Kulturelle Kompetenz in der klinischen Ethik

Einleitung

Die kulturelle Vielfalt im Schweizer Gesundheitswesen nimmt zu, was vor allem auf die Migration zurückzuführen ist. Mittlerweile haben rund 40% der Schweizer Wohnbevölkerung ab 15 Jahren einen Migrationshintergrund (Bundesamt für Statistik 2022). Folglich steigt der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund sowohl unter den Patient*innen als auch unter den Gesundheitsfachpersonen. In Bezug auf die Gesundheit und die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ist diese Bevölkerungsgruppe nicht homogen. Insbesondere Migrant*innen der ersten Generation aus Südwesteuropa sowie Ost- und Südosteuropa haben ein deutlich erhöhtes Risiko von Herz-Kreislauf-Krankheiten, Arthrose, Übergewicht und psychischen Belastungen betroffen zu sein. Sie konsultieren unterdurchschnittlich oft Hausärzt*innen, Spezialärzt*innen oder Zahnärzt*innen, besuchen dafür etwas häufiger Notfallstationen. Migrant*innen aus Nord- und Westeuropa unterscheiden sich bezüglich Gesundheit und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen hingegen kaum von der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (Bundesamt für Statistik 2020). Neben der Migration trägt auch die Pluralisierung von Lebensentwürfen zur Vielfalt im Gesundheitswesen bei. Das Krankenhaus ist zu einem kulturellen Mikrokosmos geworden, in dem unterschiedliche «Kulturen» – nicht zuletzt medizinische Kulturen – aufeinandertreffen (Saladin 2009). Gesundheitsfachpersonen sind täglich mit Menschen anderer kultureller Identitäten konfrontiert, deren Welt- und Wertvorstellungen teilweise als fremd erfahren werden. Dies führt im klinischen Alltag nicht selten zu Unsicherheiten oder Konflikten, die auch moralischer Natur sein können (Ilkilic 2007).
Im Umgang mit moralischen Konflikten im Gesundheitswesen haben sich zunehmend Strukturen des klinischen Ethik-Supports herausgebildet (Zentner et al. 2022). Das Ziel solcher Ethikstrukturen ist es, Gesundheitsfachpersonen, Patient*innen und Angehörige bei moralischen Fragen und Konflikten zu unterstützen, sei es in der ethischen Fallberatung, in der ethischen Aus-, Fort- und Weiterbildung oder bei der Ausarbeitung von medizin-ethischen Empfehlungen oder Richtlinien (SAMW 2017). Anfragen für klinische Ethikberatung entstehen häufig aus moralischen Wertkonflikten, das heisst aus widersprüchlich wahrgenommenen moralischen Verpflichtungen, was in einer Situation zu tun oder zu lassen ist. Sie können aber auch auf unterschiedliche Auffassungen der Situation oder auf eine besondere Bedürftigkeit oder Erwartungshaltung von Patient*innen zurückgehen. Werte, Auffassungen und Erwartungen von Menschen sind stark von ihrer kulturellen Identität geprägt. Kulturelle Diversität kann daher auch in der klinischen Ethikberatung relevant werden oder in Form eines erlebten «(inter-)kulturellen Konflikts» Auslöser für die Inanspruchnahme von klinischer Ethikberatung sein (Zentner et al. 2022). Für solche Probleme, die auf kulturell unterschiedlichen Identitäten beruhen und moralisch problematisch werden, wird in diesem Artikel der Begriff kulturell-moralisches Problem verwendet.
Im Umgang mit kultureller Diversität in der Gesundheitsversorgung hat sich vor allem in den USA, zunehmend aber auch in Westeuropa das Konzept der kulturellen Kompetenz durchgesetzt. Darunter wird die Fähigkeit von Gesundheitsfachpersonen verstanden, Menschen mit verschiedenen kulturellen Identitäten wirksam, sicher und qualitativ hochwertig medizinisch zu versorgen und dabei Aspekte ihrer kulturellen Identität angemessen zu berücksichtigen (Sharifi et al. 2019). Neben der individuellen Ebene der Begegnung von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Identitäten ist auch eine Team- und Organisationsebene zu unterscheiden, auf der es darum geht, den Umgang mit kulturellen Herausforderungen und Diversität im Team bzw. in der Organisation zu verbessern (Liu et al. 2021). Obwohl die Bedeutung des Konzepts im Gesundheitssektor inzwischen weithin anerkannt ist, ist bis heute keineswegs klar, was damit genau gemeint ist. Kritiker wenden ein, dass das Konzept einem problematischen Kulturbegriff Vorschub leistet und damit zu Stereotypisierung, Ausgrenzung («Othering») oder Bevormundung führen kann (Muaygil 2018). Auch ist die Wirksamkeit der mittlerweile zahlreich angebotenen Trainings in kultureller Kompetenz umstritten (Horvat et al. 2014; Shepherd 2019). In den letzten Jahren wurden daher verschiedene alternative Konzepte wie kulturelle Bescheidenheit, interkulturelle Effektivität, kulturelle Sensibilität, kultureller Respekt oder transkategoriale Kompetenz vorgeschlagen (Botelho und Lima 2020; Domenig 2021; Liu et al. 2021). Auch in der Medizinethik gibt es Autor*innen, die hinsichtlich kultureller Kompetenz in der Medizinethik – z.B. im Sinne einer «kultursensiblen Ethikberatung» – zur Vorsicht mahnen, weil dies zu moralischen Stereotypisierungen oder einem ethischen Relativismus führen könnte (Wild 2012; Bracanovic 2011; Coors et al. 2018).
In diesem Beitrag wird untersucht, welche Rolle kulturelle Kompetenz in der klinischen Ethik spielen sollte. Dazu wird in einem ersten Schritt das Verhältnis von Kultur und Ethik beleuchtet. Anschliessend wird die Rolle kultureller Kompetenz in der Medizinethik diskutiert. Der Beitrag schliesst mit Empfehlungen für einen kulturell kompetenten klinischen Ethik-Support.

Kultur und Ethik

Die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Ethik lässt sich philosophiegeschichtlich bis in die Antike zurückverfolgen. Für Aristoteles, den Gründervater der philosophischen Disziplin der Ethik, sind Menschen wesentlich Vernunftwesen (ausgestattet mit Gefühl und Willen) und ein gutes Leben deshalb ein Leben, das der Reflexion einen zentralen Stellenwert einräumt (Aristoteles 2002). Menschen sind aber gleichzeitig soziale und politische Wesen («zoon politikon»), sie sind eingebettet in eine Gemeinschaft, ohne die sie ihre Fähigkeiten nicht entfalten und das gute Leben nicht verwirklichen können. Die Ethik als Wissenschaft vom guten Leben vollendet sich in der idealen Gemeinschaft, der Polis, einem unabhängigen Staat, in dem die vernünftigen Bürger gemeinsam das gute Leben verwirklichen. Freilich hatten für Aristoteles neben Frauen auch Sklaven, Kaufleute und Fremde kein Bürgerrecht. Die Bestimmung des Menschen als eines leiblichen Vernunftwesens und der praktischen Klugheit («phronesis») als der Fähigkeit, durch richtige Überlegung das in einer Situation im Sinne des menschlich Guten Angemessene zu tun, weist jedoch über die jeweilige soziale und kulturelle Praxis – und auch über Aristoteles’ eigene Vorurteile – hinaus.
Radikalisiert wird dieser Gedanke bei Immanuel Kant in der Epoche der Aufklärung (Kant 2003). Er versteht Ethik als Wissenschaft der reinen praktischen Vernunft, die Gefühl, Gemeinschaft und Kultur transzendiert. Menschen sind bei Kant wesentlich Vernunftwesen, die sich einen Begriff von der Welt machen, sich in ihrem Handeln frei bestimmen und sich als selbstbewusstes Ich verstehen können. Darin begründet sich für Kant die sittliche Achtung vor den Mitmenschen: Ich erkenne meine Vernunftfähigkeit im anderen. Darin gründet der kategorische Imperativ, den anderen nie nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich, d.h. als sich im Handeln autonom Bestimmenden zu begreifen.
Für den späten Wittgenstein hingegen gründen alle begrifflichen und moralischen Regeln letztlich in den Sprachspielen, mit denen wir aufgewachsen sind und die wir täglich spielen (Wittgenstein 1984). Wir verstehen Aussagen nur, wenn wir wissen, unter welchen Umständen wir sie verwenden können («Sprechakte»), und wir wissen dies, wenn wir die Sprachspiele praktizieren, in denen solche Sprechakte verwendet werden. Die Einsicht in moralische Prinzipien setzt also eine Gemeinschaft moralisch denkender und sprechender Wesen oder – wie man auch sagen könnte – eine Kultur der Moral («Ethos») voraus.
In der modernen Bio- und Medizinethik wird das Verhältnis von Kultur und Ethik seit den 2000er Jahren intensiv – und kontrovers – diskutiert. Bracanovic (2011) spricht von einer «kulturellen Wende» in der Bioethik, die verschiedene Ansätze einer kultursensiblen Bioethik hervorgebracht hat («Cross-Cultural Bioethics», «Cultural Engagement in Clinical Ethics», «Global Bioethics», «Postcolonial Bioethics»). Diese Wende geht auf eine kritische Auseinandersetzung mit traditionellen Modellen der Bioethik zurück (siehe Tabelle 1). Diese wurden als zu vereinfachend und zugunsten westlicher Werte voreingenommen angesehen werden. Von der Einbeziehung kultureller Aspekte erhofft man sich eine Kontextualisierung bioethischer Fragestellungen und damit eine Verbesserung der Entscheidungsfindung. Im Zentrum dieser Ansätze steht dabei der Respekt vor der kulturellen Vielfalt im Gesundheitswesen. Vertreter*innen einer kultursensiblen Bioethik betonen, dass moralische Normen immer schon in kulturelle und soziale Kontexte eingebunden und nicht unabhängig davon zu verstehen sind (Turner 2003; Chattopadhyay und Vries 2013). Der klassische, prinzipienorientierte Ansatz der Bioethik von Beauchamp und Childress (2019) basiere auf einem anglo-amerikanischen Moralverständnis und könne nicht auf andere kulturelle Kontexte übertragen werden («moral imperialism»). Dieser Ansatz sei in pluralistischen Gesellschaften nur eingeschränkt anwendbar, u.a. da er ethnografische und religiöse Informationen vernachlässige und auf Dichotomien und individuelle Autonomie fokussiere, statt auf Ausgleich und Gemeinsinn (Bowman 2004). In der Bioethik sollte es vielmehr darum gehen, die aus der kulturellen Vielfalt resultierende moralische Vielfalt anzuerkennen. Aufgabe einer kultursensiblen Bioethik sei es, eine gemeinsame Handlungsgrundlage zwischen verschiedenen Kulturen zu finden und dabei die kulturelle und moralische Vielfalt zu respektieren (Chattopadhyay und Vries 2013).
Einige Autor*innen stehen dieser Wende hin zu einer kultursensiblen Bioethik jedoch skeptisch gegenüber (Bracanovic 2011, 2013; Have und Gordijn 2011). Für Bracanovic (2011) besteht eine konzeptionelle Herausforderung bereits darin, den Kulturbegriff klar zu definieren bzw. die kulturelle Identität von Menschen eindeutig zu beschreiben. Im Einzelfall bestehe daher die Gefahr, dass Beschreibungen kultureller Aspekte vage und unbestimmt bleiben und damit für die ethische Entscheidungsfindung wenig hilfreich seien. Eine weitere Herausforderung ergebe sich aus der Tatsache, dass Kulturen adaptive Systeme seien, die angesichts des raschen natürlichen und sozialen Wandels der Gegenwart einem ständigen Wandel unterworfen seien. Dies wirft die Frage auf, ob Kulturen einen stabilen normativen Rahmen für medizinethische Fragen darstellen. Zudem würden Menschen selten alle Überzeugungen und Werte ihrer Kultur teilen. Dies berge die Gefahr der Stereotypisierung und der Vernachlässigung individueller Zugänge zu kultureller Identität. Es stelle sich daher die Frage, warum kulturelle Unterschiede stärker gewichtet werden sollten als individuelle Unterschiede. Wäre nicht vielmehr eine personensensible Bioethik erforderlich? Diese Forderung sei obsolet, da die individuellen Wertvorstellungen und Lebensentwürfe von Patient*innen durch das klassische Prinzip des Respekts vor der Autonomie hinreichend berücksichtigt würden (Bracanovic 2011). Auch Bracanovic (2011) betont die Bedeutung einer kultursensiblen Hermeneutik, d.h. die Fähigkeit, kulturell unterschiedliche Welt- und Wertvorstellungen zu verstehen. Dies impliziere jedoch keine relativistische Ethik, nach der alle kulturellen Welt- und Wertvorstellungen auch toleriert werden müssten.

