Neue LDL-C-Behandlungsziele

Obwohl es erst drei Jahre her ist, dass die vorangegangenen ESC/EAS-Leitlinien zur Behandlung von Dyslipidämien veröffentlicht wurden, hat sich eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse angesammelt, die eine Neuauflage dieser Leitlinien rechtfertigen. Dazu gehören neue Daten aus Beobachtungsstudien, randomisierten kontrollierten Studien und Mendelschen Randomisierungsstudien. Sie zeigen alle eindeutig einen kausalen Effekt von LDL-C (Low Density Lipoprotein Cholesterin) bei der Entwicklung von atherosklerotischer kardiovaskulärer Krankheit (ASCVD).

Bien que trois ans seulement se soient écoulés depuis la publication des précédentes lignes directrices ESC/EAS sur le traitement de la dyslipidémie, un certain nombre de nouvelles connaissances se sont accumulées et justifient une nouvelle publication de ces lignes directrices. Il s’agit notamment de nouvelles données provenant d’études d’observation, d’essais contrôlés randomisés et d’études de randomisation mendéliennes. Elles montrent toutes clairement un effet causal du LDL-C (cholestérol des lipoprotéines de basse densité) dans le développement des maladies cardiovasculaires athéroscléreuses (ASCVD).

Konsistente Belege aus mehreren grossen randomisierten kontrollierten Studien bestätigen, dass tiefere LDL-C Werte mit niedrigerem Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen einhergehen. Die Intensivierung der lipidsenkenden Therapie durch Zugabe von Ezetimibe oder eines PCSK9-Hemmers hat zu tieferen LDL-C-Konzentrationen als den bisher empfohlenen geführt, was zu niedrigeren Raten von Myokardinfarkt und Schlaganfall als eine weniger intensive Therapie führte. Dementsprechend wurden die Behandlungsziele in den ESC/EAS Leitlinien gesenkt (1).

Empfehlung für die Schätzung des kardiovaskulären Risikos

Die Risikoschätzung umfasst 3 Stufen:

  • Klinische Evaluation: Es wird empfohlen, dass Personen mit hohem und sehr hohem Risiko auf der Basis dokumentierter kardiovaskulärer Krankheit, Diabetes mellitus, moderater bis schwerer Nierenerkrankung, sehr hohen Werten einzelner Risikofaktoren, FH oder einem hohen SCORE-Risiko identifiziert werden. Diese Patienten gelten als prioritär für die Beratung und Behandlung aller Risikofaktoren. Diese Empfehlung erhielt eine Klasse I/C-Empfehlung.
  • 10-Jahresrisiko nach SCORE-Berechnung: Die Schätzung des Gesamtrisikos mit Hilfe eines Risikoschätzungssystems wie SCORE wird für asymptomatische Erwachsene ab 40 Jahren ohne Anzeichen von kardidovaskulärer Krankheit, Diabetes mellitus, chronischer Nierenerkrankung, familiärer Hypercholesterinämie oder LDL-C > 4.9 mmol/l empfohlen. Dies ist ebenfalls eine I/C-Empfehlung.
  • Bewertung von Risikomodifikatoren: Bei ausgewählten Personen mit niedrigem bis moderatem Risiko können andere Faktoren, einschliesslich erhöhtes Apo B, Lipoprotein (a), (Lp(a)) oder C-reaktives Protein (CRP), Familienanamnese für verfrühte ASCVD oder die Präsenz von atherosklerotischen Plaques im Imaging die Risikostratifikation verbessern und die Behandlungsentscheidung beeinflussen. Ebenfalls eine I/C-Empfehlung.

Risikokategorien: klinische Beurteilung

Die Risikokategorien umfassen insgesamt 4 Kategorien, von niedrigem bis sehr hohem kardiovaskulärem Risiko.

Sehr hohes kardiovaskuläres Risiko

Dokumentierte ASCVD entweder klinisch oder eindeutig durch Bildgebung. Dokumentierte ASCVD schliesst früheres ACS (MI oder instabile Angina), stabile Angina, koronare Revaskularisierung (PCI, CABG und andere arterielle Revaskularisierungsprozeduren), Schlaganfall und TIA und periphere arterielle Verschlusskrankheit mit ein. Durch Bildgebung eindeutig dokumentierte ASCVD schliesst diese Befunde mit ein, von denen man weiss, dass sie für klinische Ereignisse prädiktiv sind, wie besipielsweise signifikante Plaques in der Koronarangiographie oder im CT-Scan (Mehrgefässherzkrankheit mit 2 wichtigen epikardialen Arterien, die > 50% Stenosen aufweisen) oder im Karotisultraschall.
Diabetes mellitus mit Zielorganschaden, ≥ 3 Hauptrisikofaktoren oder frühes Auftreten von T1DM mit langer Dauer (> 20 Jahre).
Schwere chronische Nierenkrankheit (eGFR < 30 ml/min/1.73 m2).
Familiäre Hypercholesterinämie mit ASCVD oder mit einem andern Hauptrisikofaktor. Ein kalkulierter SCORE von ≥ 10% für das 10-Jahresrisiko für ein tödliches kardiovaskuläres Ereignis.

Hohes kardiovaskuläres Risiko

Personen mit stark erhöhten einzelnen Risikofaktoren, insbesondere Gesamtcholesterin > 8mmol/l, LDL-C > 4.9 mmol/l oder Blutdruck > 180/110 mmHg. Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie ohne weitere Risikofaktoren. Patienten mit Diabetes mellitus ohne Zielorganschaden, mit Diabetesdauer ≥10 Jahre oder einem weiteren, zusätzlichen Risikofaktor. Berechneter Risikoscore ≥5% und <10% für das 10-Jahresrisiko für ein tödliches kardiovaskuläres Ereignis.

Moderates Risiko

Junge Patienten (T1DM < 35 Jahre, T2DM < 50 Jahre mit Diabetesdauer unter 10 Jahren) ohne weitere Risikofaktoren.
Berechneter Risikoscore ≥ 1% und < 5% für das 10-Jahresrisiko für ein tödliches kardiovaskuläres Ereignis.

Niedriges Risiko

Keines der oben genannten Merkmale.
Berechneter Risikoscore < 1% für das 10-Jahresrisiko für ein tödliches kardiovaskuläres Ereignis.
Der Referent wies auf die kardiovaskulären Risiko-Score-Charts für europäische Populationen mit hohem und solche mit niedrigem kardiovaskulärem Risiko hin. Die Schweiz gehört zu den Niedrigrisiko-Populationen.
Es ist festzuhalten, dass die Charts bei der Risikoschätzung helfen können, dass sie aber im Lichte der Erfahrungen des Klinikers und der Patienten-Prätest-Wahrscheinlichkeit für kardiovaskuläre Krankheit interpretiert werden sollen. Bei Frauen sind die Risikoabschätzungen tiefer als bei Männern, das Risiko ist aber nur verschoben. Das Risiko einer 60-jährigen Frau ist ähnlich wie dasjenige eines 50-jährigen Mannes.

Risikoalter

Es muss ferner darauf verwiesen werden, dass das Risiko bei jungen Personen unerwartet hoch sein kann, auch wenn die absoluten Werte niedrig sind. Die Chart mit dem relativen Risiko und das geschätzte Risikoalter können in diesen Fällen hilfreich sein. Als Beispiel sei ein 40-jähriger männlicher Raucher mit verschiedenen weiteren Risikofaktoren erwähnt, dessen Gesamtrisiko gleich hoch ist (3-4%) wie dasjenige eines 65-jährigen Mannes mit idealen Risikowerten. Das Risikoalter dieses 40-Jährigen ist deshalb 65 Jahre.

Behandlungszielwerte für LDL-Cholesterin

In der Sekundärprävention empfehlen die neuen ESC/EAS-Guidelines eine ≥ 50%ige LDL-C-Reduktion gegenüber dem Ausgangswert und ein absolutes LDL-C-Behandlungsziel von < 1,4 mmol/L (< 55 mg/dL) für Patienten mit sehr hohem Risiko (I/A).
In der Primärprävention wird bei Patienten mit sehr hohem Risiko, aber ohne FH eine LDL-C-Senkung um ≥ 50% und ein LDL-C-Zielwert von < 1.4 mmol/l empfohlen (I/C). In der Primärprävention bei Patienten mit FH bei sehr hohem Risiko wird eine ≥ 50% LDL-C-Senkung und ein Zielwert <1.4mmol/l empfohlen.
Für Patienten mit ASCVD, die ein zweites vaskuläres Ereignis innerhalb von 2 Jahren erleiden, kann ein LDL-C Zielwert von 1.0mmol/l in Betracht gezogen werden (IIb/B).
Für Patienten mit hohem Risiko wird eine LDL-C-Senkung um ≥ 50% und ein LDL-C-Zielwert von 1.8 mmol/l empfohlen (I/A).
Für Patienten mit moderatem Risiko sollte ein LDL-C-Zielwert von < 2.6 mmol/l in Betracht gezogen werden (IIa/A).
Bei Personen mit niedrigem Risiko kann ein LDL-C-Zielwert < 3.0 mmol/l in Betracht gezogen werden (IIb//A).
Ein hochintensives Statin (plus Ezetimibe) sollte bis zur höchsten verträglichen Dosis verschrieben werden, um die festgelegten Ziele zu erreichen. Die Zugabe eines PCSK9-Hemmers wird bei Patienten mit sehr hohem Risiko empfohlen, die die Behandlungsziele bei einer maximal verträglichen Dosis von Statin und Ezetimbe nicht erreichen (I/A).

Wirksamkeit von LDL-C senkenden Behandlungen

In einer Meta-Analyse von 27 RCTs (Statin- vs. Kontroll-Schema oder intensiveres vs. ein weniger intensives Statin-Schema), reduzierte jede 1mmol/l-LDL-C Reduktion/Statin vs. mehr Statin schwere vaskuläre Ereignisse (MI, CAD, Tod, Schlaganfall oder koronare Revaskularisation) um ca. 22%, koronare Ereignisse um 23%, CAD-Tod um 20%, Schlaganfall um 17% und Gesamtmortalität um 10% über 5 Jahre. Die absolute Risikominderung erfolgte im Verhältnis zum absoluten Risiko. Der relative Nutzen war im ersten Jahr im Vergleich zu den Folgejahren halb so gross (2).
Die Zugabe von Ezetimibe ergab in der IMPROVE-IT-Studie (3) eine zusätzliche Senkung um 22%, was mit einer absoluten Risikosenkung von 2% (p = 0.016) einherging. Die Zugabe des PCSK9-Inhibitors Evolocumab ergab in der Fourier Studie eine zusätzliche LDL-C-Senkung um mehr als 65% und eine relative Reduktion des primären Endpunkts um 15% (4). Ähnliche Daten wurden in der ODYSSEY OUTCOMES Studie (5) mit Alirocumab erreicht.
Die zu erwartenden LDL-C-Senkungen mit verschiedenen Lipidsenkern sind in der Tabelle 1 wiedergegeben.

Statinintoleranz

Ein überarbeiteter Abschnitt der ESC/EAS-Leitlinien 2019 befasst sich mit der «Intoleranz» von Statin. Über sogenannte «Statin-assoziierte Muskelsymptome» wurden in Beobachtungsstudien häufig berichtet, vielleicht aufgrund eines Nocebo-Effekts. Placebo-kontrollierte randomisierte Studien zeigen jedoch deutlich, dass echte Statinintoleranz selten ist. In der Praxis stellt man fest, dass die Änderung des Statins oder die Reduzierung der Dosis und das Hinzufügen von Ezetimbe Ansätze sind, die es den meisten Patienten ermöglichen, Statine in irgendeiner Form zu erhalten.

Diagnostische Aspekte

Empfehlungen für Lipidanalysen

Gesamtcholesterin wird für die Abschätzung des kardiovaskulären Gesamtrisikos mit Hilfe des SCORE-Systems benötigt (I/C).
HDL-Cholesterin wird empfohlen zur Risikoverfeinerung mit dem online SCORE-System (I/C).
Die Bestimmung von LDL-Cholesterin ist als primäre Lipidanalyse für Screening, Diagnose und Management empfohlen (I/C).
Die Bestimmung der Triglyceride ist als Teil der Routine-Lipid-Analyse empfohlen (I/C).
Non-HDL-C ist für die Risikoabschätzung empfohlen, insbesondere bei Personen mit hohen Triglyceriden, Diabetes, Übergewicht oder sehr tiefen LDL-C Werten (I/C).
Die Bestimmung von Apo B ist für die Risikoabschätzung empfohlen, insbesondere bei Personen mit hohen Triglyceriden, Diabetes, Übergewicht oder dem metabolischen Syndrom oder sehr tiefen LDL-C Werten. Diese kann, falls verfügbar, alternativ zu LDL-C als primäre Bestimmung, als primäre Messung für Screening, Diagnose und Management verwendet werden und kann gegenüber non HDL-C bevorzugt werden bei Personen mit hohen Triglyceriden, Diabetes, Übergewicht oder sehr tiefen LDL-C Werten (I/C).
Die Bestimmung von Lp(a) sollte mindestens einmal im Leben einer jeden Person in Betracht gezogen werden, um die Personen mit vererbten, sehr hohen Werten > 180 mg/dl (> 430 nmol/l) zu finden, die ein äquivalentes lebenslanges Risiko aufweisen wie Patienten mit heterozygoter familiärer Hypercholesterinämie (IIa/C).
Die Notwendigkeit, das gesamte kardiovaskuläre Risiko, einschliesslich aller kardiovaskulärer Risikofaktoren, nicht nur LDL-C, zu schätzen, wird auch in den ESC/EAS-Leitlinien 2019 bekräftigt.

Nicht invasive Bildgebung

Weitere empfohlene Methoden zur Risikobewertung und möglichen Neueinstufung sind die nicht-invasive kardiovaskuläre Bildgebung sowie die arterielle Ultraschalluntersuchung zur Beurteilung der Plaquebelastung (IIa/B) und die Computertomographie, die zur Beurteilung des Kalziumspiegels der Koronararterien als Risikomodifikator bei Personen mit geringem oder mittlerem Risiko in Betracht gezogen werden kann (IIa/B).

