NOTA

In der Schweiz sind aktuell 936 Produkte von 326 betroffenen ATC-Gruppen nicht lieferbar. Betroffen sind insbesondere Schmerzmittel, Lipid- und Blutdrucksenker sowie Antibiotika. Unter drugshortage.ch gibt es bekanntlich laufend aktualisierte Informationen zu allen nicht lieferbaren Artikeln in der Schweiz.

Die Gründe für die Lieferengpässe sind mehr oder weniger bekannt, die Begründungen aber nicht immer nachvollziehbar. «Coming soon» sind Bezeichnungen für Medikamente, die in absehbarer Zeit wieder lieferbar sind.

Einige unserer pAVK, COPD-Patientinnen und -Patienten sind nach gescheiterten Rauchstopp-Versuchen mit Nikotin-Ersatz-Präparaten, Hypnose und gutem Zureden immer wieder auf die erfolgversprechenden Therapeutika Champix® (Vareniclin) und Zyban® (Bupropion) vertröstet worden – Coming soon! Zwischenzeitlich wurde die Lieferung auf das Jahr 2025 angesetzt. Ob dann mein Patient noch…
Das Scheitern von Präventionsmassnahmen hat verschiedene Gründe. Dennoch bleiben wir optimistisch und motivierend, ansonsten könnte Bupropion als Wellbutrin® off label versucht werden.

NOTA wurde in den letzten Monaten zu einer zusätzlichen, kleinen und gemeinen Herausforderung im hausärztlichen Alltag. Fragen wie, was können wir als Ersatz abgeben? Verträgt sich das? Ist die Dosierung gleich? etc. stören den getakteten Terminkalender. Zugegebenermassen helfen uns die MPAs und Apotheken bei diesen Unsicherheiten geduldig weiter. Schwieriger sind die Anfragen zu eh unpassender Zeit von Heimen und Spitex, wenn Klientinnen und Klienten nach dem letzten noch lieferbaren Temesta® schon nur wegen der Tatsache des Lieferengpasses drohen zu dekompensieren. Auch hier ist Geduld gefragt wie auch im Aushalten der Lieferengpässe. Die Zurückhaltung bei der Verschreibung von Benzodiazepinen zeigt Erfolg, so guten, dass die Herstellung dieser Präparate kaum noch rentabel ist.
Gut für den Süchtigen, schlecht für den Angstpatienten, welcher mit dem Pocket–Temesta seit Jahren keine Panikattacke mehr erlebte.

Etwas heikler wird es, wenn Marcoumar® für unsere Herzpatienten mit mechanischer Herzklappe nicht zur Verfügung steht. Alternativen mit Heparin oder eine Umstellung auf Sintrom® ist weder für uns Hausärzte/innen noch für die Patienten/innen angenehm. Immerhin sind es in der Schweiz 50’000 Personen, die täglich Marcoumar® einnehmen. Berechnungen zeigen Mehrkosten von 43 Millionen Franken.

Klagen auf hohem Niveau! Es könnte noch viel schlimmer kommen. Immerhin wird uns wieder bewusst, dass nicht alles selbstverständlich zu haben ist und wir stets flexibel und anpassungsfähig bleiben müssen. Die Oldies unter uns merken vielleicht, dass gewisse alte NOTA-Gewohnheits-Medikamente nach dem Einstampfen gar nicht gross fehlen.

Dr. med. Manfred Wicki

Dr. med.Manfred Wicki

Willisau

m.wicki@hin.ch

RETO KRAPFs Medical Voice

Frisch ab Presse:

GLP-1-Rezeptoragonisten: Induzieren sie eine Sarkopenie oder Osteopenie?

Reinrassige GLP-1-Rezeptoragonisten wie Semaglutid sowie auch hybride Agonisten (GLP-1-Rezeptor und GIP für «glucose-dependent insulinotropic peptide») induzieren eine sehr grosse Gewichtsabnahme (minus 15-20% nach 1-2 ­Jahren) bei Adipositas. Beim Absetzen nimmt das Körpergewicht aber ebenso verlässlich wieder zu. Neuere Daten zeigen, dass das sogenannte Magergewicht («lean body mass») mehr abnimmt als die Fettmasse und im Falle des Absetzens die Fettmasse disproportional zunimmt. In beiden Fällen werden vor allem die Muskel- und Knochenmassen reduziert, was vor allem bei Zuständen oder Risikofaktoren für eine Sarkopenie und Osteopenie nachteilig ist. Angeblich soll ein neuer Tripelagonist (GLP1-Rezeptor-und GIP-Agonist sowie Glukagon, Retratutid) diesen Effekt nicht oder weniger ausgeprägt haben. Mit DXA-Messungen könnte man diese Effekte, falls eine sogenannte Baseline-Untersuchung vorliegt, bestimmen. Allerdings gibt es ausser dem Absetzen dann keine gute Interventionsmöglichkeit. Zu klären ist auch, durch welchen Gewebetyp die Gewichtszunahme nach Absetzen dieser Medikamente erfolgt. Sollte es wirklich vorwiegend die Fettmasse allein sein, wären das keine guten Nachrichten.

JAMA 2023, doi:10.1001/jama.2023.23141, verfasst am 08.12.2023

Eine positive Nachricht

Genomische Sequenzen von 500’000 Menschen der biomedizinischen Forschung zugänglich gemacht

Wir haben hier schon mehrmals über wertvolle Beobachtungen durch Analyse von Daten in der UK (United Kingdom) Biobank, der grössten weltweit, berichtet. Es handelt sich dabei um eine Schatztruhe von umfassenden biologischen, genomischen und Gesundheits-Daten von mittlerweile etwa 500 000 Britinnen und Briten. Nun können die Daten der mehr oder minder vollständigen Genome dieser 500’000 Individuen für Forschungszwecke auf Antrag weltweit analysiert werden. Unter dem Genom versteht man alle sogenannten Exone (d.h. in Eiweisse übersetzte Genabschnitte) und Introne (die auf multiple Weise die Transskriptionsart und -häufigkeiten der Exone regulieren, selber aber nicht abgelesen, respektive übersetzt werden). Insofern die britische Genombasis auch für eine Schweizer Population repräsentativ ist, kann man aus dieser Datenbasis enorm viele Informationen über genomische Krankheitsursachen oder Modulationen und vieles andere mehr lernen.

Nature 2023, doi.org/10.1038/d41586-023-03763-, verfasst am 08.12.2023

Unkomplizierte Cholezystolithiasis: Laparaskopisch operieren oder zuwarten?

In der Regel sind die klinischen Lehrmeinungen bei unkomplizierter Cholezystolithiasis gemacht: Laparaskopisch operieren, falls symptomatisch (typische Gallekolik, >30 Minuten Dauer). Bei asymptomatischer Cholezystolithiasis jedoch soll man konservativ vorgehen. Eine aktuelle Studie hinterfragt aber das invasive Vorgehen bei unkomplizierter, symptomatischer Cholezystolithiasis, zumindest für die ersten 18 Monate (Beobachtungszeit der Studie) nach dem Erstereignis: Die Lebensqualität und die Schmerzepisoden, respektive Schmerz­intensität waren nicht signifikant unterschiedlich, allerdings verbunden mit signifikant tieferen Kosten in der konservativen Gruppe (1). Warum sind Schmerzepisoden gleich häufig oder gleich intensiv? Das ist nicht so klar, aber vielleicht ist erinnerungswürdig, dass bis zu 40% der Patientinnen und Patienten nach einer Cholecystektomie weiterhin relevante Schmerzen aufweisen (2). Ebenfalls ist bedenkenswert, dass bei unkomplizierter, aber symptomatischer Cholezystolithiasis die jährlichen Komplikationsraten (Cholecystitis, Cholangitis, Pankreatitis uam) mit 1-3% ziemlich tief sind, also kein «Druck» oder «Muss» auf ein baldiges operatives Vorgehen besteht (3). Interessiert warten wir auf die Befunde nach 18 Monaten, inklusive die Entwicklung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses.

1. BMJ 2023, https://doi.org/10.1136/bmj-2023-075383,
2. Br J Surg 2016, doi:10.1002/bjs.10287 pmid:27561954,
3. Siehe: BMJ 2001, doi:10.1136/bmj.322.7278.91 pmid:11154626 sowie Journal of Clinical Epidemiology 1989 https://doi.org/10.1016/0895-4356(89)90086-3 und Ann Int Med 1984, doi:10.7326/0003-4819-101-2-171 pmid:6742647, verfasst am 09.12.2023

Auch noch aufgefallen

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) und somatische Erkrankungen

Das ADHS ist die häufigste neurologische Entwicklungsstörung und soll – mit steigender Tendenz – in etwa 6 % aller Kinder vorkommen. Das Syndrom umfasst Aufmerksamkeitsdefizite und/oder Hyperaktivität oder Impulsivität, die länger als die für das gegebene Alter normale Dauer persistieren (1). Schon lang fielen Assoziationen mit somatischen Erkrankungen auf, was nun in dieser longitudinalen Studie erhärtet wurde: Bei ADHS-Kindern sind oder werden im Verlauf Adipositas, Karies und (nicht willentlich induzierte) Verletzungen häufiger. Umgekehrt fand die Studie, dass bei Kindern mit Verletzungen (ebenfalls nicht willentlich) und sog. «restless legs» Symptomen ein ADHS deutlich wahrscheinlicher ist oder wird (2). Diese Beobachtungen scheinen wichtig für die pädiatrische Grundversorgung: Bei den genannten Symptomen also an ein ADHS denken und umgekehrt (2)!

