Individualisierte Zielwerte zur Behandlung der arteriellen Hypertonie im Alter

Die arterielle Hypertonie ist nebst dem Rauchen der wichtigste kardiovaskuläre Risikofaktor. Die Prävalenz ist stark vom Lebensalter abhängig. Auch hochaltrige Patienten (> 80-Jährige) können von einer moderaten Blutdrucksenkung (Zielwert 150/80 mmHg) profitieren. Begleitumstände wie Gebrechlichkeit, Multimorbidität und Polypharmazie machen diese hochaltrige Population aber besonders vulnerabel, weshalb die Therapie individualisiert werden muss, um eine Überbehandlung und potentielle Nebenwirkungen zu verhindern.

Die arterielle Hypertonie gehört nebst der Hypercholesterinämie, dem Diabetes, der Adipositas und dem Rauchen zu den 5 klassischen Risikofaktoren, welche verantwortlich sind für die Mehrzahl der kardiovaskulären Todesfälle. Prospektive Kohortenstudien zeigten zudem starke Hinweise, dass das Risiko, an einer vaskulären Demenz zu erkranken bei Patienten mit arterieller Hypertonie deutlich höher ist als bei der normotensiven Kontrollgruppe (1). Hypertensive Personen haben im Durschnitt nicht nur eine um ca. 5 Jahre verkürzte Lebenserwartung, sondern leiden durchschnittlich auch 2.1 Jahre länger an einer kardiovaskulären Morbidität (2).
Die arterielle (essentielle) Hypertonie ist nebst genetischen und umweltbedingten Ursachen stark vom Lebensalter abhängig. In den entwickelten Ländern ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung über 70 davon betroffen (3). Der demografische Alterungsprozess wird sich auch in der Schweiz weiter fortsetzen. Gemäss einem mittleren Wachstums-Szenario wird der Anteil der Bevölkerungsgruppe > 65-jährig bis im Jahr 2045 auf rund 26% ansteigen, wobei in der Gruppe der 80-Jährigen und Älteren der grösste relative Zuwachs prognostiziert wird (Abb. 1). Die Analyse von mehr als 24’000 Konsultationen in Hausarztpraxen der Schweiz ergab, dass die arterielle Hypertonie bei einem breiten Spektrum von 830 unterschiedlichen Behandlungsanlässen mit 6.15% der häufigste Grund war für eine Praxiskonsultation (4).
Es gibt überzeugende Evidenz zur wirksamen Senkung des Blutdruckes und der damit verbundenen Reduktion der frühzeitigen kardiovaskulären Morbidität und Mortalität (5). Aufgrund der hohen Prävalenz in der Bevölkerung bietet die Kontrolle des Rauchens und der arteriellen Hypertonie das grösste präventive Potential zur Reduktion der kardiovaskulären Mortalität (6). Auch Personen über 80 können von einer Blutrucksenkung profitieren: In der HYVET-Studie (7) (3845 Patienten, Durchschnittsalter 84 Jahre) führte eine Blutdrucksenkung von rund 175/90 mmHg auf rund 145/80 mmHg zu signifikant weniger tödlichen Apoplexien (mit einer NNT von ca. 25 über 2 Jahre) und zu einer reduzierten Gesamtmortalität (7). Allerdings gilt es, bei dieser Patientenpopulation genau hinzuschauen, da Gebrechlichkeit, Komorbiditäten und Polypharmazie bei diesen Patienten häufige Begleitumstände sind und daher eine individualisierte Therapie angebracht ist, um Überbehandlung und potentielle Nebenwirkungen zu verhindern. Nachfolgend gehen wir auf einige Aspekte der Diagnose und Behandlung von Hypertonie ein, mit dem Fokus auf alte (> 65 Jahre) und hochaltrige Patienten (> 80 Jahre).

Definition der Hypertonie: Welche Grenzwerte und Messmethoden gelten für den Blutdruck?

Über Jahre wurde die arterielle Hypertonie als ein Praxisblutdruck > 140/90 mmHg definiert. In den letzten 2 Jahren wurden die internationalen Guidelines überarbeitet. In den USA wurde der Grenzwert für die arterielle Hypertonie neu auf > 130/80 mmHg definiert (8), womit die Zahl hypertensiver Patienten allein in den USA «über Nacht» um ca. 20 Millionen anstieg. Der geringe Benefit und die potentiellen Nebenwirkungen einer intensiveren Therapie zur Erreichung der neuen Zielwerte wie auch potentielle Interessenkonflikte bei den Mitgliedern des Guideline-Komitees waren Gründe, weshalb sich das American College of Physicians (ACP) und die Amerikanische Akademie der Familienmedizin (AAFP) den neuen Grenzwert-Empfehlungen nicht angeschlossen hat (9). In Europa wurden die Blutdruckkategorien in den 2018 überarbeiteten ESC/ESH Guideline (10) nicht verändert, diesen Empfehlungen schliesst sich auch die Schweizerische Gesellschaft für Hypertonie (www.swisshypertension.ch) an. Für Europa und die Schweiz gilt somit weiterhin ein genereller Zielwert von < 140/90 mmHg, basierend auf wiederholten Praxismessungen (Tab. 1), für die allgemeine Bevölkerung.
In der neuen 2018 ESC/ESH Guideline werden die ambulanten Blutruckmessungen (Heimmessungen, 24h-Blutdruckmessung) als Alternativen zur Praxis Messung verstärkt empfohlen. Dies hat vor allem bei älteren Patienten den Vorteil, dass die Weisskittel- Hypertonie erkannt wird. Mehr als 30% der älteren Patienten sind davon betroffen, d.h. potentiell besteht bei jedem dritten älteren Patienten die Gefahr einer Überdiagnose, wenn der Weisskittel-Effekt nicht berücksichtigt wird. Daraus resultiert ein erhöhtes Risiko der Überbehandlung, potentiell ohne Nutzen, jedoch mit der Gefahr potentieller Nebenwirkungen (11). Die Werte der Heimblutdruckmessung haben unabhängig von den Praxismesswerten eine prognostische Aussagekraft für kardiovaskuläre Ereignisse (12), was die starke Rolle der Heimblutdruckmessung sowohl in der Diagnostik wie auch im Therapie-Monitoring demonstriert. Ausserdem ist es wichtig, bei gebrechlichen oder hochaltrigen Patienten die Praxismessung auch im Stehen zu messen, um eine mögliche (orthostatische) Hypotonie zu erfassen. Diese kann sich in Form von Stürzen bei diesen Patienten deletär auswirken.
Wie steht es nun mit der Genauigkeit der Blutruckmessung am Handgelenk? Diese Geräte werden zunehmend vermarktet und scheinen insbesondere für ältere Patienten praktischer in der Anwendung. Eine Studie an 605 Patienten > 75 Jahre (Durchschnitt 81.6 Jahre) ergab dabei vergleichbare Werte mit Oberarmmessungen in der Altersgruppe 75-80 Jahre. Bei der Gruppe > 80 Jahre waren die systolisch gemessenen Werte am Handgelenk ebenfalls vergleichbar ausser bei der Subgruppe der Patienten mit einer peripher arteriellen Verschlusskrankheit (PAVK). In dieser Subgruppe waren die Werte am Handgelenk im Durchschnitt 5.5 mmHg tiefer im Vergleich zu den Oberarm Messwerten (13). Weitere Studien zur Wertigkeit der Handgelenksmessung wären hier wünschenswert.

Gebrechlichkeit: Konzept, Bedeutung und klinische Erfassung

Gebrechliche (fragile) Personen sind gesundheitlich anfällig bzw. verletzbar, da nur stark verminderte Ressourcen für das Bewältigen einer Krankheit bestehen. Sie haben im Unterschied zu «robusten» oder fitten gleichaltrigen Patienten eine deutlich reduzierte Lebenserwartung (14) womit der Nutzen einer Intervention (in unserem Fall der Blutrucksenkung) immer unwahrscheinlicher wird. Gleichzeitig ist bei Gebrechlichkeit aus hausärztlicher Sicht auch eine vermehrte Aufmerksamkeit gefordert, welche diese vulnerablen Patienten vor unnötiger oder gar schädlicher Diagnostik und Therapie schützt.
Wie messe ich Gebrechlichkeit? Für die Praxis bestehen Alternativen zum ausführlichen geriatrischen Assessment. So ist die Gehgeschwindigkeit ein unabhängiger Indikator für das Überleben, unabhängig von Alter, Geschlecht, Benutzung einer Gehhilfe und chronischen Erkrankungen (15). Die Gehgeschwindigkeit kann auf einer 4m Teststrecke in der Praxis einfach mittels Stoppuhr erfasst werden. Über eine Beobachtungszeit von 7 Jahren zeigte sich, dass bei gebrechlichen Patienten (definiert als Gehgeschwindigkeit < 0.8 m/s) der erhöhte Blutdruck (> 140/90 mmHg) keinen Einfluss mehr hatte auf die Gesamtmortalität (16).
Wichtig zu wissen, die klinische Einschätzung respektive das «Bauchgefühl» durch die behandelnde Hausärztin/Hausarzt ist ebenfalls eine validierte Methode, vulnerable Patienten mit einem erhöhten Risiko für eine funktionelle Verschlechterung (inklusive Tod und Institutionalisierung) frühzeitig zu erkennen (17).