Weitere Lipide als Risikofaktoren

Triglyceride

Bezüglich weiterer Lipide sind die Auswirkungen der mehrfach ungesättigten Omega-3-Fettsäuren zur Senkung erhöhter Triglyceridwerte von Interesse, wobei festzuhalten ist, dass die Beweise nicht eindeutig sind. Basierend auf den Ergebnissen der jüngsten REDUCE-IT-Studie sollte Ikosapent Ethyl (2 x 2 g/day) in Kombination mit einem Statin bei Hochrisikopatienten (mit Triglyceridwerten von 1,5 bis 5,6 mmol/L trotz Statintherapie) in Betracht gezogen werden.

Lipoprotein (a)

Die neuen ESC/EAS-Leitlinien sehen vor, dass die Messung von Lipoprotein (a) nach Möglichkeit mindestens einmal im Leben einer Person in Betracht gezogen werden sollte, um Personen mit sehr hohen Vererbungswerten (> 180 mg/dL[> 430 nmol/L]) und einem sehr hohen ASCVD-Risiko zu identifizieren.
Die Lipoprotein (a)-Messung sollte insbesondere bei ausgewählten Patienten mit einer familiären Vorgeschichte von vorzeitiger ASCVD und für die Reklassifizierung bei Personen, die an der Grenze zwischen mittlerem und hohem Risiko stehen, in Betracht gezogen werden (IIa/C).

Weitere Konzepte

Der Einsatz von Statin bei älteren Patienten, die Inflammation und die Kosteneffizienz lipidmodifizierender Massnahmen sind nur einige der weiteren überarbeiteten oder neuen Konzepte, die in den ESC/EAS-Leitlinien 2019 behandelt werden.
«Die neuen Richtlinien konzentrieren sich nicht nur auf pharmakologische Ansätze zur Modifikation von Lipiden. Es wird ein lebenslanges Konzept für das ASCVD-Risiko empfohlen. Zusätzlich zu den Patienten mit hohem und sehr hohem ASCVD-Risiko sollte jeder ermutigt werden, einen gesunden Lebensstil anzunehmen oder aufrechtzuerhalten, um sein Plasma-Lipidprofil zu verbessern», so der Kommentar von Prof. Dr. med. Christian Müller, Basel, anlässlich der Präsentation der Lipid-Guidelines am ESC-Kongress 2019.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Der Autor hat keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel.

  • Die neuen Richtlinien der EAS/ESC zur Dyslipidämie haben die Risikostufen um die Stufe «sehr hohes Risiko», ergänzt.
  • Entsprechend wurden die Zielwerte für LDL um eine Stufe gesenkt. Diese Anpassung basiert auf den Erkenntnissen aus mehreren grossen Studien und genetischen Analysen. Dabei ist bemerkenswert, dass auch für niedriges Risiko ein LDL-C-Zielwert von 3.0mmol/l empfohlen wird. Dies dürfte in der Praxis kaum realisiert werden.
  • Der neue Zielwert für sehr hohes Risiko, 1.4mmol/l, wird in der Praxis schwierig zu erreichen sein und bedingt vermutlich den Einsatz eines PCSK9-Inhibitors zusätzlich zur Statintherapie. Im Lichte der derzeitigen Limitatio des BAG wird dies eine Zuweisung zu einem Spezialisten voraussetzen.

Messages à retenir

  • Les nouvelles lignes directrices EAS/ESC sur la dyslipidémie ont ajouté un niveau de risque «très élevé» aux niveaux de risque.
  • En conséquence, les valeurs cibles pour les LDL ont été abaissées d’un niveau. Cet ajustement est basé sur les résultats de plusieurs grandes études et d‘ analyses génétiques.
  • Il est remarquable qu‘ une valeur cible de C-LDL de 3,0 mmol/l soit également recommandée pour un risque faible. Il est peu probable que cela se réalise dans la pratique.
  • La nouvelle valeur cible pour le risque très élevé, 1,4 mmol/l, sera difficile à atteindre dans la pratique et nécessitera probablement l‘ utilisation d‘ un inhibiteur de la PCSK9 en plus du traitement par statine. Compte tenu de la limite actuelle de l‘ OFSP, il faudra pour cela que le patient soit dirigé vers un spécialiste.

1. Mach F et al. 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias: lipid modification to reduce cardiovascular risk. Eur Heart J. 2019 Aug 31. pii: ehz455. doi: 10.1093/eurheartj/ehz455. [Epub ahead of print]
2. Fulcher J et al. Cholesterol Treatment Trialists’ (CTT) Collaboration Efficacy and safety of LDL-lowering therapy among men and women: meta-analysis of individual data from 174,000 participants in 27 randomised trials. Lancet. 2015 Apr 11;385(9976):1397-1405
3. Cannon CP et al. Ezetimibe Added to Statin Therapy after Acute Coronary Syndromes. N Engl J Med 2015; 372:2387-2397
4. Sabatine MS et al. Evolocumab and Clinical Outcomes in Patients with Cardiovascular Disease. N Engl J Med. 2017;376:1713-1722
5. Schwarz GG et al. Alirocumab and Cardiovascular Outcomes after Acute Coronary Syndrome. N Engl J Med. 2018;379:2097-2107

Behandlung der chronischen Herzinsuffizienz

Die durch linksventrikuläre Dysfunktion bedingte chronische Herzinsuffizienz ist in nahezu einem Drittel der Fälle mit einer sekundären (funktionellen) Mitralinsuffizienz verbunden und betroffene Patienten weisen eine schlechtere Prognose auf. Neben der leitliniengerechten medikamentösen Therapie und der kardialen Resynchronisation haben sich in den letzten Jahren minimal-invasive Methoden wie die perkutane Edge-to-Edge Rekonstruktion etabliert. Dieser Beitrag soll Einsicht geben in den Stellenwert der perkutanen Edge-to-Edge Rekonstruktion bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz.

L’ insuffisance cardiaque chronique relative à la dysfonction du ventricule gauche est associée à une insuffisance mitrale secondaire (ou fonctionelle) dans presque un tiers des cas. La combinaison de ces deux entités péjore le pronostic. En complément du traitement médicamenteux et de la resynchronisation cardiaque, des méthodes de traitement percutané, en particulier la reconstruction mitrale edge-to-edge se sont imposées. Cette contribution a pour but de donner une vue d’ ensemble du rôle de la reconstruction mitrale edge-to-edge dans le traitement de l’ insuffisance cardiaque.

Entstehung und Bedeutung der Mitralinsuffizienz

Bei der chronischen Herzinsuffizienz (HI) kann sich sekundär infolge morphologischer Veränderungen (Remodelling) des linken Ventrikels mit konsekutiver Verlagerung der Papillarmuskeln eine Mitralinsuffizienz (MI) entwickeln. Diese kann auf einer Koaptationsstörung durch Zug an den Mitralklappensegeln (Tethering) und/oder der Dilatation und Abflachung des Mitralklappenannulus beruhen. (1) . Die MI selbst führt zu einer Volumenüberladung und erhöhten Wandspannung, welche ein Fortschreiten der linksventrikulären Dilatation und Dysfunktion zur Folge haben kann, so dass hier ein Circulus vitiosus mit weiterer Zunahme der MI entsteht. Bei bis zu 30% der Patienten mit Herzinsuffizienz liegt eine begleitende mittelschwere bis schwere MI vor (2). Letztere zeigen häufig aggravierte HI-Symptome, müssen öfter aufgrund akuter kardialer Dekompensationen hospitalisiert werden und haben eine hohe Mortalität (47% während einem medianen Follow-Up von ca. 5 Jahren) (3).
Generell unterscheidet man zwischen sekundärer MI auf dem Boden einer ischämischen Kardiopathie als Folge einer koronaren Herzkrankheit (ca. 60% der Fälle), oder einer dilatativen Kardiopathie, welche idiopathisch, postmyokarditisch oder hypertensiv bedingt sein kann (4).

Optionen für die Behandlung der sekundären Mitralinsuffizienz

Die medikamentöse Behandlung stellt die Erstlinientherapie von herzinsuffizienten Patienten mit MI dar und richtet sich vorrangig nach den allgemeinen Therapieempfehlungen der chronischen Herzinsuffizienz. (5). Der Einsatz von Betablockern, ACE-Inhibitoren und Mineralokortikoidrezeptorantagonisten ist für Patienten mit eingeschränkter linksventrikulärer Funktion und NYHA-Funktionsklasse ≥ II empfohlen. Diuretika werden zusätzlich als symptomatische Therapie eingesetzt. In einer umfassenden Metaanalyse wurde der Effekt der medikamentösen Therapie gegenüber Placebo bei Herzinsuffizienz im Sinne einer Mortalitätsreduktion untersucht. (6). Am wirksamsten zeigte sich mit einer relativen Mortalitätsreduktion von 63% eine Kombinationstherapie mit einem Angiotensin-Rezeptor-Neprilysin-Inhibitor (Sacubitril/ Valsartan), einem Betablocker und einem Mineralokortikoidrezeptorantagonisten (Abb. 1).

Die Wirksamkeit medikamentöser Therapien spezifisch bei Patienten mit funktioneller MI wurde bisher nur in wenigen kleinen randomisierten Studien untersucht. Durch den Einsatz von Betablockern (Carvedilol und Metoprolol) konnte bei knapp der Hälfe der Patienten eine Verbesserung der MI gezeigt werden (7, 8). In der 2019 veröffentlichen randomisierten PRIME-Studie konnte bei rund 40% der Patienten in der Sacubitril/Valsartan-Gruppe (vs. 25% in der Valsartan-Gruppe) eine Verbesserung der MI gezeigt werden (9).
Eine kardiale Resynchronisationstherapie ist zusätzlich indiziert bei symptomatischen Patienten mit Herzinsuffizienz (LVEF ≤ 35%, NYHA-Funktionsklasse ≥ II) mit einem QRS-Komplex ≥ 150 Millisekunden. Diese vermindert Herzinsuffizienzsymptome, Rehospitalisationrate sowie Mortalität und kann ebenfalls über Verbesserung der globalen linksventrikulären Funktion, Umkehrung der Remodellingprozesse und Verbesserung der Papillarmuskelsynchronizität zu einer teilweisen Reduktion des Schweregrades der MI beitragen (10, 11). Sollte sich jedoch nach Installation der kardialen Resynchronisationstherapie eine persistierende relevante MI zeigen, ist dies als unabhängiger prognostischer Faktor mit einer schlechteren Prognose verbunden (12).
Gemäss den Europäischen Guidelines wird im Kontext der schweren sekundären MI die chirurgische Behandlung empfohlen, wenn bei begleitender koronarer Kardiopathie eine aortokoronare Bypass-Operation vorgesehen ist und die linksventrikuläre Funktion >30% beträgt. Allerdings fehlt es hier an Evidenz und ein Effekt der chirurgischen Korrektur der sekundären MI konnte nie schlüssig gezeigt werden. In vielen Fällen sind die Patienten aufgrund des Operationsrisikos, ihrer Komorbiditäten (insbesondere bei eingeschränkter LVEF) und ihrem Alter wenig für eine Operation geeignet (13). Ebenfalls besteht eine hohe Rezidivrate (>30-50%) innerhalb von 2-5 Jahren nach chirurgischer Anuloplastie aufgrund fortschreitender Dilatation des LV (14).
Unter den aktuell zur Verfügung stehenden katheterbasierten Verfahren hat sich vor allem die sogenannte Edge-to-Edge Rekonstruktion etabliert, welche auf eine verbesserte Koaptation der Segel abzielt. Für die Edge-to-Edge Rekonstruktion der Mitralklappe stehen aktuell das Abbott MitraClip-System und das Edwards PASCAL Mitral Valve Repair System zur Verfügung. (Abb. 2) Seit der ersten Implantation des MitraClip im Jahr 2003 wurden weltweit bereits mehr als 100 000 Eingriffe durchgeführt und auch für das PASCAL System konnten in ersten Studien gute Ergebnisse gezeigt werden (15, 16). Beide Systeme sind für die Behandlung der primären und sekundären MI in Europa zugelassen.

Edge-to-Edge Rekonstruktion: aktuelle Datenlage

Im vergangenen Jahr wurden zwei randomisierte Studien im New England Journal of Medicine veröffentlicht, welche den Nutzen der Edge-to-Edge Rekonstruktion mit dem MitraClip System bei Patienten mit schwerer MI und eingeschränkter linksventrikulärer Funktion untersucht haben.
In der französischen MITRA-FR Studie wurden 304 Patienten mit HI (LVEF 15-40%) und schwerer MI (effektive Regurgitationsfläche EROA > 20 mm² oder Regurgitationsvolumen von > 30 ml/Schlag) randomisiert einer MitraClip Intervention plus medikamentöse Therapie (OMT) oder einer alleinigen OMT zugeordnet (17). Bei 59% der Patienten lag eine ischämische Genese der HI vor, in 27% war eine kardiale Resynchronisationstherapie vorhanden. Der prozedurale Erfolg (Reduktion des Schweregrades der MI auf Grad 2+ oder weniger, entsprechend den europäischen Richtlinien (1)) war 92%. Nach 2 Jahren Follow-Up konnte keine Auswirkung auf den primären Endpunkt, bestehend aus der Gesamtsterblichkeit und Re-Hospitalisationen für HI, gezeigt werden.
Die US-amerikanische COAPT Studie wurde kurze Zeit später publiziert und lieferte ein ganz anderes Bild (18). Es wurden 614 Patienten mit symptomatischer HI (LVEF 20-50%) und mittelschwerer bis schwerer MI (Grad 3+/4+ gemäss der Richtlinien der amerikanischen Gesellschaft für Echokardiographie (19)) eingeschlossen und ebenfalls zu MitraClip plus OMT oder alleiniger OMT randomisiert. Im Gegensatz zu MITRA-FR wurde die Eignung der Patienten für die Studienteilnahme durch ein echokardiographisches Core lab geprüft und die Umsetzung der OMT durch ein zentrales Komitee supervisiert. Eine ischämisch bedingte HI lag in 61% und eine installierte kardiale Resynchronisationstherapie in 36% der Fälle vor. Die erfolgreiche Reduktion des MI Schweregrades (auf Grad 2+ oder weniger) konnte in 98% der Fälle erzielt werden und hatte in 95% auch nach 2 Jahren im Follow-Up Bestand.
Die Intervention zeigte ein sehr gutes Sicherheitsprofil: bei 97% der Patienten kam es zu keinen interventionsbezogenen Komplikationen. Für die MitraClip-Gruppe konnte eine eindrückliche Reduktion des primären Endpunktes Rehospitalisationsrate für HI (47%-ige relative Risikoreduktion nach 2 Jahren sowie eine Number Needed to Treat von 3.1) sowie des sekundären kombinierten Endpunktes Rehospitalisationen und Mortalität (37%-ige relative Risikoreduktion nach 2 Jahren) festgestellt werden.
Wie können die unterschiedlichen Ergebnisse dieser auf den ersten Blick ähnlichen Studien erklärt werden?
Beide Studien weisen teils erhebliche Unterschiede in punkto Studiendesign, Ein- und Ausschlusskriterien und Beständigkeit des nach der Prozedur erreichten Resultates auf.

