaktion. Auch können Bakterien wichtige Botenstoffe wie Serotonin und Dopamin produzieren. In der Tat scheinen Zusammenhänge zwischen dem Mikrobiom und neurologisch-psychiatrischen Krankheitsbildern wie Autismus und Depression, aber auch Anorexia nervosa, M. Parkinson, MS, Abhängigkeiten und M. Alzheimer zu bestehen. Doch die diesen Beobachtungen zugrundeliegenden Mechanismen der «Darm-Hirn-Achse» sind bisher nicht vollständig verstanden. Auch hier besteht Hoffnung auf neue Therapieansätze z. B. mit Probiotika. «Bakterien können vielleicht helfen, die Stimmung zu verbessern», so Pasi.
Veränderungen des Metabolismus führen zur Adipositas
Unbestritten ist auch, dass Darmbakterien z.B. bei Kälteexposition die Energieaufnahme optimieren, indem die Mikrobiom-Funktionen angepasst werden und die Darmoberfläche vergrössert wird. Doch was bei Kälte und Hunger vorteilhaft ist, kann bei einem Überfluss an Nahrung und Kälte von Nachteil sein. Zwischen Normal- und Übergewichtigen gibt es Unterschiede im Darmmikrobiom. Dies könnte erklären, warum Menschen bei gleicher Ernährung einen unterschiedlichen Gewichtsverlauf zeigen. Man hofft, daraus neue Ansätze für die Prävention der Adipositas und damit auch der kardio-metabolischen Folgeerkrankungen entwickeln zu können.
Die Hyperalimentation, insbesondere von Zuckern und Fetten, kann zu Störungen der Darmbarriere führen und die Translokation von Bakterien oder Bakterienbestandteilen wie Lipopolysacchariden begünstigen. Folge ist eine subklinische Entzündung, eine Leberverfettung und metabolische Veränderungen. So ist der Darm neben dem Fettgewebe und dem Immunsystem an der Entstehung des metabolischen Syndroms bei Adipositas beteiligt und bietet somit eine Chance, solche metabolischen Störungen gezielt zu verhindern. Dass dies funktioniert, konnte bereits in tierexperimentellen Studien gezeigt werden.
Quelle: Prof. Michael Scharl, Prof. Christian Matter, Dr. Patrick Pasi, MediDays 2020, 3.9.2020
Prostatektomie und Strahlentherapie sind die beiden Interventionen, die bei Patienten mit behandlungsbedürftigem lokalisierten Prostatakarzinom am besten etabliert sind. Im Allgemeinen besteht ein breiter Konsens darüber, dass beide Modalitäten eine ähnliche Heilungschance bieten, aber aufgrund der unterschiedlichen Profile von Nebenwirkungen und Auswirkungen auf funktionelle Bereiche ihre spezifischen Vor- und Nachteile haben.
La prostatectomie et la radiothérapie sont les deux interventions les mieux établies chez les patients atteints d’un cancer de la prostate localisé qui ont besoin d’un traitement. En général, il existe un large consensus sur le fait que les deux modalités offrent une chance de guérison similaire, mais qu’elles présentent des avantages et des inconvénients spécifiques en raison des différents profils d’effets secondaires et d’implications fonctionnelles.
Einer der grössten Nachteile der klassischen externen Strahlentherapie ist die hohe Anzahl an Bestrahlungssitzungen, die benötigt werden, um eine vollständige Strahlentherapie durchzuführen. In der Regel dauert diese bis zu 2 Monaten. Um diesem Aufwand entgegenzutreten, wurden verkürzte Therapieschemata mit leicht erhöhten Einzeldosen evaluiert. Randomisierte Studien haben gezeigt, dass diese sogenannt moderat-hypofraktionierten Regimes mit 2,5 bis 3 Gy pro Fraktion in Bezug auf die biochemische Kontrolle und die Verträglichkeit den normofraktionierten Standard-Schemata nicht unterlegen sind (1, 2, 3).
Die stereotaktische Körperbestrahlung (Stereotacic Body Radiotherapy, SBRT) ist eine neuere Behandlungsoption, die dank präziseren Positionierungs-Technologien eine noch höhere Einzeldosis pro Fraktion, die sogenannte Ultra-Hypofraktionierung, ermöglicht. Die klinische Evidenz, die die Sicherheit und Wirksamkeit von ultrahypofraktionierter RT belegt, entwickelt sich mit der zunehmenden Verbreitung und Verfeinerung dieser Modalität. Der vorliegende Übersichtsartikel skizziert die radiobiologischen Aspekte, Wirksamkeit und die Toxi-zitätsergebnisse von SBRT anhand der aktuellen Studienlage.
Ultra-Hypofraktionierung; was bedeutet das?
Ultra-Hypofraktionierung wird häufig synonym mit stereotaktischer Körperbestrahlung (SBRT) und stereotaktisch ablativer Körperbestrahlung (SABR) verwendet, wobei sich der erstere Begriff strikt auf die Fraktionsgrösse bezieht, während sich letztere auch auf die Plattform der Strahlführung und Bestrahlungstechnik beziehen. Die Richtlinie der American Society for Radiation Oncology (ASTRO), der American Society of Clinical Oncology (ASCO) und der American Urological Association (AUA) zur Hypofraktionierung definiert die moderate Hypofraktionierung als 2,4-3,4 Gy/Tag und die ultrahypofraktionierte Strahlentherapie als Dosen pro Behandlung von 5,0 Gy/Tag oder höher (4). Eine Stellungnahme des Prostatakrebs-Expertengremiums der Deutschen Gesellschaft für Radioonkologie (DEGRO) und der Arbeitsgemeinschaft Radioonkologie der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG-ARO) beschreibt Dosen zwischen 2,2-4 Gy/Fraktion als moderat und über 4 Gy/Fraktion für die Ultra-Hypofraktionierung (5).
Radiobiologische Aspekte – Warum funktioniert die Ultra-Hypofraktionierung?
Für die meisten Krebsarten sind die normofraktionierten Schemata von 1,8-2 Gy pro Tag / fünfmal pro Woche in Bezug auf Tumorkontrolle und Toxizität als Standard zu betrachten. Einige Tumore zeigen eine höhere Empfindlichkeit gegenüber Fraktionsdosen und können daher von hypofraktionierten Schemata profitieren. Diese Eigenschaft spiegelt sich in einem niedrigen Alpha/Beta-Wert (α/β) (6): Der Wert α/β ist ein Mass für die Fraktionierungsempfindlichkeit und steht in Zusammenhang mit der inhärenten Fähigkeit von Tumorzellen, subletale DNA-Schäden zu reparieren, die durch ionisierende Strahlung verursacht werden.
Der sehr niedrige α/β Wert des Prostatakarzinoms lässt auf eine hohe Empfindlichkeit gegenüber hohen Dosen pro Fraktion schliessen (7–10). Der α/β Wert des Prostatakarzinoms ist möglicherweise gar niedriger als das der umliegenden Risikoorgane, einschliesslich Rektum und Blase, wodurch die Hypofraktionierung das therapeutische Verhältnis weiter verbessern und ähnliche Wirksamkeitsraten bei gleicher oder geringerer Komplikationsrate als die konventionelle Fraktionierung liefern kann (8, 9, 10).
Wirksamkeit, Toxizität und Lebensqualität der Ultra-Hypofraktionierung – Was haben die klinischen Studien gezeigt?
Es gibt mehrere veröffentlichte Serien, die den Einsatz von SBRT untersuchen (Tab. 1). Die grösste Analyse ist eine Kohortenstudie, die individuelle Patientendaten aus 12 Phase-II-Studien analysierte, die 2142 Männer mit low risk (LR) und intermediate rsik (IR) Prostatakrebs umfassten, die entweder mit CyberKnife oder einem konventionellen Linearbeschleuniger behandelt wurden. Ca. 55,3% der Patienten hatten eine LR Erkrankung, 32,3% eine favourable IR-Erkrankung und 12,4% eine unfavourable IR-Erkrankung. High risk (HR)-Patienten wurden ausgeschlossen. Die Nachbeobachtungszeit betrug 6,9 Jahre (Median) (11). Das siebenjährige biochemische freie Überleben (bRFS) betrug 95,5% für die LR-Krankheit, 93.7% bei favourable IR und 86.5% bei unfavorable IR Patienten. Die Inzidenz von akuten toxischen Ereignissen Grad 3 oder höher betrug 0,60% für urogenitale (GU) und 0,09% für gastrointestinal (GI) Toxizitäten.
Die neueste Metaanalyse wurde von Jackson et al. durchgeführt, die 6116 Patienten aus 38 prospektiven Studien umfasste (12). Hier wurden nur Studien gepoolt, die zum gleichen Zeitpunkt den gleichen Endpunkt berichteten, was eine inhärente Einschränkung darstellt. Auf Patientenebene hatten 45% eine LR-, 47% eine IR- und 8% eine HR-Erkrankung. Die mittlere Nachbeobachtungszeit betrug 39 Monate, was bei der Bewertung der 5- und 7-Jahres bRFS-Raten und Toxizitäten berücksichtigt werden muss. Die kombinierte akute ≥ G3 Toxizität lag unter 1%. Die späte ≥ G3 GU- und GI-Toxizität betrug 2,0% bzw. 1,1% und änderte sich nicht, wenn nur Studien mit einer medianen FU von ≥5yr ausgewertet wurden. Interessanterweise gab es einen Zusammenhang zwischen Dosis und ≥ G3 GU-Toxizität, aber nicht mit ≥ G3 GI-Toxizität. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Ultra-Hypofraktionierung als strahlentherapeutische Standardstrategie für lokalisiertes Prostatakarzinom angesehen werden könnte – eine Aussage, die zwar für LR- und IR-Patienten ernstgenommen werden muss, aber für unterrepräsentierte HR-Patienten noch nicht validiert ist.
Neben den zahlreichen retro- und prospektiven Single-Arm Serien wurden 2 randomisierte Studien veröffentlicht. Der skandinavische non-inferiority design HYPO-RT-PC Trial randomisierte Männer mit IR und HR Prostatakarzinom, um entweder 42,7 Gy in sieben Fraktionen, 3 Tage pro Woche, oder konventionell fraktionierte Strahlentherapie (78 Gy in 39 Fraktionen, 5 Tage pro Woche) zu erhalten (18). Hier wurde keine anti-androgene Therapie (ADT) erlaubt. Nach einer medianen Nachbeobachtung von 5 Jahren war das failure-free Survival in beiden Armen identisch (84%).
Die akuten G2 oder höher GU Toxizitäten war im ultrahypofraktionierten Arm am Ende der Behandlung (28% vs. 23%) und bei der Nachbeobachtung nach einem Jahr (6% gegenüber 2%) leicht erhöht. Es gab keinen Unterschied in den akuten oder nach einem Jahr berichteten GI Toxizitäten. Nach 5 Jahren wurden keine Unterschiede in den GI und GU Toxizitäten berichtet.
Es ist erwähnenswert, dass neben dem einzigartigen Fraktionierungsschema (7 Fraktionen statt 5 Fraktionen) auch die Bestrahlungstechnik in dieser Studie nicht den höchsten Standards entsprach. Weder die Magnetresonanztomographie (MRT) zur Konturierung noch die Behandlung mittels intensitätsmodulierter Radiotherapie (IMRT) waren obligatorisch. Tatsächlich wurden 80% der Patienten mit konventioneller 3D-Planung behandelt.
Der neueste randomisierte PACE-B-Trial, der über die Toxizität der Ultra-Hypofraktionierung bei Prostatakrebs berichtet, wurde 2019 veröffentlicht (19). In diesem non-inferiority Trial erhielten Männer mit Prostatakrebs mit LR oder IR (nur Gleason 7a) entweder konventionelle oder moderate hypofraktionierte Strahlentherapie (78 Gy in 39 Fraktionen in 7-8 Wochen bzw. 62 Gy in 20 Fraktionen über 4 Wochen) oder SBRT (36,25 Gy in fünf Fraktionen über 1-2 Wochen). Eine zusätzliche Therapie mittels ADT wurde nicht erlaubt. Es wurden 41,7 % der Patienten im SBRT-Arm mit dem CyberKnife und 58,3% mit einem konventionellen Linearbeschleuniger mit volumetrischer Bogentherapie (VMAT) behandelt. Image-guided Radiotherapie (IGRT) und intrafraktionelle Bewegungskontrolle waren obligatorisch. Hinsichtlich der akuten Toxizität gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen den Armen, aber einen leichten Trend zugunsten des SBRT-Arms (23% gegenüber 27%). Dies steht im Gegensatz zur HYPO-RT-PC Studie, bei der die akute Toxizität im ultrahypofraktionierten Arm etwas höher war.
Neben der perkutanen Bestrahlung wird beim Prostatakarzinom, insbesondere in der LR und IR Situation, häufig auch die Brachytherapie eingesetzt. Die SBRT wurde in einigen Publikationen auch mit diesem Strahlentherapieverfahren verglichen. Loblaw et al. veröffentlichten eine kanadische Studie mit 602 Patienten mit niedrigem Risiko, die eine überlegene bRFS mittels SBRT im Vergleich zur konventionellen Bestrahlung zeigte, während die bRFS zwischen SBRT und LDR (low dose rate) Brachytherapie ähnlich war (20). Eine weitere retrospektive multizentrische Analyse verglich die Ergebnisse von 437 Patienten mit mittlerem Risiko, die entweder SBRT oder HDR (high dose rate) Brachytherapie erhielten: es wurde eine bRFS von 96,3% ohne signifikanten Unterschied nach Behandlungsart berichtet (21). Gegenüber der Brachytherapie bietet die SBRT im Prinzip als nicht-invasive und ambulant durchführbare Methode praktische Vorteile mit vergleichbaren biochemischen Kontrollraten. Eine Toxizitätsanalyse im Direktvergleich steht noch aus.
Von der Lebensqualität nach einer ultrafraktionierten Strahlentherapie wurde ebenfalls in verschiedenen Publikationen berichtet und scheint in der gesamten Literatur konsistent zu sein mit einer anfänglichen Verschlechterung in den ersten Monaten im Harn- und Darmbereich, gefolgt von einer anschliessenden Erholung auf die Basislinie in den nächsten 3 bis 12 Monaten (18, 22, 23). Die sexuelle Funktion nahm in der Regel nach der SBRT ohne Erholung ab (22, 24).
Zahlreiche randomisierte Studien sind im Gange, die bald Licht auf Wirksamkeit und Toxizität von SBRT im Vergleich zur Chirurgie werfen werden. Dazu gehört die von Grossbritannien geführte internationale Studie PACE A, die Patienten aus Grossbritannien, Kanada und Irland einschliesst, und die SBRT mit der radikalen Prostatektomie vergleicht.
Technische Aspekte zur Planung und Durchführung der SBRT
Die Definition des Zielvolumens ist für die Verwendung von SBRT entscheidend. Das Zielvolumen umfasst typischerweise die Prostata, mit oder ohne die proximalen Samenblasen und Bereiche mit extrakapsulärer Ausdehnung. Frühere Studien haben gezeigt, dass bei der Konturierung der Prostata eine signifikante Variation besteht, was die Notwendigkeit einer angemessenen Qualitätssicherung unterstreicht (25, 26). Zunehmend wird die Bildfusion von MRT-Sequenzen in die Praxis umgesetzt. Die Einbeziehung von MRT-Bildern reduziert die Variation zwischen den Beobachtern bei der Zielvolumendefinition im Vergleich zu reinen Computertomographie-Bildern.
In der Mehrheit der bisherigen veröffentlichten Studien wurde das CyberKnife zur Durchführung von SBRT verwendet, in neueren Serien wurde auch von Gantry-basierten Linacs mit ähnlichem Outcome berichtet (27, 28). Die grösste technische Herausforderung bei der Anwendung von SBRT auf die Prostata ist das Management der Beweglichkeit der Prostata während der Bestrahlung. Bildleitsysteme sind der Schlüssel zu einer sicheren Verabreichung von SBRT (Realtime Motion Tracking Systeme).
Kosteneffizienz Analysen
Insgesamt deuten die obigen Ergebnisse darauf hin, dass die SBRT eine gleichermassen wirksame und sichere Behandlungsoption im Vergleich zu alternativen Strahlentherapie-Modalitäten für Patienten mit LR und IR Prostatakarzinom sind. Neben den praktischen Vorteilen der SBRT mit grösserer Patientenzufriedenheit und verbessertem Therapiezugang zeigen erste Analysen auch eine höhere Kosteneffizienz. Mit der Einschränkung, dass sich die lokalen Ergebnisse nicht ohne weiteres auf andere Länder übertragen lassen, quantifizieren eine Reihe von Studien aus verschiedenen Ländern den Kostenvorteil von SBRT (29).
Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG
PD Dr. med. Mohamed Shelan
Universitätsklinik für Radio-Onkologie
Inselspital
Universität Bern
Freiburgstrasse
3010 Bern
Mohamed.Shelan@insel.ch
Prof. Dr. med. Daniel M. Aebersold
Inselspital
Universitätsspital Bern
Universitätsklinik für Radio-Onkologie
Freiburgstrasse
3010 Bern
Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.
Mehrere prospektive Studien mit mittelfristigem Follow-up unterstützen die Verwendung von SBRT bei lokalisiertem Prostatakrebs mit niedrigem und mittlerem Risiko, wobei über hohe Raten der biochemischen Kontrolle und niedrige Raten der späten Toxizität berichtet wird.
Die SBRT weist praktische und wirtschaftliche Vorteile gegenüber alternativen Modalitäten auf mit dem Potenzial für einen verbesserten Zugang zur Strahlentherapie und für relevante Kostensenkungen.
Die Durchführung von SBRT verlangt höchste technische Standards im Bereich stereotaktischer Bestrahlung.
Messages à retenir
Plusieurs études prospectives avec un suivi à moyen terme soutiennent l’ utilisation de la SBRT dans les cas de cancer de la prostate localisé à faible et moyen risque, avec des taux élevés de contrôle biochimique et de faibles taux de toxicité tardive signalés.
La SBRT présente des avantages pratiques et économiques par rapport aux autres modalités, avec la possibilité d’ améliorer l’ accès à la radio-thérapie et de réduire les coûts correspondants.
La performance de la SBRT exige les normes techniques les plus
élevées dans le domaine de l’ irradiation stéréotaxique.
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Entscheidungen in Gesundheitsbelangen werden in der heutigen Zeit weniger paternalistisch und vielmehr selbstbestimmt und autonom durch die Betroffenen selbst getroffen. Die Entscheidungen reduzieren sich nicht auf Therapien und Massnahmen zum Erhalt des Lebens, sondern umfassen auch die Wünsche über die Begleitung am Lebensende. Gesundheitsfachpersonen werden somit auch mit den Sterbewünschen von Betroffenen konfrontiert. In diesem Zusammenhang rückt die Möglichkeit durch freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) das Leben vorzeitig zu beenden zunehmend in den Fokus der Sterbebegleitung.
Les décisions en matière de santé sont aujourd’hui moins paternalistes et plus autodéterminées et autonomes, étant prises par les personnes concernées elles-mêmes. Les décisions ne se limitent pas aux thérapies et aux mesures visant à préserver la vie, mais incluent également les souhaits concernant le soutien en fin de vie. Les professionnels de la santé sont donc également confrontés aux souhaits de décès des personnes concernées. Dans ce contexte, la possibilité de mettre prématurément fin à la vie par le renoncement volontaire aux aliments et aux liquides (RVAL) devient de plus en plus le point central des soins en phase terminale.
Hintergrund
Neben der Sterbehilfe, die abhängig von gesetzlichen Bestimmungen eines Landes erlaubt oder verboten ist, ist in jüngster Zeit eine weitere Möglichkeit, das Leben vorzeitig zu beenden, in den Mittelpunkt der Sterbebegleitung gerückt – es geht um den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF). Der FVNF ist eine aktive Handlung einer urteilsfähigen Person, die bewusst das Essen und Trinken einstellt, in der Absicht das Leben vorzeitig zu beenden. Gesundheitsfachpersonen sind daher nicht damit beauftragt, der Person ein tödliches Medikament zur Verfügung zu stellen, sondern die Person vom Beginn des FVNF bis zu ihrem Tod zu begleiten.
Die Schweizerinnen und Schweizer reden offen über das Lebensende, den Umgang mit Sterbewünschen und mit zunehmendem Interesse auch über den FVNF, was sich in öffentlichen Diskussionen, Zeitungsberichten und Fernsehbeiträgen zeigt. Dies bedeutet auch, dass die Wahrscheinlichkeit als Gesundheitsfachperson mit dem Sterbewunsch durch FVNF konfrontiert zu werden, steigt. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften reagierte darauf und nahm 2018 den FVNF als weitere Option am Lebensende in die Richtlinie «Umgang mit Sterben und Tod» auf. Diese Richtlinie stellt Gesundheitsfachpersonen eine Orientierungshilfe dar, um mit den Herausforderungen bei der Sterbebegleitung umzugehen. In Bezug auf FVNF werden weniger Anweisungen beschrieben, als vielmehr die kontroverse Diskussion um die Option beschrieben.
Aus nationalen und internationalen Studien geht hervor, dass bereits ein bis zwei Drittel der teilnehmenden Gesundheitsfachpersonen mindestens eine Person während des FVNF begleitet haben. Die geschätzte Häufigkeit der Todesfälle, welche auf den FVNF zurückzuführen sind, liegt in Europa zwischen 0.4%-2.1%, und es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Nach heutigem Kenntnisstand wird der FVNF typischerweise zu Hause (52%) oder in Pflegeheimen (42%) umgesetzt, womit in der Schweiz die medizinische Versorgung in der Regel durch Hausärztinnen und Hausärzten übernommen wird.
Die Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte
Der FVNF ist die Entscheidung einer urteilsfähigen Person, welche in der Lage ist zu essen und zu trinken, freiwillig und bewusst darauf zu verzichten, in der Absicht ihr Leben vorzeitig zu beenden. Somit ist der FVNF klar zu unterscheiden vom Abbruch künstlicher Ernährung, von äusseren Einflüssen, die die Nahrungsaufnahme beeinträchtigen (z. B. Schmerzen, Unterernährung), oder psychischen Beeinträchtigungen (z. B. Demenz, Depressionen). Meist entscheiden sich Frauen (62%) und hochaltrige Personen für diesen Weg. Da viele Menschen eine innige Beziehung zu ihrer Hausärztin oder ihren Hausarzt pflegen, sind diese oft in den Entscheidungsprozess eingebunden und sind bereit, die Begleitung zu übernehmen. Dies ist besonders wichtig, da die Betroffenen im Verlauf des FVNF aufgrund zunehmender körperlicher Schwäche auf die Unterstützung Dritter angewiesen sind, bis hin zur Pflegeabhängigkeit.
Während bislang noch keine schweizerische Leitlinie für den Umgang mit Personen während des FVNF existiert, können sich Hausärztinnen und Hausärzte derzeit an der niederländischen Leitlinie der KNMG Royal Dutch Medical Association und V&VN Dutch Nurses’ Association «Caring for people who consciously choose not to eat and drink so as to hasten the end of life» orientieren, um die notwendigen Schritte in der Vorbereitung und während der Begleitung (z. B. Auftreten eines Delirs) festzulegen. Insbesondere ist es wichtig, vorab die Urteilsfähigkeit der sterbewilligen Person zu bestimmen. Hausärztinnen und Hausärzte übernehmen demnach eine entscheidende Rolle in der Begleitung einer sterbewilligen Person während des FVNF. Bislang gibt es keine empirischen Daten über die persönlichen Einstellungen und professionellen Haltungen von Schweizer Hausärztinnen und Hausärzten unbekannt und Informationen über den FVNF in der Schweiz.
Ziele
Die Ziele dieser Studie waren es, die Häufigkeit des FVNF in der Schweiz zu berechnen und die Haltungen und Einstellungen über den FVNF von Hausärztinnen und Hausärzten zu erfassen.
Methodologie
Wir führten zwischen August 2017 und Juli 2018 eine dreisprachige, nationale Querschnittsstudie durch, in der 1 411 praktizierende Hausärztinnen und Hausärzte zu einer Online-Befragung (Questback) eingeladen wurden. Die Einladung zur Befragung wurde über den Berufsverband mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz an ihre Mitglieder versandt. Aufgrund der schlechten Rücklaufquote von 2.8% – fünf Monate nach Beginn der Studie – wurde die Rekrutierungsstrategie geändert und den Teilnehmenden wurde daraufhin eine Papierbefragung zugestellt (EVASYS). Ein zuvor entwickelter und validierter standardisierter Fragebogen wurde verwendet, um das Vorkommen des FVNF in der Schweiz und die Einstellungen und Haltungen über den FVNF zu erfassen. Um das Vorkommen zu berechnen, wurde alle Teilnehmenden, die bereits eine Person beim FVNF begleitet haben, befragt, wie viele Personen sie im vergangenen Jahr begleitet haben. Dieser Wert wurde anhand aller Todesfälle im Jahr 2017 (66 971 Todesfälle) und bezogen auf die Todesfälle in der Langzeitpflege (40%) und zu Hause (20%) berechnet (40 183 Todesfälle). Die Daten wurden deskriptiv analysiert, anschliessend wurde eine logistische Regression durchgeführt.
Ergebnisse
Beschreibung der Teilnehmenden
Von allen 1 411 eingeschlossenen Teilnehmenden, waren 1 013 für die Studienteilnahme geeignet. Ausgeschlossen wurden Teilnehmende, die kürzlich verstorben sind, bereits im Ruhestand waren oder sich ausschliesslich der Betreuung von Kindern und Jugendlichen widmeten. Insgesamt haben 751 Teilnehmende den Fragebogen beantwortet was zu einer Rücklaufquote von 74% führte (Tab. 1).
Die überwiegend männlichen Teilnehmenden (71.7%) sind im Mittel 58 Jahre alt und üben ihre berufliche Tätigkeit durchschnittlich seit 29 Jahren aus.
Relevanz und Vorkommen des FVNF
Die Thematik ist 82% der Teilnehmenden bekannt und die Hälfte fühlt sich mit der Thematik vertraut. Bezogen auf den beruflichen Alltag, empfinden die meisten Teilnehmenden (64%), dass der FVNF eine geringe oder keine relevante Thematik darstellt und auch in Zukunft nicht oder nur wenig an Bedeutung gewinnen wird (58%).
Von allen Teilnehmenden haben insgesamt 320 (43%) bereits eine Person beim FVNF begleitet. Wir haben diese Subgruppe gebeten, weitere Informationen über die Anzahl begleiteter FVNF-Fälle zu geben, worauf 302 bereitwillig geantwortet haben. Es geht daraus hervor, dass im Jahr 2017 insgesamt 458 Personen durch die Teilnehmenden begleitet wurden. Das führt zu einem Vorkommen von 0.7% aller Todesfälle bezogen auf die Schweiz, bzw. 1.1% aller Todesfälle zu Hause oder im Pflegeheim.
Klassifizierung des FVNF aus Sicht der Hausärztinnen und Hausärzte
Der FVNF wird von mehr als der Hälfte als natürlicher Tod mit pflegerischer und medizinischer Begleitung klassifiziert, mit Suizid oder ärztlich assistiertem Suizid wird es nur von 5% der Teilnehmenden gleichgesetzt (Abb. 1).
Hausärztliche Einstellungen über den FVNF in der Schweiz
Im Allgemeinen gaben knapp drei Viertel der Teilnehmenden an, dass der FVNF mit ihrer persönlichen Weltanschauung und Religion vereinbar ist. Die Vereinbarkeit des FVNF mit der eigenen Weltanschauung erhöht sich bei Teilnehmenden mit FVNF-Erfahrung und wenn sie den FVNF als Suizid klassifizieren. Auch übertragen auf die professionelle Haltung geben über die Hälfte der Teilnehmenden an, dass der FVNF mit ihrer beruflichen Ethik im Einklang ist. 18% positionierten sich neutral während knapp ein Viertel der Teilnehmenden empfinden, dass der FVNF ihrer beruflichen Ethik widerspricht. Fast alle Hausärztinnen und Hausärzte können die Entscheidung der sterbewilligen Person in der Regel akzeptieren, also die Entscheidung annehmen und respektieren im Sinne von Rücksichtnahme, also jeder Person das Recht zugestehen, so zu sein wie sie es möchte und worüber einem selbst kein Urteil zusteht. Die meisten Hausärztinnen und Hausärzte sind dazu bereit, eine Person beim FVNF zu begleiten, und etwas mehr als die Hälfte würde Personen mit Sterbewunsch die Option des FVNF als eine unter anderen Möglichkeiten empfehlen. Drei Viertel der Teilnehmenden empfinden, dass durch den FVNF ein würdevolles Sterben ermöglicht wird. Die Begleitung einer Person beim FVNF wird von der Hälfte der Hausärztinnen und Hausärzte als belastend empfunden und knapp ein Viertel äussern moralische Bedenken.
Diskussion
Der FVNF ist unter Schweizer Hausärztinnen und Hausärzten kein Alltagsthema, jedoch hat knapp die Hälfte bereits eine Person beim FVNF begleitet, womit es als eine relevante Thematik in der Sterbebegleitung bezeichnet werden kann. Das Vorkommen des FVNF in der Schweiz anhand der Teilnehmenden dieser Studie ist vergleichbar mit den Ergebnissen der ein Jahr zuvor befragten Leitungen von Schweizer Langzeitpflegeeinrichtungen (0.7%) und zwei Studien aus den Niederlanden (0.4-2.1%).