(Fehlende) Evidenz der Hypertoniebehandlung bei Hochaltrigkeit und Gebrechlichkeit:

Die oben bereits ausgeführte HYVET Studie (7) ist weiterhin die einzige prospektive randomisierte, kontrollierte Studie, welche explizit bei hochaltrigen Patienten durchgeführt wurde. Ein wichtiges Ergebnis war, dass der positive Effekt einer Blutdrucksenkung von initial rund 175/90 mmHg auf durchschnittlich 145/80 mmHg in 25.8% der Fälle mit einer Monotherapie (1.5 mg Indapamid) erreicht werden konnte. Auch die 2018 ESC/EHS Guideline empfiehlt bei Patienten > 80-jährig primär eine Monotherapie. Dabei sollten bei der Wahl der Therapie auch Komorbiditäten berücksichtigt werden. Beispielsweise kann beim Vorliegen einer KHK im Unterschied zu jüngeren Patienten auch ein Betablocker erste Wahl sein.
In der vieldiskutierten SPRINT Studie ist es in der Subgruppe der Patienten älter als 75 Jahre (Durchschnitt 79.9 Jahre) durch die Blutdrucksenkung zwar zu weniger kardiovaskulären Ereignissen gekommen, allerdings zum Preis von signifikant mehr schweren Nebenwirkungen (behandlungsbedürftige Stürze und Elektrolytentgleisungen) in der Interventions-Gruppe (Zielwert 120 mmHg) im Vergleich zur Kontroll-Gruppe (Zielwert 140 mmHg) (18). Wichtig zu wissen: In der SPRINT und HYVET Studie wurden gebrechliche Patienten, Pflegeheimpatienten und Patienten mit Demenz und Status nach zerebrovaskulären Ereignissen ausgeschlossen. Bei SPRINT war Diabetes ebenfalls ein Ausschlusskriterium. Zusammenfassend besteht also Evidenz, dass die Blutdruckkontrolle < 160 mmHg bei hochaltrigen robusten (nicht-gebrechlichen) Patienten wirksam ist, der Benefit einer intensiveren Senkung (< 140 mmHg) jedoch gering ist und es gehäuft zu schwerwiegenden Nebenwirkungen kommt.
Welche Evidenz gibt es nun für hochaltrige, gebrechliche Patienten mit all den erwähnten Komorbiditäten, die einen relevanten Anteil im Praxisalltag ausmachen? Gut kontrollierte Kohortenstudien zeigten folgende Resultate: Eine populations-basierte Beobachtungsstudie in der > 85-jährigen Bevölkerung der Stadt Leiden in den Niederlanden ergab eine signifikant erhöhte Gesamtmortalität bei Teilnehmern mit tiefer behandelten Blutruckwerten (< 140 mmHg) im Vergleich zur behandelten Population mit höheren Blutruckwerten (19). Eine Blutrucksenkung <140/90 mmHg war auch bei über 80-Jährigen in einer repräsentativen Alterskohorte für Deutschland mit einer erhöhten Gesamtmortalität verbunden (20). In einer Kohorte von > 90-jährigen Israeli mit unbehandelter Hypertonie (> 140/90  mmHg) zeigte sich kein Unterschied in der 5-Jahres Mortalität, unabhängig von Komorbiditäten, antihypertensiver Behandlung und funktionellem Status (21).

Prof. Dr. med. MPHOliver Senn

Institut für Hausarztmedizin
Universität und UniversitätsSpital Zürich
Pestalozzistrasse 24
8091 Zürich

oliver.senn@usz.ch

Prof. Dr. med. MPHStefan Neuner-Jehle

Institut für Hausarztmedizin
Universität und UniversitätsSpital Zürich
Pestalozzistrasse 24
8091 Zürich

Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Ambulante Blutruckmessungen und Praxismessungen im Stehen sind bei älteren Patienten sinnvoll zur Vermeidung einer Überbehandlung (Weisskittel-Hypertonie) und zum Erkennen einer Orthostase als Risikofaktor für Stürze
  • Bei hochaltrigen (>80 Jahre) fitten und unabhängigen Patienten mit einem systolischen Blutdruck > 160 mmHg wird eine Blutdrucksenkung mit Zielwert 150/80 mmHg empfohlen (initial mit einer Monotherapie)
  • Nebst dem chronologischen Alter sollte die Gebrechlichkeit als Indikator für eine verminderte Lebenserwartung berücksichtigt werden
  • Die Blutdrucksenkung bei gebrechlichen Patienten ist eine individualisierte Therapieentscheidung, wobei die Verträglichkeit respektive die Vermeidung von potentiellen Nebenwirkungen im Vordergrund steht.

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22. PANORAMA © BAG März 2019 https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung.assetdetail.7846584.html

Nicht-Opioid-Analgetika in der Geriatrie

Bei der Pharmakotherapie im Alter sind allgemein und im Zusammenhang mit Schmerztherapie im Besonderen alterstypische Veränderungen von Pharmakokinetik und -Dynamik zu berücksichtigen. In diesem Artikel werden diese vorgestellt und darauf aufbauend Vorschläge zum sinnvollen Einsatz von Analgetika im Alter präsentiert.

Um uneingeschränkt wirken zu können, müssen Medikamente nach Gesetzen der Pharmakokinetik absorbiert, verteilt, metabolisiert und eliminiert werden. Diese Parameter unterliegen im Alter relevanten Veränderungen: Die Absorption im Magen-Darmtrakt läuft meist verzögert ab, Distribution und Metabolisierung sind meist vermindert und die renale Elimination verlangsamt. Dies kann zu einer negativen Nutzen-Risikobewertung einer Dauermedikation des älteren Menschen führen: Die Risiken der Therapie können den Benefit überwiegen.
Erschwerend kommt hinzu, dass häufig mehrere Erkrankungen gleichzeitig behandelt werden; die Wahrscheinlichkeit für eine Polymedikation mit entsprechendem Interaktionsrisiko ist gross. Zudem droht die «Verschreibungskaskade»: Eine unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) wird als eigenständiges und pharmakologisch behandlungsbedürftiges Symptom angesehen und gerade der ältere Mensch erhält so eine Vielzahl an Substanzen, deren kumulierter Benefit – und mögliche Interaktionen – kaum mehr überblickt werden können.
Zahlreiche Publikationen und Behandlungsempfehlungen beschäftigen sich mit der Pharmakotherapie geriatrischer Patienten. In den USA publiziert die American Geriatrics Society regelmässig die Beers Criteria®, welche 65 Substanzen identifiziert haben, deren potenzielle Risiken den Benefit für Alte überwiegen. Im deutschsprachigen Raum kann z.B. analog die PRISCUS-Liste potenziell inadäquater Medikation für ältere Menschen eingesehen werden.

Physiologische Veränderungen im Alter mit Einfluss auf die Pharmakokinetik

Zahlreiche Körperfunktionen unterliegen im Alterungsprozess physiologischen Veränderungen, welche einen Einfluss auf Pharmakokinetik und -dynamik haben. Beispielsweise nehmen Körpermasse und Grundumsatz ab, das Verteilungsvolumen lipophiler Substanzen wird bei erhöhter Fettmasse grösser, dasjenige hydrophiler Substanzen bei verringertem Körperwasser geringer, die Plasmaeiweissbindung ist reduziert. Die gastrointestinale Motilität sowie die Sekretion protektiver Prostaglandine sind vermindert und eine gastrale Atrophie kann eine verminderte Absorptionsfläche für Substanzen bedingen. Zu einer Abnahme der exokrinen Pankreassekretion gesellt sich ein verminderter hepatischer Blutfluss. Vor allem hepatische Phase -1-Reaktionen laufen verlangsamt ab, so dass Arzneimittel häufig nur verzögert metabolisiert werden können. Schliesslich sind glomeruläre Filtrationsrate und renaler Blutfluss im Alter vermindert, so dass die Elimination verzögert wird.

Physiologische Veränderungen im Alter mit Einfluss auf die Pharmakodynamik

Veränderungen des autonomen Nervensystems akzentuieren im Alter, so dass anticholinerge Substanzen zu vermehrten UAW führen können. Sedierende Substanzen bringen eine erhöhte Sturzgefahr und eingeschränkte Kognition mit sich. Insbesondere Opioide und NSAR zählen zu den «Fall-Increasing-Drugs», welche in diesem Kontext vermieden werden sollten. Eine orthostatische Dysregulation mit Schwindel und Synkopen entsteht leichter bei Einsatz blutdrucksenkender Substanzen. Am Nervensystem kommt es im Laufe des Alterungsprozesses zu einer Veränderung der Schmerzverarbeitung und des Schmerzerlebens. Endogen schmerzhemmende Prozesse sowie Nervenleitungsgeschwindigkeit sind vermindert. Durch die Abnahme und Hemmung der Aδ-Fasern wird die Schmerztoleranz erhöht, durch eine verstärkte Antwort der C-Fasern wird der Schmerz verzögert, aber verstärkt wahrgenommen. Neurotransmitterausschüttung und Anzahl postsynaptischer Rezeptoren sind vermindert, so z.B. die der Dopamin- oder der adrenergen α- und β-Rezeptoren. Die Wirksamkeit von Opioiden nimmt zu.
Zu den physiologischen Veränderungen gesellen sich im Alter häufige Symptome: Beispielsweise tritt eine Dysphagie, welche das Schlucken von Tabletten erschwert, häufig auf – bei zu Hause lebenden geriatrischen Menschen geht man von Prävalenzen zwischen 30-40% aus; bei institutionalisierten alten Patienten von 60%. In diesem Fall ist die Verordnung von Substanzen in Tropfenform oder als transdermales System von Vorteil.

Analgetika im Alter

Chronischer Schmerz ist das häufigste behandlungsbedürftige Symptom des alten Menschen, die Prävalenz steigt mit zunehmendem Alter. Chronischer Schmerz hat einen enormen Einfluss auf Lebenszufriedenheit und Selbstkompetenz und fördert das Risiko von affektiven Erkrankungen, Dysfunktionalität im Alltag und dauerhafter Pflegebedürftigkeit. Ziel einer Schmerztherapie im Alter ist neben der Analgesie das Vermeiden relevanter UAW, das Ermöglichen von Aktivität, Mobilität und Erhaltung der Lebensqualität. Im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzeptes kommen sowohl «Over The Counter-» als auch verschreibungspflichtige Präparate zum Einsatz, wie Nicht-Opioid-Analgetika, schwache und starke Opioide sowie Adjuvantien wie Kortikosteroide, Antidepressiva oder Antiepileptika. Vor dem Einsatz von Nicht-Opioid-Analgetika sollten die individuellen Risikofaktoren für gastrointestinale, hepatische, renale, hämatologische und kardiovaskuläre UAW erfasst und in die Therapieentscheidung einbezogen werden.
Opioide werden im Alter eher zurückhaltend und mit strenger Indikation eingesetzt: Obstipation, erhöhte Sturzneigung mit Frakturrisiko, die Gefahr von Abhängigkeit, Sedation, kognitiver Einschränkung bis Delir limitieren den Gebrauch. NSAR sind in der Langzeitanwendung generell, und im Alter speziell nur mit Vorsicht zu empfehlen. In dieser Patientengruppe drohen u.a. gastrointestinale Blutungen und Ulzerationen, eine Verminderung der Nierenfunktion sowie das Begünstigen eines Delirs oder anderer zentralnervöser Symptome. Eine schwere Niereninsuffizienz (GFR < 30ml/min) muss vor der Anwendung von NSAR ausgeschlossen sein.
Selektive COX-2 Hemmer haben sich in dieser Patientengruppe ebenfalls als nicht vorteilhaft erwiesen, dies v.a. aufgrund der gehäuften Inzidenz von Myokardinfarkt und Schlaganfall.
Beispiele von Nicht-Opioid-Analgetika in der Geriatrie sind in Tab. 1 aufgelistet.