Folgende entscheidende Faktoren sind hier zu nennen:

1. Die Diskrepanz in der Definition des Schweregrades der MI je nach europäischen (in MITRA-FR) und amerikanischen Richtlinien (in COAPT).
In Europa wird die MI je nach Ätiologie unterschiedlich gradiert. Die sekundäre MI wird gemäss der prognostischen Bedeutung bereits ab einer nach der PISA-Methode errechneten effektiven Regurgitationsfläche (EROA) von ≥ 20mm² (Regurgitationsvolumen > 30 ml) als schwer betrachtet, während die Richtlinien der amerikanischen Gesellschaft für Echokardiographie weiterhin 40mm2 (Regurgitationsvolumen 60 ml) als Grenzwert beibehalten haben (20-23). Die amerikanischen echokardiographischen Richtlinien schlagen eine integrative semiquantitative Gradierung (von Grad 0+ bis Grad 4+) vor, welche therapeutische Massnahmen ab Grad 3+ (moderate to severe; EROA > 30mm2) vorsieht. Dieser grundlegende Unterschied führte zum Einschluss von Patienten mit deutlich schwererer MI in der COAPT-Studie.
2. Der Ausschluss von Patienten mit schwerer linksventrikulärer Dilatation (linksventrikulärer endsystolischer Diameter/LVESD > 70 mm) sowie terminaler Herzinsuffizienz (ACC/AHA Stage D) in der COAPT-Studie. Dies führte zum Einschluss von Patienten mit deutlich höheren linksventrikulären enddiastolischen Volumina in MITRA-FR (135 ± 35ml/m2) im Vergleich zu COAPT (101 ± 34ml/m2).
3. Die Supervision der implementierten OMT und eine Run-in Periode unter maximal verträglicher medikamentöser Therapie in der COAPT-Studie, wobei in der MITRA-FR-Studie die medikamentöse Behandlung während des Studienzeitraumes nicht monitorisiert wurde. Demzufolge wurde in MITRA-FR eine deutliche Abnahme der MI sowie eine Besserung des funktionellen Zustandes ebenfalls in der medikamentösen Gruppe beobachtet, welche am ehesten auf eine Intensivierung der medikamentösen Therapie während der Studienperiode zurückzuführen ist. Ein ähnlicher Effekt wurde in COAPT nicht beobachtet, was auf eine bereits ausgeschöpfte OMT bei Studieneintritt hinweist.
4. In der MITRA-Fr Studie häufigere peri-prozedurale Komplikationen (14.6% vs. 8.5% in COAPT) und schlechtere Beständigkeit des Resultates (MI Grad ≤2+ nach 1 Jahr 83% vs. 95% in COAPT).
5. Unvollständige echokardiographische und klinische Follow-Up Daten in der MITRA-FR Studie, was Aussagen bezüglich sekundärer Endpunkte einschränkt.

Die wichtigsten Merkmale der beiden Studien bezüglich Ein- und Ausschlusskriterien, Baseline-Charakteristika und Resultate werden in Tabelle 1 zusammengefasst und verglichen.

Bedeutung für den klinischen Alltag

Die COAPT-Studie ist die erste Studie, welche einen signifikanten Überlebensvorteil durch die perkutane Edge-to-Edge Rekonstruktion bei Patienten mit HI und sekundärer MI zeigen konnte, bei welchen andere Therapieoptionen ausgeschöpft sind. Mit einer Number Needed to Treat von 6 Patienten, um einen Todesfall über 24 Monaten zu vermeiden, stellt die Intervention eine im Vergleich zu etablierten Therapien äusserst effiziente Behandlungsoption dar (siehe Abb. 1). Ferner unterstreicht die Studie die unabhängige prognostische Relevanz der MI bei herzinsuffizienten Patienten, welche bisher vorwiegend als Begleiterscheinung im Rahmen der myokardialen Erkrankung betrachtet wurde. Zudem wird konsequent in beiden Studien die schlechte Prognose der Kontrollgruppe bestätigt. In COAPT wurden 68% der Patienten wegen HI rehospitalisiert (siehe Tab. 1) und nahezu die Hälfte der Patienten war nach 2 Jahren verstorben. Somit sollten Patienten mit symptomatischer HI und mittelschwerer bis schwerer MI frühzeitig einem multidisziplinären Heart Team zugewiesen werden, wobei hier die notwendige enge Zusammenarbeit von Bildgebungs-Spezialisten, Rhythmologen, invasiven Kardiologen und HI-Spezialisten zu betonen ist.

Konkret lassen sich aus der Synthese beider obenerwähnten Studien folgende Kriterien formulieren, nach welchen bei Patienten mit sekundärer MI aus prognostischen Gründen eine Edge-to-Edge Rekonstruktion der Mitralklappe indiziert ist: (24, 25)

  • Symptomatische Herzinsuffizienz (NYHA ≥ II) trotz maximal tolerierter medikamentöser Therapie und, falls indiziert, erfolgter Revaskularisation und Resynchronisation;
  • Schwere MI (integrativ beurteilt Grad 3 + oder 4 +, entsprechend unter anderem einem EROA ≥ 30 mm2 und/oder Regurgitationsvolumen > 45 ml) und geeignete Anatomie gemäss echokardiographischer Evaluation (üblicherweise transösophageale Echokardiographie);
  • Fehlende fortgeschrittene linksventrikuläre Dilatation (LVESD < 70 mm);

Zudem sollten Patienten mit symptomatischer schwerer MI trotz OMT, welche diese Kriterien nicht erfüllen, auf individueller Basis ebenfalls für eine perkutane Mitralklappenrekonstruktion, im Sinne einer potenten und sicheren symptomatischen Therapie, evaluiert werden.
Während der präinterventionellen Abklärungen ist die dynamische Natur der MI zu beachten, insbesondere deren Abhängigkeit vom systemischen Blutdruck. So kann eine im Wachzustand schwere MI nach Sedation in der transösophagealen Echokardiographie mittelgradig erscheinen.
Die klinische Erfahrung zeigt, dass die Edge-to-Edge Rekonstruktion zur Stabilisation der Herzerkrankung dienen und somit die Notwendigkeit einer Unterstützung mit einem linksventrikulären Assist device verzögern kann. Somit können Patienten auf der Warteliste für eine Herztransplantation stabilisiert werden. In COAPT war die Anzahl Herztransplantationen oder Implantationen eines Unterstüzungssystems signifikant tiefer in der interventionellen Gruppe (4.4% versus 9.5%; p = 0.01) (18).
Von einem technischen Standpunkt ist die Effizienz der MI-Reduktion am Ende der Intervention von entscheidender Bedeutung. Subanalysen der COAPT-Studie zeigen, dass Patienten mit residueller MI Grad 3 + oder 4 + 30 Tage nach der Intervention eine höhere Mortalität im 2-Jahres Follow-Up aufweisen.
Zur Optimierung des prozeduralen Resultates stehen verschiedene Systeme zur Verfügung, welche gemäss der individuellen Patientenanatomie selektiert und kombiniert werden können. Zur Gewährleistung der Behandlungssicherheit und –qualität sollte der Eingriff von einem Team erfahrener Interventionalisten und Bildgebungsspezialisten durchgeführt werden. Bei Patienten, welche aufgrund anatomischer Parameter oder fortgeschrittener links- oder rechtsventrikulärer Dysfunktion für die perkutane Edge-to-Edge Rekonstruktion nicht infrage kommen, sind in enger Zusammenarbeit mit HI-Spezialisten alternative interventionelle Verfahren, sowie der frühzeitige Einsatz von Herzunterstützungssystemen oder eine Herztransplantation zu diskutieren.

Ausblick und offene Fragen

Um die Patientenselektion präziser und den geeigneten Interventionszeitpunkt im Erkrankungsverlauf genauer definieren zu können, braucht es zukünftige Studien und Metaanalysen, welche eine detaillierte Analyse von sekundären Endpunkten, eine längere Follow-Up Zeit sowie übergreifende Analysen von Patientenmerkmalen erlauben. Die aktuell laufenden europäischen Studien RESHAPE-HF2 (MitraClip versus OMT) und MATTERHORN (MitraClip versus Chirurgie in sekundärer MI) werden hier neue Erkenntnisse liefern können. Im Bereich der perkutanen Edge-to-Edge Rekonstruktion sind die Langzeitresultate sowie der Vergleich der inzwischen zur Wahl stehenden Systeme zu prüfen und mit anderen Therapieverfahren zu vergleichen. Neben der Edge-to-Edge Rekonstruktion stehen weitere katheterbasierte Therapieoptionen, zur Verfügung, deren Nutzen im Kontext der HI noch zu evaluieren ist.

Dr. med. Mirjam Winkel

Universitätsklinik für Kardiologie
Freiburgstrasse 18
3010 Bern

PD Dr. med. Fabien Praz

Universitätsklinik für Kardiologie
Freiburgstrasse 18
3010 Bern

fabien.praz@insel.ch

Prof. Dr. med. Lukas Hunziker

Inselspital, Universitätsspital Bern
Universitätsklinik für Kardiologie
Herz Gefäss Zentrum
Freiburgstrasse 20
3010 Bern

Prof. Dr. med. Stephan Windecker

Universitätsklinik für Kardiologie
Freiburgstrasse 18
3010 Bern

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel.

  • Die sekundäre Mitralinsuffizienz im Kontext einer Herzinsuffizienz mit eingeschränkter linksventrikulärer Funktion ist häufig und hat negative Auswirkungen auf die Prognose der betroffenen Patienten.
  • Patienten mit anhaltender mittelschwerer bis schwerer Mitralinsuffizienz trotz maximal verträglicher medikamentöser Therapie sollten einem spezialisierten Heart Team zur Evaluation einer Intervention zugewiesen werden. Bei sorgfältig selektionierten Patienten wurde eine deutliche Mortalitätsreduktion im Vergleich zur medikamentösen Therapie nach perkutaner Mitralklappenrekonstruktion im Rahmen einer randomisierten Studie beobachtet.
  • Die aktuell verfügbaren Daten erlauben eine verfeinerte Patienten-
    selektion, doch weitere Untersuchungen sind notwendig um die am besten geeignete Population sowie den optimalen Behandlungszeitpunkt zu definieren.

Messages à retenir

  • L’  insuffisance mitrale secondaire dans le contexte d’ une insuffisance cardiaque chronique due à une dysfonction du ventricule gauche est fréquente et a des effets négatifs sur le pronostic.
  • Dans le cas d’ une insuffisance mitrale persistante malgré une thérapie médicamenteuse optimisée, la consultation d’ un Heart Team spécialisé est nécessaire. Au sein d’ une population selectionnée, un essai randomisé a montré une très nette diminution de la mortalité après reconstruction mitrale percutanée en comparaison à la thérapie médicamenteuse.
  • Les données actuellement disponibles permettent d’ affiner la sélection des candidats à une reconstruction percutanée de la valve mitrale. Des recherches supplémentaires sont en revanche nécessaires pour définir la population la plus adaptée ainsi que le timing optimal du traitement.

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Vaduzer Diabetes Symposium

Am 30. Oktober 2019 fand die Abendfortbildung für Hausärzte in Liechtenstein in Vaduz statt. Dabei wurden praxisrelevante Inhalte aus der Diabetologie für den klinischen Alltag besprochen. Prof. em. Dr. med. Giatgen Spinas führte durch den Abend.