1. The Lancet Child and Adolescent Health 2023, doi.org/10.1016/S2352-4642(23)00286-9, 2. The Lancet Child and Adolescent Health 2023, doi.org/10.1016/S2352-4642(23)00226-2, verfasst am 03.12.2023

In weniger als einer halben Minute

Hintergrundswissen zu Hunden und Demenzentwicklung

• Die Nachfrage nach Hunden ist in der Schweiz ungebrochen und führte zu einer Preisexplosion bei Junghunden und – bedenklich – dem Import von sehr jungen Welpen aus dem Ausland.
• Während den (bisherigen) Covid-19 Wellen war Umfragen gemäss die subjektive Lebensqualität bei den Hundehalterinnen und -haltern höher.
• Unabhängig von anderen sozialen und sozioökonomischen Faktoren, war die Hundehaltung mit einer prospektiv 40 % niedrigeren Rate assoziiert, eine Demenz zu entwickeln.
• Die Hunderasse spielte dabei keine Rolle.
• Katzen hatten auf die Demenzentwicklung keinen bremsenden Effekt.
• Die Autoren liegen wohl richtig in der Annahme, dass der Demenz-hemmende Effekt zu einem Grossteil mit dem durch eine (korrekte) Hundehaltung verlangten Lebensstil zusammen­hängt.
• Das Gleiche gilt wohl für weitere humane Gesundheitsvorteile durch Hundehaltung, wie in Bezug auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
• Die Frage bleibt, unter anderen, ob Hunde selber negative Folgen für diese gesundheitsfördernde Dienstleistung erleiden könnten.
• Da Hunde eine Tendenz haben, ihre «Meister» zu imitieren, wäre dies eine interessante Studienfrage, z.B. für Hundehaltung bei menschlichen depressiven oder Burnout-Syndromen.

BMJ 2023, doi.org/10.1136/bmj.p2852, verfasst am 03.12.2023

Welche Diagnose stellen Sie?

Eine 45-jährige Frau fühlt sich seit etwa 6 Monaten nicht mehr fit und beklagt eine vermehrte «Schwermütigkeit». Ihnen fallen eine Rubeosis facei und Striae auf der Bauchhaut von mehr als 1 cm Durchmesser in der Breite auf. Der Blutdruck ist neuerdings erhöht (150/91 mmHg), eine Gewichtszunahme ist nicht eruierbar. Sie vermuten ein Cushing-Syndrom, welches sich durch massiv erhöhte Cortisol-Ausscheidung (24h Urin) und ein erhöhtes Speichelkortisol (um Mitternacht) weitgehend bestätigt. Ihnen fällt aber auch eine Plasmakalium-Konzentration von 2,3 mmol/L auf.
Welche Krankheit bedingt am ehesten das Cushing-Syndrom bei Ihrer Patientin?

A. Cortisol-produzierendes Nebennierenrindenadenom
B. Cortisol-produzierende bilaterale Hyperplasie der Nebennierenrinden
C. Kleinzelliges Bronchuskarzinom
D. ACTH-produzierendes Adenom des Hypophysenvorder­lappens (Morbus Cushing)
E. Betamethason-Zufuhr in einem zur Immunstimulation im Internet erhältlichen, dürftig deklarierten Präparat

Antwort:
Exogene Zufuhr (verordnet oder nicht deklariert) von synthetischen Glukortikoiden, supprimiert die endogene Cortisol-Produktion. Ihre Befunde der erhöhten Cortisolkonzentration schliessen diese Diagnose also aus. Cortisol-produzierende Adenome oder Hyperplasien der Nebennierenrinden verursachen in aller Regel keine Hypokaliämie, zumindest keine so ausgeprägte wie hier. Es muss sich also um einen ACTH-produzierenden Prozess handeln. ACTH stimuliert und erhöht das Aldosteron, wodurch ein renaler Kaliumverlust entsteht. Die kurze Anamnese bei dieser typischerweise prämenopausalen Frau spricht für eine paraneoplastische ACTH Produktion, im vorliegenden Fall im Rahmen eines neu diagnostizierten kleinzelligen Bronchuskarzinoms. Bei dieser Krankheit können enorm hohe ACTH Sekretionsmengen beobachtet werden, eine schwere Osteoporose kann in kurzer Zeit auftreten (nicht in diesem Fall, allerdings). Die richtige Antwort ist also Antwort C.

The Lancet 2023, doi.org/10.1016/S0140-6736(23)01961-X, verfasst am 09.12.2023

Prof. Dr. med. Reto Krapf

krapf@medinfo-verlag.ch

Management kleiner Nierentumore

Mit der zunehmenden Anwendung von Schichtbildverfahren stieg die Inzidenz von kleinen Nierentumoren in den letzten Dekaden deutlich an. Was ist zu tun, wenn ein solcher Befund erhoben wird? In keinem Fall ist eine überstürzte Handlung notwendig und die Beurteilung an einem erfahrenen Zentrum ist der erste sinnvolle Schritt, denn nicht alle diese Befunde sind wirklich maligne und ein relevanter Anteil der tatsächlich malignen Befunde bedarf keiner unmittelbaren Therapie. Die Minderheit der wirklich signifikanten Karzinome muss aber identifiziert und therapiert werden. Dementsprechend bestehen mehrere Therapie-Strategien, welche von Beobachtung bis hin zu verschiedenen aktiven Behandlungen reichen. Die Entscheidung muss im Rahmen der Gesamtkonstellation, welche Patienten- und Tumor-Faktoren berücksichtigt, getroffen werden. Dieser Artikel gibt eine kurze Übersicht zum Thema.

Due to the increased use of CT / MRI imaging, the incidence of small renal masses (SRM) during the last decades increased substantially. How to go on in such situations? Usually, there is no rush and an assessment in an experience center is an appropriate first step. Not all SRM are malignant and a relevant proportion of the malignant lesions do not require immediate treatment. However, the minority of significant carcinomas must be identified and treated. Based on that, there exist various management strategies reaching from surveillance to different active treatment modalities. The decision must be based on the overall situation taking into account patient- as well as lesion-factors. This article gives a short overview over this topic.
Keywords: small renal masses, selection, active surveillance, ablative techniques, partial nephrectomy

Einleitung

Durch den vermehrten Einsatz von Schicht-Bildgebungen wie CT oder MRI kam es in den letzten Dekaden zu einem deutlichen Anstieg der Inzidenz von kleinen Nierenläsionen unklarer Dignität, im angelsächsischen SRM (small renal mass) genannt (1). Solche sind meist zufällig detektierte, kontrastmittelaufnehmende Läsionen ≤4cm, solide oder komplex-zystisch und somit bildmorphologisch verdächtig auf ein klinisches T1a Nierenzellkarzinom (2). Bei diesen Läsionen handelt es sich um eine heterogene Gruppe von Tumoren, wobei 20-30% benigne und 70-80% maligne sind (3, 4). Von den bösartigen Tumoren stellt die Mehrzahl (80%) Niedrig-Risiko Karzinome dar (5) mit entsprechend tiefem Metastasierungs-Risiko (6), etwa 20% sind aber high grade Karzinome mit Invasions- und Metastasierungs-Potenzial (4). Mit anderen Worten, von zehn dieser inzidentell diagnostizierten kleinen Nierentumoren sind im Durchschnitt bis zu drei gutartig, von den sieben Bösartigen haben aber nur ein bis zwei ein höheres aggressives Potenzial. Das Gesamtrisiko einer Metastasierung in dieser Gesamt-Tumorgruppe liegt <2% bei reiner Beobachtung (7). Somit ist die richtige Selektion an zu treffenden Massnahmen von grösster Wichtigkeit, um sowohl Über- als auch Unter-Behandlung zu vermeiden; das Management einer SRM ist abhängig von mehreren Faktoren, die wesentlichsten sind i) die bildmorphologischen Charakteristika der SRM, ii) Patientenfaktoren wie Alter, respektive Lebenserwartung aber auch Patientenpräferenz, iii) Co-Morbiditäten wie vorausgehende oder bestehende Malignome oder Niereninsuffizienz, iv) Vor-Operationen im Abdomen sowie v) allfällige Resultate einer bioptischen Abklärung der SRM. Diese Arbeit soll diese Aspekte im Management einer SRM beleuchten und die aktuellen Behandlungsstrategien kurz darstellen.