Kulturelle Kompetenz und Medizinethik

In der medizinethischen Literatur hat sich weitgehend ein konstruktivistischer Kulturbegriff durchgesetzt, der Kultur als «komplexes Gewebe unzähliger aufeinander bezogener, wissensbasierter, dynamischer Praktiken und Praxisfelder» versteht, die nicht – wie im essentialistischen Kulturbegriff unterstellt – objektiv, statisch und diskret sind, sondern in Selbst- und Fremdzuschreibungen interpretativ erschlossen werden (Straub et al. 2007). Bezeichnungen wie «die albanische Kultur», «der türkische Patient», «die Familie mit Migrationserfahrung» oder «die afroamerikanische Ärztin» sind mit Vorsicht zu verwenden, da sie einen essentialistischen Kulturbegriff implizieren und mit der Gefahr der Stereotypisierung bzw. Kulturalisierung, d.h. der Zuschreibung individueller Eigenschaften aufgrund kultureller Zugehörigkeit, einhergehen. In der Praxis der klinischen Ethik dürfte eine stereotypisierende Verwendung solcher Begriffe jedoch ebenso vorkommen wie in der medizinischen Praxis (Karger et al. 2017). Für klinische Ethikberater*innen ergibt sich daraus die Verpflichtung, die stereotypisierenden Sprachformen (und dahinterliegende Machtverhältnisse) zu reflektieren und auf die einzelne Person oder die Personen, um die es geht, zurückzuführen. Ziel dieser Reflexion sollte dabei gemäss Inthorn (2018) die «Verflüssigung der Kategorien» sein, um eine Verständigung über die Identität, Erwartung und Erfahrung der Person(en) zu ermöglichen, ohne sie damit vollständig charakterisieren zu wollen.
Weniger breit rezipiert ist die These von Perkins (2008), dass der wichtigste kulturelle Unterschied in der Patientenversorgung häufig derjenige zwischen medizinischen Fachpersonen und Laien ist. Die Medizin kann aufgrund der spezifischen Ausbildung, Sprache, Praktiken, Hierarchien und des medizinischen Ethos als eigenständige Kultur gelten. In einem weiten Sinn sind selbst Gesundheitsinstitutionen als Kulturatope zu verstehen, d.h. als kulturelle Orte, die die Akteur*innen einer bestimmten Ordnung unterstellen, die vorgibt, welche Ziele nach welchen Regeln verfolgt werden sollten und was entsprechend als «erfolgreiches» Handeln gilt (Straub et al. 2007). Perkins (2008) identifiziert sechs Dimensionen, in denen typischerweise kulturelle Unterschiede zwischen medizinischen Fachpersonen und Laien auftreten (siehe Tabelle 2). Da eine Verständigung in diesen Dimensionen offensichtlich eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen einer gemeinsamen Entscheidungsfindung ist, ist diese auch moralisch geboten. Sofern diese Transferleistung in der Arzt-Patienten-Kommunikation nicht gelingt, kann es daher durchaus als Aufgabe der klinischen Ethik verstanden werden, zu einer gelingenden Verständigung zwischen Fachpersonen und Laien – direkt oder indirekt – beizutragen. Für Situationen im Klinikalltag, die aus Sicht der Beteiligten aus kulturellen Gründen moralisch problematisch erscheinen, wird in der Literatur häufig der Sammelbegriff (inter-)kultureller Konflikt verwendet. Darunter wird ein breites Spektrum an Herausforderungen verstanden, die auf eine unzureichende Verständigung oder Probleme des Dolmetschens, kulturell geprägte Verhaltensweisen und Bedürfnisse (z.B. religiöse Rituale, Speisevorschriften, Tabus, Schmerzbeschreibungen), kulturell geprägte Weltbilder und Wertvorstellungen (z.B. Krankheitsvorstellungen, Einstellungen zu Sterben und Tod, Rollenvorstellungen, Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft), Diskriminierung, Stigmatisierung und Rassismus oder den fehlenden Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zurückgehen (Ilkilic 2007; Ilkilic 2017; Würth et al. 2018; Staar und Kempny 2019; Traub 2022). Diese Herausforderungen können in allen Situationen des Klinikalltags auftreten, bei der Anamnese, der Diagnostik, dem Diagnosegespräch, der gemeinsamen Entscheidungsfindung, dem Angehörigengespräch, dem Angehörigenbesuch, der Behandlung oder der Nachsorge. Fallbeispiele zu solchen Herausforderungen finden Sie im vorliegenden Themenheft (z.B. Ilkilic 2023).

Welche Relevanz haben solche kulturellen Herausforderungen im Kontext der klinischen Ethik? Der primäre klinische Bezugspunkt sind moralische Konflikte zwischen Patient*innen, Angehörigen und Behandelnden, d.h. eine wahrgenommene Unvereinbarkeit moralischer Positionen. Neben dem moralischen Konflikt gibt es jedoch auch andere Problemtypen, die kulturell geprägt und ethisch relevant sein können. Bruchhausen (2014) hat eine hilfreiche Typologie kulturell-moralischer Probleme vorgeschlagen. Er unterscheidet zwischen 1.) Missverständnissen, die auf mangelndem Verständnis der jeweils anderen kulturell geprägten Sichtweise beruhen und die Arzt-Patienten-Kommunikation behindern, 2.) Bewertungsdifferenzen, die trotz weitgehender Verständigung und ausreichender gemeinsamer Wertebasis auf einer divergierenden Bewertung der Situation beruhen, 3.) Diskriminierung, d.h. die individuelle oder strukturelle Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer kulturellen Identität und 4.) Wertedifferenzen, d.h. Konflikte, die aus zumindest primär unvereinbaren moralischen Verpflichtungen resultieren. Klinische Ethiker*innen sollten sich daher bewusst sein, dass kulturelle Identitäten die Wahrnehmungen und Einstellungen in nahezu allen Handlungsfeldern der Patientenversorgung substanziell beeinflussen können und welche kulturell-moralische Probleme sich daraus ergeben können.
In der Medizinethik wurden verschiedene Ansätze vorgeschlagen, um mit solchen kulturell-moralischen Problemen umzugehen (vgl. Grützmann 2014). Orr et al. (1995) identifizierten vier Elemente, die für die Lösung solcher Probleme wesentlich sind: 1.) eine effektive Kommunikation mit Patient*innen und ihren Familien, 2.) Sensibilität für den kulturellen Hintergrund der Patient*innen, 3.) das Erkennen von kulturübergreifenden Wertkonflikten und 4.) die Kompromissbereitschaft. Zu diesen Elementen geben sie verschiedene Empfehlungen (siehe Tabelle 3) (Orr et al. 1995).
Während diese Auflistung insbesondere zur Kultursensibilität wertvolle Hinweise enthält, sind die Empfehlungen zur Erkennung und Lösung moralischer Konflikte weniger konkret. Hier setzt der dreistufige Ansatz von Jecker et al. (1995) zur Lösung kulturell-moralischer Konflikte an. Im ersten Schritt (1.) geht es darum, die zentralen Ziele zu identifizieren, die sowohl Patient*innen als auch Fachpersonen in die Begegnung mitbringen. Dazu müssten die moralischen Werte und kulturellen Orientierungen der Patient*innen und ihren Angehörigen von den Fachpersonen offen und vorurteilsfrei erfragt werden. Im zweiten Schritt (2.) seien für beide Seiten akzeptable Strategien zur Erreichung dieser Ziele zu suchen. Dies kann in einem gemeinsamen Entscheidungsfindungsprozess oder in einem Familiengespräch geschehen, idealerweise mit einer transkulturell dolmetschenden Person. Im letzten Schritt (3.), der ethischen Reflexion, ist die moralische Angemessenheit der diskutierten Strategien durch die Fachkräfte zu bewerten. Diese Reflexion erfolgt nach Jecker et al. wiederum in drei Phasen: Erstens (i.) wird geprüft, ob die Strategien zwei zentralen ethischen Kriterien genügen: der Vereinbarkeit mit den persönlichen und professionellen Werten der Fachkräfte einerseits und der Vereinbarkeit mit den Werten der Patientin oder des Patienten und ihrer/seiner kulturellen Identität andererseits. Wenn dies nicht zu einer Klärung führt, sollten zweitens (ii) alle Beteiligten ihre eigenen moralischen Prinzipien und Verpflichtungen kritisch hinterfragen, um sie im Lichte der Situation neu zu interpretieren, zu ordnen oder zu modifizieren. In der dritten Phase (iii.) sollen verbleibende Differenzen in einem fairen und nichtdiskriminierenden Verfahren beigelegt werden (Jecker et al. 1995). Hinsichtlich der Ausgestaltung dieses Verfahrens bleiben viele Fragen offen. Die Autor*innen betonen, dass die divergierenden Positionen in diesem Verfahren als moralisch gleichwertig zu betrachten seien.
Andere Autor*innen, die sich um einen kompetenten Umgang mit kulturellen Konflikten bemühen, argumentieren hingegen, dass es Grenzen geben muss, was Patient*innen und Angehörige in Namen kultureller Werte moralisch einfordern können. Für Paasche-Orlow (2004) ist eine kulturell kompetente Patientenversorgung ein moralisches Gut, das sich aus der moralischen Verpflichtung zur Respektierung der Patientenautonomie und der Gerechtigkeit ergebe. Daraus abgeleitet ergebe sich die Verpflichtung von Fachpersonen, die kulturelle Identität von Patient*innen verstehen zu lernen, die kulturellen Unterschiede zu respektieren und die negativen Folgen kultureller Zugehörigkeit zu vermindern. In diesem Sinne seien kulturelle Kompetenz und westliche Medizinethik Bewegungen, die sich weitgehend gegenseitig stützen. Wenn jedoch echte moralische Dilemmata auftreten, könnten Fachpersonen nicht gezwungen werden, gegen ihr Gewissen zu handeln. Viele moralische Grundwerte seien in Gesetzen und Praxisstandards kodifiziert, und in den meisten Fällen könnten Fachpersonen bei moralischen Dilemmata ohne erhebliche Nachteile für ihre Patienten in den Ausstand treten (Paasche-Orlow 2004).
Für Hyun (2008) kann die Position des ethischen Relativismus – entgegen dem Anschein – eine tolerante Haltung zwischen verschiedenen Kulturen gerade nicht begründen, da es keine Garantie gibt, dass alle Kulturen den Wert der Toleranz anerkennen. Dazu bedürfe es der Grundüberzeugung, dass alle Menschen den gleichen moralischen Wert haben. Diese Überzeugung schließe den Gedanken ein, dass die Gesundheit und das Wohlergehen jeder Person unabhängig von kulturellen Unterschieden gleich wichtig seien. Die Grenzen der Toleranz lägen dort, wo die moralische Gleichwertigkeit von Menschen geleugnet werde. Dort sei es die Aufgabe der Fachpersonen, die moralischen Wertvorstellungen der Patient*innen und Angehörigen sanft, aber bestimmt in Frage zu stellen. Um solche Konflikte zu lösen, sei ein substantieller ethischer Dialog zwischen allen Beteiligten notwendig, zum Beispiel im Rahmen einer klinischen Ethikberatung (Hyun 2008).
Carter und Klugman (2001) gehen in ihrem Ansatz des «cultural engagement» noch spezifischer auf die Rolle der klinischen Ethik ein. Ihr Modell zielt darauf ab, die kulturellen Identitäten von Patient*in und Fachpersonen zu bewahren und gleichzeitig die Zusammenarbeit zwischen ihnen zu verbessern. Die Aufgaben der klinischen Ethiker*innen werden von der Moderation und Verhandlung moralischer Konflikte auf die aktive Vermittlung eines interkulturellen Verständnisses im Sinne von Kulturmittler*innen erweitert. Werden klinische Ethiker*innen um Unterstützung bei einem kulturell-moralischen Problem gebeten, sollen sie die Patient*innen und die Fachpersonen zunächst getrennt befragen, um deren Interpretation der Krankheit und des Behandlungsverlaufs zu verstehen. Die Antworten sollen verbal in einem Diagramm festgehalten werden, das den klinischen Ethiker*innen hilft, unterschiedliche Überzeugungen und Werthaltungen zu erkennen (siehe Tabelle 4). Auf dieser Basis könnten klinische Ethiker*innen einem nächsten Schritt in einen gemeinsamen Dialog mit den Beteiligten treten und gegenseitiges Verständnis und Vertrauen aufbauen. Dies ermögliche eine Annäherung der Positionen, ohne dass die Beteiligten ihr eigenes Wertesystem kompromittieren oder verändern müssten (Carter und Klugman 2001).

Ilkilic (2014) weist darauf hin, dass klinische Ethiker*innen nicht nur das Krankheitsverständnis, sondern auch die Wertvorstellungen der Patient*innen explizit untersuchen sollten. Ilkilics «integrativ-reflektierender partikularistischer Ansatz», der sich von einem universalistischen und relativistischen Ansatz abgrenzt, zielt darauf ab, kulturelle Wertvorstellungen im klinischen Ethik-Support besser zu berücksichtigen. Freiheit sei als ethisches Grundprinzip anzuerkennen, eine unreflektierte Anwendung des Autonomieprinzips sei jedoch zu vermeiden. Vielmehr sollten klinische Ethiker*innen herausfinden, was die Patient*innen selbst unter Patientenautonomie verstünden. Die individuellen, kulturell geprägten Wertvorstellungen der Patient*innen dienen dabei als Ausgangspunkt des Gesprächs. Eine unkritische Übernahme der kulturellen Praxis («kulturalistischer Fehlschluss») könne so vermieden werden. Dazu sei ein kultursensibler, ergebnisoffener Kommunikationsprozess notwendig. Erst danach könne konkretisiert werden, was dieses Autonomieverständnis für die Situation der Patient*innen und den weiteren Entscheidungsprozess bedeute. Ilkilic weist darauf hin, dass ethische Kompetenz und (inter-)kulturelle Kompetenz nicht gleichzusetzen sind – dementsprechend müsse (inter-)kulturelle Kompetenz in der Aus-, Fort- und Weiterbildung für klinische Ethiker*innen gezielt vermittelt werden (Ilkilic 2014).
Solche Programme zur Vermittlung kultureller Kompetenz in der Medizinethik existieren beispielsweise bereits in den USA (Miller und Loike 2012; Brunger 2016). Brunger nennt sechs zentrale Lernziele eines solchen Programms: 1.) Biomedizin und Medizinethik sind kulturelle Systeme; 2.) zu einer kulturübergreifenden Medizinethik gehört die kritische Selbstreflexion der eigenen Werte und Annahmen; 3.) Kultur prägt alle Entscheidungen, nicht nur die «problematischen»; 4.) wenn bioethische Prinzipien nicht mit den Wertvorstellungen der Patient*innen übereinstimmen, müssen beide auf den Prüfstand; 5.) kulturelle Zugehörigkeit ist kein Prädiktor für Überzeugungen und Verhalten einer Person; und 6.) im Kontext westlicher Gesundheitssysteme müssen Fachpersonen eine Grenze ziehen, welche Risiken sie nicht mehr verantworten können (Brunger 2016). Professionelle Standards der klinischen Ethik enthalten zudem allgemeine Verpflichtungen, die auch für den Umgang mit kulturell-moralischen Problemen relevant sind, z.B. die Fähigkeit, kulturelle Wertunterschiede zu erkennen und konstruktiv in den klinischen Ethik-Supports einzubringen (American Society for Bioethics and Humanities 2011; Akademie für Ethik in der Medizin 2019). MacDuffie et al. (2022) empfehlen obligatorische Schulungen zur Erkennung von (individueller und struktureller) Diskriminierung, Stigmatisierung und Rassismus für klinische Ethiker*innen. Zudem führen die Autor*innen in ihrem Ethik-Supportdienst Ethikberatungen, die die gesundheitliche Chancengleichheit betreffen, immer zusammen mit einer Person der Abteilung Diversity Management durch, dies vor dem Hintergrund, dass fast alle Personen in ihrem Team nicht-hispanisch und weisser Hautfarbe sind und selbst keine Rassismuserfahrungen gemacht hätten. Madison et al. (2022) fordern konsequenterweise eine Diversifizierung von Ethik-Supportteams in den USA.

Kulturell kompetente klinische Ethik

Es gibt überzeugende Gründe dafür, dass klinische Ethiker*innen sich um einen kulturell kompetenten Umgang mit Patient*innen, Angehörigen und medizinischen Fachpersonen bemühen sollten. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung ist nur auf der Basis einer vertrauensvollen Beziehung möglich, die eine grundlegende Wertschätzung der kulturellen Identität des Gegenübers und eine ausreichende sprachliche und kulturelle Verständigung voraussetzt. Klinische Ethiker*innen sollten sich daher für eine niederschwellige Einbeziehung von professionellen Sprach- oder transkulturellen Dolmetscher*innen einsetzen und durch eine sorgfältige Exploration der Überzeugungen und Werthaltungen aller Beteiligten zu einem gemeinsamen Verständnis beitragen. Die Vermittlung von «Kulturwissen» gehört hingegen nicht zur Aufgabe klinischer Ethiker*innen. Bei kulturell-moralischen Problemen ist ein offener Dialog mit allen Beteiligten über die bestehenden Behandlungsoptionen zu führen, eine gemeinsame ethische Abwägung der Gründe für und wider vorzunehmen und die Möglichkeit eines begründeten Kompromisses auszuloten. Dabei sind die kulturellen Wertvorstellungen der Patient*innen im Rahmen des Patientenwillens und der subjektiven Lebensqualität zu respektieren, aber auch die Grenzen dessen, was medizinische Fachpersonen im Rahmen der medizinischen Indikation und ihrer Gewissensfreiheit verantworten können. Insofern unterscheidet sich das Verfahren der ethischen Güterabwägung bei kulturell-moralischen Konflikten nicht grundsätzlich von anderen moralischen Konflikten.
Die Grundhaltung klinischer Ethiker*innen sollte ein Bewusstsein für die Bedeutung kultureller Überzeugungen und Werte für die Gesundheitsversorgung und für die eigene kulturelle Identität, eine Selbstreflexion der eigenen kulturellen Vorannahmen und Verhaltensweisen, Bescheidenheit hinsichtlich dessen, was man über kulturelle Identitäten zu wissen glaubt, eine Haltung des Respekts und der Wertschätzung anderer kultureller Identitäten und ein Engagement für gesundheitliche Chancengleichheit beinhalten.
Auf der strukturellen Ebene einer Ethikberatungsstelle sollten sich klinische Ethiker*innen für die Etablierung von Netzwerken mit Kooperationspartnern bei kulturell-moralischen Problemen sowie für eine angemessene Aus-, Fort- und Weiterbildung in kulturell kompetenter klinischer Ethikberatung einsetzen.
Für die Umsetzung eines kulturell kompetenten klinischen Ethik-Supports kann eine Liste konkreter Dos und Don’ts hilfreich sein (siehe Tabelle 5).

Fazit

Sprache, kulturelle Identität und Wertvorstellungen von Patient*innen, Angehörigen und medizinischen Fachpersonen beeinflussen massgeblich die Patientenversorgung und können im Einzelfall zu kulturell-moralischen Problemen wie Missverständnissen, Bewertungsdifferenzen, Diskriminierungen oder Wertkonflikten führen. Von der klinischen Ethik ist zu erwarten, dass die Mitarbeitenden sensibel, reflektiert, empathisch, respektvoll und fair – eben kulturell kompetent – mit solchen Problemen umgehen können.

Dr. sc. med. Jan Schürmann

Abteilung Klinische Ethik, Universitätsspital Basel (USB)
Spitalstrasse 22
4031 Basel

jan.schuermann@usb.ch

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Palliative Care im Migrationskontext

Palliative Care im Migrationskontext ist primär eine auf den jeweiligen Menschen zugeschnittene diversitätssensible Behandlung und Betreuung. Menschen mit Migrationshintergrund haben bei schwerer fortgeschrittener Erkrankung grundsätzlich ähnliche Bedürfnisse wie der Rest der Bevölkerung: Sie möchten möglichst frei von Schmerzen und anderen belastenden Symptomen sein und wünschen sich im Sterben Beistand durch ihre Angehörigen sowie Unterstützung durch kompetente Gesundheitsfachpersonen, mit denen sie sich wenn immer möglich in ihrer Muttersprache unterhalten können. Eine transkulturelle Kompetenz und Erfahrung in der Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund erleichtert es, Werte, Wünsche, aber auch Sorgen und Ängste der kranken Menschen aus der Migrationsbevölkerung und ihrer Angehörigen zu verstehen und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. Bestimmend hierfür ist oftmals nicht die Ursprungskultur der Betroffenen, sondern ihre Lebens- und Migrationsgeschichte, ihre Bildung, ihr sozioökonomischer Status und ihre Position und Rolle innerhalb des sozialen Umfeldes. Gespräche über die Natur und Prognose einer ernsten Erkrankung sollen immer primär mit der betroffenen Person geführt werden. Nur falls diese Gespräche und die Entscheidungshoheit an ein Familienmitglied delegiert, kommt eine indirekte Kommunikation in Frage, wobei darauf zu achten ist, dass Entscheidungen im Sinne des erkrankten Menschen und nicht der stellvertretend entscheidenden Person gefällt werden.

Einführung

Palliative Care ist gemäss Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patientinnen und Patienten sowie ihren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen. Dies geschieht durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art [1].
Obwohl in den letzten beiden Jahrzehnten immer wieder nachgewiesen werden konnte, dass der Einsatz von Palliative Care zu einer Verringerung der Symptomlast und zu einer Verbesserung der Lebensqualität führt [2,3,4,5], ist bekannt, dass ein Teil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund die Angebote von Palliative Care deutlich seltener nutzt und auch mit der Betreuung am Lebensende unzufriedener ist als derjenige Bevölkerungsanteil ohne Migrationshintergrund [6,7,8]. Die Gründe für die vergleichsweise seltenere Inanspruchnahme der Angebote sind vielfältig. Bemerkenswert aus Sicht der Leistungserbringenden ist sicher die Tatsache, dass die Angebote noch viel zu wenig auf die Migrationspopulation zugeschnitten sind: Im Rahmen einer vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Auftrag gegebenen Studie zeigte sich, dass bei den zehn grössten Anbietern von Spezialisierter Palliative Care in der Schweiz lediglich Informationsmaterial in den Landessprachen zur Verfügung stand, nicht aber in denjenigen der wichtigsten Migrationspopulationen. Nach eigener Einschätzung war nur bei den wenigsten der untersuchten Institutionen genügend transkulturelle Kompetenz bei den Fachpersonen vorhanden [9].
Wenn in der Schweiz der Begriff der Bevölkerung mit Migrationshintergrund verwendet wird, sind damit alle in der Schweiz lebenden Menschen ohne Schweizer Pass gemeint, aber auch Eingebürgerte und Kinder von Menschen, die nicht als Schweizerinnen oder Schweizer geboren wurden. Insgesamt sind dies in der Schweiz 37,2% der Bevölkerung [10]. In Deutschland lag der Bevölkerungsanteil von Menschen mit Migrationshintergrund im Jahr 2022 bei 28,7% [11], in Österreich bei 26,4% [12].
Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist sehr heterogen, namentlich was die Altersstruktur, die Lebensbedingungen im Herkunftsland, die Kultur, die Aufenthaltsdauer und den aufenthaltsrechtlichen Status, den Bildungsstand, den ausgeübten Beruf sowie das Einkommen betrifft [13]. In der Schweiz lebende Menschen aus Nord- und Westeuropa sind im Gegensatz zu den restlichen ausländischen Staatsangehörigen gebildeter sowie einkommensstärker und haben ausgezeichnete Lebensbedingungen [14]. Der Zugang zu den Angeboten von Palliative Care dürfte für diese Bevölkerungsgruppe vergleichbar sein mit demjenigen der seit Jahren ortsansässigen Schweizer Bevölkerung. Man darf auch davon ausgehen, dass diesen Menschen der uns mittlerweile vertraute Ansatz von Palliative Care bekannt ist. Dieser hat sich in Mittel- und Nordeuropa sowie Nordamerika als ein kulturelles Konzept angelsächsisch und säkular geprägter hochentwickelter Wohlstandsgesellschaften entwickelt, ausgerichtet auf individuelle Autonomie und informierte Entscheidungsfindung durch die kranken Menschen selbst [9]. Dieser Fokus auf Selbstbestimmung und eigenständige Entscheidungen ist Menschen aus Südosteuropa und aus den meisten aussereuropäischen Staaten ausser denjenigen aus Nordamerika und Australien mehrheitlich nicht vertraut. Hinzu kommt, dass diese Population von doch deutlich über einer halben Million Menschen gegenüber der einheimischen Schweizerischen Bevölkerung in vielerlei Hinsicht benachteiligt ist: Typisch ist oftmals ein geringer Bildungsstand, aufgrund mangelnder sozialer Beziehungen eine schlechte Integration, finanzielle Schwierigkeiten und oftmals auch ein unbefriedigender Gesundheitszustand [14].
Es ist davon auszugehen, dass sämtliche Menschen mit Migrationshintergrund am Ende des Lebens grundsätzlich ähnliche basale Bedürfnisse haben wie der Rest der Bevölkerung in der gleichen Situation: Auch sie wünschen sich ein schmerz- und symptomarmes Sterben und möchten Zeit mit ihrer Familie oder ihren Freunden verbringen. Daneben kann es aber zusätzliche spezifische Bedürfnisse geben; zu den wichtigsten gehört wohl der Wunsch, mit Gesundheitsfachpersonen in der eigenen Sprache kommunizieren zu können [13].
Daneben werden in der Literatur zahlreiche weitere Punkte aufgeführt, die vor allem für die Migrationsbevölkerung aus Südosteuropa, teilweise auch für diejenige aus Südeuropa und diejenige aus aussereuropäischen Staaten von Relevanz sind (Tabelle 1) [9,13,15].

Kultur und transkulturelle Kompetenz

Nach Cain CL et al. entspricht Kultur einem dynamischen Konzept, das sich beeinflusst durch historische, politische und soziale Gegebenheiten fortlaufend entwickelt und anpasst. Im Rahmen dieses Konzeptes bilden sich Subgruppen von Menschen, die sich einander zugehörig fühlen. Diese Subgruppen schaffen für sich ein System von Überzeugungen, Werten und Lebensstilen, das ihren Mitgliedern ein Gefühl von Sicherheit, Identität und Lebenssinn vermittelt [16].
Angesichts der sich aus dieser Definition ergebenden Komplexität ist es offensichtlich nicht zielführend, wenn in der Medizin und ganz speziell in der Palliative Care Abklärungs- und Behandlungswege sowie Kommunikationsmuster für Menschen zum Beispiel aus der Türkei, aus Ex-Jugoslawien oder aus Subsahara-Afrika entwickelt und angewandt werden. In einer multikulturellen Gesellschaft ist Diversität kaum noch durch das Herkunftsland als geographische oder politische Struktur bestimmt, sondern vielmehr durch Alter, Geschlecht, Bildung, soziokulturelle Biographie, familiären, ökonomischen und rechtlichen Status, sowie durch physische, psychische Fähigkeiten, sexuelle Orientierung und Religion.
Unbestritten ist allerdings die Tatsache, dass in multikulturellen Gesellschaften die soziökonomische Schichtung für die Gesundheitsversorgung von hoher Relevanz ist. Sozioökonomisch schlechter gestellte Subgruppen sind weltweit bezüglich ihrer Gesundheit gegenüber Mitgliedern der in einer Gesellschaft dominierenden Gruppe benachteiligt. Wenn nun im Bereich der Palliative Care für gewisse Subgruppen deren Werte und deren Umgang mit lebensbedrohlichen Erkrankungen untersucht und berücksichtigt werden sollen, muss dies immer auch im Lichte der sozioökonomischen Benachteiligung dieser Subgruppe gegenüber der in einer Gesellschaft dominierenden Population geschehen [17]. Das Erkennen und Verstehen von Werten, Vorstellungen und Bedürfnissen von gewissen Subgruppen ermöglicht letztlich Vertrauen zu schaffen zwischen ernsthaft erkrankten sowie den ihnen nahestehenden Menschen und den Gesundheitsfachpersonen. Sozioökonomisch benachteiligte Gruppen empfinden oftmals ein Misstrauen gegenüber den etablierten Gesundheitsversorgungsstrukturen. Für eine Verbesserung der Palliativbetreuung dieser Menschen muss dieses Misstrauen daher verstanden und angegangen werden [7].
Auch wenn der Umgang mit dem Konzept der Kultur in der Medizin nach wie vor nicht einfach ist, so steht uns mit dem Begriff der transkulturellen Kompetenz seit einigen Jahren ein Werkzeug zur Verfügung, das hilfreich ist, Werte, Wünsche, Bedürfnisse, aber auch Ängste und Sorgen der von uns betreuten Menschen zu verstehen und in die Behandlung miteinzubeziehen [18].
Im Wesentlichen geht es dabei um Selbstreflexion, Hintergrundwissen und Erfahrung sowie narrative Empathie. Unter narrativer Empathie versteht man eine wertschätzende, respektvolle und interessierte Haltung, die kombiniert mit der Selbstreflexion eine Beziehungsgestaltung sowie den Einbezug individueller Lebenswelten ermöglicht. Die Narration spielt nach Domenig D. eine bedeutende Rolle im Bewältigungsprozess einer Krankheit. Erst die Narration stelle den kranken Menschen in den Mittelpunkt, indem die Krankengeschichte zu einer wirklichen Geschichte ausgeweitet werde.

Behandlungspräferenzen

Die Berücksichtigung der individuellen Behandlungspräferenzen am Lebensende gehört zu den Hauptzielen einer guten palliativmedizinischen Versorgung. Man weiss, dass in den Ländern Mittel-und Nordeuropas, aber auch in den USA Mitglieder von Migrationspopulationen resp. ethnische Minoritäten bei weit fortgeschrittener Erkrankung eher intensivere und auf Kuration ausgerichtete Behandlung wünschen, als dies bei der im entsprechenden Land dominanten Bevölkerungsgruppe der Fall ist. Auf der anderen Seite erstellen Mitglieder dieser Minoritäten im Vergleich zur dominanten Bevölkerungsgruppe viel seltener Patientenverfügungen [19].
Die Gründe hierfür sind vielfältig: Sicher spielt Unkenntnis bei den Betroffenen über die Bedeutung einer Patientenverfügung eine Rolle, sowie auch die Tatsache, dass Menschen mit Migrationshintergrund von Gesundheitsfachpersonen aus verschiedenen Gründen gar nicht auf eine gesundheitliche Vorausplanung angesprochen werden. Man weiss aber auch dass viele Menschen aus einem gewissen Misstrauen gegenüber den etablierten Gesundheitsstrukturen ihre Behandlungspräferenzen lieber in mündlicher Form einem Familienmitglied anvertrauen in der Überzeugung, dass diese Person sich für eine den Bedürfnissen der betroffenen Person gerecht werdende Betreuung am Lebensende einsetzen wird [20]. Auch wenn der Stellenwert der individuellen Autonomie bezogen auf Behandlungsentscheidungen für gewisse Mitglieder der Migrationspopulation nicht derselbe ist wie für die ortsansässige Bevölkerung, sollten Gesundheitsfachpersonen im Idealfall frühzeitig, spätestens aber, wenn sich eine Palliativsituation einstellt, mit den Betroffenen über ihre Behandlungspräferenzen sprechen. Dies vermittelt ihnen einen Einblick in die Vorstellungen des kranken Menschen zum Umgang mit schwerer Krankheit, Sterben und Tod und ermöglicht diesem, ganz bestimmte Wünsche zur Sterbebegleitung und zum Umgang mit dem Leichnam nach dem Tod zu äussern. Das Gespräch an sich hat einen eigenständigen Wert für die Betroffenen, aber auch für die ihnen nahestehenden Menschen und die betreuenden Gesundheitsfachpersonen. Auch wenn die erkrankte Person kein eigentliches Dokument verfassen möchte, wird es mehrheitlich möglich sein, in einer Patientenverfügung resp. einem Vorsorgeauftrag eine für medizinische Entscheidungen zuständige Vertretungsperson zu bezeichnen.

Krankheitsverständnis – Sprechen über Sterben und Tod

Nur informierte kranke Menschen sind in der Lage, ihre Behandlungswünsche zu äussern und Entscheidungen zu treffen. Nicht selten werden Gesundheitsfachpersonen von Angehörigen eines schwer kranken Menschen gebeten, diesem die Ernsthaftigkeit der Erkrankung zu verschweigen und überhaupt nicht mit dem kranken Menschen selbst, sondern mit einer ihn vertretenden Person über Krankheit, Verlauf und Prognose zu sprechen. Gerade in eher sozioorientierten Gesellschaften ist es durchaus üblich, dass ein Familienmitglied in der Regel im stillschweigenden Einverständnis mit dem betroffenen schwer kranken Menschen Entscheidungen für ihn fällt, auch wenn dieser hierfür durchaus noch urteilsfähig wäre. Wird ein solcher Wunsch an eine Gesundheitsfachperson herangetragen, gilt es, dem gegenüber Respekt zu zeigen und nachzufragen, weswegen dem kranken Menschen Diagnose und Prognose nicht mitgeteilt werden sollen. Es ist durchaus richtig und angezeigt, dass die Gesundheitsfachperson dann auch ihre eigenen Werte kommuniziert. In jedem Fall soll der kranke Mensch selbst direkt gefragt werden, ob er mit dieser indirekten Kommunikation über ein Familienmitglied einverstanden ist [21]. Sollte der kranke Mensch mit dieser indirekten Kommunikation einverstanden sein, wird die Vertretungsperson informiert, wobei diese im Gespräch befähigt werden muss, Entscheidungen im Sinne des kranken Menschen zu treffen und nicht gemäss ihren eigenen Wertvorstellungen und Bedürfnissen. In diesem Gespräch mit der betroffenen oder der stellvertretend für sie kommunizierenden und entscheidenden Person soll in Erfahrung gebracht werden, was und wieviel der erkrankte Mensch zu seiner Krankheit weiss – zur Ernsthaftigkeit, zum Verlauf und zur Prognose; aber auch wie er die Krankheit interpretiert, weswegen er denkt, krank geworden zu sein und ob er mit seinen Angehörigen über die Krankheit spricht. Entscheidend ist, welche Verläufe in Betracht gezogen werden; macht sich die kranke Person Gedanken, dass sie an dieser Erkrankung sterben könnte und spricht sie dies aktiv an? Wichtig ist, dass in diesem sensiblen Bereich der kranke Mensch resp. die Vertretungsperson nicht mit Botschaften überhäuft wird, die nicht verarbeitet werden können. Mit vorsichtigem Fragen gelingt es, in Erfahrung zu bringen, was der kranke Mensch weiss, was er wissen möchte, aber auch was er nicht wissen möchte. Nicht selten werden Erkrankte oder ihre Angehörigen zum Ausdruck bringen, dass in ihrem Umfeld die Ansicht vorherrscht, Sprechen über das Lebensende könne den Tod beschleunigt herbeiführen; Gesundheitsfachpersonen werden sogar gelegentlich von Angehörigen gebeten, dem kranken Menschen zu kommunizieren, dass er wieder gesund werde, obwohl medizinisch gesehen eine Heilung nicht mehr möglich ist. In einem derartigen Fall darf einerseits keinesfalls Hoffnung auf vollständige Genesung vermittelt werden; andererseits ist es für gewisse Menschen auch nicht richtig, ihnen klar zu kommunizieren, dass keine Hoffnung auf
Heilung mehr besteht. Diesem Umstand tragen die 2006 publizierten und 2013 dem Erwachsenenschutzrecht angepassten medizin-ethischen Richtlinien der SAMW Palliative Care Rechnung, indem dort festgehalten ist: Manchmal möchte sich ein Patient nicht realistisch mit seiner Krankheit auseinandersetzen. Diese Haltung ist zu respektieren. Sie erlaubt dem Kranken, Hoffnungen zu hegen, die ihm helfen können, eine schwierige Situation besser auszuhalten. Hoffnung hat einen eigenständigen Wert, welcher palliative Wirkung entfalten kann. Drücken Angehörige den Wunsch aus, den Kranken vor schlechten Nachrichten zu schonen, oder umgekehrt die Verleugnung der Krankheit durch den Patienten nicht zu berücksichtigen, müssen die Hintergründe für solche Wünsche thematisiert werden. Das Recht des Patienten auf Aufklärung bzw. Nicht-Wissen steht jedoch über den Wünschen der Angehörigen [22].

Umgang mit belastenden Symptomen

Es empfiehlt sich, im Gespräch mit schwer kranken Menschen in Erfahrung zu bringen, was ihre Krankheit für sie bedeutet, wie sie mit belastenden Symptomen wie Schmerzen und Atemnot umgehen und welche Unterstützung sie sich von den Gesundheitsfachpersonen erhoffen. Das Schmerzerleben ist geprägt durch Erziehung, Sozialisation sowie durch individuelle Erfahrungen, physische und psychische Faktoren. Oftmals beeinflusst auch die Religion die Bewertung von Schmerzen, indem diese in gewissen Fällen als Zeichen einer göttlichen Macht interpretiert und als (Glaubens-)Prüfung für die Betroffenen wahrgenommen werden [23]. De Graaf FM et al. haben Menschen mit türkischem und marokkanischem Migrationshintergrund befragt, was für sie eine gute palliative Pflege bedeute: Die Befragten wiesen neben anderen Aspekten darauf hin, dass es für Angehörige ihrer Gemeinschaft ein zentrales Anliegen sei, mit einem klaren Kopf, das heisst nicht sediert, zu sterben, um bewusst von den Angehörigen Abschied nehmen oder auch um unmittelbar nach dem Tod bei klarem Verstand vor Allah treten zu können [24]. Dies ist für Gesundheitsfachpersonen oftmals nicht einfach zu akzeptieren und kann zu einem moralischen Dilemma führen, da sie einerseits Leiden lindern und zugleich den Wünschen des kranken Menschen gerecht werden möchten.

Bedürfnisgerechte Gestaltung des Lebensendes

Wann immer ein Gespräch über den Umgang mit schwerer Krankheit, Sterben und Tod möglich ist, empfiehlt es sich, mit den Betroffenen resp. deren Vertretungsperson zu besprechen, worauf am Lebensende und auch nach dem Eintreten des Todes zu achten ist. Dabei ist zu klären, wer beim Sterben dabei sein soll, ob eine spirituelle Begleitung und Unterstützung gewünscht ist und worauf von Seiten der Gesundheitsfachpersonen zu achten ist. Wichtig ist es dabei, darauf zu achten, dass es nicht zu Situationen kommt, die vom kranken Menschen oder seinen Angehörigen als beschämend wahrgenommen werden. Dies betrifft insbesondere die Pflege vor dem Tod und auch den Umgang mit dem Leichnam nach dem Tod. Für viele Menschen ist es ein zentrales Anliegen, dass sie oder ihre Angehörigen in diesen sensiblen Momenten sicher von einer Person des gleichen Geschlechts und je nachdem auch von jemandem aus dem eigenen Kulturkreis betreut oder nach dem Tod gewaschen und angekleidet werden. Insbesondere ist auch zeitgerecht zu klären, ob der kranke Mensch in seinem Heimatland versterben möchte. Dann sind frühzeitig die entsprechenden Transporte zu organisieren und Dokumente bereitzustellen.

Konkretes Vorgehen im Rahmen der Behandlung von schwer kranken Menschen am Lebensende

Hilfreich für eine den Bedürfnissen des kranken Menschen und seiner Angehörigen gerecht werdende Betreuung von Menschen in Palliativsituationen sind sicher die im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit erstellten Checklisten für eine migrationssensitive Palliative Care: Fragen an den Patienten, die Patientin / Fragen an die Angehörigen [25]; die Checklisten orientieren sich am SENS-Modell zur Problemstrukturierung in der Palliative Care (S=Symptommanagement, E=Entscheidungsfindung, N=Netzwerk-Organisation, S=Support der Angehörigen) [26]. Die entsprechenden Fragen können nach Bedarf situativ mit dem betroffenen Patienten resp. den Angehörigen durchgegangen werden und sollen dabei helfen, die Bedürfnisse des erkrankten Menschen und seiner Angehörigen besser zu verstehen.
Für eine erste Orientierung eignet sich auch das von Cain CL et al. in Anlehnung an Koenig BA und Gates-Williams J sowie an Kagawa-Singer M und Blackhall LJ entwickelte Assessment mit dem Ziel, die individuelle Haltung der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen sowie deren Überzeugungen und ihren Glauben im entsprechenden Umfeld in Erfahrung zu bringen, wobei es auch darum geht, wie Personen Entscheidungen fällen und über welche Ressourcen sie verfügen (Tabelle 2) [16,27,28].

Schlussfolgerungen

Palliative Care im Migrationskontext ist primär eine diversitätssensible Palliative Care. Diversitätssensibel bedeutet, dass Gesundheitsfachpersonen in der Lage sein sollten, sich einen Einblick in die Lebenswelt jedes einzelnen Menschen und der ihm nahestehenden Personen zu gewinnen. Es geht darum, die Lebensgeschichte und das Krankheitsverständnis eines Menschen zu erfassen und zu erkennen, wo dieser Mensch Prioritäten setzt, sei dies im Bereich der autonomen Entscheidungsfindung oder der Lebensqualität und insbesondere natürlich der Linderung von belastenden Symptomen. Die individuellen multidimensionalen Bedürfnisse müssen verstanden werden und genau gleich wie bei der ansässigen Bevölkerung ist zu klären, was und wieviel der erkrankte Mensch im Voraus planen und entscheiden möchte. Besonders wichtig ist die Rolle der Angehörigen und anderer nahestehender Menschen. Hier gilt es zu klären, wer welche Rolle hat, in welchem Mass Angehörige informiert werden oder gar in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden wollen und sollen und schliesslich welche Unterstützung und Begleitung sie benötigen. Dies alles sind Kernelemente einer guten individuellen palliativmedizinischen Versorgung; ob dies nun Menschen aus einer uns fremden Kultur betrifft oder Menschen aus unserem eigenen Kulturkreis spielt letztlich eine untergeordnete Rolle.
Auf systemischer Ebene sind nach wie erhebliche Anstrengungen zu unternehmen, um Menschen mit Migrationshintergrund den Zugang zu den Angeboten von Palliative Care zu erleichtern. Dies beginnt mit der Bereitstellung von Informationsmaterial in ihrer Muttersprache über die Aus- und Weiterbildung sowie Finanzierung von transkulturell kompetenten Dolmetschenden und Gesundheitsfachpersonen bis hin zur Anpassung der Versorgungsstrukturen an die Bedürfnisse dieses ohnehin schon sehr vulnerablen und oftmals strukturell benachteiligten Kollektivs von kranken Menschen und ihren Angehörigen.

PD em Dr. med. Klaus Bally

Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH
Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel, uniham-bb
Kantonsspital Baselland
Rheinstrasse 26
4410 Liestal

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Ethische Orientierung durch interkulturelle Kompetenz in interkulturellen Behandlungssituationen

In vielen europäischen Ländern sind interkulturelle Behandlungssituationen fester Bestandteil des medizinischen Alltags. Dabei entstehen nicht selten unterschiedliche Interesssens- und Entscheidungskonflikte, die auf Kommunikationsbarrieren, Kulturpraxis oder auf moralische Diversität zurückzuführen sind. In diesem Beitrag werden die Charaktereigenschaften der interkulturellen Behandlungssituationen mit ihrer ethischen Relevanz dargestellt. Ebenfalls werden einige Fähigkeiten und Fertigkeiten der interkulturellen Kompetenz beschrieben und deren Funktion anhand eines klinisch-ethischen Falles aufgezeigt. Die Chancen und Grenzen der interkulturellen Kompetenz bei einer ethischen Orientierung sind Gegenstand der Reflektion.

Kulturelle Pluralität ist schon längst konstitutionelle Eigenschaft vieler Länder geworden. Nach aktuellen statistischen Angaben machen Menschen mit Migrationshintergrund in der Schweiz 39,2% (2021) [1], in Deutschland 27,3% (2021) [2] und in Österreich 19% (Anfang 2023) [3], der Bevölkerung aus. Zwar reichen weder diese statistischen Angaben noch die Angaben über Nationalitäten oder religiöse Zugehörigkeiten dieser Menschen aus, um ein klares ‚Kulturbild‘ eines Landes zu machen. Dennoch ist es berechtigt, aufgrund dieser Fakten über Pluralität, Diversität und Heterogenität an kulturellen Wertvorstellungen und Werthaltungen in den jeweiligen Ländern zu sprechen. Diese Wertvorstellungen und -haltungen sind wiederum keine konstanten und abstrakten Einheiten, sondern dienen für die Begründung individueller Entscheidungen und Handlungen. Ebenfalls sind sie Grundlage für die Sinngebung bestimmter Lebensumstände in verschiedenen Lebenswelten, wozu auch Krankheit und Kranksein gehören.

Kranksein als eine menschliche Grenzerfahrung ist eine besondere Daseinsform, in der das kulturell geprägte Wertesystem eines Menschen sich in unterschiedlichen Formen expliziert. Kommen Menschen aus unterschiedlichen Kulturräumen im Rahmen einer Behandlungssituation zusammen, entstehen dadurch nicht selten konfligierende Interessen und Haltungen, welche für die Gesundheitsberufe eine Herausforderung darstellen. Solche Situationen beeinträchtigen wiederum den Zugang und die Inanspruchnahme der Gesundheitsleistungen und führen demzufolge zu einer suboptimalen Gesundheitsversorgung. Somit haben sie gravierende negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden von Patienten sowie auf die professionelle Selbstwahrnehmung von ärztlichem und pflegerischem Personal. In diesem Zusammenhang entstehen in der medizinischen Praxis einer wertpluralen Gesellschaft zahlreiche ethische Fragen mit besonderem Bezug zur Interkulturalität und kulturellen Differenz [4].

In diesem Beitrag werden zunächst die ethisch relevanten Aspekte des interkulturellen Verhältnisses in Behandlungssituationen dargestellt. Danach werden die Entstehungsgründe einiger ethischer Konflikte problematisiert. Im Fokus dieses Beitrags liegen die relevanten Kompetenzen in interkulturellen Behandlungssituationen, die uns bei der Gestaltung einer ethischen Orientierung helfen können. Chancen und Grenzen dieser Kompetenzen sind Gegenstand der ethischen Reflektion.

1. Das Interkulturelle Verhältnis in Behandlungssituationen

Die unterschiedlichen Inhalte der Begriffe ‚der Fremde‘ und ‚der Andere‘ bieten sich für eine Differenzierung zwischen inter- und intrakulturellem Kontext in der Gesundheitsversorgung als ein hilfreicher Ausgangspunkt an. Nach der Differenzierung von Stenger steht hinsichtlich des Anderen ein starker relationaler Aspekt im Vordergrund. Diese starke Relation ergibt sich zwischen dem Eigenen und dem Anderen durch ein gemeinsames Zugehörigkeitsfeld. Die Zuordnung des Anderen lässt sich in einem intrakulturellen Verhältnis durch gemeinsame Felder innerweltlich darstellen [5]. Die geteilte kulturelle und kulturhistorische Zugehörigkeit erstreckt sich „von den alltäglichen Lebens- und Umgangsformen über Sprache und nonverbale Kommunikationsweisen, über Sitten- und Moralvorstellungen bis zu geschichtlichen Herkunftsfragen und andere[m] mehr…“ [5, S. 371]. In einem interkulturellen Verhältnis, in dem es um die Begegnung mit Fremden geht, fehlen dagegen diese Zugehörigkeitsfelder, und es taucht eine fremde Welt auf. Aufgrund des Fehlens der gemeinsamen kulturellen Felder ist auch die Zuordnung des Fremden innerhalb der Innenwelt schwierig. „‚Andersheit‘ konnte sozusagen immer innerhalb der Ordnung Platz nehmen, ‚Fremdheit‘ beansprucht ein ‚Ausserhalb‘. […] Mit dem ‚Fremden‘ wird unweigerlich der Schritt eines Kulturtranszensus getan.“ [5, S. 377]. Die Auffassung des Fremden und die Differenz zwischen ‚Heimwelt‘ und ‚Fremdwelt‘ können immer von der Beobachterperspektive relativ erfahren werden [5]. „Alles Fremde ist dann deshalb fremd, weil es nicht zu diesem Eigenen der Heimwelt gehört.“[5, S. 355]

Ein interkulturelles Verhältnis in Behandlungssituationen entsteht in einem zeitlichen und örtlichen Raum, in dem sich Beteiligte als Angehörige unterschiedlicher Kulturen fühlen und verstehen. Dieses Verhältnis setzt zwar eine Begegnung voraus, in der Arzt oder Pflegekraft und ein von deren Handeln betroffener Patient Angehöriger unterschiedlicher Kulturräume bzw. Heimwelten sind [5]. Dennoch darf die Entstehung des interkulturellen Verhältnisses nicht auf die unterschiedliche Hautfarbe, Nationalität, Religion, Sprache, Tradition oder ethnische Zugehörigkeit reduziert werden. Das heisst, die Interkulturalität darf nicht anhand dieser Eigenschaften von aussen bestimmt oder sogar diktiert werden. Sie muss vielmehr aus dem Wahrnehmen und Verstehen der Beteiligten – also aus dem jeweiligen Kontext – entstehen [6].

Zweifelsohne ist jedes Arzt/Pfleger-Patient-Verhältnis besonders und einmalig. Ob eine Beziehung in der Gesundheitsversorgung intrakulturell oder interkulturell ist, verändert die konstitutionellen Eigenschaften dieses Verhältnisses nicht kategorisch. Dennoch gibt es bestimmte Eigenschaften, die im interkulturellen Verhältnis vorzufinden sind und sich vom intrakulturellen Verhältnis graduell unterscheiden. Beispielsweise kann die fehlende gemeinsame Sprache in der Kommunikation mit ihren verbalen, non-verbalen und paraverbalen Dimensionen die Interaktionen entscheidend prägen. Auch wenn in solchen Situationen das Gesagte übersetzt werden kann, so bleiben immer einige Lücken in der Kommunikation, die vom Wesen her nicht erfüllbar sind. Es bleibt immer eine gewisse ‚Rest-Sprachlosigkeit‘ übrig, die für beide Seiten mit einer Hilflosigkeit verbunden ist.

Kulturell geprägte Sinndeutungen und Sinngebungen zur Entstehung und Heilung von Krankheiten lassen sich nicht immer in die eigene Heimwelt zuordnen. Ebenfalls sind kulturspezifische Wertvorstellungen und Denksysteme und daraus resultierende Werthaltungen für andere schwierig nachvollziehbar. Die Fremdheit der Heimwelten erschwert somit nicht nur die Nachvollziehbarkeit der getroffenen Entscheidungen, sondern auch die rationale Zuordnung der gelieferten Argumente. Diese und andere Diversitäten in interkulturellen Behandlungssituationen führen zu gewissen Herausforderungen, die wir in intrakulturellen Kontexten in derselben Form nicht erleben.

2. Ethische Konfliktfelder in interkulturellen Behandlungssituationen

Die Ursachen für die Entstehung der ethischen Konflikte in interkulturellen Behandlungssituationen sind vielfältig und komplex. Zahlreiche ethische Konflikte lassen sich dabei auf Kommunikationsbarrieren, Kulturpraxis und moralische Diversität zurückführen, die hier grob dargestellt werden. Die Sprache als wichtiges Medium prägt bekanntermassen das Arzt-Patient-Verhältnis vom Erstkontakt bis zum Lebensende. Fehlt dieses Medium oder ist es beeinträchtigt, sind vielfältige Kommunikationslücken in der Beziehung vorprogrammiert [7]. Auch wenn in solchen Situationen durch eine Dolmetschertätigkeit eine notwendige Verständigung geleistet werden kann, so ist sie immer mit einer Beeinträchtigung des authentischen Gesprächs verbunden. Die Verletzung des authentischen Gesprächs sind häufig Hindernisse für eine adäquate Diagnosestellung und somit auch eine bedarfsgerechte Therapie. Denkt man an das psychotherapeutische Gespräch und die ‚sprechende Medizin‘, wo die Sprache nicht nur ein Mittel für die Therapien, sondern die Therapie selbst ist, so fehlt dort das therapeutische Instrument.

Es darf auch nicht übersehen werden, dass die Qualität einer Übersetzungsleistung stets von den Kompetenzen der dolmetschenden Person abhängt. Bekanntermassen ist eine professionelle Dolmetscherleistung mit bürokratischen und finanziellen Hürden verbunden. Umso problematischer ist es dann, wenn die Aussagen des Arztes oder Patienten durch – vor allem – Laien-Dolmetscher absichtlich filtriert, zensiert oder nicht weitergegeben werden [8]. In so einer Situation ist dem Arzt nicht bewusst, dass er seiner ärztlichen Aufklärungspflicht nicht nachgekommen ist. Dieser Zustand ist jedoch nicht nur ethisch problematisch, sondern wirft auch einige juristisch kritische Fragen auf.

Kulturpraxis im weiteren Sinne bleibt für die behandelnden und pflegenden Gesundheitsprofessionen eine Herausforderung, wenn traditionelle und religiöse Praktiken des Patienten für sie nicht in die eigene Heimwelt zuzuordnen sind. Fasten oder religiöse Speisevorschriften sind für manche praktizierende Muslime hin und wieder ein Anlass für die Ablehnung oder Verschiebung bestimmter Therapien. Kulturspezifische Trauerrituale oder hygienische Praktiken überfordern gelegentlich einen getakteten Stationsalltag. Die häufige und mit mehreren Personen durchgeführte Krankenbesuchspraxis führen zur Beeinträchtigung des Wohls anderer Patienten und sind somit ein ‚Störfaktor‘ für den Krankenzimmer-Frieden. Zwar ist nicht jede Kulturpraxis mit der Entstehung eines ethischen Konflikts verbunden. Dennoch sind sie ‚praktische Stolpersteine‘ unterschiedlichen Charakters im klar strukturierten und uniformen Stationsalltag.

Aufgrund der kulturell geprägten Menschenbilder, Wertvorstellungen und -haltungen werden bestimmte medizinische Interventionen als moralisch richtig oder falsch bewertet. Moralische Akzeptanz oder Ablehnung von medizinischen Massnahmen wie Bluttransfusion, postmortale Organspende, Organtransplantation oder Schwangerschaftsabbruch u.a. sind dafür nur einige prominente Beispiele. Moralische Diversität führt nicht nur zur moralisch unterschiedlichen Bewertung bestimmter Massnahmen, sondern ist auch bei der Lösung ethischer Konflikte eine wichtige Herausforderung. Denn auch die Zuschreibung bestimmter Implikationen zu den gültigen ethischen Prinzipien kann kulturbedingt voneinander divergieren [9].

In manchen Kulturräumen ist die Patientenautonomie das wichtigste ethische Prinzip. Sie kann sogar als Totschlagargument dienen, wenn man sie in der Form von ‚Autonomie-Fetischismus‘ vertritt. Die wichtige Rolle und bedeutsame Funktion der Familienmitglieder in diversen Gemeinschaften haben zum Begriff der Familienautonomie in medizinischen Entscheidungsprozessen geführt. Familienautonomie konkretisiert sich wiederum im Umgang mit einer infausten Prognose und bei der Weitergabe einer Krebsdiagnose, wobei die Familienmitglieder dann unmittelbar am Entscheidungsprozess teilnehmen wollen und ggf. teilnehmen. Berücksichtigt man das häufige Befürworten der maximalen Therapie am Lebensende in manchen Kulturräumen, so stellt man fest, dass die die Lebensqualität bestimmenden Kriterien nicht dieselbe Priorität haben [10]. Somit trat das Prinzip ‚in dubio pro vita‘ auch in medizinisch aussichtslosen Situationen in den Vordergrund.

Dass die Hierarchie unter den ethischen Prinzipien auch kulturbedingt voneinander divergieren kann, wird in den medizinethischen Fachdebatten bis jetzt nicht gebührend berücksichtigt. Beispielsweise werden die ethischen Prinzipien im ‚Principlism‘ als prima facie Prinzipien verstanden und ihre normative Bedeutung fallbedingt bestimmt. Dabei geht es darum hypothetisch zu bestimmen, ob in einem ethischen Konflikt zum Beispiel die Patientenautonomie oder die Fürsorge ein höheres Gewicht hat. Es ist jedoch unverkennbar, dass der Patientenautonomie in der westlichen Welt per se eine höhere Bedeutung als die anderen Prinzipien zukommt. Denselben Stellenwert hat die Patientenautonomie nicht unbedingt in jedem Kulturraum. Diese ‚Hierarchie-Diversität‘ unter den ethischen Prinzipien ist m.E. eine der wichtigsten Herausforderungen bei der Lösung interkultureller ethischer Konflikte, die jedoch häufig in der Praxis übersehen werden. Diese Diversität umfasst nicht nur ethische Prinzipien, sondern auch weitere normative Begriffe wie etwa mutmasslicher Patientenwille oder das beste Interesse des Kindes.

FALL-1¹

Das sechs Tage alte Kind türkisch-muslimischer Eltern leidet an einem Oto-palato-digitalen Syndrom (OPD) Typ II und somit an einer sehr seltenen, genetisch bedingten Erkrankung mit schweren Organanomalien. Das Kind ist ohne intensive maschinelle Unterstützung und intensivmedizinische Behandlung nicht lebensfähig. Auch mit intensivmedizinischer Therapie könnte es nur für sehr kurze Zeit (wahrscheinlich für ein paar Tage oder eine Woche) am Leben erhalten werden. Die Eltern sind der deutschen Sprache nicht mächtig. Deswegen findet ein Gespräch mit einer Dolmetscherin statt, die zum Bekanntenkreis der Eltern gehört. Da das Kind keine Überlebenschance und Heilungsoption hat, schlägt das medizinische Team eine Therapiezieländerung vor. Danach sollten kurative Therapien begrenzt werden und ein Übergang zur palliativen Therapie stattfinden. Aufgrund der medizinischen Aussichtslosigkeit sollte der leidvolle Zustand des Kindes nicht unnötig verlängert werden. Die Eltern wünschen sich jedoch eine maximale Therapie und die Fortführung aller lebensverlängernden Massnahmen. Für sie ist es sehr wertvoll, wenn das Kind auch für kurze Zeit am Leben gehalten werden könnte. Sie betonen, dass diese Entscheidung mit ihrem islamischen Glauben zusammenhängt. Eine andere Entscheidung würden sie im Jenseits vor Gott nicht verantworten können. Es stellte sich auch heraus, dass die dolmetschende Person die Eltern in ihrem Entscheidungsprozess beeinflusst hat und bei der Entstehung dieser Entscheidung eine Rolle gespielt hat.

3. Kommunikationsbarrieren und kultursensible Kommunikation

Im obigen Fall sind Kommunikationsbarrieren mit unterschiedlicher Qualität und ethischer Relevanz vorhanden. Hier wird die Verständigung mit Hilfe einer Dolmetscherin aus dem sozialen Kreis der Eltern geleistet. Um diesen Konflikt zu lösen, findet eine Besprechung mit den Eltern statt, in der es um ‚Leben und Tod‘ geht. In so einem entscheidenden Gespräch sind Wortwahl, non-verbale und paraverbale Kommunikationseinheiten von zentraler Bedeutung. Nicht nur wie man das Gesagte übersetzt, sondern wie man es versteht, ist entscheidend. Hier kann im Sinne von des ‚Sender-Empfänger-Modells‘ in den Kommunikationswissenschaften sogar von zwei Sendern gesprochen werden [12].

In diesem Fall formuliert die behandelnde Ärztin den folgenden Satz, um den medizinisch aussichtslosen Zustand des Kindes zum Ausdruck zu bringen: ‚Wenn die Natur so will, dann müssen wir das akzeptieren‘. Hier ist ein medizinisch aussichtsloser Zustand gemeint, in dem wir Menschen medizintechnisch nichts tun können. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Situation zu akzeptieren. Eine wortwörtliche Übersetzung desselben Satzes würde aber in der türkischen Sprache bedeuten: ‚Wenn die Bäume und Steine so wollen, dann sollen wir das akzeptieren‘. Da es sich hier um eine religiöse muslimische Familie handelt, ist es unklar, ob mit diesem Satz die Botschaft der Ärztin verstanden werden kann. Vielmehr ist es hier angebracht einen Satz zu formulieren, der in die Heimwelt der Eltern dieselbe Botschaft bringt. Hier könnte beispielsweise der folgende Satz formuliert werden: ‚Wenn Allah (Gott) so will, dann müssen wir das akzeptieren‘. Nicht die Macht der Natur, also Bäume und Steine bestimmen diese aussichtslose Situation, sondern der Allmächtige und alles schaffende Gott. In so einer schicksalhaften Situation stösst das Behandlungsteam an seine Grenze des Machbaren. Deshalb sollte diese Machtlosigkeit und Hilflosigkeit akzeptiert werden.

Eine weitere Problematik in diesem Fall war die fehlende Neutralität der Dolmetscherin, die erst im Nachhinein festgestellt werden konnte. Sie hat die Eltern in ihrem Entscheidungsprozess eindeutig beeinflusst. Ebenfalls hat sie mit ihrem theologischen Wissen den Eltern die Informationen vermittelt, die in der Begründung benutzt wurden. Abgesehen von dieser Einflussnahme ist es auch wichtig zu wissen, inwiefern ihre fehlende Neutralität als eine wichtige Kompetenz des Dolmetschers die Kommunikation beeinträchtigt hat. Wahrscheinlich spielte sie sogar eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Konflikts.

Eine interkulturelle Kommunikation im Rahmen eines ethisch so komplexen Falls erfordert, wie im obigen Beispiel deutlich geworden ist, eine kultursensible Gestaltung eines Gesprächs. Kultursensible Kommunikation als eine wichtige Fähigkeit der interkulturellen Kompetenz [13] beinhaltet über die sachlich richtige Übersetzung des Gesagten hinaus auch die Überlegung über die möglichen Deutungen der gesprochenen Sätze in der Heimwelt des anderen. Deswegen ist es wichtig, sich in komplexen Fällen auf eine sinngemässe Übersetzung durch den Dolmetscher zu konzentrieren. Diese Fähigkeit erfordert jedoch, dass die Dolmetscher nicht nur bilingual, sondern auch bikulturell sind. [14] Diese Bikulturalität dürfte bei der Übersetzung gewisse Momente schaffen, in denen man über die sinngemässe Vermittlung der Botschaft nachdenken und reflektieren kann.

4. Kulturpraxis und Kulturwissen

Sicherlich ist für den obigen Fall die Frage berechtigt, ob die Entscheidung der Eltern mit kulturell-religiösen Argumenten begründet werden kann. Im Rahmen der klinisch-ethischen Beratung konnte herausgefunden werden, dass ihr Wunsch auf eine Glaubensüberzeugung zurückzuführen ist. Das Jüngste Gericht hat eine zentrale Bedeutung in der islamischen Eschatologie und Moral. Muslime legen Rechenschaft über ihre Handlungen vor Gott ab, welche sowohl Belohnung als auch Strafe als Konsequenz haben kann. Deswegen sind Muslime angehalten im diesseitigen Leben im Umgang mit anderen Menschen moralisch richtig zu handeln. Für die Eltern führt die Akzeptanz einer Therapiereduktion zum früheren Tod ihres Kindes und ist moralisch nicht vertretbar.

Diese spezielle und dem Behandlungsteam fremde religiöse Begründung erfordert Kenntnisse über die andere Religion. Erst durch dieses Kulturwissen können die Behandelnden die Entscheidung der Eltern nachvollziehen. In einer ethischen Konfliktsituation müssen zwar die Konfliktparteien nicht von den jeweils anderen Argumenten überzeugt sein, dennoch müssen die Gründe offengelegt werden. Eine sachliche Klärung der Positionen ist ein unvermeidbarer Schritt für einen eventuellen Konsens.

Eine weitere wichtige Frage in unserem Fall lautet, ob die Forderung der Eltern nach maximaler Therapie in deren Glaubenssystem wirklich eine moralisch falsche Entscheidung ist. Die Beantwortung dieser Frage erfordert zusätzliches religiöses Wissen, welches bei der Ärztin nicht vorausgesetzt werden kann. Hier wären sowohl für die Eltern als auch für das Behandlungsteam weitere Informationen hilfreich. Hier wäre tatsächlich eine kontextspezifische theologische Aufklärung von zentraler Bedeutung, die von einem kundigen muslimischen Theologen geleistet werden könnte. Falls hier aufgrund der möglichen theologischen religiösen Schlussfolgerungen auch eine Therapiezieländerung vertreten werden kann, die nicht moralisch verwerflich ist, so könnte diese Wissensvermittlung eine Schlüsselrolle bei der Lösung des Konflikts erlangen.

Kulturwissen beinhaltet Kenntnisse über Praktiken, moralische Haltungen und Einstellungsformen von Menschen aus anderen Kulturräumen in ihrem Umgang mit Krankheit, Gesundheit und Lebensende [13]. In der obigen Analyse ist Kulturwissen bei der ethischen Konfliktlösung unverzichtbar. Bei der Nutzung solcher Kulturinformationen im Konfliktlösungsprozess ist jedoch Vorsicht geboten. Denn zunächst sollten die Bedeutung und der Stellenwert der Glaubensüberzeugungen kontextbezogen konkretisiert werden. In unserem Fall bedeutet dies, dass überprüft werden muss, ob sich die Eltern diese Glaubensüberzeugungen und daraus ableitbare Haltungen aneignen.

5. Moralische Diversität und Toleranz

In einer grossen Studie wurden Kinderärzte in den Niederlanden nach Konflikten in Entscheidungsprozessen am Lebensende gefragt [15]. Dabei wurden die Eigenschaften und Entstehungsbedingungen der Entscheidungskonflikte innerhalb des Behandlungsteams und zwischen dem Behandlungsteam und den Eltern der schwer kranken Kinder untersucht. Ziel war es u.a., die Rahmenbedingungen für einen Konsens und Ursachen für Meinungsunterschiede herauszufinden. 20% von 116 befragten Ärzten haben berichtet, dass sie einen Interessens- und Entscheidungskonflikt zwischen ihrem Behandlungsteam und den Eltern des kranken Kindes erlebt haben. Fast in allen Fällen (22 von 23 Fällen ) forderten die Eltern eine maximale Therapie bzw. Fortsetzung der aktuellen medizinischen Behandlungen, obwohl diese Behandlungsstrategie vom Behandlungsteam nicht priorisiert wurde. Es wurde festgestellt, dass die muslimischen Eltern signifikant öfter in diesen Konflikten involviert waren (58%) als die nicht muslimischen Eltern (12%) [15]. Leider ist es aus den Studienergebnissen nicht möglich, sachliche und kulturelle Gründe für diesen Unterschied abzuleiten.

Zu den glaubensbedingten Einstellungen und der kulturellen Praxis am Lebensende liefert eine andere Studie mehr Informationen. In Oman wurden 659 Fälle auf der neonatologischen Intensivstation in einem Jahr hinsichtlich der Entscheidungskriterien evaluiert und die Haltung der Eltern im Entscheidungsprozess untersucht [16]. Die Autoren betonen, dass bei der Entscheidungsfindung über Reanimationsmassnahmen die Eltern des schwer kranken Kindes kaum alleine entschieden, sondern in der Regel fast immer durch weitere Verwandte unterstützt wurden. Sie unterstreichen zugleich, dass es sehr oft eine ablehnende Haltung zu einem Therapieabbruch (89%) beispielsweise durch Ausschaltung des Respirators gibt. Diese Einstellung wird mit einer spezifischen Interpretation eines muslimischen Glaubenssatzes in Verbindung gebracht: „(…) no situation is considered hopeless for Muslim believers who believe in the omnipotence of an Almighty God (…) All should therefore be done to support the infant and the rest left to God.‘‘ [16, S. F117]

Die oben beschriebenen Studien belegen auch, dass die in unserem Fall vorhandene Kulturpraxis und moralische Diversität auch in anderen Ländern vorhanden ist. Für die Bestimmung einer ethisch angemessenen Umgangsform mit dem Konflikt stellt sich jedoch im Fall die Frage nach der normativen Bedeutung und dem ethischen Stellenwert der kulturell religiösen Wertvorstellungen und den damit verbundenen Entscheidungen der Eltern in einem interkulturellen Kontext. Wenn die kulturellen Wertvorstellungen der Eltern bei der Behandlung eines Kindes beachtet werden sollen – wie sollen diese berücksichtigt werden, und von wem sollen Implikationen dieser Werthaltungen im Entscheidungsprozess bestimmt werden?

Sowohl eine gelungene Kommunikation als auch das erforderliche Kulturwissen sind für die sachliche Klärung des interkulturellen Konflikts unvermeidbar. Diese sind für eine Konfliktlösung notwendig, aber nicht hinreichend. Es müssen die in der Argumentation liegenden ethischen Güter gegeneinander abgewogen und dadurch eine ethisch legitimierbare Handlungsoption präferiert werden. Die durch den Einsatz einer maximalen Therapie zu erreichende Lebensverlängerung für eine begrenzte Zeit und die durch die Therapiezieländerung bzw. Therapiebegrenzung erzielbare Leidensverkürzung stehen im vorliegenden Fall im Konflikt. Hier stellt sich die Frage, inwiefern dieser Konflikt mit einer ethischen Orientierung auf das beste im Interesse des Kindes gelöst wird?

Es ist offensichtlich, dass die Konfliktparteien den moralischen Begriffen Leidensverkürzung und Lebensverlängerung nicht denselben Stellenwert zugemessen haben. Oben wurden auch die theologischen bzw. kulturellen Gründe für diese unterschiedliche Wertzuschreibung genannt. Hier ist die Frage, ob diese moralische Diversität aufgrund der Toleranz und Anerkennung akzeptiert und die daraus resultierende Handlung durchgeführt werden soll. Ebenfalls kann hier über die fehlende medizinische Indikation und weitere Gerechtigkeitsfragen diskutiert werden. Inwiefern kann der Therapieabbruch mit der Begründung der medizinischen Aussichtslosigkeit und fehlenden medizinischen Indikation als Zeichen der Toleranz verschoben werden? Wo sind die klaren Grenzen? Welche normative Bedeutung hat die kulturell bedingte moralische Diversität bei der Bestimmung dieser Grenzen?

FAZIT

In diesem Beitrag wurden die Charakteristika des interkulturellen Verhältnisses in Behandlungssituationen in Bezug auf die ethische Relevanz beschrieben. Es wurden auch die Bedeutung und Rolle von Kommunikationsbarrieren, Kulturpraxis und moralische Diversität bei der Entstehung von interkulturellen Konflikten aufgezeigt. Kultursensible Kommunikation, Kulturwissen und Toleranz als einige Fähigkeiten innerhalb der interkulturellen Kompetenz bieten sich sowohl für die Prävention als auch für die Lösung solcher Konflikte an. Auch wenn die interkulturelle Kompetenz nicht einen ethischen Ansatz ersetzen kann, so ist sie für eine ethische Orientierung und für die kulturelle Öffnung des Gesundheitssystems in wertpluralen Gesellschaften unvermeidbar. Deshalb sollte ihre Vermittlung in wertpluralen Gesellschaften ein fester Bestandteil der Aus-, Weiter- und Fortbildung in den Gesundheitsberufen sein.

Prof. Dr. (TR) Dr. phil. et med habil. Ilhan Ilkilic M.A.

Department of History of Medicine and Ethics
Istanbul University – Faculty of Medicine
English Program Campus
34093 Istanbul Fatih Capa, Turkey

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Interkulturelle Kompetenz: Eine Einführung

Moderne Gesellschaften sind multikulturell und in mannigfaltiger Weise divers. Neben zahlreichen anderen Facetten zeichnen sie sich durch eine sprachliche und kulturelle Vielfalt aus. In der Gesundheitsversorgung gehören Begegnungen, Austausch und Verständigung zwischen Menschen unterschiedlichen kulturellen Hintergrunds zum Alltag und erfordern interkulturelle Kompetenz. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, diese Fähigkeit sowie wichtige Begrifflichkeiten rund um die Interkulturalität genauer auszuleuchten.

Einleitung

Personen, die in der Gesundheitsversorgung tätig sind, sollten gegenüber der ethnischen Herkunft, Nationalität, Weltanschauung, dem sozialen und ökonomischen Status oder der kulturellen Prägung von Patientinnen und Patienten respektvoll sein. Das ist unbestritten und ist in vielen (ethischen) Richtlinien – wie z. B. dem ICN-Ethikkodex für Pflegefachpersonen oder dem ärztlichen Gelöbnis des Weltärztebunds in der Deklaration von Genf – festgehalten [1, 2]. Dass es für eine respektvolle Begegnung mit der einzelnen Patientin, dem einzelnen Patienten entsprechende Fähigkeiten und Wissen, d. h. Kompetenzen braucht, steht ebenfalls nicht in Frage.

Diese sogenannten «kulturellen Kompetenzen» zählen seit geraumer Zeit zum notwendigen Repertoire von Fachpersonen, die in der Gesundheitsversorgung tätig sind. Was aber ist genau darunter zu verstehen? Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die Begriffe «Kultur», «interkulturell», «multikulturell», «transkulturell», «kulturelle und interkulturelle Kompetenz» sowie «Diversität» und skizziert einige Problemfelder bei der Interpretation und Verwendung des Kulturbegriffs in Medizin und Pflege.

Kultur – ein komplexer Begriff

In ihrem Positionspapier Interkulturalität in der medizinischen Praxis problematisiert die Deutsche Akademie für Ethik in der Medizin e.V. (AEM), dass die Begriffe «Kultur» und «Interkulturalität» «keineswegs selbsterklärend, sondern mit vielfältigen Vorannahmen und oft nicht reflektierten Werturteilen verbunden [seien]. Ein unbedarfter Gebrauch – insbesondere des Begriffs Kultur – fördert Missverständnisse und Stereotypisierungen» [3 S. 66], denn Kultur ist ein Begriff, der in der Gesellschaft, im alltäglichen Sprachgebrauch ganz unterschiedlich verwendet wird. Auch verschiedene geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen (wie z. B. die Anthropologie, Soziologie oder die Religions- und Erziehungswissenschaften) verwenden keinen einheitlichen Kulturbegriff. Unter Bezugnahme auf den Psychologen Alexander Thomas, beschreiben Handschuck und Schröer Kultur als «ein System von Konzepten, Überzeugungen, Einstellungen und Werteorientierungen, mit dem gesellschaftliche Gruppen auf strukturell bedingte Anforderungen reagieren. Dieses gemeinsame Repertoire an Symbolbedeutungen, Kommunikations- und Repräsentationsmitteln ist dynamisch in seiner Anpassung an gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Es ist damit ein dem Wandel unterliegendes Orientierungssystem, das die Wahrnehmung, die Werte, das Denken und Handeln von Menschen in sozialen, politischen und ökonomischen Kontexten definiert. […] Kulturelle Identitäten, sowohl personale wie kollektive, haben einen relativ stabilen Kern, variieren aber in Abhängigkeit von Kontexten. Was für übereinstimmend gehalten wird, muss in den Kontexten erst ausgehandelt werden» [4 S. 173].

Bildhaft kann Kultur auch als Zwiebel [5] oder als Eisberg [6] dargestellt werden. Beide Bilder zeigen, dass Kultur aus sichtbaren Aspekten (z. B. Sprache, Kleidung, Bräuche und Rituale, Gesten, Essgewohnheiten, Kunst, gesellschaftliche Verhaltensvorbilder u.v.m.), derer wir uns bewusst sind, sowie aus nicht-sichtbaren Aspekten (z. B. Weltanschauung, Überzeugungen, Vorstellungen von Respekt und Gerechtigkeit oder anderen Werten etc.) besteht, derer wir uns nicht (oder nicht immer) bewusst sind. Sowohl die Metapher der Zwiebel als auch die des Eisbergs sollen verdeutlichen, dass der Teil der Kultur, der sichtbar ist, oftmals wesentlich kleiner ist als der unsichtbare Teil. Selbstredend sind für ein vertieftes Verständnis einer Kultur neben den sichtbaren auch die nicht-sichtbaren Aspekte von Kultur unabdingbar.

Wenn man von Kultur spricht, ist es wichtig, einen essentialistischen von einem konstruktivistischen Kulturbegriff zu unterscheiden. Ein essentialistisches Verständnis von Kultur ist vergleichsweise verbreitet und begreift Kultur als «objektiv bestimmbare Gesamtheit von Denk- und Verhaltensmustern, Wertepräferenzen, moralischen Orientierungen und sozialen Normen, die einen Menschen als Mitglied einer kulturellen Gruppe dauerhaft ‘prägen’. Identität, geographischer Raum, Kultur und Sprache werden aus dieser Sichtweise heraus als weitgehend deckungsgleiche Variablen verstanden» [3 S. 67]. Es ist offensichtlich, dass ein solches Verständnis unterschiedliche Kulturen als voneinander abgrenzbar, als spezifisch und unverwechselbar versteht. Peters et al. zufolge wird Kultur «dabei als statische, unveränderliche Grösse missverstanden, der – unabhängig von z. B. sozialen oder biographischen Differenzierungen – das Denken, Handeln und Fühlen der Mitglieder einer ethnischen Gruppe kausal zugeordnet werden könne. Kulturelle Grenzen und ethnische Identität werden als stabile und vom historischen sowie sozialen Kontext unabhängig gegebene Grössen angenommen» [3 S. 67]. Dass ein solches Verständnis von Kultur in vielerlei Hinsicht problematisch sein kann, indem es Stereotypsierungen und Vorurteile gegenüber Mitgliedern bestimmter sozialer Gruppen begünstigt und verfestigt, versteht sich von selbst. Darüber hinaus ist es, besonders in Einwanderungsgesellschaften wie der Schweiz oder Deutschland, wo «transnationale Lebenswelten und Patchwork-Identitäten mit multiplen kulturellen Orientierungen […] zum Alltag gehören», wenig brauchbar [3 S. 67].

Ein konstruktivistisches Verständnis sieht Kultur hingegen nicht als etwas Festes, Statisches oder Abgeschlossenes, sondern als ein Konstrukt, das immer neu gebildet wird und einem ständigen Veränderungsprozess unterliegt. In einer solchen dynamischen Konzeption von Kultur handeln die Mitglieder einer Gesellschaft (oder einer Gruppe) ihre gesellschaftliche Wirklichkeit miteinander aus, anerkennen individuelle Lebenswelten und Differenzen, bestätigen Gemeinsames und sind offen für Veränderungen. Im Gegensatz zum essentialistischen Verständnis erreicht dieser Ansatz, «den Blick stärker auf das Verbindende statt auf das Fremde und Trennende zu legen und berücksichtigt darüber hinaus Phänomene wie die Heterogenität kulturell definierter Gruppen und erlaubt [beispielsweise im Kontext Gesundheitsversorgung] einen weniger voreingenommenen Zugang zum Patienten, der nicht als ‘typischer Vertreter’ einer Kultur wahrgenommen wird, sondern als Individuum mit eigenen Wertvorstellungen und einer differenzierten (Migrations-)Biographie» [3 S. 68].

Weder Kulturen noch die Wahrnehmung kultureller Identität sind somit statisch oder homogen, sondern heterogen und im Verlauf der Geschichte sowie der eigenen Lebensbiografie veränderbar. Kultur ist – auch wenn diese Vereinfachung naheliegen mag – nicht gleichzusetzen mit der Zugehörigkeit zu einer Nation oder einer bestimmten Ethnie. Individuen können sich mehreren Kulturen oder sogenannten Subkulturen (wie z. B. sozioökonomischer Status oder soziale Schicht, Geschlecht, Jugendkultur u.v.m.) zugehörig fühlen, sodass weder eine Kultur die Identität einer Person dominiert noch eine kulturelle Zugehörigkeit überhaupt eindeutig bestimmbar ist. In modernen Gesellschaften, die sich durch Individualisierung, Pluralisierung und einer Vielfalt von Lebensformen auszeichnen, hat sich der Umgang mit kultureller Vielfalt deshalb zu einer wichtigen Kompetenz entwickelt. Sie ist für jedes einzelne Mitglied einer Gesellschaft aber auch für Angehörige verschiedener Berufsgruppen von Bedeutung. Bevor auf die Konzepte der kulturellen und interkulturellen Kompetenz genauer eingegangen wird, sollen die Begriffe interkulturell, multikulturell, transkulturell und divers beleuchtet werden.

Begriffsbestimmung – interkulturell, multikulturell, transkulturell und divers

Rund um die Auseinandersetzung mit dem Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt wurden neben dem Begriff der interkulturellen Kompetenz alternative Zugänge wie Multikulturalität, Transkulturalität oder Diversität formuliert. Im Folgenden werden die Unterschiede zwischen diesen Begriffen skizziert. Anschliessend wird vertiefter auf die interkulturelle Kompetenz eingegangen, weil sich der Begriff «interkulturell» in zahlreichen Handlungsfeldern durchgesetzt hat.

Der Begriff «interkulturell» (lat. inter = zwischen) beinhaltet die Vorstellung von Begegnung, Austausch und Verständigung zwischen Personen und Gruppen unterschiedlicher Kulturen. Gemäss den beiden Sozialarbeitswissenschaftlern Thomas Kunz und Ria Puhl hebt interkulturell «Interdependenz und Interaktion sowie Veränderungsprozesse hervor und bezeichnet insoweit die in interkulturellen Prozessen enthaltene Dynamik. […] Das Attribut multikulturell hat weniger eine analytische Funktion, sondern vorwiegend eine deskriptive Bedeutung» und beschreibt den «Zustand eines vielkulturellen Zusammenlebens unterschiedlicher Individuen, Gruppen [und] Lebensweisen» [7 S. 46/47].

Der Begriff «transkulturell» (lat. trans = über, durch, jenseits) grenzt sich insofern von den Begriffen «interkulturell» und «multikulturell» ab, als dass er beiden «ein statisches Kulturverständnis unterstellt, das von unveränderbaren, klar unterschiedenen, in sich homogenen Kulturen ausgehe». «Transkulturell» bedeutet aber, dass jegliche Form von Grenzziehung aufgehoben werden soll und etwas Neues «jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur» entsteht [7 S. 48].

«Diversität» ist ein soziologisches Konstrukt, das individuelle, soziale und strukturell bedingte Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Menschen ins Zentrum stellt [8]. Es handelt sich dabei um Eigenschaften wie Geschlecht, Alter, Hautfarbe, ethnische Herkunft, Weltanschauung, sexuelle Orientierung, Behinderung u.v.m. Mit der Anerkennung von Diversität sollen Unterschiede zwischen Individuen oder Gruppen ohne Wertung und in einer Gesellschaft als selbstverständlich anerkannt werden.

Kulturelle und interkulturelle Kompetenz

Sowohl für die kulturelle als auch die interkulturelle Kompetenz findet man zahlreiche Definitionen und Interpretationen. Während kulturelle Kompetenz sich auf das Verhalten innerhalb einer Kultur bezieht, entfaltet sich interkulturelle Kompetenz beim Aufeinandertreffen von zwei oder mehreren Kulturen. Zentrale Eigenschaften kultureller Kompetenz sind in der Definition von Sabine Handschuck und Hubertus Schröer vom Institut für Interkulturelle Qualitätsentwicklung in München enthalten. Diesen Autoren zufolge bedeutet kulturelle Kompetenz, Kenntnis zu haben über ein «gemeinsamen System von Symbolen, Bedeutungen, Normen und Regeln, die das Verhalten bestimmen». Dabei muss dieses Wissen «nicht reflektiert vorhanden sein, sondern gibt sich durch Verhalten und Interpretation zu erkennen. Man weiss sozusagen, wie man sich in verschiedenen Situationen ‘angemessen’ verhält und bewertet grösstenteils unbewusst auch das Verhalten von anderen. Kulturelle Kompetenz ist nicht ein für allemal gegeben, sondern sie ist ein bewegliches System» [4 S. 173].

Wie die kulturelle ist interkulturelle Kompetenz ebenfalls kein einheitlich verwendeter Begriff. Für die Erziehungswissenschaftlerin und renommierte Expertin für interkulturelle Kompetenz Darla Deardorff geht es bei der interkulturellen Kompetenz um Kommunikation und Verhaltensweisen, die in interkulturellen Interaktionen wirksam und angemessen sind [9]. Angewendet werden interkulturelle Kompetenzen mit der Absicht, zwischenmenschliche Interaktionen über Unterschiede hinweg, sei es innerhalb einer Gesellschaft (z. B. Unterschiede aufgrund von Alter, Geschlecht, Religion, sozio-ökonomischem Status, politischer Zugehörigkeit, ethnischer Herkunft usw.) oder über Grenzen hinweg zu verbessern [10].

Die UNESCO-Veröffentlichung Intercultural Competencies: Conceptual and Operational Framework untersuchte die Themen, die in der Literatur zu interkulturellen Kompetenzen aus verschiedenen Regionen der Welt deutlich wurden. Auf dieser Grundlage entstand ein weit gefasstes Verständnis interkultureller Kompetenzen. Es vermittelt relevantes Wissen über bestimmte Kulturen sowie ein allgemeines Wissen über spezifische Arten von Problemen, die entstehen, wenn Angehörige verschiedener Kulturen miteinander interagieren [11]. Darüber hinaus umfasst interkulturelle Kompetenz eine aufgeschlossene Haltung, die die Aufnahme und Aufrechterhaltung von Kontakten mit unterschiedlichen Personen fördert. Schliesslich bedeutet interkulturelle Kompetenz, Fähigkeiten zu besitzen, die erforderlich sind, um sowohl das Wissen als auch die eigene Einstellung in der Interaktion mit Menschen aus anderen Kulturen zu nutzen.

Wesentliche Merkmale interkultureller Kompetenz finden sich in der Definition des Sozialpsychologen Alexander Thomas, für den sich interkulturelle Kompetenz in der Fähigkeit zeigt, «kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten und einer Entwicklung hin zu synergieträchtigen Formen der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens und handlungswirksamer Orientierungsmuster in Bezug auf Weltinterpretation und Weltgestaltung» [12 S. 163].
Auf die Alltagspraxis bezogen bedeutet interkulturelle Kompetenz für Handschuck und Schöer «als Erstes die Fähigkeit, das eigene personale wie kollektive Orientierungssystem zu reflektieren und das eigene Regelsystem als eine Möglichkeit unter anderen wahrzunehmen. Dies ist nur auf der Basis von Anerkennung unterschiedlicher Regelsysteme möglich. […] Die Reflexion der eigenen kulturellen Identität festigt die Eigenidentität. Interkulturelle Kompetenz beinhaltet die Fähigkeit ohne ‘Ich-Verlustängste’ Unterschiede wahrzunehmen, auszuhalten, zu benennen und zu respektieren» [13 S. 93].

Was lässt sich aus diesen Begriffsbestimmungen nun für Gesundheitsfachpersonen ableiten? Welche konkreten Kom­pe­tenzen sind in der Gesundheitsversorgung gefragt?

Interkulturelle Kompetenz in der Gesundheitsversorgung

In der Gesundheitsversorgung tätige Fachpersonen treffen im klinischen Alltag nicht nur auf Patientinnen und Patienten, sondern arbeiten auch mit Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher kultureller Identitäten zusammen. Interkulturelle Behandlungssituationen und ethische Konfliktmomente sind hier an der Tagesordnung. Nicht selten kommt es dabei zu gruppenbezogenen, stereotypen Zuschreibungen, indem man beispielsweise vom ‘muslimischen Patienten’, der ‘indischen Patientin’, dem ‘deutschen Arzt’ oder der ‘albanischen Krankenschwester’ spricht und mit diesen Zuschreibungen bestimmte Gruppeneigenschaften und Wertvorstellungen verknüpft. Diese müssen zwar nicht notwendigerweise problematisch sein, aber sie bedürfen unbedingt der kritischen Reflexion. Denn möglichweise erlaubt ein – mit einem essentialistischen Kulturbegriff korrespondierendes – sogenanntes Kulturwissen (d. h. «Kenntnisse über Praktiken, Haltungen und Einstellungsformen von Menschen aus anderen Kulturkreisen in ihrem Umgang mit Krankheit, Gesundheit und Lebensende» [14 S. 73]) zwar eine erste Orientierung im Umgang mit einer Patientin oder einem Kollegen, der als einer bestimmten Kultur zugehörig gelesen wird. Dennoch ist dem Arzt und Medizinethiker Ilhan Ilkilic zufolge aufgrund der Heterogenität «kultureller Praxis und Wertvorstellungen innerhalb von Kulturkreisen» bei der Anwendung dieses Wissens Vorsicht geboten, weil «typische Verhaltensweisen oder Glaubensüberzeugungen voneinander divergieren» können. «Die Verkennung dieser Realität kann im medizinischen Alltag Pauschalisierungen und somit auch eine ungerechtfertigte Routinebehandlung von Menschen eines Kulturkreises veranlassen [14 S. 74].

Interkulturelle Kompetenz ist eine vielschichtige Kompetenz. Neben der Vermeidung von Stereotypisierung sind von verschiedenen Autorinnen und Autoren zahlreiche Elemente interkultureller Kompetenz formuliert worden. So sieht beispielsweise Ilkilic interkulturelle Kommunikation (verbal, nonverbal und paraverbal), Kulturwissen und die kritische Toleranz als elementare Fähigkeiten und Fertigkeiten interkultureller Kompetenz [14]. Für andere, wie z. B. Heike Pfitzner, ist ein zentraler Teil kultureller Kompetenz die «Fähigkeit, die Differenzen zwischen Eigenem, Vorhersagbarem und Verständlichem auf der einen Seite und dem Fremden, Unverständlichem andererseits stets aufs Neue auszuloten und dabei gleichzeitig zu wissen, dass Kommunikation zwischen zwei Menschen, gleich welcher kultureller oder anderer Herkunft, wohl nie zu 100 % übereinstimmen kann» [15 S. 142].

Auch wenn in der politischen Auseinandersetzung und über verschiedene Handlungsfelder (z. B. Gesundheitswesen, Pädagogik oder Soziale Arbeit) hinweg die Notwendigkeit kultureller Kompetenzen weitgehend anerkannt ist, bleibt die Frage offen, «ob interkulturelle Kompetenz überhaupt als eigenständiger Kompetenzbereich gesehen werden kann oder besser als ein Set sozialer und berufsspezifischer Kompetenzen, das in der interkulturellen Situation realisiert werden muss» [16 S. 8]. Für die Gesundheitsversorgung hiesse dies, dass kulturelle Kompetenz einfach als selbstverständlicher Bestandteil patientenorientierter und bedürfniszentrierter Versorgung anzusehen wäre. Unabhängig von der genauen Beantwortung dieser Frage sind ein konstruktivistisch verstandenes Kulturwissen, die Sensibilität gegenüber Stereotypisierung, Toleranz und Reflexionsfähigkeit bzgl. Eigenwahrnehmung und Fremdzuschreibungen sowie kommunikative Fähigkeiten zentrale Elemente einer patientenorientierten Versorgung und wichtig für den Umgang mit ethischen Konfliktsituationen. Diese Fähigkeiten können nicht einfach vor-ausgesetzt werden, und müssen geschult und entsprechend fester Bestandteil von Curricula für Angehörige von Gesundheitsberufen sein.

Dr. sc. med., M.A. Tatjana Weidmann-Hügle

Klinische Ethik
Kantonsspital Baselland
Mühlemattstrasse 26
4410 Liestal

1. https://www.dbfk.de/de/presse/meldungen/2021/ICN-Ethikkodex-fuer-professionell-Pflegende-aktualisiert.php (aufgerufen am 04.06.2023)
2. https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/BAEK/Themen/Internationales/Bundesaerztekammer_Deklaration_von_Genf_04.pdf (aufgerufen am 04.06.2023)
3. Peters, T., Grützmann, T., Bruchhausen, W. et al. Grundsätze im Umgang mit Interkulturalität in Einrichtungen des Gesundheitswesens. Positionspapier der Arbeitsgruppe Interkulturalität in der medizinischen Praxis in der Akademie für Ethik in der Medizin. Ethik in der Medizin. 2014; 26(1): 65-75
4. Handschuck, S. & Schröer, H. Interkulturelle Orientierung als Qualitätsstandard sozialer Arbeit. In: Auernheimer, G. (Hrsg.) Migration als Herausforderung für pädagogische Institutionen. Interkulturelle Studien, Vol 7. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 147-180; 2001.
5. Hofstede, G. Culture´s Consequences: Comparing Values, Behaviors, Institutions, and Organizations across Nations. Thousand Oaks: Sage Publications; 2001.
6. Hall, E. T. Beyond Culture. New York: Anchor Books/Doubleday; 1976.
7. Kunz, T. & Puhl, R. Arbeitsfeld Interkulturalität: Grundlagen, Methoden und Praxisansätze der Sozialen Arbeit in der Zuwanderungsgesellschaft. Weinheim und München: Juventa Verlag; 2011.
8. Abdul-Hussain, S. & Hofmann, R. Begriffsklärung Diversität; 2013. https://erwachsenenbildung.at/themen/diversitymanagement/grundlagen/begriffserklaerung.php (aufgerufen am 04.06.2023)
9. Deardorff, D. K. Some Thoughts on Assessing Intercultural Competence. Urbana, IL: University of Illinois and Indiana University, National Institute for Learning Outcomes Assessment (NILOA); 2014.
10. Deardorff, D.K. Manual for Developing Intercultural Competencies: Story Circles. London and New York: Routledge; 2020.
11. UNESCO. Intercultural Competencies: Conceptual and Operational Framework. Paris: UNESC; 2014.
12. Thomas, A. Interkulturelle Kompetenz – Grundlagen, Probleme und Konzepte. Erwägen – Wissen – Ethik. 2003; 14 (1): 137–221.
13. Handschuck, S. & Schröer, H. Interkulturelle Öffnung sozialer Dienste. Ein Strategievorschlag. Migration und Soziale Arbeit, 2000; 3/4, 86-95
14. Ilkilic, I. Interkulturalität und Interkulturelle Kompetenz in der Gesundheitsversorgung. In Baumeister, A. et al. (Hrsg.), Facetten von Gesundheitskompetenz in einer Gesellschaft der Vielfalt, Schriften zu Gesundheit und Gesellschaft – Studies on Health and Society 6, Berlin: Springer; 2023
15. Pfitzner, H. Interkulturelle Kompetenz in der psychiatrischen Pflege. Psychiatrische Gesundheits-und Krankenpflege – Mental Health Care. 2006; 139-144.
16. Moosmüller, A. (Hrsg.). Interkulturelle Kompetenz: Kritische Perspektiven. Münster: Waxmann Verlag, 2020.

Wenn das Hirn das Herz zum Stoppen bringt

In der vorliegenden Ausgabe der «Praxis» beschreiben Andrea Burri, Nina Graf und Michael Studhalter den interessanten Fall einer Patientin, bei der eine HSV-Enzephalitis zu einer Sinusknotendysfunktion führte [1]. Diese Fallbeschreibung ist aus dreierlei Hinsicht äus­serst lehrreich.
Erstens führt sie eindrücklich den Ankereffekt (Anchoring Effect) vor Augen, der die unbewusste Beeinflussung eines Entscheidungsprozesses durch früh erhaltene In­formationen, sogenannte Anker, beschreibt. Die auf der Notfallstation aufgezeichnete selbstlimitierende Asystolie könnte ein solcher Anker gewesen sein, der die Diagnostik anfänglich auf eine kardiale Ursache lenkte und dabei Begleitsymptome vorerst in den Hintergrund rücken liess.
Zweitens weist der Fall auf den Inselcortex als wenig bekannte, aber faszinierende Hirnregion hin. Im Grunde genommen ist die Bezeichnung «Insel» unpassend, da dieser Abschnitt der Hirnrinde nicht abgeschieden und isoliert ist, sondern im Gegenteil funktionell und anatomisch reichhaltige Verknüpfungen aufweist. Die exakte Abgrenzung in funktionelle Unterregionen ist weiterhin Gegenstand der Forschung, beinhaltet jedoch verschiedenste Aspekte wie Sozialverhalten und Emotionen, Geschmackssinn, Gleichgewicht, Schmerzverarbeitung, Motorik und auch über­geordnete Kontrolle von vegetativen Funktionen wie etwa Blutdruck und Herzschlag. Dementsprechend können Störungen des Inselcortex zu verschiedensten, teilweise auch subtilen Symptomen führen. Insbesondere bei epileptischen Anfällen ist die die Zuordnung zur Inselregion oft herausfordernd, da typische epileptisch zuordenbare Symptome erst nach Ausbreitung in den frontalen oder temporalen Hirnlappen auftreten können. Autonome epileptische Anfälle sind sehr selten, sollten aber bei entsprechenden wiederholten, unerklärlichen, stereotypen Ereignissen differenzialdiagnostisch mitberücksichtigt werden [2].
Drittens illustriert der Fall, dass eine Herpes-simplex-Virus-1(HSV-1)-Enzephalitis sich zu Beginn nicht immer fulminant präsentieren muss. Eine verzögerte Diagnostik und Therapie sind keine Seltenheit und mit einem schlechten Ausgang assoziiert [3, 4]. Bei Patientinnen und Pa­tienten mit unklarer Infektkonstellation und Verwirrtheitszustand sollte deshalb niederschwellig auch an eine HSV-1-Enzephalitis gedacht und mittels Lumbalpunktion ausgeschlossen werden, wobei zu beachten ist, dass in ­einem frühen Stadium der PCR-basierte Virusnachweis im Liquor selten auch falsch-negativ sein kann und die Lumbalpunktion bei persistierendem klinischem Verdacht wiederholt werden sollte [5].
Dr. med. Dr. phil. Urs Fisch

Oberarzt, Facharzt Neurologie FMH
Neurologische Klinik und Poliklinik
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
4031 Basel

urs.fisch@usb.ch

1. Burri A, Graf N, Studhalter M. Wenn das Hirn den Takt angibt. PRAXIS 2023;112 (10): 531 – 536. Jobst BC, Gonzalez-Martinez J, Isnard J, Kahane P, Lacuey N, Lahtoo SD, et al. The Insula and Its Epilepsies. Epilepsy Curr. 2019;19(1):11–21. https://doi.org/10.1177 /1535759718822.
3. Hughes PS, Jackson AC. Delays in initiation of acyclovir therapy in herpes simplex encephalitis. Can J Neurol Sci. 2012;
39(5):644–8. https://doi.org/10.1017/S0317167100015390.
4. Raschilas F, Wolff M, Delatour F, Chaffaut C, De Broucker T, et al. Outcome of and prognostic factors for herpes simplex ence­phalitis in adult patients: results of a multicenter study. Clin Infect Dis. 2002;35(3):254–60. https://doi.org/10.1086/341405.
5. Tunkel AR, Glaser CA, Bloch KC, Sejvar JJ, Marra CM, Roos KL, et al. The management of encephalitis: clinical practice guidelines by the Infectious Diseases Society of America. Clin Infect Dis. 2008;47(3):303–27. https://doi.org/10.1086/589747.

Stabübergabe an neues Herausgeberteam ab 2024

Wir freuen uns, PRAXIS im Juli letzten Jahres übernommen zu haben, um diesen Schweizer Traditionstitel als PUBMED-gelistete deutsch-/französisch-sprachige Zeitschrift für Leserinnen und Leser sowie Autorinnen und Autoren zu erhalten. Denn PRAXIS ist die Fortbildungszeitschrift für Ärztinnen und Ärzte vom Studium über die Assistenzjahre bis hin in die eigene Praxis oder die Karriere als Spitalärztin und Spitalarzt.

Nachdem der Transfer erfolgreich abgeschlossen ist, nahm jetzt auch das neue Herausgeberteam und Redaktionsboard seine Tätigkeit auf – und in der ersten Sitzung mit Herausgeberin Prof. Dr. med. Dagmar Keller Lang, St. Moritz, und den Herausgebern Dr. med. Christian Häuptle, St. Gallen, sowie weiterhin Prof. Dr. med. em. Bernard Waeber, Lausanne, das neue Jahr 2024 in Angriff.

In der neuen redaktionellen Konstellation ist es der Herausgeberin und den Herausgebern ein besonderes Anliegen, PRAXIS für möglichst viele Spezialist/-innen und Spezialitäten zu öffnen. So werden die Schweizerische Gesellschaft für Gastroenterologie sowie die Hausarztinstitute der Universitäten Zürich und Basel Artikel aus ihren Fachbereichen in PRAXIS publizieren.

Für Assistenzärztinnen und Assistenzärzte soll PRAXIS für die gesamte Schweiz eine Plattform sein, wo die für den Facharzttitel benötigte Publikation in deutscher und französischer Sprache mit den entsprechenden Credits publiziert werden kann.

Wir wünschen Ihnen auch im Namen der neuen Herausgeberin Prof. Keller und den Herausgebern Dr. Häuptle und Prof. Waeber viel Freude beim Lesen der aktuellen und kommenden Ausgaben von PRAXIS!

Eleonore E. Droux
Verlegerin & Geschäftsinhaberin

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen
Wissenschaftliche Leitung Ärzteverlag medinfo AG