Die Rolle der Ernährungsberatung bei der Diabetesbehandlung

Die Diabetesbehandlung fusst auf der interdisziplinären Zusammenarbeit der Ernährungsberatung, der Diabetesberatung, des Hausarztes und des Endokrinologen, wobei der Patient mit Diabetes im Mittelpunkt steht, stellte Frau Bettina Graber-Jehle, dipl. Ernährungsberaterin HF, Schaan, fest.
Die Ziele der ernährungstherapeutischen Intervention sind die Senkung des Blutzuckers in den Normalbereich, ein normales Blut-Lipid-Profil und ein Blutdruck im Normalbereich. Adipöse Patienten sollen das Zielgewicht erreichen und es halten. Spätkomplikationen gilt es zu vermeiden oder zu verzögern. Die Patienten sollen die Freude am Essen beibehalten und z.B. den massvollen Genuss von Süssigkeiten einplanen, so die Referentin.
Das ernährungstherapeutische Kurzprinzip DM2 besteht aus Gewichtsreduktion bei Adipositas. Kohlenhydratquantität: Kohlehydratmenge definieren, Zwischenmahlzeiten definieren, Kohlenhydratqualität: Glykämischer Index. Ausreichende Aufnahme von Nahrungsfasern anstreben. Zucker maximal 10% der Gesamtenergie, bei guter Blutzuckereinstellung. Alkohol bis zu 10 g/Tag (Frauen) bzw. bis zu 20 g/Tag (Männer).
Die Ernährungsberatung hat in Bezug auf Kohlenhydrate unterschiedliche Ziele, je nach Diabetestyp, Typ 1 oder Typ 2 , Typ 2 mit und ohne Insulin, Gestationsdiabetes mit und ohne Insulin, speziellen Formen von Diabetes und Diabetes mit Adipositas.
Die Schulungsmethoden umfassen das Tellermodell, Kohlenhydrat-Austauschtabellen, individuelle Ernährungspläne, Essprotokolle zum Anleiten, Auswerten und optimieren und zum Visualisieren der Kohlenhydrate. Das Tellermodell soll zusätzlich zu der gängigen Darstellung der Lebensmittel-Pyramide verdeutlichen, wie viel von welcher Lebensmittelgruppe verzehrt werden soll. Durch die einfache Darstellung in Form eines «gesunden Tellers» sollen die Verbraucher auf leicht verständliche Weise dabei unterstützt werden, ein gesundes Essverhalten zu entwickeln.
Die Referentin zeigte anhand von Illustrationen die Kohlenhydratmenge, die in verschiedenen Nahrungsmitteln enthalten sind: z.B. 10 g in 3 Würfeln Zucker oder 6 Erdbeeren, 20 g in 6 Würfeln Zucker oder einer Banane, 40g in 12 Würfeln Zucker oder einem Hamburger.
Bezüglich Auswirkungen von Kohlenhydraten auf den Blutzucker ist nicht nur wichtig, wie viel man davon einnimmt, sondern auch aus welcher Quelle sie stammen. Einige Nahrungsmittel verursachen einen schnellen Anstieg des Blutzuckers nach einer Mahlzeit, während andere einen langsameren Anstieg und eine gleichmässigere Abnahme verursachen. Zur Messung, wie schnell ein Nahrungsmittel einen Anstieg des Blutzuckers verursacht, dient der Glykämische Index. Beispiele für glykämische Indizes sind in der Tabelle 2 wiedergegeben.
Faktoren, die die Verdauungsgeschwindigkeit beeinflussen sind Fett und Eiweissgehalt der Nahrung, Alkohol, Gehalt und Art der Nahrungsfasern sowie Verarbeitungsgrad und Zubereitung.
Frau Graber-Jehle zeigte anschliessend das Beispiel einer 61-jährigen Patientin mit frisch diagnostiziertem Diabetes Typ 2, Hypercholesterinämie und Hypertonie, Adipositas Grad I (BMI 34), 100 kg bei 172 cm, HbA1c 7.8%, 100% berufstätig. Die Patientin hat in den letzten 20 Jahren 30 kg zugenommen. Bewegungsanamnese: sitzender Beruf, 3 x pro Woche Tennis, Grundumsatz liegt bei 1600 kcal. Ernährungsanamnese: Frühstück: 2 dl Orangensaft, 1 Gipfeli. Mittagessen: unregelmässig Menu im Personalrestaurant, Wasser, Espresso. Zvieri: 1 Nussgipfel oder 1 Brancheli. Abendessen: 1 grosse Portion Spaghetti Bolognese oder 3 Scheiben Brot mit Käse. Getränke tagsüber: Wasser und Espresso, Wochenende 1 Glas Rotwein. Die Ernährung ist kohlenhydratreich und nahrungsfaserarm. Die Ernährungsdiagose zeigt eine übermässige Aufnahme ungeeigneter Kohlenhydrate aufgrund mangelnden Ernährungswissens, wie die HbA1c-Entgleisung und die Adipositas anzeigen.
Als ernährungstherapeutisches Kurzprinzip bei Diabetes Typ 2 nannte die Referentin: Gewichtsreduktion bei Adipositas mit moderner Low-carb-Ernährung. Kohlenhydrat-Qualität: Glykämischen Index beachten, flüssige Kohlenhydrate stoppen, ausreichende Aufnahme von Nahrungsfasern anstreben, maximal 10% der Gesamtenergie in Form von Zucker bei guter Blutzuckereinstellung einnehmen und Alkohol bis 10 g pro Tag (Diabetes Care 2008; 31: Suppl 1: 61-78, Diabetes Care 2014; 37: Suppl. 1: 14-80 ).
Die Patienten sollen den Umgang mit Süssigkeiten bei Diabetes lernen. Im Anschluss an eine Mahlzeit sollte nur eine Hand voll zuckerhaltiges Dessert eingenommen werden. Die weitere Ernährungsintervention umfasst auswärtige Mahlzeiten, deren Fettqualität und -quantität, das Weiterführen von Essprotokollen, Menügestaltung, Blutzuckerselbstmessungen, Vermeidung von Stress- und Frustessen.
Standortsituation der Patientin vier Monate nach Ernährungsintervention: HbA1c von 7.8% auf 6.8% verbessert, Körpergewicht um 8kg gesenkt (Low-carb-Diät mit 1-2 KH-haltigen MZ/Tag). Die Patientin geht neu zu Fuss zur Arbeit (1/2 bis 1h Bewegung pro Tag).
Low-carb-Diäten sind Kohlenhydratquellen mit niedrigem glykämischem Index (Vollkornbrot und Hülsenfrüchte), Fisch, Meeresfrüchte, Raps- und Olivenöl. Menschen mit Diabetes profitieren von Low-carb-Diäten, mit denen die Gewichtsreduktion erfolgreicher ist als mit Low-fat-Diäten, betonte die Referentin.

Typ 2 Diabetes 2019

Zur Definition des Diabetes nannte Dr. med. Niklaus Kamber, Chur, die Glukose (Nüchternglukose, Zufallsglukose, HbA1c, Glukosewerte über einer statistisch ermittelten statistischen Normgrenze nach oraler Belastung). Diabetes kann aber auch aufgrund der Ätiologie klassifiziert werden: Diabetes mellitus Typ 1 :Immunologisch (Typ 1A), Sondertyp: LADA, Idiopathisch (Typ 1B), Diabetes mellitus Typ 2, weitere spezifische Diabetestypen (Typ 3): Genetische Defekte der β-Zellfunktion: MODY Gestationsdiabetes (Typ 4) sowie Diabetes unbekannter Ätiologie (Kombination von Insulinsekretionsdefekt und Insulinresistenz). Der Referent zeigte, dass in den letzten Dekaden die Mortalitätsraten in der Allgemeinbevölkerung substanziell abgenommen haben, dass dies aber für Patienten mit Diabetes weniger der Fall ist. Er erwähnte die wichtigsten Studien vor den Gliflozinen, die UKPDS-Studie, die zeigte, dass unter Blutzuckersenkung die mikro- und makrovaskulären Komplikationen bei Typ 2 Diabetes gesenkt werden. In den nachfolgenden Studien ACCORD, ADVANCE und VADT stellte sich allerdings kein Unterschied zwischen intensiver und Standardtherapie im Hinblick auf makrovaskuläre Ereignisse ein. Im Jahr 2009 empfahl die Expertengruppe der Schweiz .Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) zur Behandlung des Typ 2 Diabetes ein zweistufiges Schema mit einer Lifestylemodifikation plus Metformin in der ersten Stufe und Sulfonylharnstoff oder Glinid in der zweiten Stufe. Wenn HbA1c immer noch > 7 zusätzlich Glitazon oder DPP-4 Hemmer oder ein GLP-1 Analogon. Falls HbA1c immer noch > 7 wird zusätzlich lang wirksames Insulin empfohlen und falls HbA1c noch > 7 soll eine intensivierte Insulintherapie (Basis Bolus) angewendet werden. Der Referent erwähnte die Empfehlung der American Diabetes Association (ADA) und der European Association for the Study of Diabetes (EASD) aus dem Jahr 2012, die ebenfalls Metformin und Lifestyleänderungen als erste Stufe vorschlagen, danach eine Zweierkombinationstherapie (Metformin + Sulfonylharnsoff, Metformin + Thiazolidindione, Metformin + DPP-4 Inhibitoren, Metformin + GLP-1 RA, Metformin + Insulin (gewöhnlich basal) und falls notwendig eine Kombination aus 3 Medikamenten.
Im März 2014 wurde der erste SGLT2-Hemmer verfügbar, Canagliflozin (Invokana®). Inzwischen sind mit Empagliflozin (Jardiance®) und Dapagliflozin (Forxiga®) weitere SGLT2-Hemmer zugelassen. Sie führen über die Hemmung der Rückresorption aus dem Tubulus zu Glukosurie. Die Patienten verlieren substantiell Glukose über den Urin. Der glukosesenkende Effekt ist mässig, aber in der EMPA-REG-Studie mit Empagliflozin konnte nicht nur eine Senkung der kardiovaskulären Mortalität, sondern erstmals auch eine Senkung der Gesamtmortalität um 32% gezeigt werden.
Eine weitere wichtige Etappe in der Diabetesbehandlung war die Einführung der GLP-1 Rezeptoragonisten Semaglutid, Liraglutid und Exenatid. Sie senken nicht nur den Blutzucker, sondern auch das Körpergewicht und sowie die kardiovaskuläre Mortalität. Entsprechend sind sie in die Guidelines der SGED 2015 aufgenommen worden. Die Empfehlungen setzen auf individualisierte HbA1c-Ziele, die spezifische Behandlung empfiehlt SGLT2-Hemmer bei Herz- und Niereninsuffizienz und GLP-1 RA nach Metformin bei Übergewicht.
Der Referent schloss mit einem Fallbeispiel:

Fallvignette: Herr A*1975

Diagnose 2001. Zufallsbefund bei «Routineuntersuchung». Gewicht 119 kg (Grösse 1.76m, BMI 38.42 kg/m2). Behandlung mit Metformin (2x 1000 mg/Tag). 2003 zusätzlich Glibenclamid bei HbA1c von 8.2%. Gewicht 118 kg. Bis 2008 HbA1c unter unveränderter Therapie 7.5% und 8.6% (keine Dokumentation des Gewichts). Neu ab 2008 Sitagliptin. 2010 HbA1c unter obiger Therapie 10.2%. 97 kg. Kein Krankheitsbewusstsein. Er sei vielleicht etwas müde, vielleicht müsse er nachts etwas mehr aufs Klo, vielleicht sehe er etwas schlechter.
Oktober 2010 Beginn mit Insulin Glargin (Lantus®) Sitagliptin und weiterhin Metformin. April 2011 HbA1c 7.5%. Gewicht 94 kg, November 2011 HbA1c 8.3%, Gewicht 98kg. Sitagliptin-Stopp. Beginn mit Liraglutid (Victoza®). Dezember 2012 HbA1c 6.6%, Gewicht 91 kg, Liraglutid (Victoza®) 1.8mg/Tag). Bis März 2015 Gewichtszunahme auf 95 kg, HbA1c 7.9%.
Massnahmen:
Entsprechend den Guidelines vermehrte körperliche Aktivität, Metformin, bei Herz- und Niereninsuffizienz SGLT2-Inhibitor, bei BMI > 28 und hohem kardiovaskulärem Risiko GLP-1-RA , unterstützt durch körperliche Aktivität und diätetische Massnahmen, so die Empfehlungen des Referenten.

Diabetes Typ 1 unterwegs

Über Altbewährtes und Neues zu Epidemiologie, Diagnose, Blutzuckermessung und Therapie referierte Frau Dr. med. Silvia Schmid, Chur. Der Typ 1 Diabetes entsteht durch Zerstörung der insulinproduzierenden Zellen des Pankreas infolge von Autoimmunprozessen, begünstigt durch eine genetische Prädisposition und Umweltfaktoren. Dank der Entdeckung des Insulins durch Fredrick Grant Banting und Charles Best im Jahre 1921 kann diese vorher tödliche Krankheit behandelt werden. Typ 1 Diabetes ist die häufigste Stoffwechselkrankheit und nach Asthma die zweithäufigste chronische Krankheit bei Kindern (8 Kinder pro 100 000 Personenjahre im Jahr 1990 und 15 Kinder im Jahr 2015). In der Schweiz werden jährlich 220 neue Fälle bei Kindern und Jugendlichen festgestellt. Bei Erwachsenen beträgt die Inzidenz 7 pro 100 000 Personenjahre, und rund 500-600 Erwachsene mit Typ 1 Diabetes werden pro Jahr in der Schweiz entdeckt. Die klinische Diagnose fusst auf Durst, Harndrang, Gewichtsverlust und Müdigkeit. Neben der Klinik umfasst die Diagnose den Blutzuckerwert, HbA1c und die diabetesspezifischen Autoantikörper. Die diagnostischen Kriterien sind Blutzuckerwerte nüchtern ≥7mmol/l oder ≥ 11.1mmol/l im oGTT oder HbA1c ≥ 6.5% oder Plasmaglukose 11.1 mmol/l zu einem beliebigen Zeitpunkt plus die klassischen Hyperglykämiesymptome. Autoimmunitätsmarker sind Autoantikörper gegen Glutamatdecarboxylase (GAD), Antikörper gegen Tyrosin-Phosphatase (IA2), Antikörper gegen Zinktransporter-8 (ZnT8), Insulin-Autoantikörper (IAA). Wichtig bei Kleinkindern: Inselzell-Antikörper (ICA)-Sensitivität von 96%.
Eine spezielle Form ist der LADA (Late onset autoimmune diabetes in the adult): Zuerst wird ein Diabetes mellitus Typ 2 diagnostiziert. Vermutlich haben ca. 10% der Typ 2 Diabetiker Typ 1 Diabetes (kein Übergewicht, Alter < 50 Jahre, weitere Autoimmunerkrankungen beim Patienten oder in Familie, rascher Wirkverlust der oralen Antidiabetika, gutes Ansprechen auf Insulin).
Der Goldstandard in der Therapie ist die funktionelle Insulintherapie (FIT), dabei ist das Ziel, die Insulinsekretion eines Gesunden möglichst genau nachzuahmen. Die Therapie erfolgt mit schnell wirkenden und langwirkenden Insulinanaloga (Tab. 2).

Therapieziel HbA1c

HbA1c widerspiegelt indirekt den Blutzuckerspiegel der letzten 3 Monate. Es zeigt einen hohen Vorhersagewert für diabetesbedingte mikro- und makrovaskuläre Komplikationen. Es gibt aber keine Auskunft über die Schwankungsbreite des Blutzuckers. Das HbA1c-Ziel ist < 7.5% für alle pädiatrischen Altersgruppen, bei Erwachsenen ist es < 7.9%.
Die kombinierte Beurteilung der Blutzuckerkontrolle erfolgt mit Blutzuckerprofilen (CGMS), durch die Zeit im Zielbereich (3.9-10 mmol/l). Diese sollte so hoch wie möglich sein.

Messmethoden von Gewebezucker

  • Flash-Glucosemesssystem (FGM)
  • Continuous Glucose Monitoring System (CGMS)

Therapie mit Insulinpumpen

Das G670-System

  • Verbesserung der BZ Einstellung: leichte Abnahme des HbA1c um etwa 0.3 %; deutliche Abnahme der Blutzuckerschwankungen und der Hypoglykämiefrequenz; viel bessere Blutzuckerkontrolle in der Nüchternphase (Nacht)
  • Vereinfachung im Alltag: Ja (Nacht, nach Pizza und Sport einfacher einzustellen); Nein: Viele Alarme brauchen anfänglich viel Nerven); Geeignet sind Personen, die die Pumpe mit Katheter und CGMS (100%) akzeptieren, die bereit sind VOR jeder Mahlzeit Bolus abzugeben + Kohlenhydratmenge bestmöglich zu beurteilen.
  • Neueste Daten mit einem nicht an den Fc-Rezeptor bindenden monoklonalen CD3-Antikörper (Teplizumab) zeigten, dass diese Therapie die Progression zu klinischem Diabetes Typ 1 bei Hochrisikopersonen verzögert.
  • Das Therapiesetting erfolgt bei Kindern eher stationär, bei Erwachsenen eher ambulant: Die ambulante Ersteinstellung wird bei Kindern in Zürich seit 2006 durchgeführt. Aus medizinischer Sicht sind über 90% ambulant einstellbar.