Acetylsalicylsäure, ASS

ASS ist als Analgetikum in der Selbstmedikation nur für eine Kurzzeitbehandlung über drei Tage zugelassen. Eine längere Anwendung sollte ärztlich überwacht werden. Neben analgetischen, antiphlogistischen und antipyretischen Eigenschaften besitzt ASS auch relevante thrombozytenaggregationshemmende Wirkung. Zu den renalen Effekten zählt die Flüssigkeitsretention. Alte Patienten, die unter arterieller Hypertonie oder beeinträchtigter Herzfunktion leiden, die eine renale Insuffizienz vorweisen und evtl. Diuretika oder ACE-Hemmer einnehmen, sollten nur sehr zurückhaltend mit ASS in analgetischen Dosen behandelt werden. ASS zeigt die gesamte Bandbreite typischer NSAR – UAW. Zudem vermindert ASS in niedriger Dosierung die Harnsäureausscheidung und kann bei prädisponierten Patienten einen Gichtanfall auslösen. ASS ist rezeptfrei, obwohl gemäss Swissmedic 2018 gastrointestinale Blutungen bei ca. einem von 1 000 Behandelten auftreten und diese auch tödlich verlaufen können.

Celecoxib

Zwar ist dieser COX2- Hemmer zur Behandlung chronischer Erkrankungen wie Osteoarthrose, rheumatoider Arthritis oder Spondylitis ankylosans zugelassen, von einer dauerhaften Gabe rät der Hersteller allerdings ab, resp. rät zu sorgfältiger Monitorisierung und wiederholter Nutzen- / Risikobewertung. Das Risiko für gastrointestinale Blutungen besteht wie für nichtselektive COX-Hemmer. Zudem wurde eine erhöhte Inzidenz von thrombotischen kardio- und zerebrovaskulären Ereignissen nachgewiesen. Gerade in höheren Dosen ist das Risiko für einen Myokardinfarkt erhöht. Celecoxib besitzt keine thrombozytenaggregationshemmenden Eigenschaften. Wie andere NSAR auch kann Celecoxib gerade bei älteren Menschen nierentoxisch wirken.

Diclofenac

Für Patienten mit bestehender kardiovaskulärer Erkrankung wird die Substanz nicht empfohlen. Falls notwendig, sollen alte Patienten bei Gabe über mehr als 4 Wochen nur mit Dosen bis zu 100 mg pro Tag behandelt werden. Niereninsuffizienz, Leberinsuffizienz (Child Pugh Klasse C) und Herzinsuffizienz (NYHA III–IV) stellen eine Kontraindikation dar. Zu eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion liegen gemäss Hersteller keine Daten vor, es sei «Vorsicht angezeigt».

Etodolac

Etodolac ist für die Langzeitanalgesie bei geriatrischen Patienten zugelassen. In dieser Patientengruppe liess sich kein Unterschied bzgl. Pharmakokinetik oder UAW-Profil zeigen. Auch ist die aktive Etodolac-Konzentration durch Nieren- oder Leberinsuffizienz nicht verändert. Schwere Leberfunktionsstörungen, Nieren- oder Herzinsuffizienz zählen gemäss Herstellerangaben dennoch zu den Kontraindikationen. Ebenfalls gemäss Herstellerangaben ist die Prostaglandin E2-Hemmung im Magen schwach und von kurzer Dauer. Etodolac reichert sich in der Synovialflüssigkeit an, was Vorteile bei der Behandlung arthritischer Schmerzen bietet.

Ibuprofen

Ist nur für die Kurzzeitbehandlung akuter Schmerzen zugelassen. Schwere Leberfunktionsstörungen, Niereninsuffizienz (Kreatinin-Clearance < 30 ml/min) und Herzinsuffizienz (NYHA III–IV) zählen zu den Kontraindikationen. Es bestehen Hinweise, dass es unter hohen Dosen (2400 mg/Tag) zu einem erhöhten Risiko von arteriellen thrombotischen Ereignissen wie Myokardinfarkt oder Schlaganfall kommt.

Indometacin

Zeigt unter den NSAR das höchste Risiko für gastrointestinale Blutungen, Ulzerationen und Perforationen, auch mit letalem Ausgang, bei älteren Patienten. Zudem von allen NSARs die häufigste Inzidenz zentralnervöser UAW. Die Substanz sollte bei gastrointestinalen Vorerkrankungen, Hypertonie, Herzinsuffizienz NYHA III-IV, schweren Leberfunktionsstörungen und St.n. kardialen Bypass-Operationen nicht eingesetzt werden.

Metamizol

Wirkt durch eine Kombination zentraler und peripherer Effekte und besitzt zudem spasmolytische Eigenschaften. Metamizol wird bei positivem Risikoprofil sehr häufig auch in der Geriatrie verwendet. Dabei werden fehlende Risiken (s. die oben erwähnten kardialen, renalen und gastrointestinalen UAW), welche unter NSAR-Therapie regelmässig vorkommen, gegen die schwere, aber sehr seltene UAW der Agranulozytose abgewogen.

Paracetamol

Im Alter sind keine Dosisanpassungen notwendig, solange die hepatische Funktion nicht eingeschränkt ist und kein Alkoholabusus vorliegt. Bei letzterem kommt es zu Induktion der hepatischen Monooxigenase CYP2E1 und vermehrter Bildung des toxischen Metaboliten NAPQI. Beim Gesunden entsteht aus 2-4% der Paracetamoldosis NAPQI, welches dann durch Glutathion gebunden wird. Bei geriatrischen kachektischen Patienten können die Glutathion-Reserven vermindert sein. Bei milder bis moderater hepatozellulärer Insuffizienz gibt der Hersteller eine Maximaldosis von 2 g/d an, bei schweren Leberfunktionsstörungen ist Paracetamol kontraindiziert. Nierenfunktionseinschränkungen hingegen stellen normalerweise keine Kontraindikation dar; lediglich bei einer Kreatininclearance < 10 ml/min wird das Dosierungsintervall auf acht Stunden erhöht. Paracetamol kann auch als Dauermedikation eingesetzt werden. Eine relativ geringe Wirkstärke und fehlende entzündungshemmende Eigenschaften limitieren allerdings den Nutzen.

Piroxicam

Oxicam mit hoher oraler Bioverfügbarkeit und langer Halbwertszeit, daher nur einmal tägliche Einnahme. Unter Piroxicam besteht bei Alten ein hohes Risiko für gastrointestinale Blutungen, Ulzerationen und Perforationen. Piroxicam führt zudem zu erhöhtem Blutdruck. Zu den Kontraindikationen zählen neben Magen-/Darmulcera auch Nieren- und Leberfunktionsstörungen, Hypertonie, Herzinsuffizienz NYHA III-IV, St.n. kardialen Bypass Operationen.

Behandlung chronischer Schmerzen im Alter

In Alters- und Pflegeheimen wird in der chronischen Schmerztherapie am häufigsten Paracetamol eingesetzt, dicht gefolgt von Metamizol auf Platz zwei der Analgetika. In Deutschland ist gar Metamizol das am häufigste in Pflegeheimen verschriebene Analgetikum.
Die gefürchtete schwere und dosisunabhängige UAW der Agranulozytose unter Metamizol beträgt weniger als 0,01% der Behandlungen. Für die Schweiz wurde basierend auf einer aktuellen Basler Studie die minimale Inzidenz einer Metamizol-assoziierten Agranulozytose auf 0,46–1,63 Fälle/Million Tagesbehandlungen geschätzt. In einigen Fällen dokumentierter Agranulozytosen wurde eine Kombination mit einer myelosupprimierenden Substanz verzeichnet. Jeder Patient, der Metamizol verschrieben bekommt, sollte auf die Frühsymptome einer Agranulozytose hingewiesen werden.
Das relative Risiko letaler Ausgänge für Metamizol ist geringer als dasjenige für andere Analgetika: Andrade et al. berechneten die Todesfälle pro 100 Millionen Anwender bei einwöchiger Einnahme. Für Diclofenac waren dies 529 Todesfälle, für ASS 185, für Metamizol 25 und für Paracetamol 20. Werden Personen mit peptischem Ulkus in der Anamnese ausgeschlossen, ergeben sich für Diclofenac 139, für ASS 79, für Metamizol 5,5 und für Paracetamol 3,6 Todesfälle. Der Bedarf an Analgetika hat in den vergangenen Jahren in der Schweiz massiv zugenommen. Überproportional ist hiervon Metamizol betroffen: So hat sich die Zahl der Verschreibungen zwischen 2006 und 2013 mehr als vervierfacht. Zu bevorzugen ist die Substanz zur Therapie starker Schmerzen bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion, die auf NSAR gastrointestinale Symptome entwickelt haben oder anderweitige Kontraindikationen für diese Substanzgruppe haben.
Generell gilt für die Analgetika-Therapie geriatrischer Patienten, bei denen langfristige Behandlungserfolge und eine erhöhte Funktionalität im Alltag erzielt werden sollten, ein zurückhaltendes Verschreibungsverhalten als Goldstandard: Start Low, Go Slow. Leichtere chronische Schmerzen sollten nach Möglichkeit mit Paracetamol, schwerere Schmerzzustände eher mit Metamizol behandelt werden. Ein längerfristiger Einsatz von NSAR sollte vermieden werden.
Selbstverständlich sollte bei der Therapie chronischer Schmerzen des älteren Menschen ein indikationsgerechter Einsatz von Koanalgetika wie Antikonvulsiva, Antidepressiva, Steroide etc. berücksichtigt werden. Im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes kommen physikalische Therapien, Physiotherapie, Psychotherapie und die interventionelle Schmerztherapie durch ein interdisziplinäres Behandlungsteam zum Zuge. Der Summeneffekt dieser Massnahmen sollte dem alten Menschen eine sichere und effektive Schmerztherapie gewährleisten, bei der die Risiko-Nutzenbewertung stimmt.

Dr. med. Antje Heck

Fachärztin für Klinische Pharmakologie und Toxikologie FMH
Fachärztin für Anästhesie FMH, Schmerzspezialistin SGSS
Leiterin Sprechstunde Medikamente in Schwangerschaft und Stillzeit
Oberärztin Psychiatrische Klinik Königsfelden
Postfach 432
5201 Brugg

antje.heck@pdag.ch

Prof. Dr. med. Eli Alon

Facharzt für Anästhesiologie FMH, Schmerzspezialist SGSS
Professor für Anästhesiologie und Schmerzmedizin an der
Universität Zürich
Praxis für Schmerztherapie
Arzthaus Zürich City
Lintheschergasse 3
8001 Zürich

eli.alon@arzthaus.ch

Ein Experten-Meeting wurde finanziell von Sanofi unterstützt (ohne dran teil zu nehmen). Der Sponsor hatte keinen Einfluss auf den Bericht.