Bildmorphologie der SRM

Die bildgebende Grundlage für die Beurteilung einer SRM ist entweder eine qualitativ hochwertige CT oder MRI-Untersuchung nativ sowie mit Kontrastmittel. Beide Verfahren haben gewisse Vor- und Nachteile, eine eindeutige Überlegenheit der einen gegenüber der anderen gibt es nicht (9). Die wichtigen Aspekte hier sind i) der allfällige Nachweis von Fettgewebe, welcher richtungsweisend für ein Angio-Myolipom und somit eine gutartige Läsion wäre, ii) das Kontrastmittelverhalten, wobei eine deutliche Anreicherung eine Malignität wahrscheinlicher macht, iii) die Charakterisierung allfälliger zystischer Läsionen basierend auf der Bosniak-Klassifikation (10) sowie iv) die Beschreibung der Tumor-Komplexität, z.B. unter Verwendung der RENAL Scores. Aus letzterer Information lässt sich insbesondere auch eine Einschätzung der Komplexität einer allfälligen chirurgischen Intervention abschätzen. Tumoren <3cm zeigen verglichen mit SRM von 3-4cm ein noch geringeres Risiko für Malignität oder aggressives biologisches Verhalten (6, 11). Liegen bereits mehrere Bilder vor und erlauben somit eine Aussage über die Dynamik, so ist ein rasches Wachstum (>5mm pro Jahr) ebenfalls ein Zeichen für Malignität und aggressives Verhalten. Als letzter Aspekt und somit v) sollte die Klinik berücksichtigt werden, bei Fieber und Infekt-Zeichen kommt differentialdiagnostisch eine entzündliche Genese (Abszess/Pyelonephritis) in Betracht. Ansonsten gibt es aber keine weiteren bildmorphologischen Aspekte, welche eine verlässliche Aussage in Hinblick auf die reale biologische Aggressivität der SRM ableiten liessen.

Biopsie der Nierentumoren

Die Empfehlungen der führenden Guidelines der ASCO, der AUA, der NCCN und der EAU für oder gegen eine Biopsie einer SRM sind nicht einheitlich. Generell wird die Biopsie der SRM immer dann empfohlen, wenn die Resultate das weitere Management beeinflussen würden oder abgeraten, wenn die Resultate keinen Einfluss darauf hätten. Somit wird übereinstimmend die Biopsie empfohlen i) bei vorausgegangenen oder gegenwärtig bestehenden Zweitmalignomen, um eine entsprechende Metastase auszuschliessen oder zu beweisen sowie ii) vor Anwendung eines ablativen Verfahrens (Details hierzu unten). Übereinstimmend abgeraten wird von einer Biopsie bei i) co-morbiden und gebrechlichen Patienten, welche ohnehin nur für ein konservatives Management qualifizieren, ii) bei Tumoren, welche vom Urothel ausgehen (und somit der Verdacht auf ein Urothelkarzinom besteht), iii) bei mehrheitlich zystischen Tumoren und iv), wenn ein chirurgisches Verfahren angewendet werden wird, unabhängig vom Resultat. Das Risiko einer Zellverschleppung durch die Biopsie (sogenanntes «Seeding») wurde lange kontrovers diskutiert, mit moderner Technik (sogenannte «co-axial sheath method») ist dieses Risiko aber verschwindend klein und entsprechend vernachlässigbar (12). Der positive prädiktive Wert der Biopsie ist ausgezeichnet mit 99.8%, eine wichtige Limitation ist allerdings der deutlich schlechtere negative prädiktive Wert, wobei bei einem Drittel der tumornegativen Biopsien in der definitiven Pathologie trotzdem Malignität nachgewiesen werden kann (13); man spricht hier auch von sogenannt nicht diagnostischen Biopsien. Diese Aspekte müssten bei der Entscheidung für oder gegen eine Biopsie klar berücksichtigt werden.

Die Behandlungs-Strategien der SRM

Die Management-Optionen einer SRM beinhalten prinzipiell Beobachtungstrategien und aktive Behandlungen. Bei der Beobachtung wiederum kann eine palliative Ausrichtung im Sinne eines Watchful Waitings und eine kurative Ausrichtung im Sinne einer Active Surveillance unterschieden werden – analog dem Vorgehen beim Prostatakarzinom. Bei den aktiven Therapien kommen die Nierenteilresektion oder ein thermo-ablatives Verfahren in Betracht, bei ansonsten inoperablen Patienten zunehmend auch die stereotaktische ablative Radiotherapie. Die verschiedenen Vor- und Nachteile dieser Strategien müssen im individuellen Einzelfall gut abgewogen werden und insbesondere der Gesamtsituation angepasst sein.

Nierenteilresektion

Die Nierenteilresektion mit Entfernung des Tumors unter Schonung des gesunden Nierengewebes ist die gegenwärtige Goldstandard-Strategie für malignom-verdächtige SRM und Wunsch nach definitiver Therapie (14). Der onkologische Outcome ist sehr gut, das Risiko für Niereninsuffizienz klein sowie auch die Komplikationsraten, sofern der Eingriff an einem Zentrum mit entsprechender Erfahrung durchgeführt wird. Eine vollständige Nephrektomie sollte nur dann durchgeführt werden, wenn eine Teilresektion aus technischen Gründen mit unvernünftigem Risiko verbunden wäre und präoperativ eine normale Gesamt-Nierenfunktion besteht.

Ablations-Techniken

Thermische Ablations-Techniken (Kryotherapie (Kälte) oder Radio-Frequenzablation (Hitze)) sind valide und wertvolle Alternativen zur Nierenteilresektion, optimalerweise für SRM <3cm und in all jenen Fällen, in welchen Patienten nicht für eine Nierenteilresektion qualifizieren oder diese nicht wünschen. Vor einer Thermo-Ablation muss eine Biop­sie der SRM durchgeführt werden. Falls diese nicht im Vorfeld stattgefunden hat, muss diese spätestens im Rahmen, respektive unmittelbar vor der Ablation durchgeführt werden. Der onkologische Outcome ist der Nierenteilresektion insgesamt unterlegen, hauptsächlich bei Tumoren >3cm; bei Tumoren <2cm ist die Tumorkontrolle vergleichbar. Eine engmaschige Active Surveillance nach Ablation ist deshalb zwingend notwendig. Die Ablation kann aber mehrfach wiederholt werden, was neben der minimalen Invasivität dieser Methode ein weiterer Vorteil ist.

Stereotaktische ablative Radiotherapie

Dieses Verfahren kann bei ansonsten inoperablen Patienten angewendet werden und erste Studiendaten zeigen eine gute lokale Kontrolle mit über 97% (15). Obwohl diese Resultate vielversprechend sind, werden Daten aus randomisierten Studien benötigt, um die Evidenz zu erhärten.

Aktive Überwachung (Active Surveillance)

Diese Strategie ist eine Alternative für eine unmittelbare aktive Behandlung, insbesondere für SRM <2cm und immer dann, wenn die Risiken einer Intervention oder die Gesamtsituation mit relevanten Co-Morbiditäten den onkologischen Benefit einer aktiven Therapie in Frage stellen. Die Ausrichtung dieser Beobachtungsstrategie ist aber prinzipiell kurativ. Basierend auf der häufig indolenten Natur der SRM und der generell langsamen Wachstumsrate (16) kann diese Strategie eigentlich auch bei allen therapie-willigen und -fähigen Patientinnen und Patienten mit SRM <2cm und bei ausgewählten Fällen auch bei SRM bis 4cm (14) in Betracht gezogen werden.

Abkürzungen: ASCO: American Society of Clinical Oncology; AUA: American Urological Association; NCCN: National Comprehensive Cancer Network; EAU: European Association of Urology, SRM: small renal mass; CT: Computer-Tomographie; MRI: Magnet-Resonanz-Bildgebung

Zweitabdruck aus «info@onco-suisse» 07-2023

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

PD Dr. med.Martin H. Umbehr

Klinik für Urologie
Stadtspital Zürich
Birmensdorferstrasse 497
8063 Zürich

Prof. Dr. med. Michael Müntener

Klinik für Urologie
Stadtspital Zürich
Birmensdorferstrasse 497
8063 Zürich

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Aufgrund der häufig angewendeten Schichtbildverfahren hat die Inzidenz von kleinen Nierentumoren (SRM; ≤4cm) in den letzten Dekaden massiv zugenommen.
◆ Die SRM stellen eine heterogene Gruppe von Tumoren dar, wobei 20-30% benigne und 70-80% maligne sind.
◆ Von den tatsächlich bösartigen Tumoren zeigen nur ca. 20-30% ein höher aggressives Verhalten, während die verbliebenen 70-80% nicht immer einer unmittelbaren Therapie bedürften.
◆ Basierend hierauf ist die richtige Selektion an Patienten, welche eine aktive Behandlung brauchen wichtig, genauso wichtig ist aber auch die Selektion von Patienten, welche dies nicht brauchen und mit einer aktiven Beobachtung sicher kontrolliert werden können; die richtige Selektion ist der Schlüssel zur Vermeidung von Unter- wie auch Übertherapie.