Bezüglich Diabetes Typ 1 schloss die Referentin mit der Ermahnung: Denkt dran!

Quelle: Abendfortbildung für Hausärzte in Lichtenstein. Vaduz, 30. Oktober 2019

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

ADHS im Erwachsenenalter

Lange Zeit wurde angenommen, dass die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eine Erkrankung des Kindes- und Jugendalters darstellt und mit zunehmendem Alter ausheilt. Mittlerweile geht man jedoch davon aus, dass die Symptomatik bei bis zu 50-80 % der betroffenen Kinder bis ins Erwachsenenalter persistieren kann (2, 4, 7). Dabei weisen die verschiedenen Symptome jedoch entwicklungsabhängige Veränderungen auf und können somit je nach Alter in unterschiedlichen Ausprägungen vorliegen (19). In diesem Artikel werden die diagnostischen Kriterien, differentialdiagnostische Überlegungen und therapeutische Möglichkeiten dargelegt.

Erwachsene mit einer ADHS leiden häufig weniger an einer sichtbaren Hyperaktivität, sondern eher an einer inneren Unruhe bei weiterhin verminderter Aufmerksamkeitsleistung und Beeinträchtigungen der Affektregulation und Impulskontrolle (14). Eine Metaanalyse unter Berücksichtigung der ehemaligen DSM-IV- Kriterien geht von einer weltweiten Prävalenz der adulten ADHS von etwa 2,5% aus (21). Anderen Studien zufolge wird in Deutschland sogar von einer Prävalenz von 4,7% ausgegangen (5).
Dabei stellt das Vorliegen einer ADHS einen Risikofaktor für weitere psychiatrische Erkrankungen dar. Zu den häufigsten psychiatrischen Komorbiditäten zählen Depressionen, Suchterkrankungen, Angst- und Persönlichkeitsstörungen (2, 9).

Diagnostik

Bei der Diagnostik einer ADHS spielt besonders die Eigen- und Fremdanamnese eine entscheidende Rolle. Es liegen zur Diagnosestellung mit

  • ICD-10
  • DSM-5
  • Wender-Utah-Kriterien

drei verschiedene Diagnosesysteme vor, die in den deutschen Leitlinien gleichwertig bei der Diagnosestellung berücksichtigt werden (2). Dabei sind die Wender-Utah-Kriterien speziell für das Erwachsenenalter konzipiert worden (24).
Grundsätzlich setzt die Diagnosestellung voraus, dass die Symptomatik bereits im Kindes- oder zumindest im Jugendalter vorgelegen hat. Dabei fordert die ICD-10 insgesamt strengere Kriterien für die Diagnosestellung der F90.0 (Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung). So müssen in der ICD-10 alle Symptome − Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität − erfüllt sein und das Störungsbild muss bereits vor dem 7. Lebensjahr vorgelegen haben. Wenn, wie häufiger bei Mädchen der Fall, das Symptom der Unaufmerksamkeit deutlich überwiegt und keine Hyperaktivität auftritt, kann lediglich eine F98.8 (sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend) kodiert werden. Auch muss ausgeschlossen werden, dass eine tiefgreifende Entwicklungsstörung (F84), eine manische (F30) oder depressive Episode (F32) oder eine Angststörung (F41) vorliegen (6).
Das DSM-5 hingegen unterscheidet zwischen verschiedenen Erscheinungsformen der Erkrankung. So lassen sich nach DSM-5 ein vorwiegend unaufmerksamer Typ, ein vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ sowie ein kombinierter Typ der AD(H)S diagnostizieren. Im DSM-5 wurde im Vergleich zum DSM-IV das Alterskriterium modifiziert, indem die Altersgrenze der Erstmanifestation auf 12 Jahre heraufgesetzt wurde. Auch eine komorbid auftretende, tiefgreifende Entwicklungsstörung führt nicht zum Diagnoseausschluss (1). Beide Klassifikationssysteme setzten jedoch voraus, dass die Kernsymptomatik in verschiedenen Lebensbereichen auftritt.
Die Wender-Utah-Kriterien wurden speziell für das Erwachsenenalter konzipiert und berücksichtigen den entwicklungsbedingten Symptomwandel der Betroffenen (24). Dabei werden zur Diagnosestellung neben Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität zwei weitere Charakteristika verlangt (Tab. 1).

Da die ADHS-Diagnose einen Symptombeginn im Kindes- bzw. Jugendalter voraussetzt, kommt neben der ausführlichen Eigenanamnese auch einer Fremdanamnese eine besondere Bedeutung zu. Zunächst sollten dabei mögliche Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen eruiert werden, da diese häufig mit einer im Verlauf auftretenden ADHS-Symptomatik assoziiert sind (14). Da bei den Betroffenen oft mit Beginn des Schulbesuchs u.a. durch die nun steigenden äusseren Anforderungen und Regeln die Symptomatik zunehmend zu Tage tritt, ist es auch häufig ratsam, (Grund-)schulzeugnisse zur Einschätzung hinzuzuziehen.
Zusätzlich zur klinischen Diagnostik in Form einer ausführlichen Anamnese gibt es noch verschiedene evaluierte Fragebögen und strukturierte Interviews. Ausserdem kann die Durchführung einer neuropsychologischen Testung sinnvoll sein (2).
Grundsätzlich stellt die ADHS allerdings nach wie vor eine klinische Diagnose dar und die genannten Fragebögen und strukturierten Interviews sowie die neuropsychologische Testung dienen lediglich als ergänzende Verfahren, die auf eine Diagnose hinweisen können. Eine alleine auf diesen Verfahren basierende Diagnosestellung ist nicht zulässig (7).

Differentialdiagnostik

Wie bei allen psychischen Erkrankungen ist auch bei der Diagnostik der ADHS die Durchführung einer ausführlichen somatischen und auch psychiatrischen Differentialdiagnostik obligat (2). So sollten u.a. besonders eine Hyper- oder Hypothyreose, Vigilanzstörungen oder andere neurologische und auch kardiovaskuläre Erkrankungen ausgeschlossen werden. Dazu kann eine Labordiagnostik sowie eine MRT-, EKG- und EEG-Untersuchung durchgeführt werden.
Auch kommt der Abgrenzung der Symptomatik von anderen psychiatrischen Erkrankungsbildern eine grosse Bedeutung zu. So können beispielsweise Konzentrationsstörungen auch im Rahmen affektiver Erkrankungen wie Depressionen auftreten. Dabei weisen diese jedoch typischerweise einen phasenhaften Verlauf auf, wohingegen die Symptomatik der ADHS chronisch persistiert. Auch die Abgrenzung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen kann aufgrund teilweise überlappender Symptome schwierig sein. Nicht selten kommt es auch zu einem komorbiden Auftreten der genannten Erkrankungen (2, 9). In der Abb.1 ist ein differenzialtherapeutischer Entscheidungsbaum zur Behandlung von Erwachsenen mit ADHS vorgeschlagen.

Therapie

Die Diagnose einer ADHS impliziert nicht zwangsläufig eine Therapienotwendigkeit. Entscheidend dabei ist die jeweilige Symptomausprägung und die daraus resultierenden funktionellen Einschränkungen sowie die Präferenzen des Patienten und der Angehörigen (2, 12).
Dabei gelten Stimulanzien nach Ausschluss von Kontraindikationen als Mittel der ersten Wahl (7, 8). Vor Beginn einer medikamentösen Therapie sowie im Verlauf sollte eine ausführliche kardiovaskuläre Abklärung, eine neurologische sowie in regelmässigen Abständen eine Laboruntersuchung erfolgen.
Dabei gibt es in Deutschland und der Schweiz mittlerweile verschiedene Präparate, die für die Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter zugelassen sind.

Methylphenidat

Die meisten Erfahrungswerte bezüglich der Behandlung einer adulten ADHS liegen innerhalb der Gruppe der Psychostimulanzien für Methylphenidat vor. Seine Wirkung entfaltet Methylphenidat über eine Wiederaufnahmehemmung von Dopamin (DA) und Noradrenalin (NA), die zu einer Erhöhung der intrasynaptischen DA- und NA-Konzentration führt (3, 23). In Deutschland sind für die Behandlung Erwachsener die retardierten Präparate Medikinet adult® und Ritalin adult® zugelassen (2). Die Präparate haben eine Wirkdauer von ca. 8-10 h. Vorteile der Retardpräparate sind eine gleichmässigere Wirkstofffreisetzung und dadurch verminderte Rebound-Phänomene sowie eine Förderung der Compliance durch eine üblicherweise nur ein- bis zweimal tägliche Einnahme. In der Regel wird mit einer Einnahme von 5-10 mg täglich begonnen und die Dosis wöchentlich bedarfsangemessen um 10 mg bis auf eine Maximaldosis von 1mg/kgKG bzw. 80 mg/d gesteigert (3). In der Schweiz sind Concerta®, Methylphenidat Mepha Depotabs® und Methylphenidat Sandoz® Ret Tabl für die Behandlung von einer seit dem Kindesalter fortbestehenden ADHS bei Patienten im Alter von 6 bis 65 Jahre zugelassen und Medikinet®, Methylphenidat-Mepha LA Depocaps® sowie Ritalin® für Patienten im Alter von 6 bis 18 Jahre.

Lisdexamfetamin

Lisdexamfetamin ist als Elvanse adult® seit Februar 2019 auch zur Behandlung Erwachsener zugelassen. Dabei stellt Lisdexamfetamin eine inaktive Vorstufe von D-Amphetamin dar, wodurch das Missbrauchs- und Abhängigkeitspotential verringert werden soll. Lisdexamfetamin wird nach Aufnahme über den Intestinaltrakt vorwiegend in Erythrozyten hydrolysiert und dabei unter Freisetzung von Amphetamin und Lysin aktiviert. Das Präparat entfaltet seine Wirkung über eine Blockade von NA- und DA-Transportern und eine zusätzliche Entleerung präsynaptischer Vesikel und bewirkt somit ebenfalls eine Erhöhung der intrasynaptischen NA- und DA-Konzentration.
Die Initialdosis beträgt in der Regel bei Erwachsenen 30 mg pro Tag und kann in wöchentlichen Abständen je nach individuellen Erfordernissen um 20 mg auf eine Höchstdosis von 70 mg gesteigert werden (3). In der Schweiz wird die Substanz unter dem Namen Elvanse® angeboten mit der Indikation einer Behandlung einer seit dem Kindesalter fortbestehenden ADHS bei Kindern ab 6 Jahren, Jugendlichen und Erwachsenen bis 55 Jahre im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie, wenn das Ansprechen auf eine zuvor erhaltene Behandlung mit Methylphenidat als klinisch unzureichend angesehen wird.
Metaanalysen gehen von einer weitgehend vergleichbaren Wirksamkeit von Methylphenidat und Lisdexamfetamin aus (15, 16).
Häufige Nebenwirkungen von Stimulanzien wie Methylphenidat und Lisdexamfetamin sind Kopfschmerzen, Schwindel, Schlafstörungen, Nervosität, Appetitverlust und Magenbeschwerden. Absolute Kontraindikationen stellen eine Schizophrenie, Hyperthyreoidismus, Angina pectoris oder kardiale Arrhythmien und ein Glaukom dar (2, 12).

Atomoxetin

Der Noradrenalinwiederaufnahmehemmer Atomoxetin gehört bei komorbiden Tic- oder Angststörungen zu den Mitteln der ersten Wahl und wird auch bei komorbiden Suchterkrankungen häufig bevorzugt eingesetzt (2, 3).
Laut Fachinformationen liegt die empfohlene Startdosis ab > 70 kgKG zwar bei 40 mg, aufgrund erhöhter Nebenwirkungen kann jedoch auch mit einer niedrigeren Dosierung (18 oder 25 mg) begonnen werden (9). Je nach individuellen Erfordernissen kann die Dosis dann im Verlauf auf bis zu maximal 100 mg am Tag gesteigert werden. Häufige Nebenwirkungen sind unter anderem Appetitminderung, Kopfschmerzen, abdominelle Schmerzen sowie Übelkeit. Ausserdem kann es zu einem Blutdruck- und Herzfrequenzanstieg kommen (2, 3). In der Schweiz wird die Substanz unter dem Handelsnamen Strattera® als Therapie zweiter Wahl angeboten, zur Behandlung einer seit dem Kindesalter fortbestehenden ADHS, bei Kindern ab 6 Jahren, Jugendlichen und Erwachsenen bis 50 Jahre im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie, wenn das Ansprechen auf eine zuvor erhaltene Behandlung mit Methylphenidat als klinisch unzureichend angesehen wird oder eine solche wegen Kontraindikationen nicht möglich ist.

Antidepressiva

Besonders bei komorbider, schwerer depressiver Episode gehören Antidepressiva mit einem dopaminergen und/oder noradrenergen Wirkprofil wie beispielsweise Bupropion (Wellbutrin® XR), Venlafaxin oder Duloxetin zu den Mitteln der ersten Wahl (3).

Psychotherapie

Die deutschen Leitlinien empfehlen eine multimodale Therapie aus psychopharmakologischer und psychotherapeutischer Behandlung, da besonders im Erwachsenenalter häufig sekundäre psychosoziale Folgen sowie komorbide Erkrankungen im Vordergrund stehen (2, 7). Dabei stellt eine ausführliche Psychoedukation die Grundlage jeder Behandlung dar.

Kognitiv-behaviorale Verfahren

Am besten untersucht und evaluiert sind psychotherapeutische Verfahren, die sich an kognitiv-behavioralen Konzepten orientieren (22, 25). Dabei stehen u.a. eine Bearbeitung dysfunktionaler Grundannahmen sowie die Erarbeitung von Strategien zur Verbesserung der Organisation und Aufmerksamkeitsfokussierung sowie der Emotionsregulation und Impulskontrolle im Vordergrund. Auch für eine achtsamkeitsbasierte Verhaltenstherapie liegen Wirksamkeitsnachweise vor (20).