  • Physiologische Veränderungen im Alter bedingen eine veränderte Pharmakokinetik und -Dynamik. Zudem können sowohl erwünschte als auch unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) von Erkrankungen des späten Lebensabschnittes beeinflusst werden
  • Herstellerangaben bzgl. Indikation, Dosierung, Effektivität und unerwünschten Arzneimittelwirkungen von Nicht-Opioid-Analgetika (NOA) begründen sich meist auf Studien an jungen, eher gesunden Patienten über einen recht kurzen Beobachtungszeitraum. Auf eine chronische Anwendung bei älteren Menschen sind diese Angaben nicht ohne weiteres übertragbar
  • Auch akute und chronische Erkrankungen des alten Menschen erfordern eine veränderte Nutzen-/Risikobewertung in Auswahl und Dosierung eines Analgetikums
  • Opioide werden im Alter eher zurückhaltend und mit strenger Indikation eingesetzt: Obstipation, erhöhte Sturzneigung mit Frakturrisiko, die Gefahr von Abhängigkeit, Sedation, kognitiver Einschränkung bis Delir limitieren den Gebrauch
  • Generell gilt für die Analgesie geriatrischer Patienten ein zurückhaltendes Verschreibungsverhalten als Goldstandard: Start Low, Go Slow. Leichtere chronische Schmerzen sollten möglichst mit Paracetamol, schwerere Schmerzzustände eher mit Metamizol behandelt werden. Ein längerfristiger Einsatz von NSAR sollte vermieden werden
  • Sollten Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) bei akuten entzündlichen Schmerzen eingesetzt werden, empfiehlt sich beim älteren Patienten die gleichzeitige Verschreibung eines Magenschutzes ab erstem Verordnungstag.

Special Lecture Dr. Nuts – Die häufigsten Fragen in der Diabetologie

1950 ist man davon ausgegangen, dass die Verdoppelung des medizinischen Wissens 50 Jahre dauere. 2020 erfolgt die Verdoppelung alle 0,2 Jahre. Vor diesem Hintergrund wurde die innovative Wissensplattform «in a nutshell» geschaffen, welche für Hausärzte und Internisten jederzeit einen einfachen und schnellen Zugriff auf verständlich formulierte, praxisorientierte und praxisrelevante Informationen vermitteln soll. In diesem Rahmen wurden bisher 3 Broschüren zu wichtigen Themen in der Grundversorgung herausgegeben, «Reduktion des kardiovaskulären Risikos bei Diabetes mellitus Typ 2», «Psoriasis in der Hausarzt-Praxis» sowie ganz neue «Leber in der Hausarzt-Praxis».

Ask Dr. Nuts – Ihre Fragen zum polymorbiden Diabetespatienten

Im Rahmen der Präsentation am Frühjahrskongress der SGAIM 2019 in Basel referierte Herr Professor Roger Lehman über: Ask Dr. Nuts – Ihre Fragen zum polymorbiden Diabetespatienten.

Die 1. Frage «Was ist das Ziel HbA1c bei einem polymorbiden Patienten mit Diabetes Typ 2?» beantwortet der Referent mit einer Gegenfrage «wie ist das Risiko für eine Hypoglykämie». Wenn ein Patient mit Sulfonylharnstoffen behandelt wird, ist diese Frage wesentlich. Hypoglykämien sind gefährlich, sie können zu Hirnschaden und Tod führen sowie zu Entzündung und steigern die Thrombose Häufigkeit bis 7 Tage nach einer Hypoglykämie (Abb. 1).
Somit lautet die wichtigste Antwort auf die Eingangsfrage: Falls der Patient nicht unter Insulin oder Sulfonylharnstoffen steht, gibt es keine untere Begrenzung für das HbA1c (es soll so normal wie möglich sein, nämlich 6-7%). Eine Kombination von Sulfonylharnstoffen und Insulin sollte absolut vermieden werden, da darunter das Hypoglykämierisiko um das 9-bis 40-fache erhöht ist. Ältere Patienten haben oft keine typischen klinischen Zeichen bei Hypoglykämie, bei ihnen verläuft die Hypoglykämie oft still. Im Weiteren steigt das Risiko für Hypoglykämien bei schlechter Nierenfunktion und bei hohem Alter.

2. Frage: Diabetes und akute Krankheiten (Diarrhoe, Erbrechen): was muss pausiert werden? Im Falle von schweren Erkrankungen, drohender Hospitalisation oder Eingriffen sollen Metformin und SGLT-2 Hemmer abgesetzt werden. Metformin wird unmetabolisiert renal ausgeschieden. Falls es im Rahmen einer schweren Erkrankung zu einer Verschlechterung der Nierenfunktion kommt, droht die Gefahr einer Laktazidose. SGLT-2 Hemmer können bei Insulinmangel zu einer diabetischen Ketoazidose führen.

3. Frage: Wie sieht die Diabetestherapie bei Herz- bzw. Niereninsuffizienz aus? Der Referent bezeichnete es als neue Erkenntnis, dass Nierenversagen und Herzinsuffizienz zusammengehören. Es gibt viele hämodynamische Kontrollen und kardio-renale Verbindungen, wie erhöhter peripherer Widerstand, Blutdruckveränderungen, erhöhte Natriurese bzw. Aktivierung des sympathischen Nervensystems, Renin-Angiotensin-System, Entzündung, welche bei beiden Krankheitsentitäten verändert sind (Abb. 2).
Mit Blick auf eine Vielzahl von modernen Studien zur Diabetestherapie mit kardiovaskulären Endpunkten kann beobachtet werden, dass es nur mit SGLT-2 Hemmern gelingt, die Herzinsuffizienz zu verhindern respektive zu behandeln (Empagliflozin, Canagliflozin, Dapagliflozin) (Abb. 3). 2 Gruppen haben auch nephroprotektive Wirkungen, die SGLT-2 Hemmer, zu erwähnen sind insbesondere die EMPA-REG OUTCOME Studie sowie das CANVAS/CREDENCE Programm, und GLP-1 Rezeptor Agonisten (RA) mit entsprechenden Resultaten in der LEADER- und SUSTAIN 6-Studie (Abb. 4).
Im Gegensatz zu früheren Studien hatten die Teilnehmer im CREDENCE Programm im Schnitt eine deutlich schlechtere Nierenfunktion mit einer Makroalbuminurie und einer eGFR von im Schnitt 56 ml/min. Der Schweregrad der Niereninsuffizienz wurde auch da-durch charakterisiert, dass 176 Patienten einem Nierenersatzverfahren zugeführt werden mussten. Gerade in diesem schwer belasteten Krankengut wurde das relative Risiko für den primären Endpunkt (Dialyse, Transplantation, eGFR anhaltend < 15 ml/min, Verdoppelung des Serum Kreatinins oder Tod aus renalen oder kardiovaskulären Gründen) um 30% reduziert (Abb. 5).
Während Empagliflozin und Canagliflozin gemäss offizieller Empfehlung erst ab einer GFR von 45 ml/min eingesetzt werden darf, könnten diese beiden Substanzen aufgrund der aktuellen Endpunktstudien bereits ab einer GFR von 30 ml/min eingesetzt werden. Für Dapagliflozin wurde die Indikation auf eine eGFR von 45 ml/min gesenkt, es gibt aber noch keine Studien bis zu einer eGFR von 30 ml/min. Während der glukosesenkende Effekt mit abnehmender Nierenfunktion abnimmt bleibt der positive Effekt bezüglich Nephroprotektion und Verbesserung/Prävention von Herzinsuffizienz und Vermeidung kardiovaskulärer Ereignisse intakt auch bei tieferer eGFR (Abb. 6).
Der Referent macht darauf aufmerksam, dass die kardiovaskulären Endpunkt-Studien nicht darauf angelegt waren, den Nutzen der Substanzen im Rahmen der primären Prävention zu prüfen. Die Beobachtungsdauer war für eine Population mit niedrigem Risiko zu tief. Aus diesem Grunde wurden Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen geprüft, so das eigentlich eine Situation einer Sekundärprävention vorliegt. Der Referent ist aber überzeugt, dass bei Patienten mit Diabetes und multiplen Risikofaktoren auch ein Effekt im Rahmen der Primärprävention bestehe, dass aktuell aber die Studien dazu noch nicht vorhanden sind (Abb. 7).

Wie sieht die Situation 2019 in der Schweiz aus? Die 1. Frage soll immer einen möglichen Insulinmangel betreffen. 25% aller Patienten haben einen Insulinmangel und der Referent hat selbst auch Patienten im Alter von 70 und 80 Jahren gesehen mit einer Erstmanifestation eines Typ 1 Diabetes. Die 2. Frage betrifft die Nierenfunktion, ¼ aller Patienten haben eine eGFR < 60 ml/min. Bei diesen kommen zur Therapie SGLT-2 Hemmer und GLP-1 RA in Frage. Die 3. Frage betrifft kardiovaskuläre Erkrankungen. Diese ist in der Praxis schwierig zu beantworten, 50% aller Krankheiten leiden an einer solchen, sind aber asymptomatisch. Auch diese profitieren von SGLT-2 Hemmern und GLP-1 RA. Die 4. Frage betrifft die Herzinsuffizienz, an welcher ca. 25% der Patienten leiden, aber asymptomatisch sind. Auch diese Diagnose ist in der Praxis schwierig zu beantworten, im Zweifelsfall sind SGLT-2 Hemmer richtig (Abb. 8).

Die neuen Zürcher Empfehlungen 2019 lauten: Lifestyle Interventionen sind sehr wichtig. Die Therapie hat multifaktoriell zu erfolgen unter Berücksichtigung von Blutdruck, Cholesterin, Rauchstopp und Diabetes. Die Erstlinien Diabetestherapie besteht in Metformin, falls die eGFR grösser 30 ml/min ist. Wichtig ist eine frühe Kombinationstherapie, ähnlich wie sie bei der Behandlung des Blutdrucks schon seit langem üblich ist. Dann soll die Präferenz des Patienten erfragt werden. Dieser will keine Unterzuckerung, weshalb GLP-1 RA und/oder SGLT-2 Hemmer in Frage kommen oder aber DPP-4 Hemmer. Diese sind sicher, haben aber keinen sofortigen Nutzen auf die kardiovaskuläre Erkrankung. Gewichtsverlust ist ein häufiger Wunsch der Patienten (GLP-1 RA und/oder SGLT-2 Hemmer). Dann kommt die Frage nach einem Insulinmangel – besteht ein solcher erfolgt die Behandlung mit Insulin. Weiter die Frage nach der Nierenfunktion, wenn die eGFR unter 30 ml/min ist, kommen nur DPP-4 Hemmer oder GLP-1 RA in Frage. Wenn die eGFR zwischen 30 und 90 ml/min beträgt und ein Nierenschutz erwünscht ist, kommen SGLT-2 Hemmer und/oder GLP-1 RA in Frage. Die abschliessende Frage betrifft die Prävention und Therapie einer Herzinsuffizienz, welche eine ideale Indikation für SGLT-2 Hemmer darstellt. Es gibt jetzt auch Studien von Kardiologen, welche diese Substanz bei Patienten mit Herzinsuffizienz ohne Diabetes einsetzen (Abb. 9).