1. Nguyen MM. The evolving presentation of renal carcinoma in the United States: trends from the Surveillance, Epidemiology, and End Results program. J Urol 2006; 176:2397-2400.
2. Finelli A. Management of small renal masses: American Society of Clinical Oncology clinical practice guidline. J Clin Oncol 35: 668-680.2017.
3. Kutikov A. Incidence of benign pathologic findings at partial nephrectomy for solitary renal mass presumed to be renal cell carcinoma on preoperative imaging. Urology. 2006; 68:737-740
4. Bhindi B. Are we using the best tumor size cut-points for renal cell carcinoma staging? Urology 109:121-126, 2017.
5. Rothman J. Histopathological characteristic s of localized renal cell carcinoma correlate with tumor size: a SEER analysis. J Urol. 2009; 181:29-33.
6. Thompson RH. Metastatic renal cell carcinoma risk according tumor size. J Urol. 2009; 182:41-45.
7. Smaldone MC. Small renal masses progressing to metastases under active surveillance. A systematic review and pooled analysis. Cancer. 2012; 118:997-1006
8. Pierorazio PM. Management of Ronal Masses and Localized Renal Cancer, Agency for Healthcare Research and Quality, Rockwill 2016
9. Beer AJ. Comparison of 16-MDCT and MRI for characterization of kidney lesions. AJR Am J Roentgenol 2006; 186:1639
10. Israel GM. An update of the Bosniak renal cyst classification system. Urology 2005; 66:484
11. Thompson RH. Tumor size is associated with malignant potential in renal cell carcinoma cases. J Urol 2009; 181:2033
12. Mullins JK. Renal cell carcinoma seeding of a percutaneous biopsy tract. Can Urol Assoc J 7: E176-E179, 2013.
13. Sanchez A. Current Management of Small Renal Masses Including Patient Selection, Renal Tumor Biopsy, Active Surveillance, and Thermal Ablation. J Clin Oncol 36:3591-3600. 2018.
14. Campell S. Renal Mass and Localized Renal Cancer: AUA Guideline. J Urol 2017; 198:520.
15. Correa, R.J.M., et al. The Emerging Role of Stereotactic Ablative Radiotherapy for Primary Renal Cell Carcinoma: A Systematic Review and Meta-Analysis. Eur Urol Focus, 2019. 5: 958.
16. Pierorazio PM. Rive-year analysis of a multi-institutional prospective clinicl trial of delayed intervention and surveillance for small renal masses: the DISSRM registry. Eur Urol 2015; 68:408.

Multiple Sklerose für den Hausarzt – wann daran denken

Die Multiple Sklerose ist die häufigste autoimmun vermittelte ZNS-Erkrankung und betrifft vor allem junge Frauen. Charakteristisch ist ein schubförmiger Verlauf. Schübe können sich variabel äussern, häufige Erstsymptome sind eine Optikusneuritis oder Sensibilitätsstörungen. Als bildmorphologisches Korrelat finden sich im MRI der Neuroachse herdförmig verteilte demyelinisierende Läsionen. Neben der Akuttherapie im Falle eines Schubs stehen mittlerweile zahlreiche verlaufsmodifizierende Präparate zur Verfügung, mit denen der Krankheitsverlauf massgeblich beeinflusst werden kann.

Multiple sclerosis is the most common autoimmune-mediated CNS disease and primarily affects young women. A relapsing-remitting course of the disease is characteristic. Relapse symptoms are highly variable, common initial symptoms are optic neuritis or sensory disturbances. Focally distributed demyelinating lesions are typical findings in the MRI of the neuroaxis. In addition to acute treatment options in case of a relapse, numerous disease-modifying drugs with significant impact on disease progression have become available.
Key Words: Multiple sclerosis, McDonald criteria, immune modulation

Fallvignette

Eine 24-jährige Psychologiestudentin stellt sich in ihrer Hausarztpraxis aufgrund einer seit circa drei Wochen bestehenden Ungeschicklichkeit der rechten Hand vor. Zunächst sei ihr dies nur beim Klavierspielen aufgefallen, letzte Woche sei ihr dann jedoch zweimalig ein Glas beinahe aus der Hand gerutscht, sodass sie nun zunehmend beunruhigt sei. Bei Berührung beschreibt sie ein verändertes, pelziges Gefühl der Hand. Welche Schritte leiten Sie ein und was könnte dieser Symptomatik zugrunde liegen?

Allgemeines

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine der häufigsten autoimmunen Erkrankungen bei jungen Menschen und die häufigste autoimmun vermittelte chronisch-entzündliche ZNS-Erkrankung überhaupt. Alleine in der Schweiz sind etwa 15’000 Menschen betroffen (1). Die Erkrankung ist charakterisiert durch einen meist schubförmigen Verlauf und ein herdförmiges Läsionsmuster in der MR-Bildgebung. Die Multiple Sklerose tritt häufiger bei Frauen als bei Männern auf (Geschlechterverhältnis 3:1). In 80% der Fälle manifestiert sie sich erstmalig im jungen Erwachsenenalter, zwischen 20 und 40 Jahren (2). Die Ätiologie ist bislang nur unvollständig verstanden. Neben der immunologischen Autoreaktivität werden bei familiärer Häufung eine genetische Prädisposition sowie Umweltfaktoren (Vitamin-D-Mangel, Übergewicht, Rauchen) diskutiert. Eine EBV-Infektion kann das Risiko, an einer MS zu erkranken, erheblich erhöhen. Pathophysiologisch kommt es primär zur inflammatorischen Demyelinisierung von Nervenfasern mit sekundär axonalem Schaden.

Klinik

Das klinische Bild ist – abhängig von der Läsionslokalisation – sehr variabel. Typische erste Schubsymptome, bei denen differentialdiagnostisch an eine Multiple Sklerose gedacht werden sollte, sind unilaterale Visusverschlechterungen meist im Sinne einer Farbsehstörung mit begleitendem Augenbewegungsschmerz im Rahmen einer Optikusneuritis und sensible oder motorische Ausfälle (unilateral oder als Querschnittsymptomatik) mit oder ohne Blasenfunktionsstörung. Sensibilitätsstörungen äussern sich hierbei häufig als Par- oder Dysästhesien in Form einer Pelzigkeit, eines Kribbelns, als Gürtel- oder Korsettgefühl in asymmetrischer und eher distal betonter Verteilung. Darüber hinaus sind Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen, Doppelbilder und Schwindel als Korrelat einer Hirnstammbeteiligung häufig. Ein Schub ist definiert als neu aufgetretenes Symptom, das sich nicht im Rahmen einer Infektion oder erhöhten Körpertemperatur, sogenanntes Uhthoff-Phänomen, erklären lässt. Die Mindestdauer beträgt 24 Stunden, es gilt ein Mindestabstand von 30 Tagen zum letzten Schubereignis. Typischerweise bilden sich die Symptome dabei im Gegensatz zu anderen neurologischen Differentialdiagnosen (Schlaganfall, epileptischer Anfall) langsam, über Stunden bis Tage, aus. Die Ausprägung ist ebenfalls sehr variabel. Das Spektrum reicht von dezenten Feinmotorikstörungen wie im einleitend geschilderten Fall, die die Patienten als Ungeschicklichkeit wahrnehmen, Hyp- oder Kribbelparästhesien bis hin zu einem sensiblen oder motorischen Querschnittssyndrom. Häufig halten Schübe Tage bis mehrere Wochen an und bilden sich spontan zurück, wobei diese Rückbildung unvollständig bleiben kann. Begleitend lässt sich in ca. 50% der Fälle bereits zu Krankheitsbeginn eine Fatigue-Symptomatik beobachten, die bei den Betroffenen im Krankheitsverlauf fast immer zu einer erheblichen Reduktion der Lebensqualität führt (2). Konzeptionell wird traditionell zwischen der schubförmig remittierenden und primär beziehungsweise sekundär progredienten Verlaufsform unterschieden, wobei aktuelle Forschungsergebnisse zunehmend darauf hindeuten, dass erhebliche Parallelen und Überlappungen in der Pathophysiologie bestehen.

In der klinischen Untersuchung lässt sich häufig ein gesteigertes Reflexniveau, früh ausgefallene Bauchhautreflexe sowie ein positives Lhermitte-Zeichen (stromschlagartige Dysästhesie entlang der Wirbelsäule bei Kopfbewegung) feststellen. Bei cerebellärer Beteiligung können ein Nystagmus, ein Intentionstremor im Finger-Nase-Versuch sowie eine Gangataxie beobachtet werden. Als Instrument zur standardisierten Beurteilung klinischer Funktionen bei MS-Patienten dient die «Expanded Disability Status Scale» (EDSS).