Dialektisch-behaviorale Verfahren

Aufgrund der Überschneidungen der ADHS-Symptomatik mit emotional-instabilen Persönlichkeitszügen wurde mit dem «Freiburger Konzept» ein strukturiertes Verfahren zur Behandlung der ADHS entwickelt, das an das von Marsha Linehan konzipierte Dialektisch-Behaviorale-Therapieprogramm angelehnt ist (10). Dabei sollen die Patienten im Rahmen eines strukturierten Vorgehens u.a. eine verbesserte Emotionsregulation und Fertigkeiten zum besseren Umgang mit Anspannung sowie Achtsamkeitstechniken erlernen. Die Effektivität dieses Konzeptes konnte in verschiedenen Studien nachgewiesen werden (4, 11).

Zusammenfassung

Während früher davon ausgegangen wurde, dass die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eine Erkrankung des Kindesalters darstellt, konnte mittlerweile gezeigt werden, dass die Symptome bei etwa 50-80% der Betroffenen zumindest teilweise bis ins Erwachsenenalter persistieren (2, 4). Dabei kann es jedoch zu einem entwicklungsbedingten Symptomwandel kommen.
Bei der Diagnosestellung steht die klinische Diagnostik im Vordergrund. Es liegen jedoch zusätzlich auch verschiedene evaluierte und diagnoseweisende Fragebögen und strukturierte Interviews vor. Die Therapie fusst auf einer Kombination von Pharmakotherapie und Einzel- oder Gruppentherapiekonzepten, deren Wirksamkeit in verschiedenen Studien belegt werden konnte.

Dr. med. Helena Rosen

Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Bonn
Venusberg-Campus 1
D-53127 Bonn

helena.rosen@ukbonn.de

Prof. Dr. med. Alexandra Philipsen

Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Bonn
Venusberg-Campus 1
D-53127 Bonn

Dr. H. Rosen hat keine Interessenskonflikte. Prof. A. Philipsen gibt im Zusammenhang mit diesem Artikel folgende mögliche Interessenskonflikte an: Beratertätigkeit, Vortragstätigkeit: Janssen-Cilag, Lilly, Medice, Novartis, Shire/Takeda; Prüfarzttätigkeit in Zulassungsstudien: Lilly, Medice, Novartis; Veranstaltungen der Klinik / Kongressreisen wurden unterstützt durch Lundbeck, Servier, Janssen-Cilag, Lilly, Medice, Novartis, Shire/Takeda. Buch- und Zeitschriftenartikel zum Thema ADHS.

  • Während die ADHS in etwa 50-80% bis ins Erwachsenenalter persistiert, unterliegen die Symptome häufig einem entwicklungsbedingten Wandel.
  • Zur Diagnostik liegen mit der ICD-10, dem DSM-5 und den Wender-Utah-Kriterien drei verschiedene Diagnosesysteme vor, die in den Leitlinien gleichwertig Berücksichtigung finden.
  • Die Therapie basiert auf einer multimodalen Therapie aus psychopharmakologischer und psychotherapeutischer Behandlung, wobei eine Medikation mit Stimulanzien besonders bei mittelschwerer bis schwerer Ausprägung der Erkrankung die Therapie der ersten Wahl darstellt.

1. American Psychiatric Association. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM-5. 2014; Hogrefe, Göttingen
2. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. S3-Leitlinie: Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. 02.05.2017 URL: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-045.html. (Zugriff am 29.06.2019)
3. Benkert O, Hippius H. Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie. 2019; Springer, Berlin
4. Biederman J, Mick E, Faraone SV. Age-dependent decline of symptoms of attention deficit hyperactivity disorder: impact of remission definition and symptom type. Am J Psychiatry 2000; 157(5): 816-818
5. De Zwaan M, Gruss B, Müller A et al. The estimated prevalence and correlates of adult ADHD in a German community sample. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 2012; 262: 79–86
6. Dilling H, Freyberger H. Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen: nach dem Pocket Guide von J. E. Cooper. 2019; Huber, Bern
7. Ebert D, Krause J, Sackenheim C et al. ADHS im Erwachsenenalter – Leitlinien auf Basis eines Expertenkonsensus mit Unterstützung der DGPPN. Nervenarzt 2003; 74: 939–945
8. Faraone SV, Glatt SJ. A comparison of the efficacy of medications for adult attention- deficit/hyperactivity disorder using meta-analysis of effect sizes. J Clin Psychiatry 2010; 71(6): 754-763
9. Groß S, Figge C, Matthies S, Philipsen A. ADHS im Erwachsenenalter. Nervenarzt 2015; 9: 1171-1180
10. Hesslinger B, Philipsen A, Richter H. Psychotherapie der ADHS im Erwachsenenalter. 2004; Hogrefe, Göttingen
11. Hirvikoski T, Waaler E, Alfredson J et al. Reduced ADHD symptoms in adults with ADHD after structured skills training group: Results from a randomized controlled trial. Beh Res Ther 2011; 49:175–185
12. Jacob CP, Philipsen A, Ebert D, Deckert J. Multimodale Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter. Nervenarzt 2008; 79: 801-808
13. Kessler RC, Adler LA, Barkeley R et al. Patterns and predictors of attention-deficit/hyperactivity disorder persistence into adulthood: results from the national comorbidity survey replication. Biol Psychiatry 2005; 57:1442–1451
14. Krause J, Krause KH. ADHS im Erwachsenenalter. 2014; Schattauer, Stuttgart
15. Linderkamp F, Lauth G. Zur Wirksamkeit pharmakologischer und psychotherapeutischer Therapien bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter: Eine empirische Metaanalyse. Verhaltenstherapie 2011; 21: 229-238.
16. Meszaros A et al. Pharmacotherapy of adult attention deficit hyperactivity disorder (ADHD): a metaanalysis. Int J Neuropsychopharmacol 2009; 12(8): 1137-1147
17. NICE, Attention Deficit Hyperactivity Disorder – Diagnosis and management of ADHD in children, young people and adults. National Clinical Practice Guideline Number 72. 2009; London: National Collaborating Centre for Mental Health commissioned by the National Institute for Health & Clinical Excellence
18. Philipsen A, Richter H, Peters J et al. Structured group psychotherapy in adults with attention deficit hyperactivity disorder: results of an open multicentre study. J Nerv Ment Dis 2007; 195:1013–1019
19. Retz-Junginger P, Sobanski E, Alm B, Retz W, Rösler M. Alters- und geschlechtsspezifische Besonderheiten der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung. Nervenarzt 2008; 7: 809-819
20. Schoenberg PL et al. Effects of mindfulness-based cognitive therapy on neurophysiological correlates of performance monitoring in adult attention-deficit/hyperactivity disorder. Clin Neurophysiol 2014; 125(7): 1407-16
21. Simon V et al. Prevalence and correlates of adult attention-deficit hyperactivity disorder: meta-analysis. Br J Psychiatry 2009; 194: 204-211
22. Vidal-Estrada R, Bosch-Munso R, Nogueira-Morais M et al. Psychological treatment of attention deficit hyperactivity disorder in adults: a systematic review. Actas Esp Psiquiatr 2012; 40:147–154
23. Volkow ND et al. Role of dopamine in the therapeutic and reinforcing effects of methylphenidate in humans: results from imaging studies. Eur Neuropsychopharmacol 2002; 12(6): 557-566
24. Wender PH. Attention-deficit hyperactivity disorder in adults. Oxford Univ Press 1995; New York Oxford
25. Young S et al. Cognitive-behavioural therapy in medication-treated adults with attention- deficit/hyperactivity disorder and co-morbid psychopathology: a randomized controlled trial using multi-level analysis. Psychol Med 2015; 45(13): 2793-804.

Topische Phytotherapeutika

Arzneipflanzen als Vielstoffgemische mit äusserst breiten pharmakologischen Wirkstoffprofilen weisen in der Regel mehrere Wirkungen zugleich auf und wirken daher sowohl symptomatisch wie kausal. Gerade in der Dermatologie aber auch bei Beschwerden des Bewegungsapparates lassen sich topische Phytotherapeutika vielseitig und direkt am Wirkort einsetzen und können bei leichten bis mittelschweren Beschwerden oftmals als alleinige Therapie genügen; bei schwereren Beschwerdebildern können sie ergänzend zu einer bestehenden Therapie eingesetzt werden.

Pflanzliche Dermatika

Kamille: Starke antiphlogistische Wirkung

Für die experimentell und klinisch gut belegte starke antiphlogistische Wirkung von Kamille (Matricariae flos) ist insbesondere das im ätherischen Öl enthaltene α-Bisabolol sowie Chamazulen verantwortlich, dies über eine Hemmung der Cyclooxygenase und Lipoxygenase (1). Ferner liegen auch eine antibakterielle Wirkung insbesondere gegenüber grampositiven Keimen (Staphylococcus aureus, Streptokokken (2)) sowie wundheilungsfördernde Effekte vor, weshalb sie sich gut für die Behandlung von infizierten, nässenden Dermatitiden sowie Wunden eignet. Zur Anwendung kommen neben wässrigen Auszügen und Tees auch (verdünnte) standardisierte alkoholische Extrakte, beispielsweise für Auflagen oder Waschungen, oder aber verarbeitet z.B. in einer Crème (10-15%) oder in weisser Schüttelmixtur (2-5%). Zu beachten ist, dass alkoholische Extrakte wesentlich mehr ätherisches Öl enthalten als wässrige Extrakte, welche ihrerseits reichlich reizlindernde Schleimstoffe enthalten (1). Für eine möglichst umfassende Wirkung ist daher eine Kombination von Vorteil: Der wässrige Auszug (1-2 EL Kamillenblüten/150 ml kochendes Wasser) kann mit 5ml Kamillentinktur verstärkt werden. Auch das reine ätherische Öl kann zur Verstärkung dem alkoholischen Extrakt beigegeben werden, oder aber in halbfesten Zubereitungen verarbeitet werden (1-3%, alleine oder mit anderen ätherischen Ölen).
Das Allergierisiko ist entgegen landläufiger Meinung eher gering; mögliche Reaktionen sind meist auf Verunreinigungen mit Hundskamille zurückzuführen. Hundskamille enthält ein allergieauslösendes Sesquiterpenlakton, welches in der echten Kamille wenn dann nur in Spuren nachweisbar ist (1).

Atopische Dermatitis und Ekzeme: Ballonrebe und Nachtkerzenöl

Ebenfalls entzündungshemmend ist die Ballonrebe (Cardiospermum halicacabum), welche insbesondere bei atopischer Dermatitis und anderen Ekzemen zum Einsatz kommt; etwas ältere Studien belegen hier eine Wirksamkeit vergleichbar mit Hydrocortison (2, 3). Neben der Entzündungshemmung, vermutlich über eine Hemmung der Phospholipase A2 (1), weist die Ballonrebe auch juckreizlindernde und feuchtigkeitsspendende Eigenschaften auf. Angewendet wird die Ballonrebe als halbfeste Zubereitung bei leichten Schüben oder zur Intervalltherapie (2), entweder als Fertigpräparat oder rezeptiert als Magistralrezeptur.
Nachtkerzenöl (Oleum oenotherae) wird systemisch aber auch topisch bei atopischer Dermatitis eingesetzt. Sein hoher Gehalt an ϒ-Linolensäure wirkt über diverse Mechanismen entzündungshemmend und unterstützt den Aufbau der epidermalen Barriere; pur topisch aufgetragen wirkt es überdies sofort pflegend und rückfettend (2), es kann aber auch in Kombination mit Ballonrebe verarbeitet und als Basispflege angewendet werden (10-20%) (Rezeptur 1).

Gerbstoffdrogen bei nässenden und hochentzündlichen Hauterkrankungen

Die Gerbstoffe der Eichenrinde (Quercus cortex), der Zauber-nussblätter/-rinde (Hamamelidis folium/cortex) oder des etwas schwächeren Schwarztees (Camellia sinensis folium) wirken zusammenziehend, entzündungshemmend und abschwellend, juckreizstillend und je nach Gerbstoffgehalt auch antimikrobiell. Angewendet werden Gerbstoffdrogen als Waschungen oder Umschläge bei nässenden und hochentzündlichen Zuständen. Da die wasserlöslichen Gerbstoffe erst nach längerer Zeit extrahiert werden, muss auf eine genug lange Ziehzeit geachtet werden (2-3 EL Hamamelisblätter oder 3 TL Eichenrinde mit 1/2l Wasser übergiessen, ev. etwas kochen und 15-30 Minuten ziehen lassen. Da Gerbstoffe die Haut austrocknen können, gilt eine maximale Anwendungsdauer von ca. 10 Minuten pro Anwendung, während maximal 2-3 Wochen (1).
Hamameliswasser, welches in einigen Fertigpräparaten enthalten ist, wirkt nicht adstringierend, da durch Destillation hergestellt und dadurch gerbstofffrei, dank dem ätherischen Öl und den Flavonoiden wohl aber antiphlogistisch und reizlindernd (4).

Die Mahonie: Antiproliferative Arzneipflanze bei Psoriasis

Bei leichten bis mittelschweren Formen von Psoriasis kann die Mahonie (Mahonia aquifolium) eingesetzt werden. Das enthaltene Alkaloid Berberin wirkt als Calmodulin-Antagonist regulierend auf Zellwachstum und -vermehrung, sowie durch Komplexbildung mit der DNA mitosehemmend (1). Daneben wirkt Mahonie über diverse Mechanismen auch entzündungshemmend (1). Diverse Studien belegen die Wirksamkeit bei einer guten Verträglichkeit (5, 6) (Abb. 1).
Ferner weist Mahonie antiseborrhoische Wirkungen auf, wirkt Talgdrüsen-regulierend und zeigt bereits ab einer 1%igen Urtinktur-Zubereitung eine gute Wirksamkeit gegen alle Propionibacterium-acnes-Stämme (1), was sie zu einer geeigneten Option bei Akne macht. Da das im Handel erhältliche Präparat auf einer fettreichen Grundlage basiert, kann hier eine Rezeptur mit einer leichteren Grundlage (10% Urtinktur in z.B. O/W-Crème oder -Lotion) sinnvoll sein.