Dr. med. Hans Kaspar Schulthess

Bleiben auch nach 10 Runden im Schwung

Die Vereinigung Allgemeiner und Spezialisierter Internistinnen und Internisten Zürich, VZI, führt neben ihrem jährlichen ganztägigen Symposium im Januar praktisch alle zwei Jahre eine Nachlese zum Jahreskongress des American College of Physicians durch unter dem Motto «VZI Highlights from Philadelphia». In diesem Jahr organisiert von Frau Dr. med. Regula Capaul, Prof. Dr. med. Stephan Vavricka und Dr. med. Stefan Zinnenlauf. Im Zentrum standen die «Multiple small Feedings of the Mind»: Zu verschiedenen Fachgebieten wurden 3 klinisch aktuelle Fragen präsentiert, welche von entsprechenden Experten basierend auf den Antworten der amerikanischen Experten am Kongress und ergänzt durch die Schweizer Sicht der Dinge beantwortet werden. Im Folgenden wird je eine Frage mit Antworten resümiert, welche dem
Kardiologen, dem Hämatologen, dem Infektionsspezialisten und dem Neurologen gestellt wurde.

Kardiologie

Dr. med. Stefan Christen, Zürich, nahm Stellung zur Frage «Welche Rolle spielt die Blutdruckselbstmessung bzw. die 24h-BD-Messung?». Der Referent geht zunächst auf die Guidelines ein, die 2017 in Amerika und 2018 in Europa neu zusammengestellt wurden – während die offiziellen schweizerischen Guidelines noch von 2013 stammen. Die Amerikaner haben quasi über Nacht 30-40 Mio. neue Kranke geschaffen, indem sie das Stadium 1 einer arteriellen Hypertonie neu mit systolischen Drucken zwischen 130 und 139 mm Hg und diastolischen Werten von 80-89 mm Hg definiert haben. In Europa bleibt alles beim Alten, hier wird weiterhin ab einem Blutdruck von 140/90 mm Hg von einer Hypertonie gesprochen. Die Praxisblutdruckmessung ist fehleranfällig und damit problematisch. Dies zeigt sich unter anderem an der Tatsache, dass mit einer 24-Stunden-Blutdruckmessung eine Praxishypertonie nur in 35-93% der Fälle bestätigt wird. Auch eine Selbstmessung bestätigt die Praxishypertonie lediglich in 45-84 % der Fälle, Themen dazu sind Weisskittelhypertonie und maskierte Hypertonie. Man weiss, dass erhöhte 24-Stunden-Blutdruckwerte klar ein erhöhtes Risiko für alle kardiovaskulären Ereignisse darstellt unabhängig vom Praxisblutdruckwert. Wenn man einen erhöhten 24-Stunden-Blutdruckwert hat und diesen behandelt, dann rettet man Leben. Deshalb empfiehlt die US Task Force eine 24-Stunden-Blutdruckmessung als Referenzstandard vor Beginn jeglicher therapeutischer Massnahmen im Sinne einer Grad-A-Empfehlung. In den europäischen Empfehlungen wird bezüglich Screenings und Diagnose an wiederholten Praxisblutdruckmessungen festgehalten mit einer 24-Stunden-Blutdruckmessung oder Heimblutdruckmessung als Alternative und in Spezialfällen. Die Definitionen einer Hypertonie sind abhängig von der Messmethode in dem Sinn, dass bei Praxisblutdruckmessungen die Grenze bei 140/90 mm Hg liegt, während bei der Heimblutdruckmessung 135/85 mm Hg als Grenze gelten. Bei der Langzeitblutdruckmessung wird differenziert entsprechend der Messperiode, tagsüber 135/85, nachts 120/70 und im Mittel über 24 Stunden 130/80 mm Hg. Unter den Take Away Points hält der Referent fest, dass Blutdruckmessungen korrekt durchgeführt werden sollen. Ausser bei sehr hohen Blutdruckwerten soll keine antihypertensive Therapie eingeleitet werden ohne Bestätigung durch eine Form einer ambulanten Messung, sei es in Form einer 24-Stunden-Blutdruckmessung oder der Heimmessung. Für die Langzeitmessung bestehen robuste Daten, dass hohe Blutdruckwerte mit kardiovaskulären Ereignissen korreliert sind. Für Patienten mit einer Weisskittelhypertonie sollen wiederholt Langzeitblutdruckmessungen in Betracht gezogen werden, um die allfällige Entwicklung einer echten Hypertonie nicht zu verpassen. Beratung in Ernährungsfragen und bezüglich Lifestyles ist immer empfohlen.

Hämatologie & Onkologie

Dr. med. Reto Kühne, Zürich, erläutert «Die aktuellen Empfehlungen für den Einsatz von neuen oralen Antikoagulantien bei Patienten mit Malignom». Das Phänomen einer tumorassoziierten Thrombose hat Armand Trousseau 1865 erstmals beschrieben. Es betrifft im klinischen Alltag 20 bis 30% aller venöser Thromboembolien. Sowohl bei soliden Tumoren wie auch bei Lymphomen, Myelom oder Leukämie ist das Thromboserisiko 4- bis 7-fach erhöht. Die erste grosse Vergleichsstudie zur Behandlung von tumorassoziierten Thrombosen erschien 2003 im New England Medical Journal und zeigte, dass das Rezidivrisiko unter Behandlung mit Fragmin® rund halb so hoch ist wie unter Vitamin-K-Antagonisten. An gleicher Stelle erfolgte 2018 die Publikation einer Vergleichsstudie von Edoxaban (Lixiana®) mit dem LMWH Dalteparin nach vorgängig 5-tätiger Behandlung mit LMWH und zeigte identische Resultate bezüglich Blutungen und Rezidivthrombosen. Eine grosse Meta-Analyse von 13 ausgewählten Artikeln zeigte, dass zwischen den Behandlungen kein Mortalitätsunterschied besteht, dass DOAKs effektiver in der VTE-Prävention sind als LMWH, und ein insgesamt 6-fach tieferes Blutungsrisiko aufweisen, jedoch v.a. bei Tumoren des GI-Traktes zu mehr schweren Blutungen führen. Zusammenfassend hält der Referent fest, dass bei der tumorassoziierten Thrombose gute Evidenz für Edoxaban und Rivaroxaban besteht, rät aber bei GI-Tumoren (insbesondere auch bei Tumor in situ), wo LMWH eingesetzt werden sollen, vom Einsatz von DOAKs ab.

Infektionskrankheiten

Dr. med. Gerhard Eich, Zürich, widmet sich der Frage «Für welche Patientengruppe ist die Varizellen-Zoster-Impfung indiziert oder kontraindiziert? Wann und wie soll ein immunkompetenter Patient mit schwerer Gürtelrose abgeklärt werden?» Mehr als 99% aller Erwachsenen hatten Kontakt mit dem Varizella-Zoster-Virus (VZV), sei es durch natürlichen Kontakt oder Impfung. Die Infektion persistiert lebenslang und wird durch VZV-spezifische T-Zellen kontrolliert. Deren Aktivität nimmt jedoch mit zunehmendem Alter und bei Immunosuppression ab, wodurch das Risiko eines Herpes Zoster v.a. ab Alter 50 steigt. In der Schweiz dürfte es deshalb zu rund 21000 Konsultation jährlich kommen, betroffen sind zu über 50% Personen älter als 65 Jahre. In rund 30% stellen sich Komplikationenen ein, sei es in Form einer post-herpetischen Neuralgie (PHN, Schmerzen > 3 Monate nach Ausheilung des Ausschlags), eines Zoster Ophthalmicus (10-20% der HZ-Fälle mit Potential der Erblindung) oder eines Zoster oticus (Ramsey-Hunt) mit Facialis-Parese. Mit Zostavax®, einem attenuierten Lebendimpfstoff kann man sich dagegen schützen, der Impfstoff wurde 2007 von Swissmedic zugelassen, aber nicht primär in den Impfplan aufgenommen, weil das Kosten-Nutzen-Verhältnis als ungenügend eingestuft wurde. 2015 erfolgte eine Reevaluation durch die eidgenössische Kommission für Impffragen. Die Inzidenz einer Gürtelrose wird um 50% reduziert, die PHN um zwei Drittel. Die Wirksamkeit nimmt mit steigendem Alter ab und verliert sich mit den Jahren nach der Impfung. Trotzdem wurde der Impfstoff daraufhin in den Impfplan 2017 aufgenommen als ergänzende Impfung bei immunkompetenten Personen zwischen 65 und 79 Jahre unabhängig von einer VZV-Anamnese. Bei einem erhöhten Erkrankungs- und Komplikationsrisiko, insbesondere einer bevorstehenden Immunschwäche im Alter von 50 bis 79 Jahre ist eine Impfung mit einer Dosis empfohlen, sofern die VZV-Anamnese positiv ist. Ansonsten ist eine Grundimmunisierung mit 2 Dosen Varivax® indiziert. Kontraindikationen für eine Lebendimpfung sind mässige bis schwere Immundefizienz und Schwangerschaft. Auch bei Allergien gegen den Impfstoff darf nicht geimpft werden. Es erfolgt keine Übernahme der Kosten von CHF 162 durch die Krankenkassen. Zusammenfassend handelt es sich um einen Impfstoff mit einem durchzogenen Leistungsausweis. Jetzt wurde neu ein rekombinierter Impfstoff (Shingrix®) auf den Markt gebracht, er ist in den USA und auch Deuschland zugelassen, aber nicht in der Schweiz. Geimpft wird mit 2 Dosen im Abstand von 2 Monaten, die Nebenwirkungen sind v.a. Fieber über 38 Grad bei 11% der Patienten. Bezüglich Kontraindikationen bestehen keine Untersuchungen zur Wirksamkeit bei Transplantierten und bei Immunschwäche. Studien zeigen jedoch sehr gute Resultate mit einer Effektivität gegen den Herpes Zoster und die PHN in über 90%, nicht abnehmend bei steigendem Alter der Geimpften und einer schwächeren Abnahme im Verlauf der Zeit. Es wird darauf hingewiesen, dass es möglich ist, nach einer Impfung mit Zostavax mit Shingrix zu impfen.
Die Frage nach sinnvollen Abklärungen von immunkompetenten Patienten mit einer schweren Gürtelrose basiert auf der Annahme, dass ein Herpes Zoster Ausdruck einer Immunschwäche sei und dass eine solche Folge einer schweren Grunderkrankung, insbesondere Neoplasie, sein könne. Die Frage gab Anlass zu verschiedenen Studien, der Referent präsentiert eine Untersuchung anhand des dänischen Nationalregisters. Bei 10588 Patienten mit HZ wurden 1239 Fälle erwartet und 1427 Fälle gefunden (RR 1,2). D.h. das Risiko für eine Neoplasie ist leichtgradig erhöht, jedoch nur für hämatologische Neoplasien im ersten Jahr, nicht für die übrigen Neoplasien. Die Autoren kamen zum Schluss, dass eine spezifische Suche nach Neoplasien nicht empfohlen werden könne.