Diagnostik

Für die Diagnosestellung müssen gemäss den derzeit gültigen McDonald-Kriterien die zeitliche und örtliche Dissemination erfüllt sein. Hierbei müssen für die örtliche Dissemination Läsionen in mindestens zwei der vier MS-typischen Regionen im MRI nachgewiesen werden, im Falle eines weiteren einer anderen Lokalisation zuzuordnenden Schubereignisses reicht eine MS-typische Läsion. Die zeitliche Dissemination ist gegeben bei Vorliegen von mindestens zwei Läsionen unterschiedlichen Alters (beispielsweise gleichzeitiges Vorhandensein von Kontrastmittel-anreichernden und nicht-anreichernden Läsionen), bei zweitem Schubereignis (vor- oder nachgängig) oder bei Nachweis liquor-spezifischer oligoklonaler Banden (für Details s. Originalpublikation von Thompson et al., 2018) (3).

Im ersten Schritt sollte im Anschluss an eine detaillierte Anamnese und klinisch-neurologische Untersuchung bei anhaltendem Verdacht ein MRI mit Kontrastmittel des Schädels beziehungsweise, je nach Symptomatik, des Rückenmarks mit der Frage nach chronisch-entzündlichen Veränderungen erfolgen. Die vier klassischen Lokalisationen der meist oval, relativ scharf begrenzten, später konfluierenden MS-Läsionen sind juxtakortikal, periventrikulär, infratentoriell und spinal (siehe Abbildung 1). Aktive entzündliche Läsionen zeichnen sich durch ihre Kontrastmittelaufnahme aus (4).

Nach Zuweisung zum Neurologen wird im Rahmen der Differentialdiagnostik eine Blut- und Liquordiagnostik ergänzt. Typisch ist eine leichte bis mässige Pleozytose sowie eine intrathekale Immunglobulinsynthese mit Nachweis oligoklonaler Banden. Letztlich handelt es sich bei der MS um eine Ausschlussdiagnose. Relevante Differentialdiagnosen, die abgegrenzt werden müssen, sind unter anderem die Neuromyelitis optica-Spektrum-Erkrankung (NMOSD) und MOG-Antikörper-assoziierte Erkrankungen (MOGAD), ZNS-Infektionen wie Neuroborreliose oder Neurolues und ein Vitamin-B12-Mangel. Selten können auch rheumatologische Erkrankungen mit ZNS-Beteiligung wie Vaskulitiden, Sarkoidose oder Morbus Behcet ein ähnliches Bild verursachen (5).

Grundzüge der Therapie

Bei Auftreten eines behindernden Schubereignisses kann eine entzündungshemmende Therapie durchgeführt werden. Hierbei kommen klassischerweise hoch dosierte Steroide zum Einsatz (z.B. 1g Methylprednisolon p.o./i.v. über 3 bis 5 Tage). Zuvor sollten ein Infekt und gegebenenfalls eine Schwangerschaft ausgeschlossen werden, je nach Risikoprofil sollte während der Schubtherapie an einen Magenschutz und eine Thromboseprophylaxe gedacht werden. Bei insuffizienter Symptomrückbildung können als Reserveverfahren eine Plasmapherese oder Immunadsorption evaluiert werden.

Zur Verhinderung von Schüben stehen mittlerweile zahlreiche verlaufsmodifizierende Präparate, mit denen der Krankheitsverlauf massgeblich beeinflusst werden kann, zur Verfügung. Mittlerweile ist klar, dass ein früher Therapiebeginn einen günstigeren Effekt auf den Krankheitsverlauf hat als eine verzögerte Therapieeinleitung («hit hard and early») (6)(7).

Die zugelassenen Medikamente werden nach aufsteigender Wirksamkeit in drei Kategorien eingeteilt. Die Auswahl der Therapie erfolgt zum einen nach anzunehmender Krankheitsaktivität auf Grundlage der Klinik sowie der Bildgebung, zum anderen in Abhängigkeit von persönlichen Faktoren (insb. Kinderwunsch bzw. Schwangerschaft). Zur Kategorie 1 gehören neben den seit den 1990er Jahren etablierten Interferonpräparaten u.a. Dimethylfumarat und Teriflunomid. Die neueren Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulatoren (z.B. Fingolimod) werden der Kategorie 2 zugeschrieben. Substanzen der Kategorie 3 sind Natalizumab, ein Integrin-alpha4-Inhibitor, der die Migration der T-Lymphozyten über die Blut-Hirn-Schranke hemmt, und monoklonale Anti-CD20-Antikörper, die eine B-Zell-Depletion bewirken.

Die Prognose für die Betroffenen hat sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte durch die Verfügbarkeit der krankheitsmodulierenden Präparate deutlich verbessert, sodass bei Diagnosestellung heutzutage von einer unbeeinträchtigten Lebenserwartung auszugehen ist. Als prognostisch günstig hat sich ein früher, monosymptomatischer Krankheitsbeginn mit vollständiger Rückbildung der Schubsymptomatik erwiesen (7). Ergänzend sind nicht-medikamentöse Therapiemassnahmen, z.B. Physio- und Ergotherapie sowie supportive Therapiestrategien zur Symptomkontrolle essentiell und erfordern eine engmaschige und interdisziplinäre Versorgung.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Lea Isabella Walter

Klinik für Neurologie
Universitätsspital Zürich
Frauenklinikstrasse 26
8091 Zürich

Prof. Dr. med. Patrick Roth

Leitender Arzt, Klinik für Neurologie
Universitätsspital Zürich
Frauenklinikstrasse 26
8091 Zürich

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

 

◆ Die Multiple Sklerose ist die häufigste autoimmun vermittelte chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems.
◆ Symptome eines erstmaligen Schubereignisses können eine Sensibilitätsstörung oder eine Visusverschlechterung bzw. Farbsehstörung mit Augenbewegungsschmerz (Optikusneuritis) sein.
◆ Insbesondere bei jungen Menschen mit einer neuen neurologischen Symptomatik stellt die MS eine wichtige Differentialdiagnose dar.
◆ Die Diagnosestellung erfolgt nach Ausschluss wichtiger Differentialdiagnosen bei Vorliegen einer räumlichen und zeitlichen Dissemination (McDonald-Kriterien).
◆ Der frühzeitige Beginn einer krankheitsmodifizierenden Therapie kann den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen und ist daher essentiell.

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Chirurgische Behandlung der Adipositas

Die bariatrisch-metabolische Chirurgie ist heute als Standardtherapie bei ausgeprägter Adipositas (BMI >35 kg/m2) und den damit assoziierten Begleiterkrankungen anerkannt. Über die letzten Jahre wurden etwa 5000 solcher Operationen pro Jahr in der Schweiz durchgeführt. Hochrechnungen gehen davon aus, dass somit nur etwa 1% der Patient:innen, welche sich formell für einen bariatrischen Eingriff qualifizieren würden, auch tatsächlich operiert werden. Diese niedrige Penetranz mag damit zusammenhängen, dass der wissenschaftlich bewiesene, gesundheitliche Nutzen der bariatrisch-metabolischen Chirurgie sowohl in der Gesamtbevölkerung als auch in medizinischen Fachkreisen zu wenig bekannt ist und stattdessen unerwünschte Nebenwirkungen, welche in manchen Fällen dramatische Auswirkungen haben können, in der Wahrnehmung zu stark im Vordergrund stehen. In unserem Artikel geben wir daher eine kondensierte Übersicht zum Nutzen und zu den Risiken bariatrisch-metabolischer Operationsverfahren.

Bariatric metabolic surgery is now recognized as the standard treatment for marked obesity (BMI >35 kg/m2) and associated comorbidities. Over the last years, about 5000 such operations have been performed per year in Switzerland. Projections suggest that only about 1% of patients who would formally qualify for bariatric surgery are actually operated on. This low penetrance may be related to the fact that the scientifically proven health benefits of bariatric-metabolic surgery are too little known, both in the general population and in medical circles, and instead undesirable side effects, which in some cases can have dramatic consequences, are too prominent in the perception. In our article, we therefore provide a condensed overview of the benefits and risks of bariatric-metabolic surgical procedures.
Key Words: bariatric surgery, metabolic surgery

Postoperative Komplikationen

Seit Einführung der laparoskopischen, minimal-invasiven Opera­tions­technik wird die bariatrisch-metabolische Chirurgie in qualifizierten Zentren mit einer sehr geringen Komplikationsrate durchgeführt. In grossen Kohortenstudien und nationalen Registern wird die Wahrscheinlichkeit von schwerwiegenden Komplikationen (z.B. revisionspflichtige Nachblutungen, Klammernahtleckagen oder Anastomoseninsuffizienzen) mit einer Wahrscheinlichkeit von 1–3% angegeben. Etwa 4% der operierten Patienten werden aufgrund eines postoperativen Problems (Wundinfekt, Thrombose, Lungenembolie, Darmpassageproblematik etc.) innerhalb von 30 Tagen erneut hospitalisiert, die 30-Tage-Mortalität beträgt 0.05–0.2% (Tab. 1) (1). Unter Berücksichtigung des anästhesiologischen und chirurgischen Risikoprofils dieses Patientenklientels sind diese Zahlen im Vergleich zu anderen viszeralchirurgischen Eingriffen wie z.B. der Cholezystektomie sehr niedrig. Im mittel- und langfristigen Verlauf ist jedoch in einer variablen Häufigkeit von 5–15% mit Folgeoperationen meist aufgrund unbefriedigenden Gewichtsverlusts oder unklarer abdomineller Schmerzen zu rechnen, welche in den häufigsten Fällen auf innere Hernien (2), symptomatische Gallensteine oder gastroösophagealem Reflux zurückzuführen sind (3). Die entsprechenden potentiellen Komplikationen müssen daher dem nachsorgenden Behandlungsteam zwingend bekannt sein.