Die meisten Teilnehmenden klassifizieren den FVNF – vergleichbar zu Studien aus den USA – als natürlichen Tod, was vermutlich auf die Erfahrungen der Teilnehmenden zurückzuführen ist, die den Sterbeprozess als würdevoll beschreiben. Hausärztinnen und Hausärzte interpretieren im Allgemeinen ein gutes Sterben auch damit, dass das eigene Handeln mit den Wünschen der sterbewilligen Person übereinstimmt, was beim FVNF gegeben ist, da dem FVNF eine ausführliche Beratung vorausgeht, gefolgt von einer engen Begleitung. Knapp ein Drittel klassifiziert den FVNF als Sterbenlassen, welches auch die Haltung in Deutschland präsentiert, und nur ein geringer Anteil als Suizid, wie es in den Niederlanden definiert wird. Diese sehr unterschiedlichen Klassifizierungen sind vielfach in internationaler Literatur diskutiert worden und stets eng mit den juristischen Voraussetzungen des jeweiligen Landes verknüpft. Auch die Teilnehmenden dieser Studie, welche den FVNF als Suizid klassifizierten, sind dem FVNF sehr zugewandt und wären bereit, eine Person auf diesem Weg zu begleiten, wie aus der Regressionsanalyse hervorgeht .
Die Einstellungen der Hausärztinnen und Hausärzten sind bezüglich des FVNF sehr offen und zugewandt. Fast alle würden eine sterbewillige Person beim FVNF begleiten, selbst wenn moralische Bedenken während der Begleitung aufkommen. Bei Teilnehmenden, die bereits eine Person beim FVNF begleitet haben, wird die zugewandte Einstellung zum FVNF nochmals verstärkt.
Prof. Dr. Wilfried Schnepp†
Dr. med. Daniel Büche, MSc
Dr. med. Christian Häuptle
Kantonsspital St.Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St.Gallen
†Wilfried Schnepp ist am 14.02.2020 verstorben
Einhaltung ethischer Anforderungen: Diese Studie wurde von der zuständigen Ethikkommission geprüft und genehmigt (EKOS 17/083). Die Teilnahme an der Studie war freiwillig und die irreversible Anonymität der Teilnehmenden war jederzeit gewährleistet.
Finanzierung: Die Studie wurde durch das Förderprogramm «Forschung in Palliative Care» durch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, die Gottfried und Julia Bangerter-Rhyner-Stiftung und die Stanley Thomas Johnson Stiftung unterstützt. Die Förderer haben keinen Einfluss auf das Studiendesign, Datenerhebung und -analyse sowie der Publikation der Ergebnisse.
Originalstudie und Literatur: Die Literatur ist der Originalstudie zu entnehmen, welche im Journal of International Medical Research veröffentlicht wurde. Stängle, S., Schnepp, W., Büche, D., Häuptle, C., & Fringer, A. (2020). Family physicians’ perspective on voluntary stopping of eating and drinking: a cross-sectional study. Journal of International Medical Research, 48(8), 1–15. https://doi.org/10.1177/0300060520936069
Sabrina Stängle, MSc, RN
ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Department Gesundheit, Institut für Pflege
Katharina-Sulzer-Platz 9
8400 Winterthur
Universität Witten/Herdecke
Fakultät für Gesundheit, Department für Pflegewissenschaft
Stockumerstr. 12
58453 Witten, Deutschland
sabrina.staengle@zhaw.ch
Prof. Dr. rer. medicAndré Fringer, MScN, RN
ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Department Gesundheit, Institut für Pflege
Katharina-Sulzer-Platz 9
8400 Winterthur
Universität Witten/Herdecke
Fakultät für Gesundheit, Department für Pflegewissenschaft
Stockumerstr. 12
58453 Witten, Deutschland
Die Autorin und Autoren erklären, dass keine potentiellen Interessenskonflikte in Bezug auf die Forschung, Autorenschaft und/oder Veröffentlichung des Artikels bestehen.
Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) stellt für Schweizer Hausärztinnen und Hausärzte zwar kein Alltagsthema, jedoch eine relevante Thematik in der Sterbebegleitung dar.
Der FVNF ist auch in der Schweiz kein Einzelfall, welcher in jeder der sieben Grossregionen vorkommt.
Meist wird der FVNF als natürlicher Tod oder Sterbenlassen klassifiziert, kaum als suizidaler Akt.
Die meisten Hausärztinnen und Hausärzte würden sich dazu bereit erklären, eine sterbewillige Person beim FVNF zu begleiten.
Messages à retenir
Le renoncement volontaire aux aliments et aux liquides (RVAL) n’est pas un sujet quotidien pour les médecins généralistes suisses, mais c’est une question pertinente dans les soins en phase terminale.
Le RVAL n’est pas non plus un cas isolé en Suisse, qui se produit dans chacune des sept grandes régions.
Dans la plupart des cas, le RVAL est classé comme une mort naturelle ou comme le fait de laisser mourir, à peine comme un acte suicidaire.
La plupart des médecins généralistes accepteraient d’accompagner une personne prête à mourir par le RVAL