Arzneipflanzen bei Beschwerden des Bewegungsapparates

Bei Erkrankungen des Bewegungsapparates werden Phytotherapeutika innerlich wie auch äusserlich mit gutem Erfolg eingesetzt. Topika wirken nach der Applikation rasch und sehr effizient (1) bei einer guten Verträglichkeit und reduzierter Nebenwirkungsrate.

Arnika und Beinwell

Eine der wichtigsten Arzneipflanzen ist Arnika (Arnicae flos). Neben hyperämisierenden weist Arnika auch starke antiphlogistische und analgetische Wirkungen auf, welche v.a. auf die Sesquiterpenlaktone, insbesondere Helenalin, zurückzuführen sind. Durch diverse Wirkmechanismen wird an zentraler Stelle in das Entzündungsgeschehen eingegriffen (1, 7). Eingesetzt werden Arnikazubereitungen bei Verletzungs- und Unfallfolgen wie z.B. Hämatomen, Prellungen oder Verstauchungen, beispielsweise als Aufguss (2g Droge/100 ml Wasser) oder als Tinktur 3-10-fach verdünnt für Umschläge. Erhältlich ist neben diversen Fertigpräparaten auch das Arnika-Mazerat (Ölauszug), welches in einem Massageöl oder bis zu 15%ig in eine halbfeste Zubereitung eingearbeitet z.B. bei rheumatischen Muskel- und Gelenksbeschwerden Verwendung finden kann (1). Arnika darf nicht auf verletzter Haut angewendet werden, da der direkte Kontakt mit den Langerhans-Zellen im Stratum spinosum eine Kontaktdermatitis hervorrufen kann (1).
Bedeutsam ist auch der Wallwurz (Symphyti radix/herba/folium). Das enthaltene Cholin reduziert den Austritt von Gewebsflüssigkeit, fördert lokal die Durchblutung und wirkt so Ödem und Hämatom resorbierend (1). Schleimstoffe und Allantoin wirken reizlindernd, wundheilungsfördernd und regen so eine Gewebsregeneration an, unter anderem auch des Kallusgewebes (1), weshalb Wallwurz auch zur Nachbehandlung bei Knochenbrüchen eingesetzt werden kann (8). Rosmarinsäure wirkt entzündungshemmend und analgetisch (7). Wallwurz eignet sich für die Behandlung von stumpfen Verletzungen wie Verstauchungen, Zerrungen und Prellungen. In der Schweiz zugelassene Präparate sind aufgrund der Verwendung pyrrolizidinarmer Wallwurzsorten sowie spezieller Extraktionsprozesse pyrrolizidinarm (< 0.35 ppm) (9) und dürfen auch zeitlich unbeschränkt appliziert werden (1), allerdings nicht bei Kindern, wo eine zeitliche Beschränkung gilt (7-10 Tage) (8, 10). Die Anwendung auf offenen Wunden, sowie die Anwendung bei Schwangeren und Stillenden (11) und eine orale Einnahme ist kontra-indiziert (12).
Diverse kontrollierte Studien belegen die gute Wirksamkeit von Wallwurz, beispielsweise bei akuter Sprunggelenksdistorsion (nicht unterlegen bzw. signifikant stärkere Reduktion von Druck- und Bewegungsschmerz, versus Diclofenac-Gel), bei Kniegelenksarthrose, Rückenschmerz, Epikondylitis und Tendovaginitis. Mehrere offene Studien bestätigen die Besserung der Beschwerden bei guter Verträglichkeit, darunter eine nicht-interventionelle Studie mit über 300 Kindern im Alter von 3-12 Jahren vor allem mit Sport- und Unfallverletzungen (9).
Weitere geeignete topisch anzuwendende Arzneipflanzen bei Beschwerden des Bewegungsapparates sind Johanniskraut (Johanniskrautöl; durchblutungsfördernd, antiphlogistisch und analgetisch), Scharfstoffdrogen wie Cayennepfeffer (Capsaicin, als Pflaster; Counter-Irritant-Effekt, v.a. bei chronischen Schmerzsyndromen) oder auch Weihrauch (antiinflammatorisch, antiarthritisch). Diverse ätherische Öle wie z.B. Pfefferminze, Gewürznelke und Wintergrün (mit hohen Mengen an Menthol, Eugenol, Methylsalicylat: Analgetisch, lokalanästhetisch, antiphlogistisch) können z.B. bei Muskelschmerzen, entzündlich-rheumatischen Gelenkerkrankungen, Fibromyalgie oder zur Sportmassage eingesetzt werden (13).

Personalisierte Medizin: Phytotherapeutische Magistralrezeptur

Gerade in der Phytotherapie fehlen oftmals passende Fertigpräparate, weshalb das Verschreiben einer Magistralrezeptur nötig sein kann. In der Arzneimittelliste mit Tarif ALT (14) finden sich zahlreiche pflanzliche Wirkstoffe, die durch einen Apotheker verarbeitet werden dürfen und die, ärztlich verschrieben, von der Grundversicherung übernommen werden. Die Magistralrezeptur gewinnt auch im Sinne einer personalisierten Medizin immer mehr an Gewicht, da so ein auf den Patienten und seine Therapie optimal zugeschnittenes Arzneimittel verschrieben werden kann (Tab. 1).

Bei einer topischen Magistralrezeptur muss auch der Galenik besondere Beachtung geschenkt werden (Abb. 2): Die Wahl der Galenik hat bei Topika einen ähnlichen Stellenwert wie die Wahl des richtigen Wirkstoffes. Diverse Eigenwirkungen der Grundlage, sog. Vehikeleffekte, beeinflussen den Hautzustand direkt, es gilt das Therapieprinzip: Feucht auf feucht – Fett auf trocken. Auch allfällige Nebenwirkungen der Substanz können mittels richtiger Grundlage vermindert oder gar verhindert werden, ebenso wird die Grundlage den Transport des Wirkstoffes zum gewünschten Wirkort, beispielsweise bis in die Gelenke, gewährleisten. Ein Austausch mit dem herstellenden Apotheker kann daher sinnvoll sein, damit die jeweils optimale galenische Grundlage gefunden werden kann.

Karoline Fotinos-Graf

eidg. dipl. Pharm., FPH Phytotherapie
Schweizerische Medizinische Gesellschaft für Phytotherapie SMGP
Diesbachstrasse 11
3012 Bern

k.fotinos@smgp.ch

Die Autorin hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Diverse ausgewählte Arzneipflanzen mit breitem Wirkungsspektrum (antiphlogistisch, analgetisch, antipruriginös, antiinfektiös, adstringierend, wundheilungsfördernd, Ödem/Hämatom resorbierend) stehen für die topische Behandlung von leichten bis mittelschweren Hauterkrankungen sowie Beschwerden des Bewegungsapparates zur Verfügung, als alleinige Therapie oder adjuvant zu einer bestehenden Therapie
  • Für eine grössere Wirksamkeit können verschiedene Arzneipflanzen und/oder Zubereitungsarten (wässriger/alkoholischer Extrakt, ätherisches Öl etc.) untereinander kombiniert werden
  • Die Art der Zubereitungen sowie die Galenik sind entscheidend für die Wirksamkeit
  • Dem Arzt, der Ärztin stehen neben einigen pflanzlichen Fertigpräparaten zahlreiche Arzneipflanzen und ätherische Öle in der ALT (Arzneimittelliste mit Tarif) zur Verschreibung einer Magistralrezeptur zur Verfügung, welche über die Grundversicherung vergütet werden

1. Schilcher, Heinz, et al. Leitfaden Phytotherapie. München : Elsevier GmbH, 2016.
2. Augustin, Matthias und Hoch, Yvonne. Phytotherapie bei Hauterkrankungen. München : Elsevier GmbH, 2004.
3. Bachmann, Christoph. Cardiospermum bei dermatologischen Problemen. Ars Medici thema Phytotherapie. 23. April 2010 (02), Bd. 02, S. 7-8.
4. Fotinos-Graf, Karoline. Ätherische Öle in der Wundheilung und Entwicklung von geeigneten Rezepturen. www.smgp.ch. [Online] 5. November 2014. [Zitat vom: 28. August 2019.] http://www.smgp.ch/smgp/homeindex/faehigkeitsprogf/zertifikatsarbeiten/Fotinos-GrafKaroline.pdf.
5. Bachmann, Christoph. Neuere Studien mit Mahonia aquifolium bei Psoriasis. Ars Medici thema Phytotherapie 02. 23. April 2010, S. 9.
6. Janeczek, Monica, et al. Review of the Efficacy and Safety of Topical Mahonia aquifolium for the Treatment of Psoriasis and Atopic Dermatitis. J Clin Aesthet Dermatol. 11(12). 1. Dezember 2018, S. 42–47.
7. Bäumler, Siegfried. Heilpflanzenpraxis heute: Arzneipflanzenporträts. München : Elsevier Urban & Fischer Verlag, 2012. Bd. 1.
8. Swissmedic. Swissmedicinfo Kytta med Rheumasalbe. [Online] Swissmedic-Schweizerisches Heilmittelinstitut. [Zitat vom: 22. August 2019.] http://swissmedicinfo.ch/.
9. Wegener, Tankred und Deitelhoff, Birgit. Die Beinwellwurzel Symphytum officinale L., radix – ein Update. Z Phytother. 2018 39(01), S. 5-13.
10. Swissmedic. Swissmedicinfo Traumaplant Salbe. [Online] Swissmedic. [Zitat vom: 22. August 2019.] http://swissmedicinfo.ch/.
11. Phytocura. HERBA PRO MATRE Datenbank zur Bewertung von Arzneipflanzen in Schwangerschaft und Stillzeit. [Online] [Zitat vom: 19. Oktober 2019.] www.phytocura.ch.
12. BGA-BfArM-Kommission_E. Symphyti radix/herba/folium D11AG. Köln : Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft, 1990.
13. Bäumler, Siegfried. Heilpflanzenpraxis heute: Rezepturen und Anwendung. München : Elsevier Urban & Fischer, 2013. Bd. 2.
14. Bundesamt für Gesundheitswesen. Arzneimittelliste mit Tarif. www.bag.admin.ch. [Online] 1. 7 2005. [Zitat vom: 30. August 2019.] http://www.bag.admin.ch/themen/krankenversicherung/06492/06493/index.html?lang=de.

Biologika in der Rheumatologie

Die Behandlungsmöglichkeiten entzündlich-rheumatischer Erkrankungen konnten in den letzten 20 Jahren erheblich verbessert werden. Im Jahr 2000 wurde Etanercept (Enbrel®), ein therapeutisches Fusionsprotein gegen Tumornekrosefaktor-TNF-α und etwa zeitgleich Infliximab (Remicade®), ein Antikörper ebenfalls gegen TNF-α in Europa zugelassen. In den nachfolgenden Jahren erreichten zunehmend mehr Antikörper, auch gegen andere Zielmoleküle gerichtet, den Markt und ergänzen die mittlerweile sehr umfangreichen Therapiemöglichkeiten. Ausserdem sind seit einiger Zeit mehrere Biosimilars (generische Präparate) verfügbar, die nahezu die identische Molekularstruktur aufweisen. Dieser Artikel gibt eine Übersicht über die aktuell verfügbaren Substanzen. Dabei sei erwähnt, dass in den letzten Jahren einige sogenannte «Small Molecules» in den klinischen Einsatz kamen, die gänzlich andere Molekülstrukturen und Wirkmechanismen aufweisen und somit separat betrachtet werden müssen.

Allen Antikörpern ist gemeinsam, dass die meisten von ihnen eine grosse Anzahl von randomisierten, kontrollierten Studien durchlaufen haben, nicht nur um die Wirksamkeit zu prüfen, sondern auch um Sicherheitsaspekte zu klären. Auch sogenannte Post-Marketing-Studien haben in den letzten mindestens 15 Jahren zusätzlich dazu beigetragen, das Sicherheits- und Nebenwirkungsprofil noch genauer zu präzisieren. Insofern verfügen wir heutzutage über eine enorme Datenlage aus prospektiven und retrospektiven Studien. Verschiedene Antikörper dürfen nicht gleichzeitig verabreicht werden, allerdings ist häufig eine Kombination mit einem konventionellen Basistherapeutikum (zum Beispiel Methotrexat) erforderlich.
Die Präparate sind durch ein Risikoprofil und Nebenwirkungsspektrum gekennzeichnet. Die Kenntnis dieser Profile ist notwendige Voraussetzung für den sicheren Umgang. Nur so können Patienten vor Beginn der Therapie und bei eventuellen Nebenwirkungen adäquat beraten und behandelt werden. In regelmässigen Abständen sollten während der Behandlung laborchemische Kontrollen erfolgen. Die Intervalle richten sich individuell nach Begleitmedikationen und Komorbiditäten. Ebenfalls sollte in regelmässigen Abständen eine klinische Evaluation der Krankheitsaktivität erfolgen, um die Notwendigkeit einer Eskalation oder Deeskalation zu beurteilen.
Ziel dieses Artikels ist eine Übersicht über die einzelnen Präparate zu geben und einige der wichtigsten Nebenwirkungsprofile zusammenzustellen. Mit wenigen Ausnahmen sind Biologika nur zugelassen, wenn konventionelle Basistherapien entweder nicht vertragen wurden oder unwirksam waren. Den Präparaten ist gemeinsam, dass eine mehr oder weniger umfangreiche Immunsuppression induziert wird. Dies hat zur Folge, dass entsprechende Vorsichtsmassnahmen getroffen werden sollten. Erforderlich ist es, vor Beginn der Therapie akute und chronische Infektionen auszuschliessen, da diese als Kontraindikation betrachtet werden müssen. Umgekehrt sollte bei Auftreten eines akuten Infektes die Behandlung solange pausiert werden, bis die Symptomatik gänzlich sistiert hat. Vor Beginn der immunsuppressiven Therapie sollte ein Röntgen-Bild des Thorax zum Ausschluss chronischer pulmonaler Infiltrate und spezifischer tuberkulöser Herde vorgenommen werden. Auch sollte eine Serologie für Hepatitis B (Hbs-Ag, anti-Hbs, anti-Hbc), Hepatitis C (anti-HCV), HIV und Tuberkulose (Quantiferon-Test) durchgeführt werden. Der Impfstatus sollte für Tetanus, Diphtherie, Pertussis sowie Pneumokokken und jährlich Influenza aufgefrischt werden, Varizellen und Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) sind ebenfalls sinnvoll. Lebendimpfstoffe dürfen bei immunsupprimierten Patienten nicht eingesetzt werden.
Bei Nachweis einer durchgemachten aber nicht mehr aktiven (latenten) Tuberkulose ist eine Prophylaxe mit 300 mg/d Isoniazid für 9 Monate erforderlich. Die Antikörper-Therapie sollte vor einer Operation pausiert werden.
Im Folgenden werden die einzelnen Stoffgruppen vorgestellt und wichtige Nebenwirkungsprofile diskutiert.

Antikörper gegen Tumornekrosefaktor-α

TNF-α ist ein essenzieller Entzündungsbotenstoff, der eine Vielzahl von Abwehrmassnahmen des Immunsystems steuert. Die Hemmung von TNF-α durch Antikörper hat einen medizinhistorisch bedeutsamen Durchbruch für die Behandlung einer Vielzahl autoimmuner Erkrankungen ergeben. Zugelassen sind Etanercept (Enbrel®), Infliximab (Remicade®), Adalimumab (Humira®), Certolizumab (Cimzia®) und Golimumab (Simponi®) sowie mittlerweile einige Biosimilars. Indikationen sind unter anderem die juvenile idiopathische Arthritis, rheumatoide Arthritis, Plaque-Psoriasis sowie Psoriasis Arthritis, Spondylitis ankylosans und chronisch entzündliche Darmerkrankungen. Kontraindikationen sind maligne Erkrankungen in den letzten fünf Jahren, chronische Infekte und aktive Tuberkulose, Herzinsuffizienz NYHA III und IV, demyelinisierende Erkrankungen des zentralen Nervensystems und Schwangerschaften, die einzige Ausnahme ist Certolizumab. Anhand dieses Spektrums kann bereits abgelesen werden, dass bestimmte Patientengruppen nicht mit diesen Antikörpern behandelt werden sollten. Im Vordergrund stehen Infektkomplikationen. Beim Verdacht eines Infektes sollte deshalb die Medikation umgehend pausiert und eine entsprechende Diagnostik verfolgt werden. Dabei ist zu beachten, dass gerade am Anfang Fieber, die CRP-Synthese und weitere klassische Eigenschaften einer Infektion gehemmt und somit der Infekt mit nachfolgender eventueller Sepsis übersehen werden könnte. Die Indikation für eine antibiotische Behandlung sollte daher grosszügiger gestellt werden, als bei immunkompetenten Patienten.
Für TNF-Antikörper und alle anderen Biologika wurde sehr bald nach der Zulassung eine Diskussion bezüglich der Sicherheit während Schwangerschaften geführt. Als einziges Präparat erhielt kürzlich Certolizumab (Cimzia®) in dieser Situation eine Zulassung. Aufgrund des fehlenden Fc-Fragments penetriert das Molekül nicht die Plazentaschranke. Hingegen sind bei Neugeborenen, deren Mütter während ihrer Schwangerschaft mit anderen Antikörpern behandelt wurden, hohe Serumspiegel dieser Antikörper nachweisbar. Demzufolge sind diese Kinder in den ersten Wochen nach der Geburt hochgradig immunsupprimiert und dürfen nicht mit Lebendimpfstoffen behandelt werden.
Eine weitere Frage wurde hinsichtlich der erhöhten Tumorinzidenz gestellt. Umfangreiche Studien haben mittlerweile gezeigt, dass durch eine Behandlung mit TNF-Antikörpern kein erhöhtes Tumorrisiko entsteht.
Abschliessend sollte noch auf das seltene Phänomen einer Induktion von Psoriasis durch TNF-Antikörper hingewiesen werden. Diese scheint übergreifend bei allen Präparaten mit einer Prädominanz von Infliximab aufzutreten. Bei Auftreten einer Psoriasis sollte deshalb das Präparat pausiert bzw. auf eine andere Substanzgruppe umgesetzt werden.

Abatacept (Orencia®)

Dieses Präparat ist zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis und idiopathischen Arthritis ab dem 6. Lebensjahr zugelassen. Abatacept interferiert mit der Aktivierung von T-Zellen. Somit ist ebenfalls eine leicht höhere Infektwahrscheinlichkeit zu erwarten. Die Angaben der Infektionskomplikationen variieren in den Studien, allerdings wird meist ein nur mässiggradig erhöhtes Risiko festgestellt. Die Verträglichkeit gemessen an der Anzahl der Patienten, die Abatacept in Kombination mit Methotrexat wegen eines unerwünschten Ereignisses beendet haben, war im Vergleich zu anderen Biologika besser.

Rituximab (Mabthera®)

Dieses Präparat ist als Zweitlinientherapie der rheumatoiden Arthritis und von ANCA-assoziierten Vaskulitiden zugelassen. Grundsätzlich wird eine Depletion von CD20 positiven B-Zellen erreicht. Aufgrund dieses Mechanismus ist es obligat, vor Beginn der Therapie den Impfstatus zu überprüfen und gegebenenfalls aufzufrischen, da danach ein sicherer Impftiter meist nicht mehr erreichbar ist. Die Immunglobuline sollten vor der Therapie bestimmt werden, da eine Hypoglobulinämie das Infektrisiko erhöht. In Studien wurden am häufigsten akute Infusionsreaktionen bei etwa 25% der Patienten berichtet, die aber nie tödlich verliefen. Bei weniger als 10% der Patienten wurden vermehrt Infektionen beobachtet.
Erwähnenswert sind seltene Fälle (5/100 000) von progressiver multifokaler Leukoenzephalopathie (PML). Es konnte aber kein ursächlicher Zusammenhang durch eine Behandlung mit Rituximab hergestellt werden, da unter anderem die Inzidenz der PML bei Patienten mit rheumatoider Arthritis abnahm, die Behandlungen mit Rituximab aber zunahmen.

Tocilizumab (Actemra®) und Sarilumab (Kevzara®)

Beide Antikörper hemmen den Botenstoff Interleukin 6 (IL-6) durch verschiedene Mechanismen und sind zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis zugelassen. Tocilizumab hat zusätzlich eine Zulassung bei der Riesenzellarteriitis (Morbus Horton). Aufgrund der sehr viel längeren Marktpräsenz von Tocilizumab liegen wesentlich mehr Daten zu diesem Präparat vor. Tocilizumab zeigte in Studien eine im Vergleich zur Kontrollgruppe leicht vermehrte Rate an Hautinfektionen, zum Beispiel verursacht durch Staphylococcus cellulitis oder Pyelonephritiden. Aber auch seltene Ereignisse wie Übelkeit und abdominelle Schmerzen wurden beobachtet. Eine Neutropenie trat in etwa 6% der Fälle auf. Ausserdem wurden Erhöhungen der Leberenzyme und des Gesamtcholesterins sowie LDL berichtet. Erwähnenswert ist, dass besonders durch die IL-6 Hemmung in der Leber die CRP-Synthese beeinträchtigt ist und somit ein laufender Infekt serologisch maskiert wird.

Secukinumab (Cosentyx®) und Ixekizumab (Taltz®)

Beide Präparate sind zur Behandlung der Psoriasis, Psoriasisarthritis und Secukinumab zusätzlich zur Behandlung der Spondylitis ankylosans zugelassen. Sie hemmen Interleukin 17 (IL-17). Dieses Zytokin ist ebenfalls ein bedeutender proinflammatorischer Mediator aktivierter T-Zellen. Aufgrund der längeren Marktpräsenz liegen mehr Daten aus randomisierten Studien für Secukinumab vor. In Studien zeigte dieses Präparat am meisten Harnwegsinfekte, Nasopharyngitiden, Kopfschmerzen und Diarrhoe. Einige Nebenwirkungen wurden nicht bei anderen Biologika beobachtet und scheinen somit spezifisch für das Zielmolekül IL-17 zu sein, wie Neutropenie, Durchfall oder Infektionen mit Candida. Die Präparate dürfen nicht bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt werden.

Canakinumab (Ilaris®) und Anakinra (Kineret®)

Beide Moleküle hemmen Interleukin 1 (IL-1), allerdings ist nur Canakinumab in der Schweiz zugelassen, und zwar zur Behandlung der folgenden seltenen Erkrankungen: Cryopyrin-assoziierte periodische Syndrome (CAPS), einschliesslich familiäres kälteautoinflammatorisches Syndrom (FCAS)/familiäre Kälteurtikaria (FCU), Muckle-Wells-Syndrom (MWS), multisystemische entzündliche Erkrankung mit Beginn im Neugeborenenalter (NOMID)/chronisch infantiles neuro-dermo-artikuläres Syndrom (CINCA), tumornekrosefaktor-Rezeptor-assoziiertes periodisches Syndrom (TRAPS), Hyperimmunglobulin-D-Syndrom (HIDS)/Mevalonatkinasedefizienz (MKD), Familiäres Mittelmeerfieber (FMF) und systemische juvenile idiopathische Arthritis.
Über 800 Patienten und gesunde Kontrollpersonen wurden mit dem Präparat in klinischen Studien behandelt. Insgesamt traten bei nur 15 Patienten schwerwiegende Ereignisse auf, wie zum Beispiel Infektionen, gastrointestinale Nebenwirkungen und Schwindel. Das Präparat erschien somit sehr gut verträglich. Aufgrund der Tatsache, dass das Präparat bei seltenen Erkrankungen eingesetzt wird, ist die Datenlage im Vergleich zu den anderen Biologika allerdings weniger umfangreich.

Belimumab (Benlysta®)

Der Antikörper Belimumab hemmt das BAFF-Protein, das bei der Aktivierung von B-Zellen eine wichtige Rolle spielt. Er ist zur Behandlung des systemischen Lupus erythematodes (SLE) verfügbar und bisher das einzige zugelassene biologische Molekül bei dieser Erkrankung. Belimumab zeigte in einer Studie mit 556 Patienten die gleichen Ereignisraten wie in der Placebo Gruppe mit 280 Patienten. Am häufigsten wurden Infusionsreaktionen, Überempfindlichkeit, Kopfschmerzen, Übelkeit und Fatigue beobachtet. Mehr als in der Placebogruppe traten Schlaflosigkeit und Angstgefühle auf. Prospektive und retrospektive Studien haben insgesamt ein aber gutes Sicherheitsprofil mit einer niedrigen Inzidenz von schwerwiegenden Ereignissen gezeigt.

Ustekinumab (Stelara®)

Der Antikörper bindet an eine gemeinsame Untergruppe der Interleukine 12 und 23. Er ist für die Behandlung der Plaque-Psoriasis, Psoriasis-Arthritis und Morbus Crohn zugelassen. Am häufigsten traten in Studien Nasopharyngitis, obere Atemwegsinfekte und Kopfschmerzen auf. Gepoolte Datenanalysen zur Sicherheit aus Phase II und III Studien zeigten aber vergleichbare Ereignisraten zwischen Patienten, die mit verschiedenen Dosen Ustekinumab (51.6%) und mit Placebo behandelt wurden (50.4%). Ähnliche Daten ergeben sich aus dem PSOLAR- Register (Psoriasis Longitudinal Assessment and Registry).

Denosumab (Prolia®)

Der Antikörper ist u.a. zur Behandlung der Osteoporose bei Männern und postmenopausalen Frauen zugelassen. Er hemmt Osteoklasten indem er an das Eiweiss RANKL bindet. Ähnlich wie bei Bisphosphonaten werden auch bei diesem Präparat selten atypische Mikrofrakturen vorwiegend im proximalen Femur beobachtet. Ausserdem sind Osteonekrosen des Kiefers beschrieben, weshalb Zahninterventionen immer in Absprache mit dem Zahnarzt erfolgen sollten. Sehr bedeutsam sind jedoch Wirbelkörperfrakturen, die nach Absetzen des Präparates bei einigen Patienten beobachtet werden. Noch ist nicht gänzlich geklärt, wann und in welcher Form eine Nachbehandlung mit Bisphosphonaten erforderlich wird.

Zusammenfassung

Sowohl aus prospektiven Studien als auch aus retrospektiven Analysen lassen sich mittlerweile relativ eindeutige Nebenwirkungsprofile erkennen. Für die meisten Präparategruppen ergibt sich ein erhöhtes Infektrisiko. Ausserdem muss beachtet werden, dass auch innerhalb einer Präparategruppe Indikationen unterschiedlich ausfallen. Deshalb ist es sinnvoll, vor Beginn einer Therapie die genaue Zulassung zu prüfen.
Wichtig ist, dass der Patient ausreichend über das Nebenwirkungsprofil aufgeklärt und nach Möglichkeit in schriftlicher Form informiert ist (zum Beispiel über die Internetseite der Schweizerischen Fachgesellschaft für Rheumatologie). Der Patient muss beispielsweise informiert sein, dass im Falle eines Infektes oder gar Fieber die Therapie nicht unkritisch fortgeführt werden darf. Ausserdem sollte der Patient die Gelegenheit erhalten, sich jederzeit an ein Zentrum wenden zu können. Sehr hilfreich für Patienten sind auch Informationen, die durch Selbsthilfegruppen angeboten werden. Zukünftig werden weitere biologische und nicht biologische Präparate den Markt erreichen. Deshalb ist es sinnvoll, sich über die neuen Präparate zeitnah zu informieren.

PD Dr. med. Matthias Seidel

Chefarzt Klinik für Rheumatologie
Spitalzentrum Biel – Centre hospitalier Bienne
Vogelsang 84
2501 Biel-Bienne

matthias.seidel@szb-chb.ch

Der Autor hat unabhängig von diesem Artikel Zuwendungen von Abbvie, Bristol-Myers Squibb, Lilly, Novartis, Pfizer, Roche, Sanofi und UCB erhalten.

  • Biologika sind auch bei der Langzeitanwendung gut verträgliche Medikamente
  • Infekte sind die häufigste Nebenwirkung
  • Vor Behandlungsbeginn müssen akute und chronische Infektionen ausgeschlossen werden, insbesondere Hepatitis B und C, HIV sowie Tuberkulose
  • Vor Behandlungsbeginn sollte der Impfstatus überprüft werden
  • Einige Biologika erfordern spezifische Vorsichtsmassnahmen
  • Der Patient sollte an den Entscheidungen aktiv beteiligt und informiert sein
  • Bei Komplikationen sollte der Patient immer ein Akutspital zur Verfügung haben.

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