Mikronährstoffmangel

Aufgrund der veränderten Anatomie ist nach fast allen bariatrisch-metabolischen Operationen eine dauerhafte, strukturierte Mikronährstoffsupplementation notwendig. Hierfür haben sich standardisierte Supplementationsschemata, wie in Tabelle 2 dargestellt, etabliert und bewährt. Regelmässige Laborkontrollen entsprechender Parameter und eine konsekutive Anpassung des Supplementationsschemas ist heute Standard in der bariatrischen Nachsorge. Dabei sollten die Laboruntersuchung in den ersten 1-2 Jahren nach der Operation in 3-6 Monatsintervallen durchgeführt werden, danach kann meistens die Kontrollfrequenz auf einmal pro Jahr reduziert werden (4). Eine besondere Situation stellt eine nach einer bariatrischen Operation eingetretene Schwangerschaft dar. Hier sollten die Laborkontrollen in etwa 2-3 Monatsintervallen erfolgen (5). Während den Nachsorgekonsultationen sollte immer eine ausführliche Anamnese hinsichtlich der Adhärenz der Supplementeinnahme erfolgen und gegebenenfalls zur Verbesserung motiviert werden.

Bei einer unzureichenden Supplementation und Überwachung drohen im langfristigen Verlauf nach bariatrischer Operation nutritive Komplikationen wie Eisenmangel mit Anämie, Vitamin B12 Mangel, Zinkmangel, oder bei unzureichender Kalziumzufuhr ein sekundärer, enteraler Hyperparathyreoidismus verbunden mit dem erhöhten Risiko einer Osteoporoseentwicklung. Eine gefürchtete, insbesondere in Situationen mit rezidivierendem Erbrechen oder sehr stark reduzierter Nahrungsaufnahme akut auftretende Komplikation ist der Thiamin/Vitamin B1 Mangel, welcher zu einer Wernicke Enzephalopathie führen kann (6). Diese Komplikation sollte allen bariatrisch-nachsorgenden Kolleginnen und Kollegen bekannt sein, da sie einer akuten Behandlung bedarf, um bleibende, schwerwiegende neurologische Schäden abzuwenden.

Makronährstoffmangel und Alkoholkonsum

Alle bariatrischen metabolischen Operationsverfahren machen eine postoperative Anpassung der Ernährung notwendig. Daher ist eine strukturierte Vorbereitung auf den operativen Eingriff durch eine qualifizierte Ernährungsberatung notwendig. Nach der Operation sollten in regelmässigen Abständen weitere Ernährungsberatungen folgen, um das neu etablierte Ernährungsverhalten gemeinsam mit den Patient:innen zu reflektieren und ggf. Anpassungen vornehmen zu können. Typische Aspekte, welche in den Beratungen thematisiert werden, sind beispielsweise die ausreichende Zufuhr von Eiweiss, das Vermeiden von gleichzeitigem Trinken und Essen oder das Vermeiden des Konsums von zu grossen Mengen an schnell verdaulichen (kurzkettigen) Kohlenhydraten. Die letzten beiden Punkte zielen unter anderem darauf ab, Probleme wie das Früh- und Spätdumping, welches insbesondere gehäuft nach Magenbypassverfahren auftreten kann, zu verhindern. Das Spätdumping ist häufig Hintergrund des Phänomens der postprandialen hyperinsulinämischen Hypoglykämie, welche sich zwar meist diätetisch gut behandeln lässt, jedoch manchmal einer komplexen, weitergehenden Abklärung bedarf und auch therapeutisch eine Herausforderung darstellen kann. Im Rahmen der Nachsorge sollte auch regelhaft nach dem Ausmass des Alkoholkonsums gefragt werden. Nach bariatrischen Operationen ist die Kinetik der Alkoholaufnahme meist deutlich verändert, so dass kurzfristig nach dem Konsum deutlich erhöhte Blutalkoholspiegel erreicht werden können (7). Neben den akuten Konsequenzen dieses Phänomens wurde in einigen Studien auch ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines problematischen Alkoholkonsumverhaltens nach bariatrischen Operationen beobachtet (8).

Kriterien zur Beurteilung des postbariatrischen Erfolgs

Den Erfolg einer bariatrischen Operation zu objektivieren, ist nicht ganz so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Eine erfolgreiche Operation ausschliesslich über den Gewichtsverlust zu definieren, wird der Komplexität der chronischen Erkrankung Adipositas sicher nicht gerecht. Die bariatrischen Operationstechniken führen in der Regel zu einem gewissen Gewichtsverlust, welcher jedoch individuell eine hohe Variabilität zeigt. Zudem bedeutet ein guter Gewichtsverlust auch nicht immer, dass es der betroffenen Person dadurch automatisch besser geht. Die Operation soll zu einem Gewichtsverlust führen, jedoch nicht auf Kosten der Lebensqualität. Die Beeinträchtigung der Patient:innen mit Adipositas ist meist durch die assoziierten Begleiterkrankungen bedingt, sodass insbesondere durch die Besserung dieser Komorbiditäten zum einen eine subjektive Zustandsbesserung, zum anderen eine objektivierbare Reduktion der Morbidität und Mortalität erreicht werden kann (9). Der Erfolg der bariatrisch-metabolischen Chirurgie ist somit mittels verschiedener Faktoren zu beurteilen:
1. Ausmass der Gewichtsreduktion
2. Verbesserung der Adipositas-assoziierten Komorbidi­täten und Mortalität
3. Steigerung der Lebensqualität

Ausmass der Gewichtsreduktion

Wie man den Gewichtsverlust am aussagekräftigsten definiert
respektive quantifiziert, wird weiterhin kontrovers diskutiert. Verbreitet sind folgende Parameter/Indizes:
1. Der totale Gewichtsverlust («total weight loss», TWL), der das reduzierte Absolutgewicht beziffert.
2. Der prozentuale Gewichtsverlust («percent total weight loss», %TWL), der den Gewichtsverlust im Verhältnis zum präoperativen Gewicht beschreibt.
3. Der prozentuale Verlust an Übergewicht («percent excess weight loss», %EWL)
4. Die absolute BMI-Veränderung

Bei all diesen Indizes gibt es Vor- und Nachteile, jedoch keinen Konsens, welche zur Definition eines «guten» bzw. eines «schlechten» Resultats am besten geeignet ist. Über Jahrzehnte wurde ein EWL >50 % als Erfolg nach bariatrischer Operation betrachtet. Aktuelle Untersuchungen zeigen allerdings, dass %TWL ein unabhängigerer und stabilerer Marker für Gewichtsverlust ist, sodass aktuell ein Gewichtsverlust von >20% TWL als Richtwert verwendet wird (10). Ein Vorteil dieses Index ist auch, dass er recht gut einen Vergleich mit Ergebnissen nach anderen, nicht-chirurgischen Interventionen wie beispielsweise einer Pharmakotherapie erlaubt, bei denen in der Regel der %TWL standardmässig verwendet wird.

Studien zeigen, dass über 70% der Patienten 10 Jahre nach Roux-en-Y-Magenbypass Anlage immer noch einen %TWL von über 20% aufweisen (9). Es sollte jedoch erwähnt werden, dass es bei einigen operierten Personen nach initial maximalem Gewichtsverlust zu einem mehr oder weniger ausgeprägten Wiederanstieg des Gewichts kommen kann. Ein signifikanter Wiederanstieg kann zum Wiederauftreten der Komorbiditäten und zu einem erheblichen Verlust an Lebensqualität führen. Die Diagnostik und Therapie dieses «weight regain» sollte interdisziplinär erfolgen. Die Indikationsstellung für einen erneuten chirurgischen Eingriff ist anspruchsvoll, zumal die wissenschaftliche Datenlage zu dieser Problemsituation nur unzureichend ist. Zudem handelt es sich bei entsprechenden chirurgischen Revisionen um komplexe Eingriffe mit erhöhtem Komplikationsrisiko (1), die daher nur in einem Referenzzentrum durchgeführt werden sollten.

Verbesserung der Adipositas-assoziierten Komorbiditäten und Mortalität

Die eindeutig gezeigte Besserung der metabolischen Begleiterkrankungen der Adipositas nach einer bariatrischen Operation hat zur Begriffsbildung der «metabolischen Chirurgie» geführt. Insbesondere in der Therapie des Adipositas-assoziierten Typ 2 Diabetes mellitus (T2DM) zeigen sich beeindruckende Therapieerfolge (11, 12). Historisch gesehen haben die Erfolge der bariatrisch-metabolischen Chirurgie überhaupt erstmals dazu geführt, dass man eine Remission auch bei fortgeschrittener T2DM Erkrankung für prinzipiell möglich hält (13). Heute wird die bariatrisch-metabolische Chirurgie bei Patient:innen mit Adipositas Grad 2 (BMI > 35 kg/m2) und T2DM als Standardtherapie betrachtet (14) und muss daher betroffenen Patienten im Rahmen einer adäquaten Therapieaufklärung als therapeutische Option angeboten werden (15). Auch bei Personen mit einem BMI zwischen 30 und 35 kg/m2 und dauerhaft schlechter Stoffwechselkontrolle (Hb1c >8%) kommt heute eine metabolische Chirurgie in Betracht und wird in der Schweiz auch seitens der Krankenkassen finanziert (16).

