Obstipation

Der Begriff Obstipation beschreibt eine subjektiv als unbefriedigend empfundene Defäkation. Die typischen Symptome umfassen neben der zu seltenen Entleerung (< 3 Stuhlgänge/Woche) und zu harter Stuhlkonsistenz, die häufig starkes Pressen erfordert, das Ausbleiben der Entleerung trotz Stuhldrangs («unproduktiver» Stuhldrang, Blockadegefühl), das Gefühl der unvollständigen Entleerung oder den Einsatz digitaler Manipulationen zur Stuhlentleerung (Ausräumung oder Stützen des Beckenbodens). Der Artikel resümiert differentialdiagnostische Überlegungen und präsentiert aktuelle Behandlungsmöglichkeiten.

Stehen die 3 letztgenannten Beschwerden im Vordergrund, ist unter dem Verdacht auf Vorliegen einer obstruktiven anorektalen Entleerungsstörung die anorektale Funktionsdiagnostik mittels Analmanometrie (inkl. Messung der Perzeptionsschwellen) sowie eine MRI-Defäkographie zu erwägen. Kommen Abdomial- schmerzen und Blähungen hinzu, die sich nach der Defäkation bessern, ist von einem obstipationsprädominanten Reizdarmsyndrom (Colon irritabile, IBS-C) auszugehen. Eine weitere Sonderform stellt die opiatinduzierte Obstipation dar.

Diagnostik

Für eine differenzierte Therapie ist es wichtig, die zugrundeliegende Ätiologie der Obstipation zu identifizieren, sekundäre Ursachen einer Obstipation (Tab. 1) auszuschliessen und vor allem obstipationsauslösende Medikamente abzusetzen. Insbesondere bei plötzlich neu aufgetretener Obstipation in Verbindung mit einer positiven Familienanamnese für kolorektale Karzinome, Alarmzeichen oder jenseits des 50. Lebensjahres ist eine Koloskopie zum Ausschluss eines Kolonkarzinoms oder einer Divertikulitis erforderlich. Bei fehlendem Ansprechen auf die Standardtherapie (s.u.) sind die anorektale Funktionsdiagnostik und eine MRI-Defäkographie anzustreben. Damit gelingt es, eine mechanische anorektale Obstruktion, z.B. durch eine anteriore Rektozele, von einer funktionellen Obstruktion durch unzureichende Propulsionskräfte, z.B. durch eine fehlende Relaxation der Puborektalis-Schlinge oder eine paradoxe Sphinkterkontraktion während der Defäkation, zu unterscheiden.

Differenzierte und evidenzbasierte Therapie

Basis jeglicher Behandlung sind Allgemeinmassnahmen und die Beeinflussung des Lebensstils, wie die Wiedereinübung eines festen Defäkationsrhythmus unter Ausnutzung des gastrokolischen Reflexes, genügend körperliche Betätigung und eine Vergrösserung der Stuhlmenge durch ballaststoffreiche Ernährung (ca. 20–30 g/d).
Letzteres muss häufig durch die Einnahme inerter Quellmittel wie Flohsamenschalen (Plantago ovata; z.B. Metamucil®, Mukofalk®) oder Sterculiae gummi (Colosan mite®, Normacol®) zusammen mit ausreichender Flüssigkeitszufuhr erreicht werden. Als Nebenwirkung – vor allem bei Ballaststoffen auf Getreidebasis wie Leinsamen und Weizenkleie – ist aber mit Meteorismus zu rechnen, sodass einschleichend dosiert werden sollte und diese Massnahmen bei IBS-C oder IBS-A auch kontraproduktiv sein können. Häufig suchen die Patienten aber erst ärztliche Hilfe, wenn diese Massnahmen nicht ausreichen. Dann kommen typischerweise klassische Laxanzien zum Einsatz.
Die beste Evidenz besteht für den Einsatz von Polyäthylenglykol bzw. Macrogol (z.B. Movicol® 10-40g/d) und Laktulose. Diese Substanzen sind osmotisch aktiv, erhöhen die Stuhlfrequenz, reduzieren das zur Defäkation erforderliche Pressen und führen zu einem weicheren Stuhl. Die bei der bakteriellen Fermentation von Laktulose im Kolon entstehenden Gase sind für die Nebenwirkungen (Meteorismus) verantwortlich, sodass bei entsprechenden Beschwerden dem nicht metabolisierbaren Polyäthylenglykol der Vorzug zu geben ist.
Bleiben diese Massnahmen ohne Erfolg, kommen zusätzlich stimulierende Laxanzien wie Bisacodyl (Dulcolax®) oder Anthrachinonderivate (Folia Sennae) zum Einsatz. Sie entfalten ihre Wirkung 6–10 h nach Einnahme über eine Veränderung des Elektrolyttransports in der Darmmukosa und stimulieren die Motilität. Entgegen der vielfach kolportierten Nebenwirkungen gilt heute auch die langfristige Anwendung dieser Präparate als sicher. Inzwischen konnte die Wirksamkeit auch für das seit den 50er Jahren therapeutisch genutzte und in zahlreichen Studien als «Rescue»-Medikation eingesetzte Dulcolax Bisacodyl in einer randomisierten plazebo-kontrollierten Doppelblind-Studie belegt werden.

Therapierefraktäre Obstipation

Kommt es nach einer Behandlung mit mindestens zwei Laxanzien unterschiedlicher Klassen über einen Zeitraum von mindestens 9 Monaten nicht zu einem Ansprechen, ist nach nochmals kritischem Hinterfragen der Ätiologie (mechanische Obstruktion/Karzinom? Anorektale Entleerungsstörung mit Indikation zur Funktionsdiagnostik? Sekundäre Ursachen? Obstipierende Medikamente/Opiate?) eine Therapie mit den neueren und ca. 2-3fach teureren Laxanzien wie Lubiproston (Amitiza®) oder Prucaloprid (Resolor) indiziert (Tab. 2).
Lubiproston ist ein Metabolit des Prostaglandins E1, der die Chloridkanäle vom Typ 2 in der apikalen Membran der Darmepithelzellen aktiviert. Das führt zu einer chloridreichen intestinalen Flüssigkeitssekretion und einer erleichterten Stuhlpassage. Nach peroraler Gabe von zweimal täglich einer Tablette Lubiproston 24 µg zusammen mit einer Mahlzeit haben 60% der Patienten innerhalb von 24 Stunden eine spontane Darmentleerung und Stuhlfrequenz und obstipationsassoziierte Symptome bessern sich. Limitierender Faktor sind dosisabhängig auftretende Kopfschmerzen (12%) und Übelkeit (32%!), die durch Einnahme des Medikaments zusammen mit einer Mahlzeit zwar etwas gemildert werden kann, aber bei bis zu 5% der Patienten Anlass für einen Therapieabbruch gibt.
Prucaloprid ist ein hochselektiver Serotonin-(5-HT4) Rezeptor-Agonist, der über eine Freisetzung von Acetylcholin eine gesteigerte mukosale Sekretion und Kolonmotilität führt. Aufgrund der hohen Rezeptorselektivität treten die bei anderen 5-HT4-Agonisten wie Cisaprid oder Tegaserod beobachteten kardialen Nebenwirkungen nicht auf. Die empfohlene Initialdosis beträgt 1 mg einmal täglich p.o. und kann auf einmal täglich 2 mg gesteigert werden. Prucaloprid führt bei ca. zwei Dritteln der Patienten zu einer Erhöhung der Stuhlfrequenz und einer Minderung assoziierter Symptome wie Meteorismus und abdominalem Diskomfort. Bei insgesamt bis zu 20% der Patienten können Nebenwirkungen im Sinne von Kopfschmerzen, Übelkeit oder Diarrhoe auftreten. Die Substanz ist vor allem bei sehr stark verzögerter Kolontransitzeit eine hervorragende Ergänzung der therapeutischen Möglichkeiten. Als maximale Therapiedauer gibt der Hersteller 12 Wochen an. Für eine wiederholte Therapie ist eine Kostengutsprache erforderlich.

Sonderform opiatindizierte Obstipation

Zur Behandlung schwer erkrankter Patienten mit opiatinduzierter Obstipation, die auf eine kombinierte Laxanzientherapie aus osmotischen und stimulierenden Laxanzien oder Lubiproston nicht angesprochen haben, steht mit Methylnaltrexon (Relistor®) ein peripher wirksamer μ-Opioid-Rezeptorantagonist zur Verfügung. Es handelt sich dabei nicht um eine Dauertherapie mit fixem Dosisintervall, sondern wird bei Bedarf eingesetzt, wenn andere Therapiemassnahmen versagt haben. Die Applikation erfolgt subkutan in einer Dosierung von maximal 12 mg alle 48 Stunden, bei einem Körpergewicht unter 62 kg in adaptierter Dosis (8 mg). Da die Substanz die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden kann, bleibt die zentralnervöse analgetische Wirkung der Opiate erhalten. Aus ungeklärten Gründen spricht aber nur etwa die Hälfte der Patienten an. Als häufigste Nebenwirkungen wurden Blähungen und Bauschmerzen beobachtet. Die Therapiedauer in den Zulassungstudien lag bei maximal 4 Monaten. Die Dosis muss bei schwerer Niereninsuffizienz (Kreatinin-Clearance < 30ml/min) halbiert werden. Bei der primären chronischen idiopathischen Obstipation ist die Substanz nicht wirksam (Tab. 2).

Sonderform obstipationsprädominantes Reizdarmsyndrom (IBS-C)

Zur Behandlung des obstipationsprädominanten Reizdarmsyndroms steht seit einigen Jahren Linaclotid (Constella®) zur Verfügung. Das aus 14 Aminosäuren bestehende Peptid bewirkt durch direkte Aktivierung der im Darmepithel vorkommenden Guanylatzyklase-C (GC-C) eine lokale Erhöhung der cGMP-Konzentration, die über eine Aktivierung eines Chloridionenkanals zur Sekretion von Chlorid, Bikarbonat und Wasser in das Darmlumen führt. Darüber hinaus werden der Substanz schmerzlindernde Eigenschaften zugeschrieben, die aus einer Beeinflussung der viszeralen Hypersensibilität resultieren, die wiederum beim Reizdarmsyndrom eine wesentliche pathophysiologische Rolle spielt. Bei IBS-C werden einmal täglich 30 Min. vor dem (Mittag-)Essen 290 µg/d Linaclotid p.o. (für bis zur 3 Monate) verabreicht. In der Zulassungsstudie an insgesamt 1276 Patienten kam es bei 20% der Patienten zu einer signifikanten Steigerung der Stuhlfrequenz im Vergleich zu nur 5% im Placebo-Arm. Ein Drittel der Patienten berichtete zudem über einen Rückgang von Blähungen und Bauchschmerzen. Ein klinisch relevanter Vorteil gegenüber herkömmlichen Laxantien ist der viszeral-analgetische Effekt, der allerdings erst nach einigen Wochen einsetzt (Tab. 2).

Therapieprinzipien bei anorektalen Entleerungsstörungen

Zur Behandlung funktioneller anorektaler Entleerungsstörungen infolge paradoxer Sphinkterkontraktion oder einer fehlenden Relaxation der Puborektalis-Schlinge beim Pressen (Anismus) ist eine spezifische anorektale Physiotherapie und Biofeedback zur Optimierung der Bauchpresse und zur Verbesserung der anorektalen Koordination und Perzeption Mittel der Wahl. Dabei wird den Patienten mit Hilfe verschiedener Sensoren der Sphinkterdruck während der Defäkation visualisiert, so dass inadäquate Kontraktionen der Beckenbodenmuskulatur und des Schliessmuskels modifiziert werden können. Die Wirksamkeit von mehreren Biofeedbacksitzungen ist gut belegt und übertrifft die einer Laxantientherapie.
Im Falle struktureller anorektaler Erkrankungen, z. B. einer klinisch relevanten Rektozele oder Intussuszeption kann bei ausgewählten Patienten auch ein chirurgisches Vorgehen indiziert sein (z. B. staplerassistierte transanale Rektumresektion), idealerweise nach interdisziplinärer Besprechung an einem zertifizierten Beckenbodenzentrum.

PD Dr. med. Heiko Frühauf

Zentrum für Gastroenterologie und Hepatologie
Vulkanplatz 8
8048 Zürich

fruehauf@zgh.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Für eine differenzierte Therapie der Obstipation ist es wichtig, die zugrundeliegende Ätiologie zu kennen und sekundäre Ursachen,
    insbesondere Medikamente sowie ein Kolonkarzinom auszuschliessen
  • Neben Allgemeinmassnahmen und Quellmitteln sind osmotische Laxantien wie Macrogol oder Laktulose, ggf. in Kombination mit
    Dulcolax Bisacodyl die beste Therapie
  • Führt die Standardtherapie nicht zu einem klinischen Ansprechen, kommt der Einsatz von Lubiproston (Amitiza®) oder Prucaloprid
    (Resolor®) in Betracht
  • Bei obstipationsprädominantem Reizdarmsyndrom steht mit Linaclotid (Constella®) ein Medikament zur Verfügung, das neben der laxierenden auch eine viszeral-analgetische Wirkung hat, die allerdings erst nach einigen Therapiewochen einsetzt
  • Bei fehlendem Ansprechen auf die Standardtherapie können die anorektale Funktionsdiagnostik und eine MRI-Defäkographie therapierelevante Zusatzinformationen liefern.

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Kognitive Störungen im Alter

Kognitive Störungen im Alter sind häufig und können – wenn früh und richtig diagnostiziert – mit heute vorhandenen medikamentösen und nicht-medikamentösen Massnahmen entscheidend beeinflusst werden. Die Abklärung wie auch die Therapie sind auf den einzelnen Patienten abgestimmt und hängen wesentlich von dessen Einverständnis, Gesundheitszustand und den sozialen Lebensumständen ab.

Mit Patientenklagen über kognitive Störungen können wir bei jüngeren Erwachsenen, aber ganz speziell im 3. und 4. Lebensalter konfrontiert werden. In jedem Fall müssen solche Klagen ernst genommen werden, da bei richtiger Diagnosestellung und frühzeitiger Einleitung von therapeutischen Massnahmen der weitere Verlauf massgeblich beeinflusst werden kann. Obwohl es seit Einführung der DSM-5 den Begriff «Demenz» eigentlich nicht mehr gibt, ist dieses im Alter häufige Krankheitsbild (jeder 3. über 85-Jährige betroffen!) natürlich nicht verschwunden. Zwar hat die Demenz-Inzidenz infolge deutlich besserer Behandlung von vaskulären Risikofaktoren in den letzten 20 Jahren bis zu 50% abgenommen – doch, der demographische Wandel hat diesen medizinischen Fortschritt zahlenmässig praktisch neutralisiert. Das moderne Management von kognitiven Störungen bei dementieller Entwicklung fusst auf 4 Pfeilern (Abb. 1): Frühe und präzise Diagnostik, medikamentöse Therapie, nicht-medikamentöse Therapiemassnahmen und gezielte Unterstützung/Begleitung der Angehörigen und Betreuer (1).

Gibt es im Alter «normale» kognitive Störungen?

Patienten – wie wir Ärzte – haben Tendenz, bei vermehrter Vergesslichkeit und anderen «kleinen» Hirnfehlleistungen das Älterwerden oder das Alter im Allgemeinen dafür verantwortlich zu machen. Die Tatsache ist eine andere. Die normale Hirnalterung ist wissenschaftlich sehr gut untersucht und ist lediglich mit einer diskreten Verlangsamung von Denk- und Reaktionsprozessen verbunden. Kann also ein Name nicht sofort, aber nach einer gewissen Zeit erinnert werden, ist dies noch «normal». Wenn man immer schon ein schlechtes Namensgedächtnis hatte, darf man im Alter keine diesbezügliche Verbesserung erwarten! Ist die Vergesslichkeit aber neu und der dadurch verursachte subjektive Leidensdruck der Patienten vorhanden (selbst bei neuropsychologischer Untersuchung mit Normalbefund), dann ist dies nach neuesten Erkenntnissen als «Subjective Cognitive Decline» zu werten, der in 25% der Fälle innerhalb von 6 Jahren zu einer Demenz führt (2). Leider werden Hirnleistungsstörungen von vielen immer noch primär auf Gedächtnis und Vergesslichkeit reduziert. Unser Hirn leistet jedoch viel mehr! Viele dementielle Prozesse beginnen denn auch in anderen Hirnleistungsbereichen, wo Verschlechterungen (bei erhaltener Gedächtnisleistung) primär über ein anderes Verhalten (z.B. mehr Probleme mit komplexen Aufgaben wie Management von finanziellen Angelegenheiten oder auch das Kochen von komplizierteren Menus!) sichtbar werden. Solche Veränderungen sind nicht normal und müssen abgeklärt werden!

Abgrenzung von «Normal» versus «Pathologisch»

Im Praxisalltag muss schnell und mit wenig Zeitaufwand entschieden werden können, ob kognitive Störungen schnell weiter abgeklärt werden müssen, ob weiter beobachtet werden muss oder kein weiterer Handlungsbedarf besteht! Das frühere (zeitaufwändige) Screening von kognitiven Störungen mittels MMSE und Uhrentest wurde in den letzten Jahren vom sensitiveren und gezielten «Case Finding» mittels «App» abgelöst (Abb. 2). Die von den «Swiss Memory Clinics» und Schweizer Hausärzten entwickelte kostenpflichtige «App» «BrainCheck» trennt in wenigen Minuten «Normal» von «Pathologisch» mit einer Trennschärfe von 90% (3).
Dazu muss der Patient drei einfache Fragen beantworten und einen Uhrentest absolvieren. Gleichzeitig werden seinem engsten Angehörigen/Partner 7 kurze Fragen gestellt. Alle Resultate können sofort in der App erfasst und beurteilt werden. Die Kurzabklärung kann als PDF-File einfach in die elektronische Krankengeschichte integriert werden!
Bei bestehender weiterer Abklärungsbedürftigkeit muss zusammen mit dem Patienten und seinen Angehörigen entschieden werden, wie die Diagnostik weiter vorangetrieben werden soll. Als erster Schritt ist hier sicherlich der (einfache) Ausschluss von schnellbehandelbaren Ursachen ein absolutes «Muss». Eine Schilddrüsenstörung kann mittels TSH Bestimmung ausgeschlossen werden, eine Depression mittels Geriatric Depression Scale (GDS) und eine psychosoziale Belastungssituation (Stressbelastung) mit einer sorgfältigen Anamnese erkannt und im positiven Fall mit entsprechenden Gegenmassnahmen angegangen werden. Bei anamnestisch begründbarem Verdacht, kann auch ein Vitamin-B-Status und eine Lues-Serologie weiterführend sein. Wird man in den genannten Bereichen fündig und entsprechend therapie-aktiv, empfiehlt es sich, rund 6 Monate später die Kognition mittels BrainCheck nachzukontrollieren.

Abklärungsbedürftige kognitive Störungen

Die Art der weiteren Abklärung von kognitiven Störungen ist sehr individuell und hängt vom Einverständnis, dem Gesundheitszustand/Lebenserwartung und den sozialen Lebensumständen des Patienten ab. Bei jüngeren und fitteren Senioren sollte immer eine spezialisierte Abklärung bei einem Demenzspezialisten oder einer Memory Clinic erfolgen. Diese umfasst neben einer medizinischen Untersuchung mit Labor und Biomarkern eine neuropsychologische Abklärung mit Hirnbildgebung (MRI). Bei sehr hochaltrigen und fragilen Patienten kann auch eine verkürzte kognitive Abklärung (z.B. mittels MoCa-Assessment (4)) erfolgen. Diese kann – mit etwas Erfahrung – in der hausärztlichen Praxis durchgeführt und diagnostisch ausgewertet werden. Dazu gehört auch hier imperativ eine Hirnbildgebung (MRI oder CT), um den wahrscheinlichsten neuropathologischen Grund der dementiellen Entwicklung festzulegen. Dies ist entscheidend für die Art der einzuleitenden Therapie.

Kognitive Störungen: Therapeutische Optionen

Handelt es sich gemäss DSM-5 um «milde» kognitive Störungen, befinden sich diese innerhalb von zwei Standardvariationen eines kognitiven Normalbefundes. Therapeutisch stehen hier neben medikamentösen (Ginkgo Biloba 240mg/d und Vitamin D (24 000 Einheiten pro Monat) v.a. nicht medikamentöse Massnahmen im Vordergrund: regelmässige körperliche und soziale (kognitive) Aktivität, gesunde altersgerechte Ernährung (regelmässig und genügend Protein (1.2g/kg Körpergewicht pro Tag; mediterrane Diät mit genügend Omega-3-Fettsäuren) und eine gute hausärztliche Kontrolle von vaskulären Risikofaktoren (art. Hypertonie, Diabetes, Hypercholesterinämie). In der finnischen FINGER Studie (5) konnten allein mit diesen Lebensstilmassnahmen nach 2 Jahren signifikante kognitive Verbesserungen erzielt werden!

Medikamentöse Optionen

Bevor neue Medikamente zum Einsatz kommen, gilt es grundsätzlich, eine bereits vorhandene allfällige Polypharmazie auf kognitiv beeinträchtigende anticholinerge Substanzen zu überprüfen. Handelt es sich gemäss DSM-5 um «major» kognitive Störungen (Demenz), ist für die Festlegung der medikamentösen Therapie (meist mittels Bildgebung und/oder Biomarker) die dem Prozess zugrundeliegende Neuropathologie entscheidend. Handelt es sich um einen neurodegenerativen Prozess (Alzheimer-Erkrankung), sind abhängig vom Stadium Ginkgo, Cholinesterasehemmer und Memantine Mittel der ersten Wahl (Abb. 3). Bei dieser symptomatischen Therapie wird (bei frühzeitigem Beginn) der Verlauf der Krankheit bzgl. Funktionalitäts- und Selbständigkeitserhalt massgeblich verbessert. Diese Medikamente wirken ausgesprochen langsam, sind aber dank einer «Number Needed to Treat» (NNT) von unter 10 (für alle drei Substanzklassen!) mit einer hohen Responder-Rate versehen. Im Vergleich zu nicht-behandelten Kontrollpopulationen treten erste klinische Differenzen jedoch erst nach einem Jahr Behandlung auf; diese werden in den weiteren Jahren aber sehr relevant, da die Behandlung zu eindrücklich weniger Pflegeheimeintritten führt (6) (Abb. 4). Hier hat sich v.a. auch die Kombinationstherapie von Memantine mit Cholinesterasehemmer (bei MMSE < 20) als sehr erfolgreich erwiesen. Diese ist in der Schweiz jedoch nur off-label-mässig möglich und wegen einer Limitatio nicht voll von der Grundversicherung übernommen. Trotzdem: viele Patienten tragen (angesichts stark gefallener Antidementiva-Preise) die paar Hundert Franken pro Jahr gerne selber, wenn damit finanziell viel höhere Kosten einer Institutionalisierung gespart werden können. Neben der durch Antidementiva länger erhaltenen Alltagsfunktionalität treten unter dieser Therapie auch signifikant weniger demenz-assoziierte Verhaltensauffälligkeiten auf (Aggression, Schreien, motorische Unruhe etc.).
Ist die der dementiellen Entwicklung zugrundeliegende Pathologie rein vaskulär, sind obige Antidementiva (ausser Ginkgo) nicht wirksam und entsprechend nicht indiziert. Hier gilt es mit allen Mitteln, mit Lebensstilmassnahmen und der Beherrschung von vaskulären Risikofaktoren das weitere Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen. Bei gemischten vaskulär-neurodegenerativen Demenzformen können Antidementiva eingesetzt werden. Bei selteneren Demenz-Pathologien wie Lewis-Body Krankheit, Parkinson- oder Frontotemporal-Demenz lohnt sich eine Rücksprache mit entsprechenden Spezialisten.

Nicht-medikamentöse Optionen

Nicht-medikamentöse Interventionen bei Demenzkranken werden von grossen Fachgesellschaften und Expertengruppen – ausser bei Notfallsituationen – in erster Linie und als primärer Approach bei demenzassoziierten psycho-sozialen Verhaltensauffälligkeiten (BPSD) empfohlen (7). Gemäss Cohen-Mansfield (8) sind die meisten Ärzte für die Medikamentenverschreibung bei BPSD geschult und ausgebildet, jedoch nur die wenigsten verfügen über Kenntnisse zu diesbezüglichen nicht-medikamentösen Therapiemassnahmen und deren Wirkungserfolg. Entsprechend häufig werden deshalb antipsychotische Medikamente eingesetzt, bevor nichtmedikamentöse Interventionen versucht werden.
Im Gegensatz zu den bei Demenz bereits früh eingeschränkten oder verlorenen kognitiven Fähigkeiten sind die emotionalen und psychosozialen Kompetenzen bis in späte Demenzkrankheitsstadien weit weniger vom Abbau betroffen. Hier setzen nicht-medikamentöse Interventionen an, indem sie – weg vom Defizit-Fokus – auf vorhandene Hirnleistungs-Ressourcen zugreifen, diese gezielt nutzen und fördern. Körperliche Aktivität, musikbasierte Aktivitäten sowie proteinreiche, mit Vitamin D ergänzte Ernährung zum Erhalt der Muskelgesundheit bei Demenz haben sich am erfolgreichsten gezeigt (9). Spannend und immer wieder Gegenstand von Forschungen ist die Hirnwirkung von mit Musik kombinierten Bewegungsaktivitäten wie Tanz und Rhythmik. In der «Einstein-Aging» Kohortenstudie wurde regelmässiges Tanzen als Freizeitbeschäftigung mit einem bis zu 80% erniedrigten späteren Demenzrisiko assoziiert (10). In einer Interventionsstudie mittels Rhythmik nach Dalcroze konnte das motorisch-kognitive Dual-Task Vermögen von zuhause lebenden Senioren verbessert und das Sturzrisiko um über 50% reduziert werden (11). Bei fortgeschrittenen Demenzstadien scheint die Dalcroze Rhythmik neben der positiven Beeinflussung von BPSD-Symptomen vor allem die sprachlichen Fähigkeiten zu fördern (12). Nicht-pharmakologische Interventionen bei Demenzerkrankten sind ein wesentlicher Bestandteil des modernen 4-Säulen-Demenz-Managements. Die zu erwartende Hauptwirkung solcher Massnahmen besteht in der positiven und nebenwirkungsfreien Beeinflussung von BPSD. Körperliche Aktivitätsprogramme zeigen zusätzliche Vorteile für die Alltags-Funktionalität, die insbesondere bei gleichzeitiger proteinreicher Ernährung und Vitamin- D-Supplementation deutlich länger erhalten werden kann. Musik und musikbasierte Bewegungsprogramme wie Tanz und Rhythmik scheinen besonders geeignet, Hirnreserven zu mobilisieren und damit die Kognition signifikant zu verbessern.

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Zweitabdruck des in info@herz+gefäss 2019:9(5);10-12 erschienen Originalartikels.

Prof. Dr. med. Reto W. Kressig

Ärztlicher Direktor & Klinischer Professor für Geriatrie
Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER & Universität Basel
Burgfelderstrasse 101
4002 Basel

RetoW.Kressig@felixplatter.ch

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

  • Die nicht-medikamentöse und medikamentöse symptomatische Therapie bei kognitiven Störungen ist lediglich ein Bestandteil im multifaktoriellen 4-Säulen Management der Demenzerkrankung.
  • Nicht-medikamentöse Ansätze zeigen marginale bis nicht nachweisbare kognitive Effekte, sind aber wirksam bei Verhaltensstörungen, psychiatrischen Symptomen und Betreuerbelastung.
  • Bei der pharmakologischen Therapie gilt es, eine vorhandene Polymedikation soweit wie möglich zu reduzieren und potentiell schädliche Substanzen (Priscus-Liste) abzusetzen.
  • Zum heutigen Zeitpunkt gibt es keine rationalen Gründe, die heute zur Verfügung stehenden symptomatisch wirkenden Antidementiva (Cholinesterasehemmer, Memantine und Ginkgo Extrakt) nicht einzusetzen.
  • Bei klinisch relativ gering ausfallenden Sofortwirkungen bei Therapiebeginn stehen hier vor allem Vorteile im Langzeitverlauf (um Jahre verzögerte Institutionalisierung, signifikant weniger Verhaltensstörungen) im Vordergrund.

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10. Verghese J et al. Leisure activities and the risk of dementia in the elderly. N Engl J Med. 2003;348:2508-16
11. Trombetti A et al. Effect of music-based multitask training on gait, balance, and fall risk in elderly people: a randomized controlled trial. Arch Intern Med. 2011 Mar 28;171:525-33.
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Der sich chronisch räuspernde Patient

Beim chronischen Räusperzwang handelt es sich um einen häufigen Konsultationsgrund in der pneumologischen, HNO- und allgemeinärztlichen Praxis, wobei den Beschwerden diverse Krankheitsbilder zu Grunde liegen können. Das Leitsymptom ist ein Fremdkörpergefühl im Rachen («Chrot im Hals») mit einem damit verbundenen Räusperzwang, begleitend können chronischer Husten, Heiserkeit oder ein Trockenheitsgefühl im Mund-/Rachenraum auftreten. In diesem Artikel werden die typischen Ursachen vorgestellt sowie eine Diagnostik und Therapie.

Beim Räuspern wird willkürlich oder reflektorisch Luft durch die geschlossene Stimmritze ausgestossen. Wenn beispielsweise Fremdkörper in die Atemwege gelangen, erfolgt ein Zusammenschluss der Stimmlippen worauf durch Räuspern oder Husten die Fremdkörper gegen die geschlossene Stimmlippe mit Überdruck wieder ausgestossen werden können. Dieser Mechanismus kann die Stimmbänder und Schleimhäute reizen und dadurch im Sinne eines Teufelskreises ein chronisches Räuspern begünstigen.

Ursachen

Im Zentrum des Krankheitsgeschehens steht die trockene Rachenschleimhaut. Täglich werden im Bereich der oberen Atem- und Speisewege physiologisch ca. 1,5 l Schleim gebildet. Dieser Schleim bildet einen feinen Film auf der Schleimhaut, welcher neben der protektiven Wirkung auch die Gleitfähigkeit der Schleimhaut beim Schlucken sicherstellt. Wird zu wenig Schleim gebildet, nimmt dessen Viskosität zu. Der Schleimfilm ist zäh und haftet auf der Schleimhaut, was zum Fremdkörpergefühl und Zwang des Räusperns führt. Dabei kann zäher, mehr oder weniger farbloser Schleim ausgespuckt werden. Auch eine Überproduktion von Schleim kann die Beschwerden verursachen, da dieser Schleim lokal ebenso als «Fremdkörper» irritieren kann und hinausbefördert werden muss. Als mögliche Ätiologie der Beschwerden muss neben lokalen laryngealen Veränderungen an entzündliche und nicht-entzündliche Erkrankungen der Nachbarorgane gedacht werden (Tonsillen, Nase, Nasennebenhöhlen, gastroösophageale Refluxerkrankung, Zenker-Divertikel, obstruktives Schlafapnoe-Syndrom). Eine der häufigsten Ursachen des Räusperns ist das Postnasal-Drip-Syndrom (PNDS), wobei aufgrund von besonders zähflüssigem Schleim ein andauerndes Fremdkörpergefühl im Hals entsteht. Ein PNDS tritt oft während oder nach viralen oberen Atemwegsinfekten auf. Dauerhafte Entzündungen der Atemwege wie z.B. Asthma bronchiale können zu einer Überempfindlichkeit und Schwellung der Schleimhäute führen und eine Schleimüberproduktion mit häufigem Husten- und Räusperzwang, pfeifenden Atemgeräuschen, einem obstruktiven Bild mit verlängertem Exspirium und in stärkerer Ausprägung Dyspnoe und thorakalem Engegefühl nach sich ziehen. Weitere mögliche Ursachen von chronischem Räuspern sind gastroösophagealer bzw. laryngopharyngealer Reflux, wobei der Reflux von Magensäure die Schleimhäute irritiert, sowie Allergien und selten auch komprimierende Raumforderungen wie z.B. eine Struma. Eine Zusammenstellung der verschiedenen Ursachen ist in Tabelle 1 aufgeführt. 40% aller Patienten mit chronischem Husten bzw. Räusperzwang leiden an PNDS, Reflux oder Asthma, oder auch an einer Kombination aller Beschwerden, welche im Einzelnen vielleicht asymptomatisch gewesen wären, in der Gesamtheit aber zu einer signifikanten laryngealen Reizung und zu einem chronischen Zustand geführt haben. Begünstigt werden die Beschwerden durch ein zu trockenes Ambiente, ungenügende Trinkmenge, Noxen wie Nikotin, Alkohol, Chemikalien, Staub, Medikamente sowie Mundatmung bei behinderter Nasenatmung.