Neurologie

Prof. Dr. med. Christian Baumann, Zürich, nahm Stellung zu den Fragen «Inwiefern hat sich der Ansatz zur Behandlung von Migräne geändert? Wie sollten Patienten über Prophylaxe-Möglichkeiten beraten werden?» Zur Therapie einer Migräneattacke hält der Referent fest, dass sich derzeit in der Neurologie und der Pharmaindustrie viel bewegt, dass sich der Fokus aber immer noch auf den Trigeminus und die Gefässe richtet. Gemäss den deutschen Leitlinien, die auch von Österreich und der Schweiz mitgestaltet wurden und vor einem Jahr in Kraft gesetzt wurden, werden zur Behandlung von leichtere und mittelstarke Migräneattacken primär Analgetika wie Acetylsalicylsäure und nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) als wirksam eingesetzt. Sie wirken auch bei einem Teil der Patienten mit schweren Migräneattacken. Die 5-HT-1B/1D-Agonisten (Almotriptan, Eletriptan, Frovatriptan, Naratriptan, Rizatriptan, Sumatriptan und Zolmitriptan) sind die Substanzen mit der besten Wirksamkeit bei akuten Migräneattacken und sollten eingesetzt werden, wenn diese nicht auf Analgetika oder NSAR ansprechen. Die Indikation zur Prophylaxe der Migräne hat sich nicht verändert, man soll daran denken, wenn häufige Attacken bestehen und besonders ausgeprägte Beschwerden oder anhaltende Aurea. Neben Information und Verhaltensmodifikation kann eine medikamentöse Migräneprophylaxe angeboten werden, wobei sich die Wahl eines Präparates an der Attackenhäufigkeit, an Begleiterkrankungen und individuelle Bedürfnisse des Patienten orientieren sollen. Als Substanzen kommen die Betablocker Metoprolol und Propranolol in Frage, der Kalziumantagonist Flunarizin oder die Antikonvulsiva Topiramat oder Valproinsäure. Deren Wirksamkeit und diejenige vom Antidepressivum Amitriptylin sind am besten durch randomisierte Studien belegt. Neu werden selektivere Agonisten kommen, welche ebenso gut wirken, ohne die vasokonstriktive Komponente der Triptane aufzuweisen, so dass sie auch bei Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren eingesetzt werden können. Das Zulassungsverfahren z.B. für Lasmiditan läuft in verschiedenen Staaten, wenn auch noch nicht in der Schweiz. Bei der Migräneprophylaxe gibt es bereits neue Medikamente, die von der Swissmedic zugelassen sind, so humane resp. humanisierte monoklonale Antikörper, die das Calcitonin Gene Related Peptide (CGRP) ausschalten und damit dessen Vasodilatation hemmen. Es sind zwei Substanzen zugelassen, deren Wirkung dosisabhängig über mehrere Monate gut ist in Bezug auf Reduktion der Anzahl von Migränetagen pro Monat, Erenumab (Aimovig®) und Galcanezumab (Emgality®). Ein Pen kostet CHF 616, einmal monatlich zu applizieren, wobei die Verordnung gemäss Limitatio nur durch einen Facharzt für Neurologie und weiteren Voraussetzungen erfolgen darf .

Dr. med. Hans Kaspar Schulthess, Zürich
Quelle: VZI Highlights from Philadelphia, 4. Juli 2019, Lake Side, Zürich

Über die kargen Schrattenfelder am Pragelpass

Für den nächsten Tag ist ausgiebiger Schneefall angesagt und somit heute die letzte Gelegenheit, ohne Ski oder Schneeschuhe zur Silberen am Pragelpass aufzusteigen. Auf der Passhöhe beginnt unser Aufstieg beim Denkmal zum Gedenken an die Übergabe der neuen Fahrstrasse 1974 durch den damaligen Kommandanten des Gebirgsarmeekorps, F. Wille, an die Zivilbehörden. Der schmale Pfad windet sich gegen Osten den steilen Hang des Ruch Tritts und mit einem weiten Schlenker gegen Süden zu den Alphütten von Butzen hinauf. Hier steht der letzte Brunnen bis weit jenseits des Gipfels der Silberen für alle, die bis dahin ihre Wasserflaschen noch nicht aufgefüllt haben.

Gleich oberhalb der Hütten beginnen die Schrattenfelder am Rampferenstöckli, die jeden Tropfen Wasser in der Tiefe der zahllosen Schründe verschwinden lassen (Abb. 2). Die grauen Karren und Schratten, die im Licht- und Schattenspiel der Sonne mit den Wolken immer wieder weiss aufleuchten, narren das Auge, als wären sie ein vor Ewigkeiten zu Stein erstarrter Gletscher. Kein Wunder, dass sich um diese abweisende Felsenwüste ungezählte Sagen und Geschichten ranken. Der Weg ist heute gut markiert im Gegensatz zu früheren Zeiten. Trotzdem wünscht man sich keinen Nebel und schon gar keinen Schneefall, der die Wegzeichen überdecken würde.

Im östlichen Ausläufer der Butzenwand braucht es auch einmal die Hände, um ein paar grössere Stufen zu überwinden. Im Bereich des Ochsenstrichs verlässt der Weg für einen Augenblick die scharfen Schrattenklüfte und führt über Kies zum Gipfelaufschwung, hinter dem endlich das Massiv des Glärnisch mit dem Vrenelisgärtli auftaucht (Abb. 3). Gegen Südosten ragt der Bös Fulen und der Grisset auf, im Süden der Pfannenstock. Im Norden liegen die steilen Wände des Drus- und Forstbergs, gegen Westen reicht der Blick weit über das Muotathal hinaus.

Ein weiter runder Rücken bildet den Gipfel der Silberen, der nach allen Seiten etwa gleich aussieht. Deshalb lohnt es, sich gut zu orientieren, bevor man auf einer anderen Route den Abstieg in Angriff nimmt. Wir wenden uns ziemlich genau nach Süden in Richtung der kargen Weiden der Oberist Twärenenalp. Dort stossen wir erstmals wieder auf Wasser, das aus einer Quelle in einen kleinen Holztrog sprudelt. Beim Geländepunkt 2136 Meter wenden wir uns gegen Westen und folgen dem Pfad über Mittlist und Underist Twärenen zum nächsten Ruch Tritt, der in das kleine Charental hinunterführt. Dort zweigt ein Weg gegen Norden ab, über den man wieder die Butzenalp erreichen könnte. Wir steigen aber weiter gegen Nordwesten ab und lassen die Oberist Hütte im Süden liegen. Im Zingel, wo wir die Ausläufer des Bödmerenwaldes mit seinen teilweise mehrere hundert Jahre alten Fichten erreichen, nehmen wir den in nördlicher Richtung abzweigenden Pfad (Abb. 1). Dieser leitet uns, vorerst leicht ansteigend am Chalberloch vorbei, zum Stafel am Pragelpass zurück (Abb. 4).

Der Ortsname Chalberloch weist auf die vielen abgrundtiefen Schründe und Einsturzdolinen des Silberengebietes hin, in die nicht nur Vieh, sondern auch Menschen gestürzt und für immer verschwunden sind. Es ist und bleibt ein wildes Gebiet, das noch heute den Menschen in seinen Bann zu ziehen vermag, ganz besonders an Tagen wie heute, vor den Wolken des aufkommenden Sturmtiefs.

Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo

Riedstrasse 9
6430 Schwyz

christian.besimo@bluewin.ch

Robotics in der Kardiologie

Dank ihrer Geschwindigkeit, Präzision und Ausdauer prägen Roboter die Massenfertigung in der modernen Industrie. In der Medizin kommen Roboter seit den 1990er Jahren primär im Bereich der Chirurgie und Strahlentherapie zum Einsatz. In der kardiovaskulären Medizin werden robotische Systeme routinemässig in der Herzchirurgie bei Bypassoperationen und Mitralklappenrekonstruktionen eingesetzt. In diesem Beitrag werden die Einsatzmöglichkeiten in der Herzchirurgie und der Kardiologie diskutiert.

Grâce à leur rapidité, leur précision et leur endurance, les robots façonnent la production de masse dans l’  industrie moderne. En médecine, les robots sont principalement utilisés en chirurgie et en radiothérapie depuis les années 1990. En médecine cardiovasculaire, les systèmes robotiques sont couramment utilisés en chirurgie cardiaque pour les pontages et la reconstruction des valves mitrales. Le présent article discute les applications possibles en chirurgie cardiaque et en cardiologie.

Im Jahr 2003 kam in der Rhythmologie ein System zur magnetischen Steuerung von elektrophysiologischen Ablationskathetern auf den Markt, gefolgt von zwei Systemen mit mechanischer Kathetersteuerung. Im Bereich der interventionellen Kardiologie wurde im Jahr 2010 ein erstes System klinisch zugelassen, mit dem perkutane koronare und periphere vaskuläre Interventionen durchgeführt werden können.

Roboter in der Herzchirurgie

Konventionelle chirurgische Eingriffe am offenen Herzen sind mit einem beträchtlichen Risiko, einer grossen Operationsnarbe sowie einem längeren Spitalsaufenthalt mit nachfolgender Rehabilitation verbunden. Mit minimalinvasiven Verfahren kann das chirurgische Trauma, der Schmerzmittelbedarf sowie die Heilungsdauer verkürzt werden.
Das DaVinci System ist seit 1998 erhältlich. Neuere Versionen (da Vinci S und da Vinci Si) bieten eine verbesserte Beweglichkeit und Reichweite der Roboterarme. Die Kamera erlaubt eine 3D Darstellung des Operationsfeldes sowie eine 10-fache Vergrösserung. In einer kürzlich durchgeführten systematischen Analyse wurde der Stellenwert robotischer Verfahren in der Herzchirurgie untersucht (1). Es wurden 28 Studien mit insgesamt 5993 Patienten eingeschlossen. Es handelt sich ausschliesslich um Kohortenstudien. Trotz mittlerweile jahrzehntelangem Einsatz gibt es bis heute keine randomisierten Studien zu Sicherheit und Effektivität der roboterassistierten Herzchirurgie. Am häufigsten kommen Robotersysteme bei endoskopischen Bypassoperationen und Mitralklappenrekonstruktionen zum Einsatz, mit grossem Abstand gefolgt von Verschlüssen des Vorhofseptums (ASD) und der Resektion von Vorhofstumoren. Die roboterassistierte endoskopische Bypassoperation gilt als sicheres und effektives Verfahren. Bei 7% der endoskopischen Bypassoperationen musste sekundär eine Sternotomie durchgeführt werden. Die 30-Tagesmortalität lag bei 0,3%, die Spätmortalität während 36 Monaten Follow-up betrug 3,2%. In einer grossen Registerstudie, in der 5199 Patienten mit robotisch assistierten herzchirurgischen Eingriffen mit 10 331 konventionell operierten Patienten verglichen wurden, konnte eine verminderte Aufenthaltsdauer, Komplikationsrate und Mortalität gezeigt werden (2). Neben einer geringen Mortalität ist die roboterassistierte Bypasschirurgie auch mit einer niedrigen Infektionsrate verbunden. Allerdings muss auch ein Selektionsbias berücksichtigt werden, da der Grossteil der Patienten eine Eingefässerkrankung aufwies, lediglich 24% zeigten eine Mehrgefässerkrankung.
Die erste robotische Mitralklappenrekonstruktion (MKR) wurde im Jahr 1998 durchgeführt. Bei der robotischen MKR ist die Konversionsrate mit 4,7% noch geringer als bei der Bypassoperation. Vorhofflimmern ist die häufigste Komplikation (12 %). 2,6 % der Patienten mussten im Verlauf reoperiert werden. Die 30-Tagesmortalität betrug 0,8%, die Spätmortalität 0,4% (1).
Über andere robotische herzchirurgische Verfahren (ASD Verschluss, Myxomresektion) liegen nur kleinere Fallserien vor, welche gute Ergebnisse ohne perioperative Mortalität aufweisen.

Robotertechnologie in der interventionellen Kardiologie und Angiologie

Interventionelle Kardiologen sind einer beträchtlichen Strahlenbelastung sowie Belastungen der Wirbelsäule durch schwere Bleischürzen ausgesetzt. Durch den Einsatz von robotischen Systemen ist eine räumliche Trennung des Untersuchers vom Patienten und von der Röntgenanlage möglich. Dadurch kann die Belastung des Untersuchers deutlich reduziert werden und es können auch telemedizinische Szenarien mit robotischen Interventionen in abgelegenen Spitälern entwickelt werden. Der Prototyp eines robotischen Systems für perkutane kardiale Interventionen (PCI) wurde ab 2006 getestet, ein kommerzielles System ist seit 2012 erhältlich (CorPath 200; Corindus, Waltham, MA, USA). Es wurden jedoch bislang nur wenige 100 Patienten weltweit behandelt (3, 4). Für Akutbehandlungen und komplexe Mehrgefässerkrankungen ist das System derzeit noch ungeeignet.

Robotische Katheterablation von Herzrhythmusstörungen

Eine grössere Bedeutung spielen robotische Systeme in der Rhythmologie. Die Katheterablation mit Radiofrequenzenergie ist eine etablierte Therapieform zur Behandlung supraventrikulärer und ventrikulärer Tachyarrhythmien. Elektroanatomische Mappingsysteme ermöglichen eine dreidimensionale Darstellung der zu untersuchenden Herzhöhlen durch Abtasten der endokardialen Oberfläche und Registrierung der lokalen Amplitude und Ausbreitung der elektrischen Aktivierung des Myokards («Mapping»). Diese Mappingsysteme haben die konventionelle Untersuchung unter Röntgenkontrolle bei der Behandlung komplexerer Arrhythmien weitgehend ersetzt, wodurch die Strahlenexposition für Patienten und Untersucher deutlich reduziert werden konnte. Die katheterbasierte Behandlung von komplexen atrialen Tachykardien, Vorhofflimmern und ventrikulären Tachykardien erfordert eine hohe Expertise und manuelles Geschick. Die oft lange Interventionsdauer stellt eine Belastung für den Untersucher dar und komplexe Eingriffe sind weiterhin mit längeren Röntgenzeiten verbunden. Systeme zur Fernsteuerung von Ablationskathetern wurden entwickelt um durch eine stabile Katheterführung die Effektivität und Sicherheit der Eingriffe zu optimieren sowie die Strahlenexposition und physische Belastung von Untersuchern zu minimieren. Derzeit werden vorwiegend das magnetische Navigationssystem (MNS) Niobe (Stereotaxis Inc., St. Louis, MO, USA) sowie das mit einem Roboterarm und speziellen elektromechanischen Schleusen arbeitende Navigationssystem (remote navigation system, RNS) Sensei (Hansen Medical Inc., Mountain View, CA, USA) klinisch eingesetzt. Zudem wurde ein mit konventionellen Ablationskathetern kompatibles RCS (Amigo Remote Catheter System, Catheter Precision Inc., Mount Olive, NJ, USA) verfügbar. Bei diesem RCS erfolgt die Steuerung direkt über die im jeweiligen Katheter integrierten Steuergriffe. Ein innovatives System mit direkter Kathetersteuerung mithilfe dynamischer Magnetfelder (Aeon) konnte erfolgreich im Tierversuch und beim Menschen getestet werden, ist jedoch aktuell nicht kommerziell erhältlich.

Magnetische Katheternavigation

Das Niobe MNS ist seit dem Jahr 2003, das Sensei RNS seit 2008 verfügbar. Jedes der beiden Systeme hat technisch bedingt spezifische Vorteile und Einschränkungen.
Das Niobe/EPOCH MNS (Abb. 1) arbeitet mit zwei je 1.8 Tonnen schweren externen statischen Magneten, welche beidseits des Operationstisches positioniert sind und ein Magnetfeld mit einer niedrigen Feldstärke (0.08 oder 0.1 T wählbar) erzeugen. Ein spezieller Ablationskatheter mit drei kleinen an der Spitze eingebauten Magneten wird über ein Computersystem im Herzen durch Veränderung des externen Magnetfelds bewegt. Zudem kann der Katheter über einen Elektromotor vor- und zurückverschoben werden. Es stehen sowohl gekühlte wie auch ungekühlte Katheter von zwei Herstellern zur Verfügung.
Klinische Studien haben konsistent gezeigt, dass Katherablationen mit MNS mit hoher Sicherheit und gegenüber manuellen Verfahren vergleichbarer Effektivität durchgeführt werden können. In einer Metaanalyse von 7 Studien mit insgesamt 779 Patienten konnte gezeigt werden, dass mittels MNS sowohl idiopathische Kammertachykardien als auch Kammertachykardien bei Patienten mit struktureller Herzerkrankung sicher und mit vergleichbarer Effektivität wie mit manuellen Techniken behandelt werden können (5).
Auch die Ablation von Vorhofflimmern kann mittels MNS effektiv und sicher durchgeführt werden. In einer Metaanalyse von 15 Studien mit insgesamt 1647 Patienten konnte eine gleiche Effektivität wie bei manuellen Verfahren gezeigt werden. In dieser Untersuchung war MNS mit einem geringeren Komplikationsrisiko (Perikarderguss und Tamponade) gegenüber manuellen Verfahren verbunden.(6)
Der Katheter des MNS ist so weich, dass eine mechanische Perforation extrem unwahrscheinlich ist. Durch seine Flexibilität und den stabilen Anpressdruck können präzise Ablationsläsionen erzielt werden. Zudem können mit dem flexiblen Katheter anatomisch schwierige Positionen wie akzessorische Bahnen im Bereich der Mitralklappe oder Substrate bei Patienten mit angeborenen Herzfehlern besser erreicht werden. Das Risiko einer mechanischen Terminierung einer klinischen Tachykardie sowie die Häufigkeit einer mechanischen Induktion von Arrhythmien durch den Katheter während des Mappingvorgangs, kann durch Verwendung des MNS verringert werden, beispielsweise bei der Ablation von idiopathischen Kammertachykardien im rechtsventrikulären Ausflusstrakt (7).
Ein Nachteil des MNS besteht in den langen Untersuchungszeiten. Diese sind zum Teil durch den komplexen Aufbau des Systems bedingt, insbesondere wenn eine Integration mit einem elektroanatomischen Mapping System verwendet wird. Zudem kann in erster Linie der Ablationskatheter magnetisch gesteuert werden. Für die Steuerung zusätzlicher Katheter wird ein (zusätzlicher) steriler Untersucher am Tisch benötigt, sofern nicht ein weiteres Steuerungssystem (Vdrive) zum Einsatz kommt.
Weltweit wurden bisher über 100 000 Patienten mit dem MNS behandelt. Mit Genesis RMN wurde im April 2019 die neueste Generation des Systems präsentiert. Die Magnete wurden verkleinert und auf flexiblen Roboterarmen montiert, wodurch eine raschere Ansprechzeit und grössere Flexibilität erreicht werden konnte. In Kombination mit einer angepassten Röntgenanlage soll ein vollintegrierter robotischer Interventionsraum entstehen (8). Ein weiteres MNS der Firma AEON Scientific, einem Spin-off der ETH Zürich, wurde in den Jahren 2012-2015 bis zum Erhalt des CE-Mark entwickelt (Abb. 2). Anstelle von Permanentmagneten werden bei diesem System Katheter durch veränderbare elektromagnetische Felder gesteuert. Ein erstes System konnte erfolgreich bei Patienten verwendet werden. Derzeit laufen an der ETH Zürich Forschungsarbeiten für eine nächste Generation mit verkleinerten Elektromagneten.

Robotische elektromechanische Katheternavigation

Beim Sensei RNS erfolgt die Steuerung über eine 14 F äussere sowie eine 10.5 F innere Schleuse, welche über Drahtzüge direkt mit einem Roboterarm verbunden ist. Der Roboterarm wiederum wird über einen 3D Joystick im Kontrollraum ferngesteuert (Abb. 3). Das RNS ist mit gängigen elektroanatomischen Mappingsystemen kompatibel. Prinzipiell können sämtliche Standardablationskatheter verwendet werden, die durch die innere Schleuse passen. Praktisch eignen sich Katheter am besten, bei denen die Kurve mittels eines Zugdrahtes erzeugt wird. Katheter mit einem Zugband können nur in eine Richtung gebogen werden, wodurch die Bewegungsfreiheit in Zusammenhang mit der steuerbaren Schleuse eingeschränkt ist.
In verschiedenen Studien wurde die Sicherheit und Effektivität des RNS zu Ablation von supraventrikulären oder ventrikulären Arrhythmien dokumentiert. Es konnte eine Reduktion der Röntgenstrahlenexposition, insbesondere für den Untersucher, gezeigt werden. Einen wesentlichen Fortschritt stellte die Verwendung von Kathetern dar, mit denen der Anpressdruck an das Myokard gemessen werden kann. Hierdurch kann die Sicherheit und Effektivität des Eingriffs verbessert werden. Eine Metaanalyse über robotische Ablationen bei Patienten mit Vorhofflimmern zeigt jedoch eine hohe Heterogenität der Studien und eine ungenügende Evidenz um eine Überlegenheit der Methode gegenüber manuellen Verfahren nachzuweisen (9). In der grössten multizentrischen randomisierten Studie konnte eine äquivalente Effektivität und Komplikationsrate der robotischen Navigation gegenüber manuellen Ablationstechniken gezeigt werden, allerdings mit signifikant längerer Untersuchungsdauer (10).
Im Gegensatz zu den magnetisch gesteuerten Systemen sind dem RNS bezüglich Flexibilität und Erreichbarkeit komplizierter anatomischer Bereiche ähnliche Grenzen gesetzt wie manuell gesteuerten Kathetern. Die Herstellerfirma Hansen Medical wurde 2002 von Dr. Fred Moll, einem Pionier im Bereich medizinischer Roboteranwendungen gegründet. Hansen Inc. wurde im Jahr 2006 von Auris medical übernommen, welches im April 2019 wiederum von Johnson & Johnson aufgekauft wurde (11). Bei Auris medical stand in den letzten Jahren die Entwicklung des endoskopischen Robotersystems Monarch im Vordergrund, welches für Anwendungen der Pneumologie konzipiert ist (12).

Amigo Remote Catheter System (RCS)

Beide etablierten Systeme sind technisch aufwändig und mit erheblichen Kosten und räumlichen Anforderungen verbunden. Im Jahr 2005 wurde daher der Prototyp eines Systems entwickelt, das kostengünstig und flexibel sein sollte. Es handelt sich um einen transportablen Roboterarm, der in der Lage ist, kommerziell erhältliche Katheter verschiedener Anbieter über deren integrierte Steuergriffe zu navigieren (13). Unter dem Namen Amigo wurde das System von der Firma Catheter Robotics (Mount Olive, NJ, USA; ab 2017 umbenannt in Catheter precision) zur Marktreife entwickelt (Abb. 4). Ab 2010 wurde in verschiedenen Studien gezeigt, dass mit dem Amigo RCS ein präzises Mapping (14) möglich ist verschiedene Arrhythmien inclusive supraventrikulärer Tachykardien, Vorhofflattern (15), Vorhofflimmern (16) und Kammertachykardien möglich ist, mit zu manuellen Verfahren vergleichbaren Langzeitergebnissen (17). Im Vergleich zu anderen robotischen Systemen sind die Kosten für Anschaffung und Verbrauchsmaterial deutlich niedriger als bei anderen Systemen. Auch im klinischen Alltag ist das System flexibel und mit geringem Aufwand einsetzbar (18). Dennoch war dem System kein grösserer kommerzieller Erfolg beschieden und eine geplante Version 2 wurde bislang nicht realisiert.

Robotische Technik im Spannungsfeld zwischen Fortschritt und Ökonomie

Mittelfristig kann sich ein robotische Navigationssystem nur durchsetzen, wenn es im klinischen Alltag einen klaren Mehrwert vermitteln kann. Robotische Navigationssysteme sind im Vergleich zu manuellen Techniken mit höheren Kosten und längeren Interventionsdauern verbunden. Diese lassen sich nur rechtfertigen, wenn entweder bei Routineeingriffen die Langzeitergebnisse besser sind als die von etablierten Verfahren, oder wenn mit robotischer Technik Eingriffe möglich sind, welche manuell nicht durchführbar sind. Eine Überlegenheit bei Routineeingriffen konnte bislang nicht dargelegt werden. Das Argument einer Reduktion der Röntgenexposition für Patient und Untersucher verliert aufgrund der aktuellen technischen Entwicklung an Bedeutung, welche durch den vermehrten Einsatz von dreidimensionalen Mappingsystemen zu einer signifikanten Reduktion der benötigten Röntgenstrahlung geführt hat. Bereits heute werden verschiedene Eingriffe röntgenfrei durchgeführt. Bereiche, in denen magnetische Katheternavigation längerfristig Vorteile bieten sind die Ablation von Kammertachykardien und die Behandlung von Arrhythmien bei Patienten mit kongenitalen Herzerkrankungen, bei denen mit dem MNS Bereiche behandelt werden können, welche ansonsten aufgrund der spezifischen Anatomie nur schwer zugänglich sind (19). Die Entwicklung neuartiger Katheter mit variabler Steifigkeit und mehreren Freiheitsgraden (20, 21) wird neue Impulse vermitteln.

PD Dr. med. Thomas Wolber

Universitäres Herzzentrum
Universitätsspital Zürich
Raemistrasse 100
8091 Zürich

thomas.wolber@usz.ch

Prof. Dr. med. Firat Duru

Universitäres Herzzentrum
Universitätsspital Zürich
Raemistrasse 100
8091 Zürich

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel.

  • Aus heutiger Sicht sind robotische Verfahren in der Elektrophysiologie manuellen Verfahren nur in ausgewählten Situationen überlegen.
  • Die Entwicklung hat nach anfänglicher Euphorie vorerst an Schwung verloren.
  • Mittelfristig sind jedoch durch Integration von neuen Möglichkeiten der Bild- und Signalverarbeitung, künstlicher Intelligenz und Entwicklung neuartiger Katheter mit variabler Steifigkeit und mehreren Freiheits-graden neue Impulse zu erwarten.

Messages à retenir

  • De nos jours, les méthodes robotiques en électrophysiologie ne sont supérieures aux méthodes manuelles que dans certaines situations.
  • Après l’ euphorie initiale, le développement s’ est pour l’ instant
    essoufflé.
  • A moyen terme, on peut toutefois s’ attendre à de nouvelles impulsions grâce à l’ intégration de nouvelles possibilités de traitement de l’ image et du signal, à l’ intelligence artificielle et au développement de
    nouveaux cathéters à rigidité variable et à plusieurs degrés de liberté.

1. Doulamis IP, Spartalis E, Machairas N, Schizas D, Patsouras D, Spartalis M, u. a. The role of robotics in cardiac surgery: a systematic review. J Robot Surg. Februar 2019;13(1):41–52.
2. Yanagawa F, Perez M, Bell T, Grim R, Martin J, Ahuja V. Critical Outcomes in Nonrobotic vs Robotic-Assisted Cardiac Surgery. JAMA Surg. August 2015;150(8):771–7.
3. Mahmud E, Naghi J, Ang L, Harrison J, Behnamfar O, Pourdjabbar A, u. a. Demonstration of the Safety and Feasibility of Robotically Assisted Percutaneous Coronary Intervention in Complex Coronary Lesions: Results of the CORA-PCI Study (Complex Robotically Assisted Percutaneous Coronary Intervention). JACC Cardiovasc Interv. 10 2017;10(13):1320–7.
4. Weisz G, Metzger DC, Caputo RP, Delgado JA, Marshall JJ, Vetrovec GW, u. a. Safety and feasibility of robotic percutaneous coronary intervention: PRECISE (Percutaneous Robotically-Enhanced Coronary Intervention) Study. J Am Coll Cardiol. 16. April 2013;61(15):1596–600.
5. Turagam MK, Atkins D, Tung R, Mansour M, Ruskin J, Cheng J, u. a. A meta-analysis of manual versus remote magnetic navigation for ventricular tachycardia ablation. J Interv Card Electrophysiol. September 2017;49(3):227–35.
6. Shurrab M, Danon A, Lashevsky I, Kiss A, Newman D, Szili-Torok T, u. a. Robotically assisted ablation of atrial fibrillation: a systematic review and meta-analysis. Int J Cardiol. 5. November 2013;169(3):157–65.
7. Konstantinidou M, Koektuerk B, Wissner E, Schmidt B, Zerm T, Ouyang F, u. a. Catheter ablation of right ventricular outflow tract tachycardia: a simplified remote-controlled approach. Europace. Mai 2011;13(5):696–700.
8. Stereotaxis – Investors – Press Release [Internet]. [zitiert 19. Mai 2019]. Verfügbar unter: http://ir.stereotaxis.com/phoenix.zhtml?c=179896&p=irol-newsArticle&ID=2398004
9. Zhang W, Jia N, Su J, Lin J, Peng F, Niu W. The comparison between robotic and manual ablations in the treatment of atrial fibrillation: a systematic review and meta-analysis. PLoS ONE. 2014;9(5):e96331.
10. Rillig A, Schmidt B, Di Biase L, Lin T, Scholz L, Heeger CH, u. a. Manual Versus Robotic Catheter Ablation for the Treatment of Atrial Fibrillation: The Man and Machine Trial. JACC Clin Electrophysiol. August 2017;3(8):875–83.
11. Johnson J&. Johnson & Johnson Announces Completion of Acquisition of Auris Health, Inc. [Internet]. [zitiert 19. Mai 2019]. Verfügbar unter: https://www.prnewswire.com/news-releases/johnson–johnson-announces-completion-of-acquisition-of-auris-health-inc-300822106.html
12. Monarch Platform Technology Recognized For Outstanding Innovation – Auris Health [Internet]. [zitiert 19. Mai 2019]. Verfügbar unter: https://www.aurishealth.com/about/press-releases/Auris-Monarch-Wins-Multiple-Awards-Innovative-Technology-Design.html
13. Shaikh Z, Eilenberg M, Cohen T. The AmigoTM Remote Catheter System: From Concept to Bedside. J Innov Cardiac Rhythm Manage. 9. August 2017;8(8):2795–802.
14. Khan EM, Frumkin W, Ng GA, Neelagaru S, Abi-Samra FM, Lee J, u. a. First experience with a novel robotic remote catheter system: AmigoTM mapping trial. J Interv Card Electrophysiol. August 2013;37(2):121–9.
15. Hoffmayer KS, Krainski F, Shah S, Hunter J, Alegre M, Hsu JC, u. a. Randomized controlled trial of Amigo® robotically controlled versus manually controlled ablation of the cavo-tricuspid isthmus using a contact force ablation catheter. J Interv Card Electrophysiol. März 2018;51(2):125–32.
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20. Chautems C, Nelson BJ. The tethered magnet: Force and 5-DOF pose control for cardiac ablation. In: 2017 IEEE International Conference on Robotics and Automation (ICRA). 2017. S. 4837–42.
21. Chautems C, Tonazzini A, Floreano D, Nelson BJ. A variable stiffness catheter controlled with an external magnetic field. In: 2017 IEEE/RSJ International Conference on Intelligent Robots and Systems (IROS). 2017. S. 181–6.