Spezifische Organfunktionsstörungen verbessern sich ebenfalls nach bariatrisch-metabolischen Operationen oft deutlich. So wurde beispielsweise gezeigt, dass sich eine präoperativ bestehende Nephropathie innerhalb der ersten 2 Jahre nach einer entsprechenden Operation oft signifikant verbessert, was sich insbesondere an einer deutlichen Reduktion einer vorbestehenden Proteinurie zeigt (17). Eindrücklich ist auch die Verbesserung der Adipositas-assoziierten «nicht-alkoholischen Fettlebererkrankung (NAFLD)» und der «nicht-alkoholischen Steatohepatitis (NASH)», welche neuerdings als «metabolic dysfunction-associated steatotic liver disease» (MASLD) respektive «Metabolic dysfunction-associated steatohepatitis» (MASH) bezeichnet werden. Von vielen Experten wird daher davon ausgegangen, dass sich die bariatrisch-metabolische Chirurgie zunehmend als Standardtherapie für die Lebererkrankung etablieren wird (18).

Ebenfalls gut dokumentiert ist eine Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse sowie eine Verbesserung der kardiopulmonalen Funktion, sodass die bariatrisch-metabolische Chirurgie auch zunehmend im Bereich der kardiovaskulären und pulmonalen Medizin Beachtung findet (19–21). Eindrucksvoll ist auch die erhebliche Reduktion des Auftretens von Adipositas-assoziierten Krebserkrankungen sowie der Krebs-assoziierten Mortalität nach bariatrisch-metabolischen Operationen, wobei in einer aktuellen Studie eine Reduktion um 32% sowie 48%, respektive, beobachtet wurde (22). Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass nach einem chirurgisch-induzierten Gewichtsverlust auch eine Verbesserung von kognitiven Funktionen wie Gedächtnis, exekutiver Funktionen und kognitive Kontrolle beobachtet wurde (23).

Am eindrücklichsten sind die positiven Effekte der bariatrisch-metabolischen Chirurgie wohl, wenn man die vorliegenden Daten zur Reduktion der Gesamtmortalität betrachtet. So fand eine Studie (24), dass die Lebenserwartung von Menschen mit Adipositas, welche sich einer bariatrischen Operation unterzogen hatten, gegenüber Menschen mit Adipositas, welche sich keiner entsprechenden Operation unterzogen hatten, um 3 Jahre länger war. Im Vergleich zu einer normalgewichtigen Kontrollgruppe blieb die Lebenserwartung jedoch immer noch um 5.5 Jahre verkürzt, wobei zu erwähnen ist, dass in dieser Studie insbesondere Personen mit einer Magenband-Implantation eingeschlossen wurden. Dieses bariatrische Verfahren wird heute aufgrund seiner oft unzureichenden Effektivität sowie hohen Komplikationsrate im Langzeitverlauf nur noch selten angewandt. Eine Meta-Analyse zu diesem Thema, in welche deutlich mehr Patienten mit effektiveren Operationsverfahren wie dem Roux-en-Y-Magenbypass sowie der Schlauchmagenresektion eingeschlossen wurden, zeigte eine durchschnittliche Verlängerung der Lebenserwartung von 6.1 Jahren gegenüber Menschen mit Adipositas, welche sich keiner bariatrischen Operationen unterzogen hatten (25). Als entscheidender Faktor zeigte sich in den durchgeführten Analysen das Vorhandensein eines T2DM. So war die Lebenserwartung in der operierten Gruppe bei vorbestehendem T2DM sogar um 9.3 Jahre verlängert, während sie bei den Personen ohne T2DM um 5.1 Jahre verlängert war.

Steigerung der Lebensqualität

Die deutliche Verbesserung der Lebensqualität durch eine signifikante Gewichtsreduktion bei Menschen mit Adipositas wurde in mehreren grossen, multizentrischen Studien gezeigt (26, 27). Hierbei handelt es sich jedoch vornehmlich um Kurzzeitdaten mit stark variabler Definition von Lebensqualität. Die körperlichen Funktionen wie beispielsweise die Beweglichkeit verbessern sich meist bereits innerhalb kurzer Zeit, was die Lebensqualität der betroffenen Personen erheblich steigen lässt. Weniger gut ist die Datenlage für den Bereich der mentalen und psychosozialen Gesundheit, jedoch deuten die verfügbaren Daten auf eine langanhaltende Verbesserung von vorbestehenden Depressionen und Angststörungen nach bariatrisch-metabolischer Operation hin (28). Eine multizentrische Studie zeigte zudem, dass sich über 5 Jahre nach bariatrisch-metabolischer Chirurgie die Sexualfunktion von Männern und Frauen signifikant verbessert hat (29). Bezüglich Liebesbeziehungen konnte man interessanterweise beobachten, dass nach chirurgisch-induziertem Gewichtsverlust sowohl die Anzahl von neu geschlossenen Partnerschaften als auch von Trennungen ansteigt (30). Dies deutet darauf hin, dass soziale Interaktionen sich nach und wahrscheinlich auch durch die erzielte Gewichtsreduktion erheblich verändern; eine Dynamik, welche man auch in der klinischen Praxis oft beobachten kann.

Neben den vielen positiven Effekten der bariatrisch-metabolischen Chirurgie soll hier auch auf einige weniger erfreuliche Beobachtungen aufmerksam gemacht werden. So wurde neben der bereits erwähnten erhöhten Inzidenz von Alkoholproblemen auch ein erhöhtes Risiko für den Missbrauch anderer Substanzen, Unfällen, nicht tödlichen Selbstverletzungen bis hin zum Suizid beobachtet (31). Auch wenn dies im Einzelfall tragisch ist, wiegen diese numerisch immer noch seltenen Ereignisse und Probleme die deutlich häufigeren positiven Effekte der bariatrischen Chirurgie jedoch nicht auf. Sie unterstreichen jedoch, dass eine gute präoperative Selektion und Vorbereitung von Patient:innen sowie eine strukturierte Nachsorge unabdingbar sind für eine qualitative hochwertige bariatrische Versorgung.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Guillaume Aeby 1
Prof. Dr. med. Bernd Schultes 2
Dr. rer. hum. biol. Barbara Ernst 2
Prof. Dr. med. Marco Bueter 1
1 Universitätsspital Zürich, Klinik für Viszeralchirurgie, & Spital Männedorf AG, Klinik Chirurgie
2 Stoffwechselzentrum St. Gallen, friendlyDocs AG, Lerchentalstrasse 21, 9016 St. Gallen; stoffwechselzentrum@friendlydocs.ch

Dr. med. Guillaume Aeby

Universitätsspital Zürich, Klinik für Viszeralchirurgie,
& Spital Männedorf AG, Klinik Chirurgie

Prof. Dr. med. Dr. phil. Marco Bueter

Universitätsspital Zürich, Klinik für Viszeralchirurgie,
& Spital Männedorf AG, Klinik Chirurgie

m.bueter@spitalmaennedorf.ch

Dr. med. Guillaume Aeby: keinen Interessenkonflikt. Prof. Dr. med. Bernd Schultes ist Vize-Präsident der SMOB. Dr. rer. hum. biol. Barbara Ernst: keinen Interessenkonflikt. Prof. Dr. med. Marco Bueter ist Präsident der SMOB. Er gibt an Vortragstätigkeiten für die Firmen Johnson & Johnson und Medtronic durchzuführen.

◆ Schwerwiegende Komplikationen, welche eine chirurgische Re-Intervention benötigen, treten im Rahmen von bariatrisch-metabolischen Operationen in 1-3% der Fälle auf; die 30-Tage Mortalität beträgt 0.05-0.2 %.
◆ Eine strukturierte Nachsorge, dauerhafte Mikronährstoffsupplementation, wiederholte Laboruntersuchungen sowie eine begleitende Ernährungsberatung können Komplikationen wie Mikronährstoffmängel und Ernährungsprobleme gezielt verhindern.
◆ Der Erfolg einer bariatrischen Operation wird nicht ausschliesslich über den Gewichtsverlust definiert, sondern vor allem auch über die Besserung Adipositas-assoziierter Begleiterkrankungen sowie der Lebensqualität.
◆ Die bariatrisch-metabolische Chirurgie reduziert nicht nur die Morbidität und Mortalität von Menschen mit ausgeprägter Adipositas signifikant, sondern verlängert auch deren Lebenserwartung und sollte daher immer bei betroffenen Patient:innen in Erwägung gezogen und mit ihnen diskutiert werden.