Diagnostik

Die Diagnose wird in den meisten Fällen primär auf Grund der Anamnese sowie des charakteristischen Lokalbefundes mit trockener oder schleimbelegter Rachenhinterwand gestellt. Die Exploration und ggf. ergänzende fachärztliche Untersuchung möglicher ursächlicher oder begleitender Diagnosen wie Asthma, PNDS oder Reflux ist für eine erfolgreiche Therapie wichtig. Erstes Gebot ist es, einen malignen Prozess im Rachen nicht zu verpassen. In diesem Sinne empfiehlt sich bei hartnäckigem Verlauf oder Risikopatienten ein vollständiger fachärztlicher HNO-Status. Diesbezügliche Warnsymptome sind eine Dys- oder Odynophagie sowie diffuse Halsschmerzen, welche bei «benignem» chronischem Räusperzwang in der Regel nicht auftreten. Neben organischen Veränderungen können auch psychosoziale Belastungen im Sinne einer Beschwerdeüberlagerung eine Rolle spielen.

Therapie

Allfällige zu Grunde liegende Erkrankungen sollten entsprechend behandelt werden. Als unterstützende Massnahmen können die Trinkmenge erhöht, Noxen sistiert, die Schleimhaut befeuchtende Massnahmen wie z.B. Nasensalben, Nasen-/Rachensprays, Salzwassergargarismen oder Lutschpastillen versucht werden. Psychosoziale Belastungen sind angemessen zu berücksichtigen. Erste Therapierfolge der Lokalmassnahmen sind frühestens nach ca. 2 Wochen zu erwarten.

Zusammenfassung

Der chronische Räusperzwang ist ein häufiges Beschwerdebild. Im Zentrum der Pathophysiologie steht die trockene oder gereizte Schleimhaut des Rachenraumes. Krankheitsbilder aus verschiedenen Fachdisziplinen können das Leitsymptom einzeln oder in Kombination verursachen und/oder begünstigen, entsprechend erfordert die Diagnostik und Therapie eine interdisziplinäre Denkweise. Die Therapie erfolgt entsprechend der festgestellten Ursachen und kann durch befeuchtende Lokalmassnahmen unterstützt werden.

Dr. med. Nicole Mosca

LungenZentrum Hirslanden
Witellikerstrasse 40
8032 Zürich

n.mosca@lungenzentrum.ch

Prof. Dr. med. Peter M. Ott

2im Grund 21
8123 Ebmatingen

Dr. med. Jürg Barandun

LungenZentrum Hirslanden
Witellikerstrasse 40
8032 Zürich

Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Chronischer Räusperzwang beruht häufig auf trockenen lokalen Schleimhäuten. Das Räuspern selbst führt zu weiteren lokalen
    Irritationen
  • Erkrankungen der Nachbarorgane sind häufige (Mit-)Ursachen von chronischem Räuspern und sollten ausgeschlossen bzw. therapiert werden, wie z.B. Postnasal-Drip-Syndrom, Refluxerkrankung oder Asthma bronchiale
  • Diffuse Halsschmerzen, Dys- oder Odynophagie sind Warnzeichen für das Vorliegen eines Malignoms und sollten HNO-ärztlich abgeklärt werden.

1. Diagnosis and management of laryngopharyngeal reflux disease; Remacle M, Lawson G; Curr Opin Otolaryngol Head Neck Surg, Vol. 14, 2006
2. Laryngitis; Wood JM, Athanasiadis T, Allen J; BMJ, Vol. 349, 2014
3. Postnasal drip and postnasal drip-related cough; Yu JL, Becker SS; Curr Opin Otolaryngol Head Neck Surg, Vol. 24, 2016
4. Praxis der Stimmtherapie: Logopädische Diagnostik, Behandlungsvorschläge und Übungsmaterialien; Bergauer, U, Janknecht, S; Springer, 2011
5. The acoustic cough monitoring and manometric profile of cough and throat clearing; Y. Xiao, D. Carson, L. Boris, J. Mabary, Z. Lin, F. Nicodème, M. Cuttica, P. J. Kahrilas, J. E. Pandolfino; Diseases of the Esophagus, Vol. 27, 2014
6. The larynx in cough; Sandhu GS, Kuchai R; Cough, Vol. 9, 2013
7. Utility of Allergy Testing in Patients with Chronic Laryngopharyngeal Symptoms: Is It Allergic Laryngitis? Brook CD, Platt MP, Reese S, Noordzij JP; Otolaryngol Head Neck Surg, Vol. 154, 2015

Auf das Verhältnis von Mehrkosten und Zuwachs an Nutzen kommt es an

Dass regionale Fortbildungsveranstaltungen über Neuentwicklungen in der Medizin, aber ebenso zum kollegialen und gesundheitspolitischen Gedankenaustausch sehr beliebt sind, zeigte sich auch am 12. Thurgauer Symposium Innere Medizin. Knapp 100 Teilnehmer vorwiegend aus dem Kanton Thurgau liessen sich zum Thema «Warum steigen die Gesundheitskosten in meinem Fachbereich – Was können wir besser als vor 10 Jahren, und ist es das wert» von ausgewiesenen Fachleuten orientieren. Die moderierende Leitung hatten Prof. Dr. Robert Thurnheer (Kantonsspital Münsterlingen) und PD Dr. Andreas Kistler (Kantonsspital Frauenfeld) inne.

Behandlungskosten versus Nutzen

PD Dr. med. Christine Manser (LA Gastroenterologie KSp Frauenfeld) sprach in ihrem Referat «Optimierte Therapiestrategien bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen – behandeln wir wirklich kosteneffizient?» zuerst über die beängstigende globale Steigerung besonders der medikamentösen Behandlungskosten (etwas weniger beim Hospitalisationsaufwand) und erinnerte auch an die mannigfaltigen indirekten Kostenfolgen der immer älter werdenden, polymorbiden und auch anspruchsvolleren Bevölkerung. Die optimalen Therapiestrategien richten sich nach der Kosteneffizienz, welche mittels der ICER (incremental cost effectiveness ratio) abgeschätzt werden kann. Als Beispiele wurden z.B. die neuen Therapiemöglichkeiten der chronisch-entzündlichen Darmkrankheiten erwähnt: Die sehr teuren, langfristig eingesetzten Biologica sind zwar nicht «kosteneffektiv», verkürzen aber die Hospitalisationsdauer, verbessern die Lebensqualität und haben relativ wenig Nebenwirkungen. Es gibt deshalb in schweren Fällen kaum Alternativen.
«Steigende Gesundheitskosten – die Nephrologie als Täterin oder Opfer?» -Diese Frage stellte sich
Dr. med. Stefan Flury (OAz Nephrologie KSp Frauenfeld). Tatsache ist, dass die Zahl an älteren Patienten mit terminalem Nierenversagen (ESRD) und damit Dialysebedarf ständig steigt. Der Referent besprach vor allem die autosomal-dominante polyzystische Nierenerkrankung (Rang 4 für Dialysepflicht) und deren neue Behandlung mit Tolvaptan (Jinarc®, einem Vasopressin-Antagonisten), welches den GFR-Verlust, bzw. die Abnahme der Kreatinin-Clearance sicher verlangsamt und damit die Lebenserwartung steigert, die Krankheit aber natürlich nicht heilt. Die Jahreskosten betragen ca. Fr. 25 000.- (regelmässige Dialyse ca. 80 000.-) – Das atypische hämolytische Syndrom aHUS, eine thrombotische Mikroangiopathie, ist durch akutes Nierenversagen, Thrombozytopenie und hämolytische Anämie charakterisiert. Es kann neuerdings mit Eculizumab (einem monoklonalen Antikörper) bei ungenügender Wirkung der wiederholten Plasmapherese angegangen werden. Die Kosten sind zwar auch hier sehr hoch, die Überlebensdauer aber länger. – In der Diskussion verglich der Referent zudem die Kostenfolge der verschiedenen Nierenersatz-Möglichkeiten: Nierentransplantation, Hämodialyse und Peritonealdialyse.
Mit viel feu sacré verteidigte dipl. Ärztin Michaela Petre (LA Rehabilitation und Langzeitpflege, Klinik St. Katharinental Diessenhofen) die geriatrische Rehabilitation, kurz GR. Ihre Fragestellung «Geriatrische Rehabilitation kostet. Ist sie für «d’Chatz» oder braucht es sie?» schien am Schluss des Referates rein rhetorisch. Der möglichst lange Erhalt der Selbständigkeit ist Ziel aller betagten Menschen. 80% der Patienten können nach der GR wieder nach Hause. Wichtig für den nachhaltigen Erfolg der GR ist aber das genaue geriatrische Assessment am Anfang, das Beachten der Ausschlusskriterien (vergl. KK-Gutsprache), der strukturierte zielgerichtete Behandlungsplan (3 x 30 min. Therapieeinheiten pro Tag) und die gut vorbereitete Entlassung nach Hause (u.a. Round-Table-Gespräch!).
Als didaktisch sehr talentierter Referent erweist sich jedes Mal der Diabetologe Prof. Dr. med. Peter Wiesli (Chefarzt KSp Frauenfeld); er sprach über die «Moderne Therapie des Diabetes». Da hat sich ja sehr viel verändert und die älteren Kollegen finden sich in den neuen Stoffklassen kaum mehr zurecht. Die Sulfonamide haben praktisch ausgedient (cave Hypoglykämien!), mehrere mit viel Propagandaaufwand später neu eingeführte blutzuckersenkende Präparate sind wegen Nebenwirkungen wieder verschwunden. Die therapeutischen Guidelines werden deshalb gerade jetzt wieder überarbeitet. Als Take-Home-Messages können gelten: a) Das extrem billige Metformin steht trotz knapper Datenlage noch immer im Vordergrund und kann fast mit allen neuen Stoffgruppen kombiniert werden. b) Der HbA1c-Wert hat noch nicht ausgedient. Mikrovaskuläre Diabetes-Spätschäden treten bei gut eingestelltem D.m. weniger häufig auf, auf die kardiovaskulären Endpunkte ist der Einfluss aber gering. Wichtig ist die Vermeidung von Hypoglykämien. c) Das richtige Vorgehen kann so zusammengefasst werden: An erster Stelle den eigentlichen Insulin-Mangel ausschliessen. Bei schwerer Nierenfunktionsstörung (eGFR < 30 ml/min) keine SGLT-2-Hemmer (Gliflozine) geben, sondern Insulin, DPP-4-Hemmer (Gliptine) und/oder GLP-1-Rezeptor-Agonisten (z.B. Liraglutid). Bei GFR >30ml/min und vor allem bei Herzinsuffizienz sind an erster Stelle SGLT-2-Hemmer indiziert!
Als besonders teuer gelten die Innovationen in der Onkologie; aber sind sie auch effizient? Darüber orientierte Dr. med. Christian Taverna (LA Onkologie, KSp Münsterlingen) in seinem Referat «Der Preis der Innovation: Beispiele aus der Onkologie». Zwischen 2014-2018 waren in der Schweiz 38 Neuzulassungen zu verzeichnen, vor allem die monoklonalen Antikörper (mit Suffix –mab), die Tyrosinkinase-Hemmer (Suffix –nib), die «Immun-Checkpoint-Inhibitoren» (z.B. günstige Wirkung von Nivolumab beim Melanom), gezielte antihormonale Therapien und die Antikörper-Wirkstoff-Konjugate, u.a. Die Krebstherapie wird dadurch immer zielgerichteter und personalisierter (rezeptorbasiert, molekular-gesteuert etc.). Besondere Biomarker erlauben eine Abschätzung eines Therapieerfolges (z.B. die PD-L1- und HER2-Diagnostik). Als Fazit gilt: Die Fortschritte in der Onkologie sind sehr gross, die Nebenwirkungen der neuen Stoffklassen sind kontrollierbar, die Kosten sind aber sehr hoch und die Preisgestaltung zu wenig transparent.
«Wird Leben unbezahlbar?» – so lautete die Titelfrage von Dr. med. Rudolf Benz (LA Hämatologie KSp Münsterlingen). Er besprach als positives Beispiel dazu die aktuelle Therapie der chronischen myeloischen Leukämie CML mit dem Proteinkinaseinhibitor Imatinib/Glivec®. Die Wirkung ist bemerkenswert (50% bleiben schlussendlich ohne Therapie «geheilt»), die Nebenwirkungen sind aber nicht unerheblich, die Kosten auch hier hoch. (Zudem ist die Preisgestaltung des Medikamentes sehr unterschiedlich: USA: 140 000 $, Indien 400 $). Lohnt es sich schlussendlich? Der Referent liess die Frage offen.

Auch Dr. med. Florian Schliephake (Oaz Kardiologie KSp Münsterlingen) stellte sich der Frage «Klappen, Katheter, Schrittmacher – kostspielige Hightech oder sinnvolle Medizin?». Er wies auf die praktischen Vorteile der sondenlosen Mini-Herzschrittmacher (allerdings nur einkammerig, Kosten um 12 000.-) gegenüber den konventionellen Pacemakern (Fr. ca. 5000.- bis 8000.-) hin, schilderte die Vor- und Nachteile der verschiedenen Therapien des Vorhofflimmern (Ablation versus medikamentöse Therapie) und deren Kostenfolgen und er kam auch auf die unterschiedlich beurteilte Effizienz des perkutanen Aortenklappenersatzes TAVI zu sprechen. Hier wird die Implantation einer neuen biologischen Aortenklappe am schlagenden Herzen in Lokalanästhesie durchgeführt, eine teure Prozedur, welche nur gewissen Patienten (vor allem in Hochrisiko-Fällen) einen Vorteil bringt. Bei sonst gesunden Patienten unter 70 Jahren wird die konventionelle offene Operation noch als Standard betrachtet.

Bevor die Gesundheitspolitikerin Heidi Grau Gemeindepräsidentin von Zihlschlacht-Sitterdorf) ganz am Schluss ihr sehr bemerkenswertes allgemeines Votum über die Kostenentwicklung in der Medizin abgab und vor allem auch auf die Probleme zu sprechen kam, die auf die Gemeindebudgets zurück fallen (z.B. bei säumigen Prämienzahlern), beeindruckte der Gastgeber des Fortbildungs-Nachmittages (Prof. Dr. med. Robert Thurnheer, Chefarzt am KSp Münsterlingen) mit der Suggestiv-Frage: «Wie konnte ich nur Pneumologe werden?». Dabei blickte er aber auf die Fortschritte in den letzten 30Jahren zurück. Wie hat sich doch vor allem die Behandlung der verschiedenen entzündlichen Bronchial-Erkrankungen («Asthma» und COPD) gewandelt. Speziell erwähnenswert ist das Mepolizumab (Nucala), das sich als monoklonaler Antikörper an Interleukin-5 bindet. Es wird bei eosinophilem Asthma alle 4 Wochen subkutan injiziert (Einzeldosis Fr. 1410.-), der subjektive Gewinn für den Patienten ist gross (auch wenn die gemessene Lungenfunktion kaum verändert wird). – Das zweite Beispiel war die idiopathische Lungenfibrose, für die neuerdings Pirfenidon (Esbriet®, monatliche Kosten Fr. 3211.35) oder Nintedanib (Ofev®, Fr. 2929.- monatlich) zugelassen sind. Die Nebenwirkungen, die Interaktionen und eben die Kosten sind sehr hoch, der Behandlungserfolg «mässig» − Schliesslich wurde noch die Chronisch-thromboembolische pulmonale Hypertonie (CTEPH) erwähnt, welche den Patienten schwer beeinträchtigt und eine 3-Jahres-Mortalität von 50% hat. Klinisch stehen Belastungsdyspnoe, Fatigue, Palpitationen und Synkopen im Vordergrund. Die einzige, nur an wenigen Zentren mögliche kurative Behandlung ist die pulmonale Thrombendarteriektomie (pTEA). Der kostenaufwendige Eingriff lohnt sich in diesem Falle allemal, man kann fast gar von «Heilung» sprechen. Ein zukunftsweisender Abschluss eines eindrücklichen Fortbildungs-Nachmittags über Kostenentwicklung und -effizienz in der Medizin also.

Dr. med. Hans-Ulrich Kull

Küsnacht

Gewalt in der Praxis – Jeder Fall ist einer zu viel

Wie häufig gewalttätige Übergriffe in schweizerischen Arztpraxen und Notfallstationen tatsächlich vorkommen, ist statistisch nicht bekannt. Aber jedes Ereignis ist für die Betroffenen psychisch und potenziell körperlich traumatisch, so dass es für alle im Gesundheitswesen Tätigen sinnvoll ist, sich Strategien zur Vorbeugung und zum Verhalten im Notfall zurecht zu legen und zu verinnerlichen, um im Überraschungsfall zielführend handeln zu können.

HKS: Herr Thomas Herzing, Sie sind Spezialist für Gewalt in der Praxis – was qualifiziert Sie dazu?

Als Polizist war ich Fachbereichsleiter für Sicherheit und Einsatztaktik an der Interkantonalen Polizeischule in Hitzkirch. Zuvor war ich bei der Polizei Personenschützer und als Leiter für Konflikt- und Kommunikationstrainings tätig. So war ich auch massgeblich an der Ausarbeitung des bayerischen polizeilichen Amokkonzepts beteiligt, welches sich im Jahr 2016 in München bewährte.
Seit fast 5 Jahren biete ich mit anderen Fachleuten spezielle Präventionsschulungen für den medizinischen Bereich wie Notaufnahme in Spitälern, Rettungsdiensten und in Arztpraxen an. Oberstes Ziel dabei ist die körperliche Unversehrtheit von Ärzten, Angestellten und natürlich auch der Patienten. Wesentlicher Unterschied zu Selbstverteidigungskursen besteht darin, dass wir einen körperlichen Kontakt mit Störern vermeiden möchten. Dies erreichen wir durch praxisnahes Verhaltenstraining, bei dem die Teilnehmer lernen, Störer auf Distanz zu halten.
Bei geplanten Aktionen haben Täter eine Idee, wie deren Handeln mit einem Happy End abschliesst. Hier sprechen wir von Täterphantasie. Lohnenswerte Ziele werden ausspioniert, es werden Opfer gesucht, bei welchen man leichtes Spiel hat. Umgekehrt verursacht alles, was das Happy End gefährdet, für den Täter Stress und führt in aller Regel dazu, dass auf ein anderes Ziel ausgewichen wird, bei dem man leichteres «Spiel» hat. Dies wäre ein voller Erfolg und das Ergebnis einer erfolgreichen Präventionsarbeit.
Bei spontanen Aktionen, welche meist durch Männer, sei es als Patienten oder Angehörige ausgeübt wird, sind die Auslöser sehr facettenreich. So erlebte ich bei einem Coaching einen Arzt, welcher sich seiner ausgesendeten Körpersignale nicht bewusst war. Kurz vor einer Diagnose, welche mit Spannung von einer Patientin erwartet wurde, telefonierte der Arzt mit seiner Frau. Hier erfuhr er, dass sein Kind in der Schule schlechte Noten erhielt. Es gelang ihm nicht seine private Enttäuschung von seiner medizinischen Tätigkeit zu trennen. Sichtlich genervt von dieser Nachricht eröffnete er der Patientin den eigentlich erfreulichen Befund. Durch die ausgestrahlte Mimik und Gestik hatte die Patientin und deren Ehemann jedoch das Gefühl, dass es extrem schlecht um die Frau bestellt sei. Da das gesprochene Wort nur etwa zu 7% Bedeutung hat und der überwiegende Teil der Informationsübermittlung nonverbal stattfindet, drangen die Worte des Arztes nicht durch. Anschliessend bedurfte es vieler Erklärungen, um dem Paar «Entwarnung» zu geben.
Solche Situationen oder die hochemotionale Überbringung einer Todesnachricht können Gewalttätigkeiten auslösen. Betäubt vom Schmerz wird ein Schuldiger gesucht, Vorwürfe erhoben, der Arzt persönlich verantwortlich gemacht, nicht genug getan zu haben,.Grenzen der modernen Medizin werden ausgeblendet!
Selbst unspektakuläre Situationen, wie z.B. das Gefühl, zu lange auf die Behandlung warten zu müssen, Privatpatienten würden bevorzugt behandelt, das Gefühl Patient 2. Klasse zu sein, können zu Frustration und folglich zu gefährlichen Situationen führen.

Haben Sie konkrete Zahlen zum Gefahrenpotenzial in Schweizer Praxen?

Nein, solche Statistiken werden in der Schweiz nicht geführt. In Österreich und Deutschland ist die Gewalt gegen Rettungskräfte und Ärzte leider mittlerweile trauriger Alltag. Dennoch berichten Schweizer Medien auch immer häufiger von Bedrohungen und Gewalt in Arztpraxen und Spitälern. Z.B. kürzlich über die Sicherheitslage bei Einsätzen der Zürcher Sanitäter, welche sich so sehr verschlechtert hat, dass die 370 Angestellten von Schutz und Rettung Zürich nun kugelsichere Schutzwesten erhalten haben. Wie vorgängig schon erwähnt, Patienten oder Angehörige echauffieren sich, äussern lautstark ihren Frust, Wartezeit bis zur Behandlung des Patienten oder von Angehörigen dauerten zu lange, so nach dem Motto: «jetzt kommt schon wieder ein anderer dran, und bei uns wäre doch eine schnelle Behandlung viel wichtiger». Dies ist besonders tragisch, wenn Folgeschäden aus Patientensicht vermeidbar gewesen wären. (z.B. nach erfolgloser Reanimation). «Jetzt habe ich Ihnen vertraut und geglaubt, ich sei bei Ihnen an der richtigen Stelle, und jetzt diese Enttäuschung».
Ein zunehmendes Problem ist Stalking und dessen Auswirkungen. Die Betroffenen (meist Mitarbeiter) werden einem regelrechten Psychoterror ausgesetzt und dadurch in ihrer Lebensqualität massiv eingeschränkt, und erkranken. Aus diesen Gründen erfüllen Mobbinghandlungen i.d.R. den Straftatbestand der Körperverletzung. Ein Ausweg ohne professionelle Hilfe ist sehr schwierig, da die Opfer meist das Gefühl haben, dass sie überreagieren.

Wie verhält man sich nun in solchen Situationen?

Wirkungsvolle Prävention schreckt Täter ab und lässt diese idealerweise nicht, oder nicht vollumfänglich zur Entfaltung kommen. In unseren Trainings lernen die Teilnehmer, sich selbst wirkungsvoll zu schützen und andere dabei zu unterstützen, um gesund aus brenzligen Situationen rauszukommen.
Gerne komme ich nochmals auf die Täterphantasie zu sprechen. Hatten wir beide vor unserem Treffen nicht auch einen gedachten Verlauf? Pünktlichkeit, gegenseitiger respektvoller Umgang waren unsere unausgesprochenen Erwartungen. Wie würden Sie reagieren, wenn diese Erwartungen meinerseits nicht erfüllt würden und ich mich aggressiv verhalte? Welchen Plan hätten Sie nach der ersten Schrecksekunde? Haben Sie Erfahrungen, auf welche Sie zurückgreifen könnten?
Häufig bekommen wir zu hören: «Ich würde mich halt so verhalten, wie ich mich verhalten würde, das kann man nicht trainieren». Wir möchten dann gerne wissen, ob diese Erfahrungen aus irgendwelchen Keilereien mit den Geschwistern stammten. Genau hier setzen wir an. Unsere Kursteilnehmer empfinden es sehr gewinnbringend, dass sie im geschützten Bereich eigene Erfahrungen machen können. Die hier erworbenen Kompetenzen sind die Grundlage für den erfolgreichen Gefahrenumgang.
Unsere Trainings sind praxiserprobt, pragmatisch und können sofort im Alltag integriert und umgesetzt werden. Wahrnehmung und deren Verzerrungen sind wichtige Inhalte unserer Trainings. Wenn Menschen mit Ausnahmesituationen konfrontiert werden, haben sie Stress, welcher zu einer Wahrnehmungsverengung führt. Wir sprechen dann vom «Tunnelblick». Wichtige Informationen werden ausgeblendet und schränken ein, das in der Situation Richtige zu tun.

Ja man will das natürlich auch nicht wahrhaben, man glaubt gar nicht, dass das möglich sei bis es passiert.

Erfahrungsgemäss befassen wir Menschen uns lieber mit Dingen, welche uns Freude und Leichtigkeit vermitteln. Gleichzeitig sind wir täglich Gefahren ausgesetzt. Heutzutage diskutiert niemand mehr über Sinn- oder Unsinn des Anlegens eines Sicherheitsgurtes im Strassenverkehr. Wie bereits erwähnt, kann durch professionelles Training die Eintrittswahrscheinlichkeit unangenehmer Ereignisse verringert, bzw. deren negative Auswirkung eingedämmt werden.

Das sind für mich sehr eindrückliche Aussagen, ich denke an meine Praxis, und meine, dass ich vieles deutlich besser hätte machen können. Wie kann man sich wirkungsvoll schützen? Welches Vorgehen raten sie, wenn ich eine schwere Nachricht überbringen muss, einem Patienten, von dem ich weiss, dass er ohnehin nicht gut dran ist, wie kann ich vermeiden, dass er tobt?

Wenn Sie Ihr bisheriges Verhalten bereits jetzt kritisch hinterfragen, dann sehen Sie, dass Sie «nur» durch unser kurzes Gespräch Situationen neu bewerten und sich anders verhalten würden.
Eine allgemein gültige Antwort gibt es nicht. Ähnlich der Medizin, müssen mehrere Faktoren berücksichtigt werden. Unsere Handlungsempfehlungen bieten für die allermeisten Fälle einen wirkungsvollen Schutz. Um auf Ihre Frage zurückzukommen. Wenn Sie im Vorfeld wissen, dass die Situation eskalieren könnte, dann sollten Sie sich auf dieses Gespräch auch im Sinne der Eigensicherung vorbereiten. Dies bedeutet, dass Sie sich mental vorbereiten, einen geeigneten Ort auswählen, Kollegen informieren und im Falle von verbalen Entgleisungen auch weiterhin respektvoll mit dem Störer umgehen und Grenzen einfordern. Die eigenen Gefühle kontrollieren, das richtige Einschätzen von Mimik und Gestik, Distanzwahl und Kennen der Eskalationsspirale, um nur einige Beispiele zu nennen.
Wenn das Gegenüber die eigene Amtsautorität als Arzt und Fachmann, welche zudem das Hausrecht ausübt, ignoriert, kann das wie ein Brandbeschleuniger wirken und zu Überreaktionen führen. Diesen Mechanismus zu erkennen und ihm entgegenzuwirken, sind wichtige Kursinhalte.
Die Teilnehmer lernen Kommunikation als wirkungsvolles Mittel der Eigensicherung zu nutzen. Dieses EIKO (Eigensicherung durch Kommunikation) wurde von Polizeipsychologen entwickelt und hat sich sehr bewährt. Das Prinzip der «bedingten Freundlichkeit» unterstützt dabei, Grenzen zu setzen, Konsequenzen aufzuzeigen.

Und was ist jetzt in dieser Situation ein adäquates Stoppsignal?

Zu sagen «Stopp, halten Sie bitte Distanz». Bei Ausdrücken wie «Ich möchte das nicht» oder «kommen Sie mir nicht zu nahe» muss man an den einen weissen Elefanten denken: das Wort «nicht» wird gerade in Stresssituationen wie ausgeblendet. Vielmehr muss immer das gewünschte Verhalten positiv vorgebracht werden, also «Bitte halten sie Distanz» oder «ich möchte hier Abstand, ich möchte meine Ruhe». Und dazu natürlich ganz klare Körpersprache, welche auch international verstanden wird. Der nächste Schritt könnte sein, dass man aufsteht und versucht, andere betroffen zu machen, nur das ist sehr dünnes Eis, da heute Zivilcourage nicht mehr oft angetroffen wird.

Die Thomas Herzing GmbH bietet Kurse für Personal im Gesundheitswesen an.

Dr. med. Hans-Kaspar Schulthess

Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
Neuhausstrasse 18
8044 Zürich

Schulthess_hk@swissonline.ch

Ein Netzwerk von Wasseradern

Das Wallis ist bekannt für seine vielen, künstlich angelegten Wasserleiten, die das untere Rhonetal erst zur fruchtbaren Gebirgskammer werden liessen. Auf Deutsch werden sie Suonen genannt, auf Französisch Bisses. Wie dicht dieses Netzwerk von Wasserkanälen ist, um in den Seitentälern die Felder und Wiesen, im Tal unten die ungezählten Rebberge und Obst- sowie Gemüseplantagen zu bewässern, lässt sich am Beispiel von Nendaz erahnen. Die Printse, die dem bereits weitgehend abgeschmolzenen Gletschergebiet des Grand Désert entspringt, speist heute noch eine ganze Reihe von Suonen im Val de Nendaz. Auf der Ostseite sollte die Bisse de Chervé Gletscherwasser von La Gouille südlich des heutigen Stausees von Cleuson über 15 Kilometer bis zu den Weiden von Thyon führen. Mit ihrem Bau wurde 1862 begonnen. Wegen enormer technischer Schwierigkeiten, die wohl auch mit den Hangrutschungen oberhalb von Siviez in Zusammenhang standen, konnte sie aber nie auf ihrer vollständigen Länge betrieben werden. Heute liegt sie trocken. Andere Suonen auf dieser Seite des Val de Nendaz führen aber immer noch oder wieder Wasser: die Grand Bisse de Vex (12 km Länge), die Bisse de Salins (12 km) und die Bisse de Baar (6 km). Sie dienen der Bewässerung von Weiden und Wiesen, Himbeer- und Aprikosenplantagen. Auf der gegenüberliegenden Talseite führte die Bisse de Saxon über ganze 32 Kilometer Wasser aus der Printse in das Gebiet von Saxon. Heute ist diese
Suone nur noch teilweise in Betrieb. Tiefer im Tal liegen die Bisse Vieux (7 km), die Bisse du Milieu (5 km) und die Bisse d’ en Bas
(6 km), die heute noch das Gebiet von Nendaz, darunter auch Himbeerfelder versorgen.

Unser Rundgang wird uns entlang der Bisse Vieux ins Val de Nendaz hineinführen, auf der Bisse du Milieu werden wir nach Haute Nendaz zurückkehren. Wir starten bei der Talstation der Seilbahn nach Tracouet. Wir folgen der Strasse Richtung Isérables bis zum ersten grossen Häuserblock. Dort zweigt bergwärts ein Zufahrtssträsschen ab, das uns direkt zur Bisse Vieux hinaufführt. Von nun an kann man sich nicht mehr verlaufen. Auf dem Tretschbord, der talseitigen Begrenzung des Suonenbettes, wandern wir taleinwärts, durch Wälder und über Weiden, vorbei an den Maiensiedlungen von Sofleu, Bertouda und Le Lavantier bis zu den Mayens des Eaux (Abb.  1). Eine kleine Installation mit Kännel und geschnitzter Hand, durch die das mit harter Arbeit gewonnene Wasser fliesst, erinnert uns an die Bedeutung der Suonen für die Walliser Kulturlandschaft (Abb. 2). Ohne sie wäre dieses trockene Tal Steppe geblieben. Sobald wir die Strasse nach Siviez erreichen, verlassen wir die Bisse Vieux und gelangen über ein Fahrsträsschen zu den Häusern von Planchouet. Dabei überqueren wir die Printse.

Abb. 1: Bisse Vieux im Bergwald der Val de Nendaz
Abb. 2: Eau vive, Holzskulptur von Raphael Pache

Wer sich hier verpflegen möchte, findet bei der Strasse nach Siviez oder in Planchouet Einkehrmöglichkeiten. Bei Planchouet zweigt ein Weg zur Printse hinunter ab. Dieser führt uns zuerst zur diesseitigen Fassung der Grand Bisse de Vex und etwas weiter flussabwärts zum Beginn der Bisse du Milieu am jenseitigen Ufer der Printse. In der Regel bildet ein mehr oder weniger kompliziertes System von Schleusen den Anfang der Suonen, um die Wassermenge dem jeweiligen Bedarf exakt anpassen zu können. Nun setzen wir unsere beschauliche Wanderung entlang des leise plätschernden Wässerwassers, wie es die Oberwalliser nennen, in umgekehrter Richtung fort. Irgendwo unter uns verläuft noch die Bisse d’en Bas. Erneut queren wir Wälder und Weiden, bis sich der Blick zu den südlich von Veysonnaz gelegenen, von der Sonne verbrannten Häusern von Clèbes und Verrey öffnet. Deutlich sind auch die Terrassen der ehemaligen Felder im steilen Hang zu erkennen. Ohne die Bisse d’Erre hoch über den zwei Dörfern, die aus der vom Mont Rouge herabfliessenden Ojintse gewonnen wird, hätten die Weiden sowie alles Getreide und Gemüse verdorren müssen.
Bei Le Quatro queren wir die Strasse nach Siviez nun in umgekehrter Richtung und erreichen schon bald wieder Haute Nendaz mit dem Ausgangspunkt unserer gemütlichen Rundwanderung (Abb. 3 und  4). Ein idealer Spaziergang für unfreundliches Wetter, das einem trotz Nähe zum touristischen Zentrum Einsamkeit und Ruhe verspricht.

Abb. 3: Der Rückweg entlang der Bisse du Milieu gibt immer wieder den Blick auf das Rhonetal frei.
Abb. 4: Routenverlauf

Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo

Riedstrasse 9
6430 Schwyz

christian.besimo@bluewin.ch