 

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Mise à jour sur l’ostéoporose – dépistage, diagnostic et traitement

En Suisse, l’ostéoporose touche une femme sur deux et un homme sur cinq. Les fractures se situent au niveau de la colonne vertébrale, de la hanche, de l’avant-bras, de l’humérus et du bassin, selon le PD Dr Christof Iking-Konert, de l’hôpital de ville Triemli à Zürich. Les fractures vertébrales ne sont pas rares. Elles sont cliniquement inapparentes.

Le conférencier a présenté une histoire typique d’ostéoporose : Patiente de 66 ans, IMC 23,3, fumeuse, FRAX® 23% pour MOF (Major Osteoporotic Fracture), calculé sans DXA (Dual-Energy X-ray absorptiometry).

Une grande partie des femmes à haut risque de fracture ne reçoivent pas de traitement en Suisse, selon l’orateur.

Diagnostic de l’ostéoporose

Un diagnostic précoce serait important, mais une indication remboursée pour une ostéodensitométrie comprend les points suivants:
– Ostéoporose cliniquement manifeste, y compris les fractures liées à l’ostéoporose
– Traitement à long terme à la cortisone (>5mg/d)
– Hypogonadisme (y compris ménopause précoce)
– Hyperparathyroïdie primaire
– Maladies gastro-intestinales avec malabsorption (incl. maladie de Crohn, maladie cœliaque)
– Ostéogenèse imparfaite
– Maladie du VIH
– Traitement par inhibiteur de l’aromatase (après la ménopause) ou par l’association GnRH
– Paramètres de laboratoire de base : Diagnostic différentiel, indication d’un analogue + inhibiteur de l’aromatase (avant la ménopause) ou d’un traitement anti-androgénique
– Mesure de l’évolution en cas d’ostéoporose connue tous les 2 ans, y compris mesure de l’évolution sous traitement.

Calculateur de risque FRAX® pour déterminer le risque de fracture

Le calculateur de risque FRAX permet d’estimer le risque à 10 ans de fracture de la hanche ou d’ostéoporose en tenant compte des facteurs de risque cliniques. En présence d’une ostéodensitométrie au col du fémur, le risque de fracture peut être évalué de manière encore plus précise.

Paramètres de laboratoire de base Diagnostic différentiel/indice

de la clairance de la créatine (DFG)
Abaissée en cas d’ostéopathie rénale, insuffisance rénale de degré supérieur comme contre-indica tion à divers médicaments

Protéine C-réactive
élevée en cas de maladie inflammatoire et d’indice de malignité, élevée en cas de maladie rhumatismale, de maladie auto-immune, en cas de valeur anormale en raison d’une possible indication de paraprotéinémie : électrophorèse.

Numération sanguine
TSH
GL/HbA1c
Calcium sérique
(élevé)
(abaissée)
Hyperparathyroïdie primaire syndrome paranéoplasique ou autres causes d’hypercalcémie par ex. hyperparathyroïdie secondaire, malabsorption des médicaments. Hypocalcémie comme contre-indication à plusieurs ostéoporoses.

Phosphate sérique
(augmenté)
Insuffisance rénale, stade 4 hyperparathyroïdie secondaire rénale
(abaissé)
Malabsorption, hypophosphatémie, par exemple dans le cadre d’un hypophosphatémie liée à l’X

Sérum sodique (abaissé)
Facteur de risque de fracture de la hanche, risque accru de chute, p.ex. ostéomalacie

Phosphatase alcaline (abaissé)
Indication possible d’hypophosphatasie, sous traitement antirésorptif de longue durée
(élevée)
DD augmentation de la PA d’origine hépatique

Gamma-GT (élevée)
Maladie cœliaque ou abus d’alcool (risque de chute)
(abaissé)
Lésion du foie

Paramètres différents Diagnostic différentiel recommandé
Calcium sérique (abaissé)
AP Iso-enzymes
Calculer le calcium corrigé par l’albumine, p. ex. en cas de MGUS

Calcium sérique (augmenté)
Parathormone, excrétion 24h calcium et phosphate

Vitamine D (sarcoidose) Vitamine D Hypervitaminose ?
(élevée)
Isoenzymes AP, scintigraphie du squelette si nécessaire
(abaissé)
Isoenzymes AP, pyridoxal-5-phosphate (vit B6), éventuellement génétique humaine

TSH
fT3, fT4, substitution de la thyroxine ou de la triiodothyronine ?

Gammapathie monoclonale
Immunofixation, chaînes légères

Créatinine, DFG (abaissé)
PTHm 1,25(OH)2Vitamine D
selon la clinique,
AC cœliaque, etc.

inspiré de Directives DVO sur l’ostéoporose – DVO e.V.

Retour à la vignette de la patiente – comme on pourrait s’y attendre

La patiente IMC 23,3, fumeuse, âgée de 68 ans, se présente pour des douleurs dorsales. Mise en évidence d’une fracture récente de la colonne lombaire 4. FRAX pour MOF 30% (T-score (col du fémur) : -2,8 SD. Les fractures de fragilité sont le principal facteur de risque d’une nouvelle fracture, d’où l’importance de la prévention des fractures après une fracture déjà subie. Le conférencier fait référence à un article dans le Swiss Medical Weekly de 2020 (Lippuner K et al. 2020 recommendations for osteoporosis treatment according to fracture risk from the Swiss Association against Osteoporosis (SVG). Swiss Med. Weekly 2020, 150:w20352).

Traitement de l’ostéoporose

Prévention des chutes par le mouvement. Physiothérapie : cours ambulatoire de sécurité de la marche. Une personne sur trois de plus de 65 ans est victime d’une chute. Il existe un équilibre entre les ostéoclastes (dégradation osseuse) et les ostéoblastes (formation osseuse). À partir de la ménopause, la résorption osseuse prédomine.

Le premier mécanisme thérapeutique est le mécanisme antirésorptif:
les bisphosphonates, le denosumab et le SERM (modulateur sélectif des récepteurs aux premiers œstrogènes) inhibent les ostéoclastes.

Traitement médicamenteux de l’ostéoporose chez les adultes âgés

L’objectif du traitement de l’ostéoporose est de prévenir les fractures. Plusieurs agents pharmacologiques sont disponibles pour réduire le risque de fracture, soit en diminuant la résorption osseuse, soit en stimulant la formation osseuse. Les bisphosphonates sont les antirésorptifs les plus répandus ; ils abaissent les marqueurs du turnover osseux à de faibles concentrations préménopausiques et réduisent les taux de fracture (corps vertébral de 50 à 70 %, corps non vertébral de 20 à 30 % et hanche de ~40 %). Les bisphosphonates atteignent un plateau après 3-5 ans.

Le dénosumab est un anticorps monoclonal anti-RANKL qui inhibe efficacement le développement et l’activité des ostéoclastes. Le dénosumab est administré tous les 6 mois par injection sous-cutanée. L’efficacité du dénosumab peut être démontrée jusqu’à 10 ans. Pour stimuler la formation osseuse, deux classes d’anabolisants sont aujourd’hui disponibles.

Le tériparatide et l’abaloparatide ciblent tous deux le récepteur de la parathormone 1. Le romosozumab est un anticorps monoclonal anti-sclérostine qui stimule la formation osseuse et inhibe la résorption. Le romosozumab est administré sous forme d’injection sous-cutanée mensuelle pendant un an. Des études comparatives directes indiquent que les anabolisants ont une plus grande efficacité contre les fractures et entraînent une plus grande augmentation de la densité osseuse que les médicaments antirésorptifs. L’effet des anabolisants est temporaire, ce qui nécessite une transition vers des médicaments antirésorptifs.

Traitement à long terme de l’ostéoporose postménopausique

L’étude BMD DATA Switch Study sur la hanche a montré que chez les femmes ménopausées ostéoporotiques passées du tériparatide au dénosumab, la densité minérale osseuse continuait d’augmenter, tandis que le passage du dénosumab au tériparatide entraînait une perte osseuse progressive ou transitoire. Ces résultats devraient être pris en compte dans le choix du traitement initial et ultérieur des patientes postménopausées atteintes d’ostéoporose.

Le traitement ostéoanabolique par romosozumab s’est avéré meilleur que le traitement antirésorptif par alendronate (Saa g KG et al N Engl J Med 2017;377:1417-1427).

Options après dénosumab pour l’ostéoporose postménopausique – Recommandations ECTS

Patient / Durée du traitement
Jeunes patients sous faible risque de fracture

Dénosumab à court terme (<2,5 ans) ou faible risque de fracture

faible risque de fracture

Dénosumab longue durée (>2.5 ans) et/ou risque de fracture élevé

Traitement/ Recommandation d’arrêt

dénosumab non recommandé

Bisphosphonates ou zolendronate oraux pour 1-2 ans

denosumab jusqu’à 10 ans

Switch sur zolendronate (début 6 mois après la dernière injection de denosumab) + mesure des DMO à 3 et 6 mois

Pr Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch