Das Eigene und das Fremde. Philosophische und klinische Aspekte

Das Eigene und das Fremde sind nicht eigentlich philosophische Grundbegriffe, sondern eher Topoi, da immer relational aufeinander bezogen und dies immer in Bezug auf die Perspektive, in welcher wir etwas als fremd oder eigen erfahren. Fremdes geht uns an, irritiert, verunsichert, lässt uns nicht in Ruhe, entzieht sich als Fremdes aber zugleich einer Bestimmung bzw. kann nicht bestimmt werden, da es dann seine Fremdheit verlieren würde. Es hat den Charakter eines Widerfahrnisses, ist paradox bestimmt durch Präsenz im Entzug, lässt sich nicht vollständig einordnen, ist damit «ausserordentlich» und singulär. Es ist unvergleichlich und dennoch in Bezug zum Eigenen. Der Beitrag versucht eine philosophische Annäherung an die Besonderheit des Fremden – auch in uns selbst –, um die theoretischen Überlegungen für das Verständnis eines konkreten klinischen Falls aus einer psychiatrisch-transkulturellen Sprechstunde zu verdeutlichen. Bei diesem geht es um die Frage des Nicht-Verstehens angesichts einer sowohl für die Therapeutin wie auch für die Patientin befremdlichen Verhaltensweise der Patientin. Dies führt zur Frage, ob und wie denn dieses Nicht-Verstehen seinerseits noch verstehbar sein könnte.

Das Phänomen des Fremden

Das Fremde begegnet uns alltäglich, ist etwas Altvertrautes. Wir kennen es in seiner alltäglichen Form, etwa wenn wir uns mit uns fremden Strassenpassant:innen in einer alltäglichen Art unterhalten. Wir kennen es aber auch in gesteigerter Form etwa im Kontext der seit Jahren breit diskutierten Migrationsthematik im Blick auf uns mehr oder weniger fremd erscheinende Menschen, die als Geflüchtete bei uns ankommen; wir erfahren strukturelle Fremdheit in der Vielfalt fremder Sprachen, in uns fremd anmutenden Verhaltensweisen und Sitten, aber auch im Gastrecht, das uns vielleicht auf Reisen als Fremde zuteilwird. Wir erkennen es, wenn wir etwa für Menschen, die Diskriminierungen ausgesetzt sind und sich also als Randgruppe einer Gesellschaft erleben (z.B. LGBTQIA+-Personen), das Wort ergreifen und nachdrücklich auf verborgene, strukturell aber überaus wirksame Machtverhältnisse hinweisen und beispielsweise sprachliche Selbstverständlichkeiten wie Trennung der Geschlechter in männlich und weiblich in Frage stellen.
Es sind Erfahrungen, die ausserhalb einer bestimmten Ordnung gemacht werden. Fremdheit ist dabei keine Eigenschaft, die einem Menschen wie ein Stigma anhaftet, sondern ist eben eine instabile Relation, die in beiden Richtungen oszilliert, d. h. wir können geflüchteten Personen in «unserem» Land ebenso fremd sein wie sie es uns sein können. Fremdheit ist ein Phänomen, das wir auch bereits als Kleinkinder erfahren und beobachten können, etwa im sogenannten «Fremdeln» bei Kindern im Alter von ca. 18 Monaten, wenn sie auf unvertraute Gesichter reagieren [s. die Still-Face-Experimente: https://www.youtube.com/watch?v=IeHcsFqK7So (06.05.23)]. Wir kennen es aber auch an und in uns selbst, etwa bei Phänomenen wie der Depersonalisation oder bei Wahrnehmungstäuschungen [s. Rubber Hand Illusion, https://www.youtube.com/watch?v=IKyctCYtsh8 (06.05.23)].
Solche Phänomene sind ausserhalb einer bestimmten, uns vertrauten Ordnung anzutreffen. Allerdings handelt es sich dabei noch nicht um Fremdheit in ihrer radikalen Form, auf die wir unten zu sprechen kommen.

Der Anfang des Philosophierens

Die Philosophie, so Sokrates in Platons Dialog Theaitetos [Platon 1990, Bd. 6, Theaitetos 155d], beginne mit dem Staunen. Epikur hat die im Staunen positiv konnotierte Verwunderung als Reaktion auf etwas Unerwartetes emotional in Richtung der Beunruhigung gebracht, wenn er die Angst als Ursprung der Philosophie festlegt, die es durch die philosophische Lebenshaltung (die Seelenruhe, griech. ataraxia) zu bewältigen gilt (vgl. Epikur 2004).
Im Staunen und ebenso in der Angst, so könnten wir sagen, trifft uns ein Fremdes, ein Unbekanntes, Irritierendes, Unvorhersehbares und möglicherweise auch Unberechenbares. Der Anfang der Philosophie ist nach dieser Auffassung kein Zugriff auf Unbekanntes, entsteht nicht aus Eigeninitiative, sondern ist vielmehr ein Angegangenwerden von Unvertrautem, Ungewohntem, Unordentlichem, Anomalem, Unalltäglichem, Neuartigem – von Fremdem. Der Staunende ist dabei – so beschreibt ihn Sokrates – ein Ortloser, von griech. atopos, der in keine bestehende Ordnung passt. Selbstverständlich trifft dies nicht allein auf die:den Philosoph:in zu, sondern auf uns alle, die wir in verschiedenen Berufswelten, in Wissenschaft, Kunst, Politik oder Religion tätig sind. Eher umgekehrt könnte man sagen, dass jene, die durch Fremdes angegangen, irritiert und ins Staunen gebracht (oder eben auch in Angst versetzt) werden, die Möglichkeit haben, dies als Anfang ihres eigenen Philosophierens zu nutzen.
Das Denken, unsere Vernunft, zunächst aber unsere Wahrnehmung, ja, unser Leib und die körperlichen Empfindungen werden also in Beschlag genommen – so wie eine Brille beschlagen wird. Schelling, der in seiner positiven Philosophie, weit vor Nietzsche, Husserl, Heidegger und den französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts diesen Umstand des „Angegangenwerdens“ als zentralen Ausgangspunkt bedacht hat, spricht in Abhebung von Hegel davon, dass sich die Vernunft angesichts des „unvordenklichen Seyn[s]“ [AD XIV, 344] in einer Beugung – um nicht zu sagen Verbeugung [PO XIII, 161] befinde. Die Beugung oder Flexion ist keine Re-flexion, d.h. kein selbstgesetzter Anfang, der reflexiv in der Begründungstätigkeit der Vernunft eingeholt werden könnte und sich damit ein System dialektisch abschliessen würde. Vielmehr ist es ein ekstatischer Anfang, wo die Vernunft etwas ankommt, ein Anspruch entsteht: Schelling spricht von der Überwältigung der Vernunft durch dieses unvordenkliche Sein; sie sei „wie regungslos, wie erstarrt, quasi attonita“ [PO XIII, 162]. Dieser Anfang ist nach Schelling „die umgekehrte Idee“ [ebda.] – „Idee“, weil sie nachträglich als onto-logischer Anfang gedacht wird, „umgekehrt“, weil die Nachträglichkeit der Logik eines Ontischen festgehalten werden soll [vgl. Sollberger 1994, 352ff.].
Es taucht etwas auf, es sucht uns etwas heim, fällt uns an oder auch ein. So dass sich das Diktum aus Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ [Wittgenstein 1963, 1] durchaus auch so verstehen liesse, dass sie das ist, was fällt, einfällt oder einschlägt. Positivität kommt an und wird unter den Bedingungen ihres Einschlagens fassbar – nicht so, wie ein Blitz einschlägt, sondern vielmehr in dem Sinn, wie ein Saum an einem Kleid eingeschlagen oder aber ein sogenannter „Einschlag“ in die Kettfäden eines Gewebes eingeschlagen ist. Der Saum gibt dem Stoff den Abschluss, welcher ohne ihn blosse Textur blieb. Einschlag oder Einfaltung, Pliierung oder eben Implikation bedeutet dann, dass ein nicht verfügbares Fremdes sich in einen – zumindest teilweise – verstehbaren Kontext einschlägt und dann als Teil dem Ganzen implizit ist, wenn auch nicht darin aufgeht.

Der Topos des Fremden

Die Vernunft, basierend auf Wahrnehmungen unseres Leibes, zeigt trotz aller gerichteten und intentionalen Orientierung als sozusagen seismographisches Organ auch eine basale Fähigkeit zur Irritation. Im Staunen ist sie empfänglich für Andersartigkeit und Fremdheit und zeigt eine systematische Offenheit gegenüber einem suchenden, nie abgeschlossenen, sondern je neu ansetzenden, geschichtlichen Umgang mit fremdem, rätselhaftem und möglicherweise nie gänzlich begreifbarem Sein [Sollberger 1994, 389]. Diese Haltung, so könnte man sagen, rechnet mit dem Fremden, d.h. damit, dass das Worüber des Staunens weiterreicht, als das wonach in der Folge gefragt und gesucht wird.
Das Eigene und das Fremde: Was mit den einleitenden Bezugnahmen deutlich wurde, ist, dass der Fremdheitserfahrung als einem Widerfahrnis der Charakter des Pathischen (griech. pathein, fühlen, erleiden) zugrunde liegt, was meint, dass Fremdes mich ankommt, mich irritiert und beunruhigt, indem es mich angeht, mich heimsucht, noch bevor ich selbst mich einlasse, aktiv auf es zuzugehen oder mich dagegen zu wehren versuche.
Das Eigene und das Fremde sind keine Grundbegriffe der klassischen Philosophie, sondern relational aufeinander bezogen. Es gibt kein Fremdes an sich, so wie es auch kein Links an sich gibt. Der:dem Vertriebenen ist die neue Heimat fremd und noch nicht angeeignet, der:dem Heimkehrer:in die alte, in der sie:er sich nicht mehr auskennt. Solange ein unerschütterlicher Logos die Ordnung der Dinge und den Menschen in seinem Denken und Tun bestimmt, ist kein Platz für radikal Fremdes.1 Das Fremde kehrt in der Philosophiegeschichte erst mit der Dezentrierung des Subjekts und der Infragestellung der Vernunft ein. Allerdings bleibt es auch in der Aufklärungsphilosophie lange noch in der defizitären Rolle eines Durchgangsstadiums auf dem Weg zum vernünftigen Ganzen, wo eigen und fremd aufgehoben sind – so etwa in der Rede von der „Entfremdung“ bei Hegel und Marx. Es ist in seiner Fremdheit jeweils nur als noch fremd bestimmt, also im Durchgang zum Bekannten, Verstandenen und Eingeordneten, womit es in seiner Irritation und Beunruhigung neutralisiert ist.
Das Fremde als solches ist aber nicht etwas, das wir noch nicht verstanden hätten, was noch nicht oder nicht mehr bekannt wäre, nicht also ein Defizit oder Mangel, sondern – und darauf hat Bernhard Waldenfels immer wieder hingewiesen: das Fremde ist von der Art einer „leibhaftigen Abwesenheit“ [Waldenfels 1997, 70], oder, wie Edmund Husserl es bestimmt, von „einer bewährbaren Zugänglichkeit des originär Unzugänglichen“ [Husserl 1950, 144].
Im Anschluss an die aporetische sokratische Frage im Dialog Menon, wie es denn sein könne, dass ein Mensch etwas suchen kann, da er doch, wenn er etwas sucht, weiss, was er sucht und es dann nicht mehr suchen müsste, oder es aber nicht weiss, so dass er auch nicht weiss, was er suchen soll bzw. nicht weiss, ob er gefunden hat, wonach er sucht [Platon 1990, Bd. 2, Menon 80e, 2-5] – im Anschluss an diese Frage haben die Hermeneutiker des späten 19. und des 20. Jahrhunderts einen Zwischenbereich zwischen fremd und eigen festgelegt, in welchem Verstehen und Auslegung möglich werden: „Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäusserungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn ihnen nichts fremd wäre.“ [Dilthey 1979, 225].

Das Fremde als Entzug

Wenn das Eigene und das Fremde also nicht klassische Begriffe sind, mit welchem Phänomene begriffen, d.h. definiert, strukturiert und damit in eine Ordnung oder einen Kontext gebracht werden, wie sind sie zu bestimmen? Fremdes ist nichts Allgemeines, sondern immer in Bezug auf die Perspektive, in welcher es erfahren wird, fremd (Erfahrung hier im aristotelischen Sinn der «empeiria» als das, was durchgemacht und durchlitten und dadurch gelernt wird). Es ist relational bezogen auf Kontrastbereiche, bezogen auf den Standpunkt, von welchem aus jemand spricht. Waldenfels hat fremd und eigen deshalb als zwei Topoi bezeichnet [Waldenfels 2013, 23]. Im Gegensatz zum Gegensatzpaar von Selbigem und Anderem differenziert sich Eigenes und Fremdes nicht durch vergleichende Abgrenzung, die eine spezifische Differenz in Bezug auf ein Drittes festhält, also etwa eine Differenz zwischen Schwarz und Weiss in Bezug auf Farbe. Das radikal Fremde unterscheidet sich vom Eigenen nicht durch einen solchen Bezug auf ein Allgemeines, also darin, dass es einer bestimmten Interpretation sich entzöge. Vielmehr stellt es seine Interpretierbarkeit als solche in Frage, wie wir es von Grenzphänomenen des Schlafes, des Todes, des Eros oder des Rausches her kennen. Diese Phänomene entziehen sich unserer Interpretation, so dass wir uns nicht wirklich auf sie beziehen können. Dennoch aber sind sie deswegen nicht ohne Bezug zu uns. Sie lassen sich nicht einem Allgemeinen des Begriffs, einer Regel, Ordnung, einem Gesetz, einer Sprache, Sinn oder Kultur subsumieren – und damit bändigen –, sondern stehen in Verbindung mit uns als fremder Anteil im Eigenen, als eine „région sauvage“ [Waldenfels 1997, 73], als Entzug oder Überschreiten des eigenen Sinnhorizontes. Eine fremde Sprache etwa muss zumindest als Sprache, wenn auch fremde, wahrnehmbar sein, soll sie nicht einfach ein Geräusch bleiben, sondern, auch wenn sie sich noch so sehr als reine Lautmalerei anhört, doch den Index der Sprache an sich tragen und damit an uns den Anspruch auf mögliche Verständigung stellen. Das radikal Fremde entzieht sich, zeigt sich also im Entzug. Es entzieht sich jeglicher Ordnung und ist damit ausserordentlich. Das in diesem Sinn Fremde ist nicht einfach ein Anderswo, zu welchem wir keinen Zugang hätten, sondern wenn schon ist es das Anderswo [Waldenfels 2013, 26], welches sich abschattet, indem es sich zeigt, wie der Schlaf vom Wachen, der Tod vom Leben, das Kranksein vom Gesundsein sich abschattet. Die genuine Erfahrung des Fremden, darauf verweist der französische Philosoph Emanuel Levinas [2002] immer wieder, ist die, dass nicht ich mich auf es beziehe, ich also nicht in diesem Sinn mit ihm in Verbindung stehe, sondern darin, dass es ankommt, mich ankommt.

Das Fremde im Eigenen

Das Fremde, welches uns ankommt und sich nicht bereits vorweg auf den Begriff bringen, einer Ordnung sich einfügen oder in einen Bedeutungskontext einbeziehen lässt, beginnt nicht erst mit dem fremden Anderen. Wir tragen es in uns. Schelling wieder hat dies als „Freud avant la lettre“ oder auch das Diktum Rimbauds „JE est un autre“ [Brief an Paul Demeny, 15. Mai 1871, zweiter Seherbrief] vorwegnehmend, folgendermassen ausgedrückt: „Es denkt in mir, es wird in mir gedacht, ist ein Faktum, gleich wie ich auch mit gleicher Berechtigung sage: Ich träumte, und: Es träumte mir.“ [Schelling GNP X, 12] Die Übernahme des Denkens als Eigenaktivität erfolgt ex post, in einer Nachträglichkeit, mit welcher das Geschehen des Denkens, der Einfall der Gedanken, die kommen, wenn sie wollen und nicht wenn ich will, in eine Logik und Sprachstruktur eingebunden werden, wo sie verstehbar und damit in ihrer Fremdheit in den Nachwirkungen fassbar werden.
Freud hat in seiner Schrift über «das Unheimliche» [Freud 1919] mit Bezug auf Schelling die Fremdheit in uns selbst als den abschattenden unbewussten Verdrängungsanteil des Heimischen und Altvertrauten hingewiesen: „… heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.“ Das Unheimliche ist nicht wirklich neu oder fremd, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist [Freud 1919, 254]: Die Vorsilbe „un“ am Wort „unheimlich“ sei „die Marke der Verdrängung“ (ebda.). Dieser fremde Anteil in uns selbst wurde schliesslich über Julia Kristeva während der Flüchtlingsdebatten 2016 auch von Slawoj Žižek in den Vordergrund gestellt, wenn er in der „Zeit“ schrieb, dass wir uns nicht in den Fremden wiedererkennen zu suchen sollten, um letztlich zu denken, sie seien so wie wir, sondern umgekehrt wir eher gehalten sind, eine:n Fremde:n in uns selbst zu erkennen (Žižek 2016).
Dass diese Analyse des Fremden an eine Grenze stösst, wenn man die gesellschaftliche Grossgruppendynamik betrachtet, die ihre Ursachen nicht einfach in der Anerkennung des eigenen Fremdheitsanteils im Unbewussten der Individuen hat, darauf hat Werner Bohleber in seinem Editorial der Zeitschrift „Psyche“ zum Thema „Heimat, Fremdheit, Migration“ hingewiesen [Bohleber 2016, 768].

Fassen wir zusammen:

Das Fremde, es ist relational, von pathischem Charakter eines Widerfahrnisses, paradox bestimmt durch Präsenz im Entzug, ausserordentlich, d.h. sich jeglicher Ordnung entziehend und damit singulär, ein Topos, der als das Anderswo selbst bestimmt und insofern in der Erfahrung ein Nicht-Ort, ein Atopos ist. Das Fremde ist unvergleichlich und steht dennoch in Bezug zum Eigenen.
Levinas hat sich die Frage, wie gedacht werden kann, dass etwas, das nicht einfach vergleichbar ist, nicht begriffen werden kann, sondern ein Singuläres ist, mich dennoch aber zu irritieren und zu beunruhigen vermag, folgendermassen gestellt: „Wie kann ein Ereignis, das nicht ergriffen werden kann, mir überhaupt noch widerfahren?“ [Levinas 2003, 49]. In der Zukunft, im Tod und im Eros hat Levinas solche Verhältnisse zu einem Fremden als einem Unverfügbaren, nicht in meinen Möglichkeiten Stehenden, sondern mich irgendwie Ankommenden gesehen. „Die Zukunft des Todes, seine Fremdheit, lässt dem Subjekt keinerlei Initiative. … Den Tod besiegen, heisst, mit der Andersheit des Ereignisses ein Verhältnis unterhalten, das doch noch persönlich sein soll.“ [a.a.O., 53] In der Liebe erkennt Levinas ein solches Verhältnis zum Anderen, welches sich nicht einer Möglichkeit und Initiative, die mir offensteht, verdankt: „sie ist ohne Grund, sie überfällt uns und verwundet uns und dennoch überlebt in ihr das Ich“ [a.a.O., 59]. Die Liebkosung ist denn auch „ein Spiel mit etwas, das sich entzieht, … mit etwas anderem, etwas immer anderem, immer Unzugänglichem, immer Zu-Kommendem“ [a.a.O., 60].
Das Fremde ist also etwas, das sich uns zeigt, indem es sich entzieht, d.h. nicht im Raum unserer Möglichkeiten und Initiativen liegt, sondern allenfalls auf uns zukommt, uns ankommt, heimsucht und anspricht – ein Anspruch, auf welchen wir zunächst Antworten. Über Fremdheit als solche lässt sich nur sprechen, wenn man vom Fremden her spricht, nicht über das Fremde. Es ist das, welches uns anspricht und worauf wir nur antworten können.
Die Antworten auf das Fremde sind wahrlich vielfältig. Häufig bestehen sie nicht nur darin, es abzulehnen und auszugrenzen, sondern gerade umgekehrt es sich anzueignen (s. den Begriff der Akkulturation), d.h. seinen Fremdheitscharakter zu nehmen in der Rückführung auf Eigenes, Eingliederung in ein Allgemeines, eine Ordnung, eine Kultur, in ein Wissenschafts- oder Rechtssystem – oder eben auch in ein psychiatrisch-diagnostisches System.

Der Anspruch des Fremden

„Kultur ist das, was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht“, so schreibt der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim und fährt fort: „sie stellt das Produkt der Veränderung des Eigenen durch die Aufnahme des Fremden dar.“ [Erdheim 1996, 181]. Man sollte diese Definition vorsichtig verwenden, denn die Kultur hat in der Tat die Tendenz, sich das Fremde anzueignen. Zwar verändert sich das Eigene in dieser Aneignung, allerdings verliert dann möglicherweise auch das Fremde selbst seinen Anspruch, ausser-ordentlich, unvergleichlich, im Entzug zu sein. In diesem Sinn kann man von einem Anspruch sprechen, wonach das Fremde uns anspricht und wir darauf Bezug nehmen: wir sind angerührt, irritiert, erschüttert (auch verängstigt) und reagieren neugierig oder verunsichert. Zugleich aber erhebt das Fremde einen Anspruch, nämlich es in seiner Eigenheit zu belassen, die, wie oben ausgeführt, gerade darin besteht, dass es sich nicht einfach einer bestimmten Interpretation, begrifflichen Fixierung und Einordnung widersetzt, sondern seine Interpretierbarkeit als solche in Frage stellt. So bleibt das Fremde einer vollkommenen Aneignung letztlich entzogen, tritt dennoch aber mit einem unausweichlichen Appell auf, auf den auch eine Nicht-Antwort eine Antwort ist. So bleibt die Asymmetrie, dass eine Antwort auf das Fremde nicht einfach im Vergleich von Eigenem und Fremden etwa durch Perspektivenübernahme erfolgen kann, sondern das Fremde in seinem Kern singulär und unvergleichlich bleibt.

Fallbeispiel

Im Folgenden wird das Beispiel einer jungen Frau, die aus einem westafrikanischen Land stammt, geschildert, an welchem deutlich wird, dass alle Verstehensversuche einer Verhaltensweise, die einen ausgeprägten Fremdheitscharakter für die Therapeutin – und letztlich auch für die Patientin selbst – hat, trotz der vielfältigen und unterschiedlichsten Perspektivenwechsel nicht zu einem Verständnis führen, welches einen Ansatz für Veränderung böte. Vielmehr ist es schliesslich ein Überhang des Nicht-Verstehbaren, dessen gegenseitiges Eingestehen zu Aufbruch und Entwicklung führt.
Frau G., 22-jährig, in einem westafrikanischen Land aufgewachsen und im Alter von 15 Jahren alleine über den Land- und Seeweg nach Zentraleuropa geflüchtet, um einer gewaltgeprägten Zwangsehe zu entkommen, sucht eine psychiatrische transkulturelle Sprechstunde auf.
Die Patientin möchte weitere ungewollte Schwangerschaften verhindern, nachdem sie innerhalb von zwei Jahren fünf Mal ungewollt schwanger geworden war. Die Schwangerschaften und medizinischen Schwangerschaftsabbrüche seien körperlich sehr belastend gewesen, nach dem letzten Schwangerschaftsabbruch habe sich eine depressive Symptomatik entwickelt.
Die Schwangerschaften seien im Rahmen gelegentlichen einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs mit dem Ex-Partner und Vater einer gemeinsamen dreijährigen Tochter entstanden. Der Ex-Partner gehöre derselben ethnischen Gruppierung an und spreche dieselbe Muttersprache.
Frau G. habe sich bereits vor der Geburt der gemeinsamen Tochter von diesem Mann getrennt und wünsche schon seit Längerem, den Kontakt definitiv abzubrechen. Sie trage das alleinige Sorgerecht für die gemeinsame Tochter, mit welcher der Ex-Partner keinerlei Kontakt pflege. Der Ex-Partner habe ihr durch die ungewollten Schwangerschaften viel Leid zugefügt, bspw. indem er in ihrer gemeinsamen Community indiskret mit ihren Schwangerschaftsabbrüchen umgegangen sei, was ihr Morddrohungen eingebracht habe. Zu sexualisierter Gewalt in der Beziehung sei es nicht gekommen. Immer wieder habe sie sich zu einem Treffen mit ihrem Ex-Partner bereit erklärt, nach jedem (ungeschützten) Geschlechtsverkehr sei sie schwanger geworden.
Zu ihrer Biographie berichtet die Patientin, dass sie als älteres von zwei Kindern mit einer sehr liebevollen Mutter aufgewachsen sei, die noch während ihrer Kindheit an den Folgen einer körperlichen Erkrankung verstorben sei. Der Vater und seine zweite Ehefrau bzw. Stiefmutter der Patientin hätten Frau G. sehr schlecht behandelt und als Arbeitskraft missbraucht. Wiederkehrend sei es zu körperlicher Gewaltanwendung durch Vater und Stiefmutter gekommen. Sie sei, so wie dies in ihrem Herkunftskontext üblich sei, beschnitten worden, später habe man sie auch einer Zwangsehe zuführen wollen. Der designierte künftige Ehemann habe sie vergewaltigt, sie habe Bisswunden am Rücken davongetragen, die bis zum heutigen Tag sichtbar seien.
Vor diesem Hintergrund sei sie letztlich mithilfe von Schlepper:innen nach Europa geflüchtet, habe nebst den schweren Strapazen auf der Fluchtroute wiederholt direkt und indirekt sexualisierte Gewalt an anderen Frauen bezeugt, ohne jedoch selbst zum Opfer zu werden.
Frau G. sei in einem religiös praktizierenden Haushalt aufgewachsen, ihr eigenes Verhältnis zur Religion sei inzwischen entfremdet.
Im Rahmen ihrer ersten und bislang einzigen ausgetragenen Schwangerschaft, habe sie im geburtshilflichen Kontext des Aufnahmelandes erstmals realisiert, dass die weibliche Beschneidung (female genital mutilation, im Weiteren mit FGM abgekürzt) «nicht überall normal» sei. Sie habe aufgrund der FGM in einer spezialisierten Geburtshilfestation gebären müssen, die Geburt ihrer Tochter beschreibt die Patientin als «zu schmerzhaft». Auch Geschlechtsverkehr sei nur unter grossen Schmerzen möglich.
Einmal sei sie von ärztlicher Seite gefragt worden, ob sie für ihre Tochter auch eine Beschneidung vorsehe. Sie habe dies vehement verneint. Im Gegenteil sei sie sehr erleichtert, dass ihrer Tochter durch das Leben im Exil dieses Leid erspart bleibe.

Therapieverlauf

Frau G. ist im Kontakt zurückhaltend, strahlt dabei Ernsthaftigkeit und Stärke einerseits, Feinfühligkeit andererseits aus, was in einer bemerkenswerten physischen Präsenz zusammenkommt. In Beziehung zur Therapeutin wird eine gesunde Abgrenzungsfähigkeit deutlich, gleichzeitig, wenn auch auf diskrete Art und Weise, eine emotionale Bezogenheit. Die Therapiegespräche werden in einer Sprache geführt, die für Patientin und Therapeutin eine Fremdsprache darstellt. In der Therapeutin löst die Patientin Gefühle der Zuneigung und des Respekts aus, vielleicht auch fürsorgliche Gefühle, wenn auch es der Therapeutin aufgrund der guten Abgrenzungsfähigkeit der Patientin und der fehlenden Viktimisierungstendenz erstaunlich einfach fällt, nicht in eine überfürsorgliche Überidentifikation zu verfallen.
Der Wunsch, den Kontaktabbruch zum Kindsvater aufrechtzuerhalten und ein Verständnis für die Wiederholung der ungewollten Schwangerschaften zu entwickeln, steht für Frau G. im Vordergrund. Frau G. ist über kontrazeptive Methoden sehr gut informiert und wird dahingehend gynäkologisch betreut. Die depressive Symptomatik remittiert in grossen Teilen. Der Kontaktabbruch zum Ex-Partner gelingt durch Wechsel der Handynummer und Kontaktblockierung in den sozialen Medien erstaunlich einfach und kann durch die Patientin konsequent aufrechterhalten werden.
Drei Monate nach Therapiebeginn berichtet die Patientin jedoch von körperlichen Beschwerden ähnlich denjenigen, die sie im Rahmen der Schwangerschaften erlebt habe. Beim ersten Treffen mit einem Mann, den sie einige Wochen zuvor über die sozialen Medien kennengelernt habe, und der, wie die Patientin betont, ihrer Herkunftscommunity angehöre und dieselbe Muttersprache spreche, sei es zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr gekommen. Nun fürchte sie eine erneute Schwangerschaft.
Die Schwangerschaft kann kurz danach ausgeschlossen werden, sodass der therapeutische Fokus im Weiteren expliziter darauf gelegt wird, den Konflikt zwischen dem Wunsch, weitere Schwangerschaften zu verhindern, und der unverstandenen Wiederholung ungeschützten Geschlechtsverkehrs, gemeinsam herauszuarbeiten.
Es wird deutlich, dass die Patientin aus einer Position heraus spricht, in welcher Vorstellungen eigener sexueller Lust oder romantischer Liebe nicht verbalisierbar sind. Es entsteht der Eindruck, als wäre die Verbindung von Zärtlichkeit, erotischem Begehren und Sexualität für die Patientin ausserhalb des Vorstellbaren. So äussert Frau G., dass Sexualität für sie bislang immer nur schmerzhaft gewesen sei. Sie verneint, jemals Emotionen für einen Mann empfunden zu haben, die dem genannten Gefühlsspektrum zugeordnet werden könnten. Für ihre Tochter könne sie sich in Zukunft hingegen durchaus eine romantische Beziehung zu eine:r Partner:in vorstellen.
Weshalb Frau G. trotz alledem aktiv den Kontakt zum letzten Sexualpartner gesucht und sich auf ungeschützten Geschlechtsverkehr eingelassen habe, sei ihr rätselhaft. Der Geschlechtsverkehr sei «wieder einmal ungeplant» gewesen und sei ihr «einfach passiert». Vom Gegenüber dazu gezwungen worden sei sie nicht.
Einer näheren Analyse der Situation, in welcher der Geschlechtsverkehr der Patientin «passierte», und eine Verknüpfung mit der möglichen Aktivierung eigener konflikthafter Wünsche, oder aber doch mit der Erfahrung uneingestandener Unterdrucksetzung durch den Sexualpartner, ist die Patientin nicht zugänglich, sie wiederholt stattdessen immer wieder, nicht zu verstehen. Auch für die Therapeutin gestaltet sich ein Verstehen schwierig.

Hypothesen und Verstehensversuche

Aus traumadynamischer Perspektive könnte man die Wiederholung ungeschützten Geschlechtsverkehrs als unbewusste Reinszenierung einer traumatischen Situation vor dem Hintergrund wiederholter zwischenmenschlicher und sexualisierter Gewalterfahrungen und folglich das «Passieren» des Geschlechtsverkehrs als Dissoziation verstehen.
Dagegen spricht das Fehlen einer Opfer-Täter:innen-Dynamik in der Übertragungsbeziehung zur Therapeutin, und eine gute Objektdifferenzierung der potentiell tätlichen Person (in diesem Falle des Ex-Partners), die eine Identifikation mit Täteranteilen unwahrscheinlich macht.
Aus transkultureller Perspektive wiederum drängt sich die Hypothese auf, dass die Schwierigkeit, in einem selbstreflexiven Modus über das eigene innere Erleben zu sprechen, einen kulturspezifischen Aspekt in Zusammenhang mit der Sozialisierung in einer kollektivistisch geprägten Gesellschaftsstruktur darstellt. Dass also ein Sprechen über das eigene Innenleben im Zuge des therapeutischen Individuationsprozesses erst noch erlernt werden müsste.
Weiter könnten die wiederholten, vordergründig ich-dystonen Schwangerschaften als unbewusster Versuch der Patientin verstanden werden, sich des eigenen «Frauseins» zu vergewissern. Frau G. ist gemäss eigener Angaben in einem traditionellen Umfeld mit einem für weiblich gelesene Personen klar auf Reproduktionsarbeit ausgelegten Rollenverständnis aufgewachsen. Vor diesem Hintergrund hätten die wiederkehrenden Schwangerschaften die Funktion, sich ihrer sozialen Identität gemäss eines ihr bekannten, kulturell geprägten Musters zu vergewissern, zumal bei noch nicht begonnener Ausbildung oder Arbeitstätigkeit im Aufnahmeland, und somit Fehlen eines akzeptablen Gegenentwurfs für das eigene soziale Identitätserleben.
Die zyklische Wiederholung von Schwangerschaft und Abtreibung, von Prokreation und Destruktion wiederum könnten als Inszenierung einer inneren Zerrissenheit zwischen Festhalten an traditionellen Vorstellungen des «Frauseins» einerseits und Identifikation mit anderen Rollenentwürfen im Aufnahmeland andererseits, verstanden werden.
Verknüpft man die Tatsache, dass die Patientin eine FGM aufweist damit, dass eine Verbalisierung eigener sexueller Wünsche und Phantasien und das Empfinden erotischen Begehrens nicht möglich ist, fragt es sich, ob der traumatisierende Charakter der körperlichen «Beschneidung» möglicherweise mit einer «Beschneidung» psychischer Repräsentanzen in Bezug auf Sexualität einhergeht.
Auch stellt sich die Frage, ob ein In-Kontakt-Treten mit der eigenen Sexualität abgewehrt werden muss, um eine vertiefte Auseinandersetzung damit, was ihr im Intimbereich genau angetan wurde (Frau G. äusserte, dass sie bis auf Weiteres eine Zuweisung zu einer Untersuchung in ein auf FMG spezialisiertes Zentrum ablehne), und dadurch letztlich eine Infragestellung des idealisierten Objekts der Mutter (die sie nicht vor einer Beschneidung schützen konnte), zu vermeiden.
Überdies könnte eine Abwehr schmerzhafter Affekte auch im Dienste der Aufrechterhaltung gewisser positiv konnotierter kulturell geprägter Zugehörigkeitsaspekte stehen: So äusserte Frau G. gelegentlich, dass die Robustheit im Umgang mit Schmerz ein wichtiges Charakteristikum für Personen ihrer ethnischen Herkunftsgemeinschaft sei – man beklage sich nicht.
Keine dieser Hypothesen hielt jedoch einer Überprüfung in der therapeutischen Beziehung stand.
Nachdem das gemeinsame Nichtverstehen durch die Therapeutin verstanden und verbalisiert wurde, kam es auf Seiten der Patientin zu einer progressiven Entwicklung: sie traute sich erstmals, gemeinsam mit ihrer Tochter in ein Flugzeug zu steigen, und in einem anderen europäischen Land eine Freundin, die sie auf der Fluchtroute kennengelernt hatte, für eine Feier zu besuchen, wovon sie retrospektiv genussvoll berichtete. Auch entschied sich die Patientin dazu, sich nicht weiter auf eine Beziehung zum letzten Sexualpartner einzulassen, da dieser ihr «zu religiös» sei und sie durch die Beziehung zu ihm fürchten müsse, zu religiösen Praktiken gezwungen zu werden, mit welchen sie sich nicht identifiziere. Auch meldete sich die Patientin für einen Deutschkurs an und konnte perspektivisch erstmals einen konkreten Ausbildungs- und Berufswunsch äussern.
Das in Frage stehende fremde Verhalten der jungen Frau scheint in Bezug auf den der Therapeutin – wie auch der Patientin selbst – zur Verfügung stehenden eigenen Verständnisweisen, welche durchaus auch unbewusste Dynamiken mitumfassen, fremd. Es ist in Relation zu einem eigenen Verstehen fremd (relationaler Charakter des Fremden). Weiter widerfährt es gewissermassen der Patientin und in der Schilderung letztlich auch der Therapeutin (pathischer Charakter des Fremden), entzieht sich fortwährend den Verstehensversuchen, während es in seiner Manifestation geradezu körperlich präsent bleibt (präsent im Entzug) und damit etwas «Ausserordentliches» zum Ausdruck bringt (Singularität des Fremden) und unvergleichlich ist – dennoch uns aber angeht und in der Patientin in ihrem Leid einen Anspruch trägt.

PD Dr. med. Dr. phil. Daniel Sollberger

Erwachsenenpsychiatrie Baselland
Bienentalstrasse 7, 4410 Liestal

daniel.sollberger@pbl.ch

Dr. med. Serena Galli

Zentrum für Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie (ZIPP)
der Charité Berlin
Charitéplatz 1
D-10117 Berlin

serenagalli@msn.com

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Gesundheitliche Chancengleichheit in der Geburtshilfe durch transkategoriale Kompetenz

Nicht alle Mütter und Neugeborene haben gleiche Chancen auf eine gesunde Mutterschaft und auf einen gesunden Start ins Leben. Unterschiede bestehen bei verschiedenen Diversitätsmerkmalen, wie niedrigem sozioökonomischem Status, Migrationshintergrund, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität und Behinderung. Neben einer Reihe erhöhter gesundheitlicher Risiken für Mütter und Neugeborene hindern Barrieren im Versorgungsprozess, wie mangelndes Bewusstsein für die spezifischen Bedürfnisse dieser Gruppen und Interaktionsprobleme zwischen Klientel und Fachpersonen die Nutzung geburtshilflicher Leistungen. Ein Abbau von Zugangsbarrieren und Diskriminierungsmechanismen kann durch transkategoriale Kompetenz erlangt werden. Im geburtshilflichen Kontext zeigt sich transkategoriale Kompetenz beispielsweise in der angemessenen Einbindung von Angehörigen bei Migrant*innen, der Anerkennung und Unterstützung verschiedener Familienformen bei LGBTI*Q-Menschen und der Sensibilisierung für diskriminierendes Verhalten. Kontinuität in der Betreuung durch Gynäkolog*innen und Hebammen erleichtert die Versorgung und minimiert Missverständnisse. Die Verankerung der transkategorialen Kompetenz erfordert eine institutionelle Sensibilisierung für Diskriminierungsformen und Benachteiligungen. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und diversitätssensible Aus- und Weiterbildung sind entscheidend, um Unsicherheiten abzubauen und Stereotypisierung zu vermeiden.

Einleitung

Frauen* und Familien, die geburtshilfliche Leistungen in Anspruch nehmen, repräsentieren die Vielfalt unserer Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status (Einkommen, Vermögen, Bildung, berufliche Stellung), Migrationshintergrund, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität oder physischen Integrität bzw. einer Behinderung kommen abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Frauen*, die aus Not oder Überzeugung eine Alleingeburt wählen, nahezu alle Schwangeren spätestens bei der Geburt mit dem Gesundheitssystem in Berührung. Geburtshelfenden, d. h. Gynäkolog*innen, Hebammen und Pflegenden, kommt die Aufgabe zu, dieser Vielfalt in ihrer Arbeit Rechnung zu tragen, da Diversitätsmerkmale bedeutende Einflussfaktoren für gesundheitliche Ungleichheit darstellen (1). Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit stellen sensible Lebensereignisse dar, die für die Gesundheitsentwicklung im späteren Lebensverlauf von grosser Bedeutung sind (2, 3).

Diversität und Gesundheit rund um Schwangerschaft und Geburt

Die Evidenz zeigt, dass es bei allen genannten Diversitätsmerkmalen Ungleichheiten in der reproduktiven Gesundheit gibt. Ein niedriger sozioökonomischer Status, insbesondere Armut, ist mit einer erhöhten mütterlichen Mortalität (4) und Morbidität verbunden, z. B. Adipositas, Diabetes oder Hypertension, die ihrerseits wiederum mit Präeklampsie in Zusammenhang stehen, sowie psychische Probleme, Suchtmittelkonsum, schlechtere Ernährung und geringere Einnahme von Supplementation. Auch die perinatale Morbidität und Mortalität sind erhöht, was sich vor allem in einer höheren Rate von Frühgeburten und niedrigem Geburtsgewicht manifestiert, die mit einem erhöhten Risiko von Komplikationen einhergehen (5). Gesundheitsprobleme in Zusammenhang mit Armut sind nicht nur auf Länder des globalen Südens beschränkt, sondern betreffen auch Frauen* und Kinder in Hocheinkommensländern und sind umfassend belegt (6). Eine Studie, die sozioökonomische Daten aus der Schweiz mit Daten zu Geburtsoutcomes verknüpft hat konnte aufzeigen, dass staatliche Unterstützungszahlungen sich positiv auf die fötale Entwicklung auswirken (7).
Die Migrationsbevölkerung weist einen schlechteren allgemeinen Gesundheitszustand (8) und im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung in Aufnahmeländern einen schlechteren geburtshilflichen Verlauf auf (9, 10). Dazu gehört eine höhere Prävalenz von ante- und postnatalen Depressionen (11), Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, Kaiserschnitten sowie eine erhöhte perinatale Morbidität und Mortalität und eine erhöhte Säuglingssterblichkeit (12). Ferner zeigen Forschungsergebnisse, dass das geburtshilfliche Präventionsverhalten von Migrant*innen ungünstiger ist. Diese nehmen Schwangerschaftskontrollen weniger, unvollständig oder verspätet in Anspruch, beachten Empfehlungen zur Ernährung des Kindes weniger genau (z. B. Beikost, Vitamin D-Prophylaxe) und nutzen präventive Angebote wie Geburtsvorbereitung, Rückbildungskurse oder Mütter-Väterberatung seltener (9, 10). Es gibt eine Reihe migrationsbedingter Faktoren, z. B. eine schlechtere Ausgangsgesundheit, vorbestehende Krankheiten oder eine beschwerliche Flucht mit traumatischen Erfahrungen, die sich negativ auf das Outcome auswirken (13). Darüber hinaus spielen persönliche und verhaltensbezogene Faktoren, wie z. B. Stress während der Schwangerschaft und der ersten Lebensphase, mangelndes Wissen und geringe Gesundheitskompetenz eine Rolle. Allerdings scheinen sozio-ökonomische Faktoren wie z. B. fehlende soziale Unterstützung, geringes Einkommen (8) oder ungünstige Wohnumgebung (14) einen noch entscheidenderen Faktor für das schlechtere perinatale Outcome darzustellen. Schliesslich bestätigt die Evidenz, dass sowohl bei Migrant*innen als auch bei Menschen mit niedrigem soziökonomischen Status der Zugang zu den Gesundheitsanbietern sowie die Ausgestaltung des Gesundheitssystems eine zentrale Rolle für das schlechtere Outcome spielen (9, 15).
Die Gruppe der asylsuchenden Frauen* ist am stärksten von Ungleichheit betroffen. Neben den negativen neonatalen und mütterlichen Outcomes sind sie auch mit geschlechtsspezifischen Gesundheitsrisiken wie sexualisierter Gewalt, fehlender Verhütung und sexuell übertragbaren Krankheiten konfrontiert. Auf den Fluchtrouten ist der Zugang zu Verhütung und Mutterschaftsversorgung beschränkt (16). In den europäischen Aufnahmestaaten, wo viele Geflüchtete in kollektive Unterbringungen leben, fehlt den Frauen* ein privater Rückzugsraum und oft ein tragfähiges soziales Netz. Durch die Marginalisierung und die prekären Wohnverhältnisse steigt das Risiko für psychische Belastungen und Erkrankungen sowie für geburtshilfliche Komplikationen (17). In der Schweiz ist trotz grundsätzlich verfügbarem Zugang die geburtshilfliche Betreuung oft inadäquat. Die geringe Sensibilisierung des betreuenden Personals für die Probleme von Schwangeren und Mütter in Asylunterkünften stellt ein Hindernis dar. Dadurch kommt es oft nicht zu Überweisungen an spezialisiertes Fachpersonal. Zusätzlich können in abgelegenen Asylunterkünften Probleme mit dem Transport den Zugang zu angemessener Versorgung erschweren. Wenn asylsuchende Frauen* innerhalb des Asylsystems ihre Unterkunft wechseln müssen, treten häufig Unterbrechungen in der Versorgung auf, was den Informationsfluss medizinisch relevanter Daten betrifft (18).
Lesbische, schwule, bisexuelle, transgender/trans*, intersexulle sowie queere Menschen (LGBTI*Q-Menschen) haben im Vergleich zu Cis-Menschen schlechtere Gesundheitschancen, wie ein aktuell in der Schweiz durchgeführtes Literaturreview aufzeigt (19). LGBTI*Q-Menschen sind aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität regelmässig Diskriminierung sowie verbaler oder physischer Gewalt ausgesetzt. Sie leiden überdurchschnittlich häufig unter psychischen Störungen. Das zeigt sich in einer höheren Prävalenz von Depressionen, Suizidgedanken und Suizidversuchen gegenüber Cis-Menschen. Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen werden auch in der Gesundheitsversorgung gemacht, wobei trans/nichtbinäre Personen am stärksten betroffen sind. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist erschwert und medizinische Leistungen werden teilweise nicht Anspruch genommen (19). Zwar konnten keine direkten Zahlen zum geburtshilflichen Outcome dieser Gruppe gegenüber der Gesamtbevölkerung gefunden werden, aber Schwangerschaft, Geburt und weitere Bereiche der reproduktiven Gesundheit sind gesellschaftlich, institutionell, strukturell und politisch durch Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität geprägt. So kommt es im Zusammenhang mit Elternschaft zu einer Verstärkung der diskriminierenden Erfahrungen (20).
Laut der Weltgesundheitsorganisation sind 16 Prozent der Bevölkerung von einer Behinderung betroffen (21). Frauen* mit Behinderung sind in der Alltagsbewältigung mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert. Der eingeschränkte barrierefreie Zugang zu medizinischer Versorgung führt zu einer inadäquaten pränatalen Versorgung, vermehrten Hospitalisierungen während der Schwangerschaft und einem erhöhten Risiko für Sectio Caesarea und Frühgeburt (22). Fehlende oder unzureichende barrierefreie Ausgestaltung des Innenbereichs stellen eine weitere Herausforderung dar und schränken die Wahl des Geburtsortes ein. Zudem sind Sexualität, Schwangerschaft und Mutterschaft bei Menschen mit Behinderung gesellschaftlich sowie strukturell immer noch mit Stigmatisierung, Stereotypisierung und Tabuisierung besetzt und eine bedürfnisangepasste Betreuung wird durch die strukturellen Bedingungen sowie das fehlende Fachwissen erschwert (23).
Die Gründe für die gesundheitliche Ungleichheit rund um Schwangerschaft und Geburt sind gruppenspezifisch und vielfältig. Ein Grossteil der gesundheitlichen Unterschiede in der perinatalen Zeit lässt sich darauf zurückführen, dass bestimmte Gruppen über weniger gesundheitsbezogene Ressourcen verfügen. Der Migrationskontext, Armut, soziale Isolation und sexuelle Orientierung verstärken intersektional den benachteiligenden Effekt auf das Gesundheitsergebnis und die geburtshilfliche Ungleichheit. Weitere zentrale Faktoren für die Ungleichheit stellen Zugangsprobleme sowie strukturelle und personelle Diskriminierung in der Versorgung dar. Erfahrungen rassistischer Diskriminierung in der geburtshilflichen Versorgung sind gut dokumentiert und stehen in direktem Zusammenhang mit schlechteren Outcomes (24). Insbesondere (queere) Menschen, die behindert sind oder beispielsweise einen ungesicherten Aufenthaltsstatus haben, erfahren häufig eine mehrfache Diskriminierung und der Zugang zu adäquater Gesundheitsversorgung wird durch die multiplen Barrieren verstärkt (20).

Probleme der geburtshilflichen Versorgung

Der Abbau von Diskriminierungsmechanismen und Zugangsbarrieren im Gesundheitssystem ist essenziell für eine gute Gesundheitsversorgung. Unter Verwendung des Rahmenmodells von Levesque et al. (25) für den Zugang zur Gesundheitsversorgung untersuchte ein Review die Hindernisse und Erleichterungen bei der Inanspruchnahme geburtshilflicher Leistungen durch Frauen* mit sozialer Benachteiligung in Hocheinkommensländern. Das Ziel war, ein besseres Verständnis für die unzureichende Nutzung trotz grundsätzlich vorhandenem und offenem Zugang zu geburtshilflichen Leistungen zu erlangen (26). Es wurden Barrieren im gesamten Versorgungsprozess identifiziert, angefangen beim behandlungsbedürftigen Zustand, z. B. erkennen, dass eine Schwangerschaft regelmässige Vorsorge erfordert, bzw. Angebote, die als sinnvoll dafür erachtet werden, über das Aufsuchen eines Angebots, z. B. die geeignete Fachperson zum richtigen Zeitpunkt wählen und erreichen können, Möglichkeit einer niederschwelligen Kontaktaufnahme bzw. praktische Probleme, die Konsultationen wahrzunehmen wie kurze Konsultationen, lange Wartezeiten, fehlende Kinderbetreuung während anstehender Konsultationen, ungedeckte Transportkosten, lange Anfahrtszeiten, fehlende Parkplätze, hin zur tatsächlichen Nutzung der Angebote, z. B. die eigentliche Behandlung oder Beratungen bedarfs- und bedürfnisgerecht gestalten bzw. nutzbarmachen, verständliche und vertrauenswürdige Informationen erhalten. Die Zugangsbarrieren entstehen an den Schnittstellen zwischen der Versorgungsstruktur und der Gesundheitskompetenz und werden sowohl von den Anbietern als auch von den Nutzenden selbst beeinflusst.
Eine weitere Studie untersuchte die Kommunikation in der geburtshilflichen Betreuung von allophonen Migrant*innen und zwar aus der Sicht von Nutzer*innen, Fachpersonen und Dolmetschenden (27). Mit der Triangulation der unterschiedlichen Perspektiven, wurden genau die oben genannten Schnittstellen sichtbar. Es wurde deutlich, dass es für alle Beteiligten eine grosse Herausforderung war, die unterschiedlichen Lebenswelten und das unvertraute Gesundheitssystem an einem neuen Ort zu verstehen. Unterschiedliche Erwartungen aufgrund kultureller Prägungen und schwierige soziale Verhältnisse, sowie unsicherer Aufenthaltsstatus stellten hohe Anforderungen an die Fachpersonen, welche oft wenig zur Lösung sozialer Probleme der Frauen* beitragen konnten. Trotz der Bemühungen aus allen Blickwinkeln heraus reichten die Anstrengungen häufig nicht aus, um eine angemessene Aufklärung über die Behandlung zu gewährleisten und den Erwartungen und Bedürfnissen der allophonen Migrant*innen gerecht zu werden. Aus der Synthese der unterschiedlichen Perspektiven erschienen die Gesundheitsleistungen in bestimmten Situationen aufgrund der sprachlichen Verständigungsprobleme autoritär, aufgezwungen und nicht bedürfnisorientiert (27). Zwar standen in dieser Studie die Sprachbarrieren im Fokus, aber viele der identifizierten Problembereiche tangieren auch viele Migrant*innen, die die lokale Sprache beherrschen. Auch Schwangere mit niedrigem soziökonomischem Status sind nicht vertraut mit den Vorsorgeuntersuchungen, oft überfordert mit den vielen verschiedenen in der Behandlung involvierten Akteur*innen und finden es herausfordernd mit den Fachpersonen zu kommunizieren (28, 29). Bei schweizerischen Fachgesellschaften und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) besteht Einigkeit, dass die sprachliche Verständigung in der Behandlung von allophonen Migrant*innen durch Dolmetschende gewährleistet sein muss (30, 31). Bisher ist Dolmetschen jedoch nicht im Leistungskatalog der obligatorischen Krankenpflegversicherung in der Schweiz aufgenommen. Die spärliche Verfügbarkeit von Dolmetschdiensten verunmöglicht, dass allophone Schwangere und Mütter selbstbestimmte und informierte Entscheidungen über ihre Behandlung treffen können. Gesundheitsberatung ist nicht möglich und die Gefahr von Missverständnissen oder gar Fehlbehandlung ist gegeben.
LGBTI*Q-Menschen sind häufig mit fehlenden Informationen (z. B. Broschüren) zu Schwangerschaft und Geburt konfrontiert. Diese Tatsache führt dazu, dass den betroffenen Personen grundlegende medizinische und rechtliche Informationen fehlen (20). Zudem zeigt sich sprachlich und bildlich in der Kommunikation sowie in spitalinternen Broschüren und Formularen, dass in der perinatalen Versorgung immer noch von einer heterosexuellen Familienkonstellation ausgegangen wird. Trans Menschen und Menschen mit nichtbinären Geschlechtsidentitäten werden oft nicht berücksichtigt und der soziale Elternteil nicht als solcher angesprochen, erkannt und akzeptiert (32). Auch für gehörlose und hörbeeinträchtigte Frauen* ist die Sicherstellung von barrierefrei gestalteten Strukturen nicht gewährleistet. So gibt es wenig Personal in Spitälern, die Gebärdensprachkenntnisse verfügen (23).
Wie aufgezeigt, finden Diskriminierungen in Bezug auf verschiedenste Faktoren statt, Herkunft, sozioökonomischer Status, Alter, Parität oder sexueller Orientierung. Diskriminierungen verletzen die Würde und das Selbstwertgefühl von Betroffenen und schädigen dadurch ihre körperliche, psychische und soziale Integrität. Das Gefühl von mangelnder Wertschätzung oder Diskriminierungserfahrungen verringern das Vertrauen in die Fachperson stark und haben direkten Einfluss auf die Behandlung. Frauen* haben Angst, ihre Anliegen oder echte Meinung einzubringen oder verzichten gar auf nachfolgende Behandlungen (29). Um die Diskriminierungsprozesse entlang gesellschaftlicher Macht- und Ungleichheitsverhältnisse und die vielfältigen Formen der Marginalisierung zu verstehen, ist eine intersektionale Perspektive zentral. Das im US-amerikanischen Kontext von Schwarzen Feminist*innen entwickelte Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit dient der Artikulation verschiedener Erfahrungen und Perspektiven von gesellschaftlichen Gruppen, deren (potenzielle) Elternschaft gesellschaftlich als unerwünscht oder illegitim betrachtet wird (33). Die stratifizierten staatlichen sowie strukturellen Kontrollmechanismen (vgl. 34) wirken sich in einem verstärkten Masse auf die Versorgung und Betreuung von Personen aus, die bereits auf unterschiedliche Weise Diskriminierung erfahren und/oder besondere Bedarfe haben und werden verstärkt durch den ökonomisch bedingten Zeitdruck und Personalmangel (20). Es ist deshalb wichtig, dass Fachpersonen sich der Mehrdimensionalität von Diskriminierung bewusst sind und die Herausforderungen auf politischer, struktureller sowie individueller Ebene einordnen können.
Bei den zahlreichen Problemen, die sich bei der Behandlung von diversen Frauen* und Familien in der Geburtshilfe stellen, fühlen sich Geburtshelfende oft alleingelassen und sehr gefordert mit der Komplexität. Viele Sachzwänge hindern sie, flexibel auf die Bedürfnisse der Frauen* einzugehen. Komplexe Fälle fordern viel Zeit, die bei knappen Personalschlüssel nicht verfügbar ist. Engagieren sich die Fachpersonen trotzdem, kann das Gefühl aufkommen, andere Klientinnen dadurch zu vernachlässigen (27). Richtlinien sehen oft keine Alternativen für individuelle oder soziokulturell geprägte Präferenzen vor, z. B. für interventionsärmere Geburtshilfe. Dokumentationen sehen keine geschlechtsneutralen Formulierungen vor. Aufgrund nicht verfügbarer Dolmetschleistungen ist es schwierig, edukative und präventive Ziele zu verfolgen. Wenngleich viele der Probleme auf struktureller Ebene gelagert sind, ist die Stärkung der Kompetenz von Gesundheitsfachpersonen im Umgang mit gesellschaftlicher Diversität ein wichtiger gesundheitsstrategischer Schwerpunkt des BAG für die Erreichung einer chancengleichen Versorgung (1). Transkategoriale Kompetenz stellt eine mögliche Herangehensweise dar, um diskriminierendem Verhalten vorzubeugen. Sie lässt sich auf die heterogene und vielfältige Klientel in der Geburtshilfe anwenden und trägt ganz unterschiedlichen Diversitätsmerkmalen Rechnung.

Transkategoriale Kompetenz

Wir haben gezeigt, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der Beziehung von Nutzenden und Betreuungspersonen und dem geburtshilflichen Outcome. Die Interaktion zwischen Fachpersonen und einer diversen Klientel in der Geburtshilfe ist also von großer Bedeutung. Der Ansatz „gleiche Behandlung für alle“ ist nicht zielführend. Konzepte wie Ganzheitlichkeit, Frau-, Person- und Familienzentriertheit sind weitgehend anerkannt, aber in der täglichen Arbeit schwierig umzusetzen (36). In der Praxis müssen alle Interaktionen von den Beteiligten interpretiert und sinnvoll gedeutet werden. Um das Gegenüber richtig zu verstehen, ist es unerlässlich, in sozialen Kategorien zu denken. Dadurch werden automatisch Gleichheit oder Andersartigkeit zugeschrieben, was das Potenzial für unbeabsichtigte Diskriminierung durch implizite Zuordnungen birgt (35).
Aufgabe von Fachpersonen ist es, sich dieser Mechanismen bewusst zu werden und die Entstehung von Zuschreibungen in professionellen Interaktionssituationen zu hinterfragen – die eigenen und die des Gegenübers. Transkategoriale Kompetenz ist die Fähigkeit, individuelle Lebenswelten in der besonderen Situation und in unterschiedlichen Kontexten zu erfassen, zu verstehen und entsprechende, angepasste Handlungsweisen daraus abzuleiten (36). Durch die situative Herangehensweise wird jede Situation neu beurteilt, und die Normen und Werte sowie Bedürfnisse und Erwartungen der Betroffenen stehen im Zentrum. Transkategorial kompetente Fachpersonen reflektieren eigene lebensweltliche Prägungen und Vorurteile. Sie haben die Fähigkeit, die Perspektive anderer zu erfassen und zu deuten, und vermeiden Kulturalisierungen sowie Stereotypisierungen von bestimmten Zielgruppen (36). Durch Selbstreflexion setzt sich die Fachperson mit den eignen Werten und Überzeugungen auseinander, überdenkt eigene Haltungen sowie soziokulturell geprägte Wertvorstellungen und entwickelt ein Verständnis für das eigene Orientierungssystem.
Ferner gehört zu transkategorialer Kompetenz das Bewusstsein, dass in pluralen Gesellschaften komplexe Identitäten die Norm sind und der Lebenswelten von unterschiedlichen Kategorien, wie Mobilität, sexuelle Orientierung, Geschlecht, Behinderung, Alter usw. geprägt sind, die jede für sich oder intersektional zu Diskriminierungserfahrungen und sozialen Ausgrenzungen führen können (36). Die Ausweitung der ursprünglich zugrundeliegenden Definition von transkultureller Kompetenz auf weitere Diversitätsmerkmale zeigt auf, dass potenzielle Diskriminierung nicht nur bezüglich Kultur, sondern in Bezug auf jedes soziale Merkmal und jede Kategorie entstehen kann. Neben professionellen geburtshilflichen Fertigkeiten müssen Fachpersonen also die Zusammenhänge und Wechselwirkungen von sozialen Kategorien und reproduktiver Gesundheit verstehen. Ausserdem müssen sie sich mit dem Thema Diskriminierung auseinandersetzen und die eigenen Interaktionsmuster reflektieren.
Es scheint wichtig zu betonen, dass sich transkategoriale Kompetenz vom inzwischen überholten Verständnis der interkulturellen Pflege unterscheidet. Mit ihrer Theorie legte Leininger vor rund 50 Jahren den Grundstein dafür, dass jeder Mensch, ein durch seine Kultur, Werte und Normen sowie sein soziales Umfeld geprägtes ganzheitliches Wesen ist, welches das Bedürfnis hat, entsprechend diesen Vorstellungen zu leben, zu interagieren und behandelt zu werden (37). Pflegende sollten demnach Patienten unterschiedlicher Herkunft behandeln, indem sie die ihre Bedürfnisse in Zusammenhang mit ihrer Kultur berücksichtigen. Erstmals wurde in der Pflege der lebensweltlichen Prägung von Individuen eine zentrale Bedeutung beigemessen, was grundsätzlich anerkennenswert ist. Die Theorie baut aber auf einem Kulturverständnis auf, das die vorherrschende Kultur als Norm versteht. Die Bemühungen liegen auf dem Verständnis des Anderen, was Stereotypisierungen fördert, die im Einzelfall für das Lösen von konkreten Problemen nicht dienlich sind. Der Blick auf die Kultur der anderen verdrängt die Reflexion des eigenen Standpunktes. Bei der transkategorialen Kompetenz hingegen geht es u. a. ums Verstehen des Erlebten und der Interaktion und nicht ums Erklären des Anderen. Was transkategoriale Kompetenz im geburtshilflichen Kontext sein kann, zeigen die folgenden Beispiele.

Familiensysteme

Für Migrant*innen sind ihre Angehörigen eine wichtige Stütze vor und nach der Geburt, und zwar moralisch, praktisch und auch als Hilfe bei der Verständigung. Insbesondere weibliche Angehörige, die selbst Mütter sind, nehmen eine wichtige Rolle als Vorbild ein. Fachpersonen hingegen gelingt es nicht immer, die Angehörigen angemessen in den Betreuungsprozess einzubinden, oder sie nehmen diese als hinderlich wahr. Manche Angehörige fühlen sich unerwünscht, machen sich selbst Sorgen um die Situation und erhalten oft ungenügende Informationen. Von aussen betrachtet scheinen Migrationsfamilien häufig besonders geschlossen und schwer zugänglich zu sein (38). Die Interaktion im Kontext eines Familiensystems, welches von einem soziozentrierten Gruppenverständnis ausgeht, unterscheidet sich grundsätzlich von den Interaktionsmustern, die in individuumzentrierten Gesellschaften vorherrschend sind (36). Bei soziozentrierten Familiensystemen kann nicht einfach zwischen den Interessen eines Individuums und denen der Familie unterschieden werden, da beide Aspekte für den Einzelnen ein und dasselbe sind und der Familienzusammenhalt einen nicht in Frage gestellten Wert bedeutet. Bei Familien aus soziozentriert ausgerichteten Kontexten sollte die Familie in viel stärkerem Mass in die Betreuung einbezogen und Gruppenwerten und -zielen eine grössere Bedeutung beigemessen werden, als dies normalerweise bei Klientinnen aus individuumzentrierten Kontexten der Fall ist. Fachpersonen sollten erwägen, dass nur wenige Migrant*innen ein tragendes soziales Netzwerk im Gastland haben, und somit die gewählten Vertrauenspersonen eine besonders wichtige Funktion einnehmen und Mitbetroffene sind. Sie sollten die Angehörigen deshalb nicht nur als Unterstützende besser einbinden, sondern auch aktiv auf sie zugehen, sie umfassend informieren und ihre persönlichen Ängste und Anliegen ernst nehmen (39). Gelingt es der Fachperson, mit der Familie zusammenzuarbeiten, können protektive Faktoren und Ressourcen des familiären Systems besser genutzt werden (38).
Wenn LGBTI*Q-Menschen Kinder bekommen, wird die traditionell akzeptierte und verstandene Konzeptionalisierung von Familie herausgefordert. Gleichzeitig findet die Betreuung in einer vorherrschenden heteronormativen Kultur statt, in der die Bedürfnisse und Ängste von Betroffenen ignoriert, versteckt und kaum verstanden werden (40). Zur Förderung der institutionellen Sichtbarkeit und Auflösung heteronormativer Strukturen ist es wichtig, verschiedene Familienformen sprachlich und bildlich in Broschüren, auf Websites und in klinikinternen Dokumenten abzubilden. Dadurch, dass auch Berufsbezeichnungen inklusiv formuliert werden, kann einem potenziellen Gefälle zwischen Fachpersonen und Klientel entgegengewirkt werden. So sind nicht die zu Behandelnden, sondern alle Menschen divers, und die genderneutrale Ausdrucksweise wird zur Norm. An dieser Stelle sei erwähnt, dass obschon im Alltag der Begriff «Hebamme» häufig mit einer weiblichen Person/Frau in Verbindung gebracht wird, der Schweizerische Hebammenverband die Berufsbezeichnung Hebamme als geschlechtsneutral definiert (32). Bei Schwangerschafts- und Wochenbettkontrollen, Informationsveranstaltungen, Geburtsvorbereitungs- sowie Rückbildungskursen gilt es, auf inklusive Formulierungen sowie eine genderneutrale Sprache zu achten und nicht automatisch von einer heterosexuellen Beziehung oder einer Cis-Genderidentität auszugehen. Es ist wichtig, den sozialen Elternteil aktiv in Handlungen und Entscheidungen einzubeziehen und geschlechtsneutrale Bezeichnungen wie Eltern(teil) anstelle von Mutter und Vater zu verwenden, die Personen mit Namen anzusprechen und den Eltern die Möglichkeit bieten, die gewünschten Pronomen (z. B. sie/ihr) oder Bezeichnungen selbst zu äussern. Fachpersonen sollten für geschlechterspezifische Zuschreibungen rund um Schwangerschaft und Geburt (z. B. Gebärmutter) sensibilisiert sein und bei Bedarf lateinische Begriffe (z. B. Uterus) verwenden (32).

Diskriminierung

Menschen ausländischer Herkunft, non-binärer Geschlechtsidentität oder mit einer Behinderung berichten über Diskriminierungen in vielfältiger Form. Selten ist sich eine Fachperson eines diskriminierenden Verhaltens bewusst oder bekennt sich gar offen zu einer rassistischen Haltung. Jeder Mensch hat jedoch indirekte Vorurteile und unbewusste Präferenzen. Im geburtshilflichen Kontext kann sich diskriminierendes Verhalten in vielen Verhaltensformen manifestieren, z. B. in einer rein funktionalistischen und bevormundenden Behandlung, einem voyeuristischen und vorurteilgeprägtem Umgang bspw. bezüglich der Konzeption, der Auslassung von vertrauensfördernden Massnahmen, der Überzeugung, dass die angebotene Betreuung gut genug ist, weil sie besser ist als im Ursprungsland der Betroffenen ist, oder einem Urteil über die vermeintlich ungenügenden Integrationsbemühungen der Frauen* und Familien. Selten sind Diskriminierung mit offenkundig verbaler Herabsetzung verbunden, zumindest direkt gegenüber den Betroffenen. Häufiger hingegen fallen Urteile hinter geschlossener Tür, im formellen oder informellen Austausch im Behandlungsteam. Solche Haltungen und implizite Erwartungen werden unbewusst ausgedrückt und führen so zu negativen Empfindungen von Betroffenen. Transkategoriale Kompetenz kann Diskriminierungsverhalten entgegenwirken, indem Fachpersonen die Auswirkungen von Diskriminierung, Rassismus und Vorurteilen verstehen und die Rolle, die sie in der perinatalen Versorgung spielen können, erkennen. Sie sollten sich und andere zur Reflektion darüber anregen, wie sie über Menschen, die sich äusserlich oder in ihrem Verhalten von sich unterscheiden, denken und darüber, wie sich das eigene Denken und Werthaltungen in den Interaktionen in meinem beruflichen Alltag auswirken. Schliesslich sich der Frage stellen, wann es ihnen leichtfällt, empathisch auf das Gegenüber einzugehen und wann es Mühe bereitet, neutral und interessiert auf die Menschen zuzugehen. Die Art und Weise wie mit und über die Klient*innen gesprochen wird, ist ein Mediator für Diskriminierung (41).

Vertrauensaufbau

Eine kontinuierliche Betreuung durch Gynäkolog*innen und Hebammen schafft einen Betreuungsrahmen, in dem LGBTI*Q-Menschen nicht jedes Mail ihre sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität oder Familienzusammensetzung erklären müssen und minimiert Missverständnisse. Die Betreuung von Frauen * mit Behinderung, beispielsweise aufgrund von kommunikativen Schwierigkeiten ist häufig mit einem erhöhten Arbeitsaufwand seitens des Gesundheitspersonals verbunden. Das erfordert zusätzliche Ressourcen und steht im Spannungsfeld mit der zunehmend ökonomisierten Geburtshilfe. Auch für Migrant*innen, die unvertraut sind mit dem Leben und dem Gesundheitssystem vor Ort, ist Betreuungskontinuität sehr wichtig, wobei es in Anfangssituationen essentiell ist, vertrauensbildenden Prozessen genügend Raum zu geben. Das macht sich trotz knappen Zeitressourcen auf die Länge ausbezahlt. Vertrauensstiftend können einfache Gespräche über informelle Themen sein, gerade dann, wenn sprachliche Verständigungsprobleme vorliegen. Selbst wenn eine Frau* vermeintlich kein Deutsch versteht, sollte eine Fachperson durch Sprechen, Zugewandtheit und Interesse in Kontakt bleiben. Auch Kommunikationsformen wie Berührung können helfen, um im Kontakt zu bleiben (27). Fachpersonen mit Migrationshintergrund berücksichtigen in weit höherem Masse die «Geschichte» der Migrant*innen, haben weniger Angst vor zu grosser Nähe und wissen sich falls nötig angepasst abzugrenzen. Für manche Migrant*in mag es unverständlich erscheinen, wenn sie eine Fachperson mit einem bestimmten Anliegen aufsucht, und sie erst eine lange Anamnese, Untersuchungen, Labortests, geschweige denn unzählige administrative Praktiken über sich ergehen lassen muss. In solchen Fällen kann ein symptomorientiertes Handeln helfen, das Vertrauen zur Fachperson stärken. Indem diese dem Anspruch der Frau auf Soforthilfe begegnet, kann sie die Bereitschaft für alle anderen Erfordernisse erhöhen. Wünsche, Gewohnheiten und praktische Vorgehensweisen der Frauen* sollten die Fachpersonen respektieren und darauf aufbauen, sofern sie nicht schädlich sind.

Verankerung der transkategorialen Kompetenz

Im Rahmen der Nationalen Gesundheitsstrategie «Gesundheitliche Chancengleichheit» setzt sich die Schweiz dafür ein, die Versorgungsqualität von benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu verbessern und Zugangsbarrieren abzubauen (42). Bis vor kurzem konnten sich Kliniken dem Netzwerk «Swiss Hospitals for Equity» anschliessen lassen. Für Institutionen ist eine Sensibilisierung auf alle möglichen Diskriminierungsformen und Benachteiligung zentral. So zeigen die Evidenzen, dass Frauenpaare häufig «lesbian friendly» Kliniken aufsuchen, um negative Erfahrungen und Diskriminierungen zu vermeiden (40). Eine funktionierende interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit ist in komplexen Situationen zentral, bei komplexen Situationen gilt es ein Case-Management anzubieten (22, 32).
Es ist wichtig, die diversitätssensible Aus- und Weiterbildung zu fördern, um Unsicherheiten, soziale Zuschreibungen und Stereotypisierung seitens Gesundheitspersonal abzubauen (22, 32). Geburtshelfende müssen in der Lage sein, die individuellen Lebenswelten der Schwangeren, Personen und ihrer Familien situations- und kontextbezogen zu verstehen, um eine angemessene Betreuung anzubieten. Transkategoriale Kompetenz muss als unverzichtbarer Teil der professionellen Kompetenz eingestuft werden, und muss von den Fachpersonen in der Berufsausbildung erworben und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Gerade bei Fachpersonen, die sehr erfahren sind, besteht in professionellen Tätigkeiten die Gefahr, dass hohe Erfahrung mit Routine einhergeht. Deshalb ist bewusste Reflexion notwendig, um differenziert mit Diversitäten, Zuschreibungen und der Einschätzung von Einschränkungen und Ressourcen im professionellen Alltag umgehen zu können (35).
Der Erwerb transkategorialer Kompetenzen sollte in allen Ausbildungsplänen für Berufsgruppen in der Geburtshilfe verankert sein. Im Fachbereich Geburtshilfe der Berner Fachhochschule beispielsweise, sind die Inhalte in den Curricula des Hebammenstudiums spiralartig aufgebaut. Im ersten Studienjahr des Bachelor-Studiengangs Hebamme setzen sich die Studierenden mit transkultureller Kommunikation auseinander. Sie üben mit Simulationspatient*innen die Gesprächsführung mit einer Migrationsfamilie und reflektieren anhand einer Filmaufnahme die Übungssituation kritisch. Im dritten Studienjahr setzen sich die Studierenden mit den Themen Public Health, Frauengesundheit, Migration, Armut, Behinderung und LGTBI*Q auseinander. In Seminaren befassen sie sich u. a. mit rassistischer Diskriminierung, analysieren berufliche Situationen aus einer queer-feministischen Perspektive oder reflektieren partizipativ mit Menschen mit Menschen mit besonderen Umständen geburtshilfliche Situationen. Alle Sequenzen zielen darauf ab, die Hindernisse und die Möglichkeiten für die Hebammenbetreuung abzuleiten sowie den Zusammenhang und die Wechselwirkungen der jeweiligen Lebenswelt und der geburtshilflichen Situation herzustellen. Im Master-Studiengang Hebamme widmet sich schliesslich ein ganzes Modul der Diversität in der perinatalen Versorgung. Das Ziel des Moduls ist, durch ein vertieftes Verständnis für soziale Ungleichheit und Vulnerabilität Behandlungs- und Betreuungskonzepte auszuarbeiten, die zu einer chancengerechten Versorgung in der Geburtshilfe beitragen (43).
In der Praxis sollte die Möglichkeit zur Weiterentwicklung der transkategorialen Kompetenz aufrechterhalten werden. Weiterbildungen, Intervisionen und Fallbesprechungen im interprofessionellen Team können helfen, transkategoriale Kompetenzen zu verbessern und den Betreuungsprozess kontinuierlich zu reflektieren. Ein Ziel sollte auch darin bestehen, alle Beteiligten für diskriminierendes Verhalten zu sensibilisieren. Schliesslich können Indikatoren für transkategoriale Kompetenz in die regulären Qualitätsprozesse integriert werden und in den Leitlinien und Qualitätsstandards der Institutionen erscheinen (27). Durch die kontinuierliche Förderung transkategorialer Kompetenzen der Fachpersonen können Diskriminierungsmechanismen abgebaut werden und das Bewusstsein für Zugangsbarrieren verbessert werden. Die Bereitschaft gleichzeitig auch die unzähligen strukturelle Barrieren abzubauen, kann nur durch ein gemeinsames Verständnis erreicht werden.

MSc Paola Origlia Ikhilor

Berner Fachhochschule Gesundheit, Fachbereich Geburtshilfe
Murtenstrasse 10
3008 Bern

paola.origlia@bfh.ch

MA Anina Haefliger

Berner Fachhochschule Gesundheit, Fachbereich Geburtshilfe
Murtenstrasse 10
3008 Bern

anina.haefliger@bfh.ch

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Kulturelle Kompetenz in der klinischen Ethik

Einleitung

Die kulturelle Vielfalt im Schweizer Gesundheitswesen nimmt zu, was vor allem auf die Migration zurückzuführen ist. Mittlerweile haben rund 40% der Schweizer Wohnbevölkerung ab 15 Jahren einen Migrationshintergrund (Bundesamt für Statistik 2022). Folglich steigt der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund sowohl unter den Patient*innen als auch unter den Gesundheitsfachpersonen. In Bezug auf die Gesundheit und die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ist diese Bevölkerungsgruppe nicht homogen. Insbesondere Migrant*innen der ersten Generation aus Südwesteuropa sowie Ost- und Südosteuropa haben ein deutlich erhöhtes Risiko von Herz-Kreislauf-Krankheiten, Arthrose, Übergewicht und psychischen Belastungen betroffen zu sein. Sie konsultieren unterdurchschnittlich oft Hausärzt*innen, Spezialärzt*innen oder Zahnärzt*innen, besuchen dafür etwas häufiger Notfallstationen. Migrant*innen aus Nord- und Westeuropa unterscheiden sich bezüglich Gesundheit und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen hingegen kaum von der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (Bundesamt für Statistik 2020). Neben der Migration trägt auch die Pluralisierung von Lebensentwürfen zur Vielfalt im Gesundheitswesen bei. Das Krankenhaus ist zu einem kulturellen Mikrokosmos geworden, in dem unterschiedliche «Kulturen» – nicht zuletzt medizinische Kulturen – aufeinandertreffen (Saladin 2009). Gesundheitsfachpersonen sind täglich mit Menschen anderer kultureller Identitäten konfrontiert, deren Welt- und Wertvorstellungen teilweise als fremd erfahren werden. Dies führt im klinischen Alltag nicht selten zu Unsicherheiten oder Konflikten, die auch moralischer Natur sein können (Ilkilic 2007).
Im Umgang mit moralischen Konflikten im Gesundheitswesen haben sich zunehmend Strukturen des klinischen Ethik-Supports herausgebildet (Zentner et al. 2022). Das Ziel solcher Ethikstrukturen ist es, Gesundheitsfachpersonen, Patient*innen und Angehörige bei moralischen Fragen und Konflikten zu unterstützen, sei es in der ethischen Fallberatung, in der ethischen Aus-, Fort- und Weiterbildung oder bei der Ausarbeitung von medizin-ethischen Empfehlungen oder Richtlinien (SAMW 2017). Anfragen für klinische Ethikberatung entstehen häufig aus moralischen Wertkonflikten, das heisst aus widersprüchlich wahrgenommenen moralischen Verpflichtungen, was in einer Situation zu tun oder zu lassen ist. Sie können aber auch auf unterschiedliche Auffassungen der Situation oder auf eine besondere Bedürftigkeit oder Erwartungshaltung von Patient*innen zurückgehen. Werte, Auffassungen und Erwartungen von Menschen sind stark von ihrer kulturellen Identität geprägt. Kulturelle Diversität kann daher auch in der klinischen Ethikberatung relevant werden oder in Form eines erlebten «(inter-)kulturellen Konflikts» Auslöser für die Inanspruchnahme von klinischer Ethikberatung sein (Zentner et al. 2022). Für solche Probleme, die auf kulturell unterschiedlichen Identitäten beruhen und moralisch problematisch werden, wird in diesem Artikel der Begriff kulturell-moralisches Problem verwendet.
Im Umgang mit kultureller Diversität in der Gesundheitsversorgung hat sich vor allem in den USA, zunehmend aber auch in Westeuropa das Konzept der kulturellen Kompetenz durchgesetzt. Darunter wird die Fähigkeit von Gesundheitsfachpersonen verstanden, Menschen mit verschiedenen kulturellen Identitäten wirksam, sicher und qualitativ hochwertig medizinisch zu versorgen und dabei Aspekte ihrer kulturellen Identität angemessen zu berücksichtigen (Sharifi et al. 2019). Neben der individuellen Ebene der Begegnung von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Identitäten ist auch eine Team- und Organisationsebene zu unterscheiden, auf der es darum geht, den Umgang mit kulturellen Herausforderungen und Diversität im Team bzw. in der Organisation zu verbessern (Liu et al. 2021). Obwohl die Bedeutung des Konzepts im Gesundheitssektor inzwischen weithin anerkannt ist, ist bis heute keineswegs klar, was damit genau gemeint ist. Kritiker wenden ein, dass das Konzept einem problematischen Kulturbegriff Vorschub leistet und damit zu Stereotypisierung, Ausgrenzung («Othering») oder Bevormundung führen kann (Muaygil 2018). Auch ist die Wirksamkeit der mittlerweile zahlreich angebotenen Trainings in kultureller Kompetenz umstritten (Horvat et al. 2014; Shepherd 2019). In den letzten Jahren wurden daher verschiedene alternative Konzepte wie kulturelle Bescheidenheit, interkulturelle Effektivität, kulturelle Sensibilität, kultureller Respekt oder transkategoriale Kompetenz vorgeschlagen (Botelho und Lima 2020; Domenig 2021; Liu et al. 2021). Auch in der Medizinethik gibt es Autor*innen, die hinsichtlich kultureller Kompetenz in der Medizinethik – z.B. im Sinne einer «kultursensiblen Ethikberatung» – zur Vorsicht mahnen, weil dies zu moralischen Stereotypisierungen oder einem ethischen Relativismus führen könnte (Wild 2012; Bracanovic 2011; Coors et al. 2018).
In diesem Beitrag wird untersucht, welche Rolle kulturelle Kompetenz in der klinischen Ethik spielen sollte. Dazu wird in einem ersten Schritt das Verhältnis von Kultur und Ethik beleuchtet. Anschliessend wird die Rolle kultureller Kompetenz in der Medizinethik diskutiert. Der Beitrag schliesst mit Empfehlungen für einen kulturell kompetenten klinischen Ethik-Support.

Kultur und Ethik

Die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Ethik lässt sich philosophiegeschichtlich bis in die Antike zurückverfolgen. Für Aristoteles, den Gründervater der philosophischen Disziplin der Ethik, sind Menschen wesentlich Vernunftwesen (ausgestattet mit Gefühl und Willen) und ein gutes Leben deshalb ein Leben, das der Reflexion einen zentralen Stellenwert einräumt (Aristoteles 2002). Menschen sind aber gleichzeitig soziale und politische Wesen («zoon politikon»), sie sind eingebettet in eine Gemeinschaft, ohne die sie ihre Fähigkeiten nicht entfalten und das gute Leben nicht verwirklichen können. Die Ethik als Wissenschaft vom guten Leben vollendet sich in der idealen Gemeinschaft, der Polis, einem unabhängigen Staat, in dem die vernünftigen Bürger gemeinsam das gute Leben verwirklichen. Freilich hatten für Aristoteles neben Frauen auch Sklaven, Kaufleute und Fremde kein Bürgerrecht. Die Bestimmung des Menschen als eines leiblichen Vernunftwesens und der praktischen Klugheit («phronesis») als der Fähigkeit, durch richtige Überlegung das in einer Situation im Sinne des menschlich Guten Angemessene zu tun, weist jedoch über die jeweilige soziale und kulturelle Praxis – und auch über Aristoteles’ eigene Vorurteile – hinaus.
Radikalisiert wird dieser Gedanke bei Immanuel Kant in der Epoche der Aufklärung (Kant 2003). Er versteht Ethik als Wissenschaft der reinen praktischen Vernunft, die Gefühl, Gemeinschaft und Kultur transzendiert. Menschen sind bei Kant wesentlich Vernunftwesen, die sich einen Begriff von der Welt machen, sich in ihrem Handeln frei bestimmen und sich als selbstbewusstes Ich verstehen können. Darin begründet sich für Kant die sittliche Achtung vor den Mitmenschen: Ich erkenne meine Vernunftfähigkeit im anderen. Darin gründet der kategorische Imperativ, den anderen nie nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich, d.h. als sich im Handeln autonom Bestimmenden zu begreifen.
Für den späten Wittgenstein hingegen gründen alle begrifflichen und moralischen Regeln letztlich in den Sprachspielen, mit denen wir aufgewachsen sind und die wir täglich spielen (Wittgenstein 1984). Wir verstehen Aussagen nur, wenn wir wissen, unter welchen Umständen wir sie verwenden können («Sprechakte»), und wir wissen dies, wenn wir die Sprachspiele praktizieren, in denen solche Sprechakte verwendet werden. Die Einsicht in moralische Prinzipien setzt also eine Gemeinschaft moralisch denkender und sprechender Wesen oder – wie man auch sagen könnte – eine Kultur der Moral («Ethos») voraus.
In der modernen Bio- und Medizinethik wird das Verhältnis von Kultur und Ethik seit den 2000er Jahren intensiv – und kontrovers – diskutiert. Bracanovic (2011) spricht von einer «kulturellen Wende» in der Bioethik, die verschiedene Ansätze einer kultursensiblen Bioethik hervorgebracht hat («Cross-Cultural Bioethics», «Cultural Engagement in Clinical Ethics», «Global Bioethics», «Postcolonial Bioethics»). Diese Wende geht auf eine kritische Auseinandersetzung mit traditionellen Modellen der Bioethik zurück (siehe Tabelle 1). Diese wurden als zu vereinfachend und zugunsten westlicher Werte voreingenommen angesehen werden. Von der Einbeziehung kultureller Aspekte erhofft man sich eine Kontextualisierung bioethischer Fragestellungen und damit eine Verbesserung der Entscheidungsfindung. Im Zentrum dieser Ansätze steht dabei der Respekt vor der kulturellen Vielfalt im Gesundheitswesen. Vertreter*innen einer kultursensiblen Bioethik betonen, dass moralische Normen immer schon in kulturelle und soziale Kontexte eingebunden und nicht unabhängig davon zu verstehen sind (Turner 2003; Chattopadhyay und Vries 2013). Der klassische, prinzipienorientierte Ansatz der Bioethik von Beauchamp und Childress (2019) basiere auf einem anglo-amerikanischen Moralverständnis und könne nicht auf andere kulturelle Kontexte übertragen werden («moral imperialism»). Dieser Ansatz sei in pluralistischen Gesellschaften nur eingeschränkt anwendbar, u.a. da er ethnografische und religiöse Informationen vernachlässige und auf Dichotomien und individuelle Autonomie fokussiere, statt auf Ausgleich und Gemeinsinn (Bowman 2004). In der Bioethik sollte es vielmehr darum gehen, die aus der kulturellen Vielfalt resultierende moralische Vielfalt anzuerkennen. Aufgabe einer kultursensiblen Bioethik sei es, eine gemeinsame Handlungsgrundlage zwischen verschiedenen Kulturen zu finden und dabei die kulturelle und moralische Vielfalt zu respektieren (Chattopadhyay und Vries 2013).
Einige Autor*innen stehen dieser Wende hin zu einer kultursensiblen Bioethik jedoch skeptisch gegenüber (Bracanovic 2011, 2013; Have und Gordijn 2011). Für Bracanovic (2011) besteht eine konzeptionelle Herausforderung bereits darin, den Kulturbegriff klar zu definieren bzw. die kulturelle Identität von Menschen eindeutig zu beschreiben. Im Einzelfall bestehe daher die Gefahr, dass Beschreibungen kultureller Aspekte vage und unbestimmt bleiben und damit für die ethische Entscheidungsfindung wenig hilfreich seien. Eine weitere Herausforderung ergebe sich aus der Tatsache, dass Kulturen adaptive Systeme seien, die angesichts des raschen natürlichen und sozialen Wandels der Gegenwart einem ständigen Wandel unterworfen seien. Dies wirft die Frage auf, ob Kulturen einen stabilen normativen Rahmen für medizinethische Fragen darstellen. Zudem würden Menschen selten alle Überzeugungen und Werte ihrer Kultur teilen. Dies berge die Gefahr der Stereotypisierung und der Vernachlässigung individueller Zugänge zu kultureller Identität. Es stelle sich daher die Frage, warum kulturelle Unterschiede stärker gewichtet werden sollten als individuelle Unterschiede. Wäre nicht vielmehr eine personensensible Bioethik erforderlich? Diese Forderung sei obsolet, da die individuellen Wertvorstellungen und Lebensentwürfe von Patient*innen durch das klassische Prinzip des Respekts vor der Autonomie hinreichend berücksichtigt würden (Bracanovic 2011). Auch Bracanovic (2011) betont die Bedeutung einer kultursensiblen Hermeneutik, d.h. die Fähigkeit, kulturell unterschiedliche Welt- und Wertvorstellungen zu verstehen. Dies impliziere jedoch keine relativistische Ethik, nach der alle kulturellen Welt- und Wertvorstellungen auch toleriert werden müssten.

Kulturelle Kompetenz und Medizinethik

In der medizinethischen Literatur hat sich weitgehend ein konstruktivistischer Kulturbegriff durchgesetzt, der Kultur als «komplexes Gewebe unzähliger aufeinander bezogener, wissensbasierter, dynamischer Praktiken und Praxisfelder» versteht, die nicht – wie im essentialistischen Kulturbegriff unterstellt – objektiv, statisch und diskret sind, sondern in Selbst- und Fremdzuschreibungen interpretativ erschlossen werden (Straub et al. 2007). Bezeichnungen wie «die albanische Kultur», «der türkische Patient», «die Familie mit Migrationserfahrung» oder «die afroamerikanische Ärztin» sind mit Vorsicht zu verwenden, da sie einen essentialistischen Kulturbegriff implizieren und mit der Gefahr der Stereotypisierung bzw. Kulturalisierung, d.h. der Zuschreibung individueller Eigenschaften aufgrund kultureller Zugehörigkeit, einhergehen. In der Praxis der klinischen Ethik dürfte eine stereotypisierende Verwendung solcher Begriffe jedoch ebenso vorkommen wie in der medizinischen Praxis (Karger et al. 2017). Für klinische Ethikberater*innen ergibt sich daraus die Verpflichtung, die stereotypisierenden Sprachformen (und dahinterliegende Machtverhältnisse) zu reflektieren und auf die einzelne Person oder die Personen, um die es geht, zurückzuführen. Ziel dieser Reflexion sollte dabei gemäss Inthorn (2018) die «Verflüssigung der Kategorien» sein, um eine Verständigung über die Identität, Erwartung und Erfahrung der Person(en) zu ermöglichen, ohne sie damit vollständig charakterisieren zu wollen.
Weniger breit rezipiert ist die These von Perkins (2008), dass der wichtigste kulturelle Unterschied in der Patientenversorgung häufig derjenige zwischen medizinischen Fachpersonen und Laien ist. Die Medizin kann aufgrund der spezifischen Ausbildung, Sprache, Praktiken, Hierarchien und des medizinischen Ethos als eigenständige Kultur gelten. In einem weiten Sinn sind selbst Gesundheitsinstitutionen als Kulturatope zu verstehen, d.h. als kulturelle Orte, die die Akteur*innen einer bestimmten Ordnung unterstellen, die vorgibt, welche Ziele nach welchen Regeln verfolgt werden sollten und was entsprechend als «erfolgreiches» Handeln gilt (Straub et al. 2007). Perkins (2008) identifiziert sechs Dimensionen, in denen typischerweise kulturelle Unterschiede zwischen medizinischen Fachpersonen und Laien auftreten (siehe Tabelle 2). Da eine Verständigung in diesen Dimensionen offensichtlich eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen einer gemeinsamen Entscheidungsfindung ist, ist diese auch moralisch geboten. Sofern diese Transferleistung in der Arzt-Patienten-Kommunikation nicht gelingt, kann es daher durchaus als Aufgabe der klinischen Ethik verstanden werden, zu einer gelingenden Verständigung zwischen Fachpersonen und Laien – direkt oder indirekt – beizutragen. Für Situationen im Klinikalltag, die aus Sicht der Beteiligten aus kulturellen Gründen moralisch problematisch erscheinen, wird in der Literatur häufig der Sammelbegriff (inter-)kultureller Konflikt verwendet. Darunter wird ein breites Spektrum an Herausforderungen verstanden, die auf eine unzureichende Verständigung oder Probleme des Dolmetschens, kulturell geprägte Verhaltensweisen und Bedürfnisse (z.B. religiöse Rituale, Speisevorschriften, Tabus, Schmerzbeschreibungen), kulturell geprägte Weltbilder und Wertvorstellungen (z.B. Krankheitsvorstellungen, Einstellungen zu Sterben und Tod, Rollenvorstellungen, Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft), Diskriminierung, Stigmatisierung und Rassismus oder den fehlenden Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zurückgehen (Ilkilic 2007; Ilkilic 2017; Würth et al. 2018; Staar und Kempny 2019; Traub 2022). Diese Herausforderungen können in allen Situationen des Klinikalltags auftreten, bei der Anamnese, der Diagnostik, dem Diagnosegespräch, der gemeinsamen Entscheidungsfindung, dem Angehörigengespräch, dem Angehörigenbesuch, der Behandlung oder der Nachsorge. Fallbeispiele zu solchen Herausforderungen finden Sie im vorliegenden Themenheft (z.B. Ilkilic 2023).

Welche Relevanz haben solche kulturellen Herausforderungen im Kontext der klinischen Ethik? Der primäre klinische Bezugspunkt sind moralische Konflikte zwischen Patient*innen, Angehörigen und Behandelnden, d.h. eine wahrgenommene Unvereinbarkeit moralischer Positionen. Neben dem moralischen Konflikt gibt es jedoch auch andere Problemtypen, die kulturell geprägt und ethisch relevant sein können. Bruchhausen (2014) hat eine hilfreiche Typologie kulturell-moralischer Probleme vorgeschlagen. Er unterscheidet zwischen 1.) Missverständnissen, die auf mangelndem Verständnis der jeweils anderen kulturell geprägten Sichtweise beruhen und die Arzt-Patienten-Kommunikation behindern, 2.) Bewertungsdifferenzen, die trotz weitgehender Verständigung und ausreichender gemeinsamer Wertebasis auf einer divergierenden Bewertung der Situation beruhen, 3.) Diskriminierung, d.h. die individuelle oder strukturelle Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer kulturellen Identität und 4.) Wertedifferenzen, d.h. Konflikte, die aus zumindest primär unvereinbaren moralischen Verpflichtungen resultieren. Klinische Ethiker*innen sollten sich daher bewusst sein, dass kulturelle Identitäten die Wahrnehmungen und Einstellungen in nahezu allen Handlungsfeldern der Patientenversorgung substanziell beeinflussen können und welche kulturell-moralische Probleme sich daraus ergeben können.
In der Medizinethik wurden verschiedene Ansätze vorgeschlagen, um mit solchen kulturell-moralischen Problemen umzugehen (vgl. Grützmann 2014). Orr et al. (1995) identifizierten vier Elemente, die für die Lösung solcher Probleme wesentlich sind: 1.) eine effektive Kommunikation mit Patient*innen und ihren Familien, 2.) Sensibilität für den kulturellen Hintergrund der Patient*innen, 3.) das Erkennen von kulturübergreifenden Wertkonflikten und 4.) die Kompromissbereitschaft. Zu diesen Elementen geben sie verschiedene Empfehlungen (siehe Tabelle 3) (Orr et al. 1995).
Während diese Auflistung insbesondere zur Kultursensibilität wertvolle Hinweise enthält, sind die Empfehlungen zur Erkennung und Lösung moralischer Konflikte weniger konkret. Hier setzt der dreistufige Ansatz von Jecker et al. (1995) zur Lösung kulturell-moralischer Konflikte an. Im ersten Schritt (1.) geht es darum, die zentralen Ziele zu identifizieren, die sowohl Patient*innen als auch Fachpersonen in die Begegnung mitbringen. Dazu müssten die moralischen Werte und kulturellen Orientierungen der Patient*innen und ihren Angehörigen von den Fachpersonen offen und vorurteilsfrei erfragt werden. Im zweiten Schritt (2.) seien für beide Seiten akzeptable Strategien zur Erreichung dieser Ziele zu suchen. Dies kann in einem gemeinsamen Entscheidungsfindungsprozess oder in einem Familiengespräch geschehen, idealerweise mit einer transkulturell dolmetschenden Person. Im letzten Schritt (3.), der ethischen Reflexion, ist die moralische Angemessenheit der diskutierten Strategien durch die Fachkräfte zu bewerten. Diese Reflexion erfolgt nach Jecker et al. wiederum in drei Phasen: Erstens (i.) wird geprüft, ob die Strategien zwei zentralen ethischen Kriterien genügen: der Vereinbarkeit mit den persönlichen und professionellen Werten der Fachkräfte einerseits und der Vereinbarkeit mit den Werten der Patientin oder des Patienten und ihrer/seiner kulturellen Identität andererseits. Wenn dies nicht zu einer Klärung führt, sollten zweitens (ii) alle Beteiligten ihre eigenen moralischen Prinzipien und Verpflichtungen kritisch hinterfragen, um sie im Lichte der Situation neu zu interpretieren, zu ordnen oder zu modifizieren. In der dritten Phase (iii.) sollen verbleibende Differenzen in einem fairen und nichtdiskriminierenden Verfahren beigelegt werden (Jecker et al. 1995). Hinsichtlich der Ausgestaltung dieses Verfahrens bleiben viele Fragen offen. Die Autor*innen betonen, dass die divergierenden Positionen in diesem Verfahren als moralisch gleichwertig zu betrachten seien.
Andere Autor*innen, die sich um einen kompetenten Umgang mit kulturellen Konflikten bemühen, argumentieren hingegen, dass es Grenzen geben muss, was Patient*innen und Angehörige in Namen kultureller Werte moralisch einfordern können. Für Paasche-Orlow (2004) ist eine kulturell kompetente Patientenversorgung ein moralisches Gut, das sich aus der moralischen Verpflichtung zur Respektierung der Patientenautonomie und der Gerechtigkeit ergebe. Daraus abgeleitet ergebe sich die Verpflichtung von Fachpersonen, die kulturelle Identität von Patient*innen verstehen zu lernen, die kulturellen Unterschiede zu respektieren und die negativen Folgen kultureller Zugehörigkeit zu vermindern. In diesem Sinne seien kulturelle Kompetenz und westliche Medizinethik Bewegungen, die sich weitgehend gegenseitig stützen. Wenn jedoch echte moralische Dilemmata auftreten, könnten Fachpersonen nicht gezwungen werden, gegen ihr Gewissen zu handeln. Viele moralische Grundwerte seien in Gesetzen und Praxisstandards kodifiziert, und in den meisten Fällen könnten Fachpersonen bei moralischen Dilemmata ohne erhebliche Nachteile für ihre Patienten in den Ausstand treten (Paasche-Orlow 2004).
Für Hyun (2008) kann die Position des ethischen Relativismus – entgegen dem Anschein – eine tolerante Haltung zwischen verschiedenen Kulturen gerade nicht begründen, da es keine Garantie gibt, dass alle Kulturen den Wert der Toleranz anerkennen. Dazu bedürfe es der Grundüberzeugung, dass alle Menschen den gleichen moralischen Wert haben. Diese Überzeugung schließe den Gedanken ein, dass die Gesundheit und das Wohlergehen jeder Person unabhängig von kulturellen Unterschieden gleich wichtig seien. Die Grenzen der Toleranz lägen dort, wo die moralische Gleichwertigkeit von Menschen geleugnet werde. Dort sei es die Aufgabe der Fachpersonen, die moralischen Wertvorstellungen der Patient*innen und Angehörigen sanft, aber bestimmt in Frage zu stellen. Um solche Konflikte zu lösen, sei ein substantieller ethischer Dialog zwischen allen Beteiligten notwendig, zum Beispiel im Rahmen einer klinischen Ethikberatung (Hyun 2008).
Carter und Klugman (2001) gehen in ihrem Ansatz des «cultural engagement» noch spezifischer auf die Rolle der klinischen Ethik ein. Ihr Modell zielt darauf ab, die kulturellen Identitäten von Patient*in und Fachpersonen zu bewahren und gleichzeitig die Zusammenarbeit zwischen ihnen zu verbessern. Die Aufgaben der klinischen Ethiker*innen werden von der Moderation und Verhandlung moralischer Konflikte auf die aktive Vermittlung eines interkulturellen Verständnisses im Sinne von Kulturmittler*innen erweitert. Werden klinische Ethiker*innen um Unterstützung bei einem kulturell-moralischen Problem gebeten, sollen sie die Patient*innen und die Fachpersonen zunächst getrennt befragen, um deren Interpretation der Krankheit und des Behandlungsverlaufs zu verstehen. Die Antworten sollen verbal in einem Diagramm festgehalten werden, das den klinischen Ethiker*innen hilft, unterschiedliche Überzeugungen und Werthaltungen zu erkennen (siehe Tabelle 4). Auf dieser Basis könnten klinische Ethiker*innen einem nächsten Schritt in einen gemeinsamen Dialog mit den Beteiligten treten und gegenseitiges Verständnis und Vertrauen aufbauen. Dies ermögliche eine Annäherung der Positionen, ohne dass die Beteiligten ihr eigenes Wertesystem kompromittieren oder verändern müssten (Carter und Klugman 2001).

Ilkilic (2014) weist darauf hin, dass klinische Ethiker*innen nicht nur das Krankheitsverständnis, sondern auch die Wertvorstellungen der Patient*innen explizit untersuchen sollten. Ilkilics «integrativ-reflektierender partikularistischer Ansatz», der sich von einem universalistischen und relativistischen Ansatz abgrenzt, zielt darauf ab, kulturelle Wertvorstellungen im klinischen Ethik-Support besser zu berücksichtigen. Freiheit sei als ethisches Grundprinzip anzuerkennen, eine unreflektierte Anwendung des Autonomieprinzips sei jedoch zu vermeiden. Vielmehr sollten klinische Ethiker*innen herausfinden, was die Patient*innen selbst unter Patientenautonomie verstünden. Die individuellen, kulturell geprägten Wertvorstellungen der Patient*innen dienen dabei als Ausgangspunkt des Gesprächs. Eine unkritische Übernahme der kulturellen Praxis («kulturalistischer Fehlschluss») könne so vermieden werden. Dazu sei ein kultursensibler, ergebnisoffener Kommunikationsprozess notwendig. Erst danach könne konkretisiert werden, was dieses Autonomieverständnis für die Situation der Patient*innen und den weiteren Entscheidungsprozess bedeute. Ilkilic weist darauf hin, dass ethische Kompetenz und (inter-)kulturelle Kompetenz nicht gleichzusetzen sind – dementsprechend müsse (inter-)kulturelle Kompetenz in der Aus-, Fort- und Weiterbildung für klinische Ethiker*innen gezielt vermittelt werden (Ilkilic 2014).
Solche Programme zur Vermittlung kultureller Kompetenz in der Medizinethik existieren beispielsweise bereits in den USA (Miller und Loike 2012; Brunger 2016). Brunger nennt sechs zentrale Lernziele eines solchen Programms: 1.) Biomedizin und Medizinethik sind kulturelle Systeme; 2.) zu einer kulturübergreifenden Medizinethik gehört die kritische Selbstreflexion der eigenen Werte und Annahmen; 3.) Kultur prägt alle Entscheidungen, nicht nur die «problematischen»; 4.) wenn bioethische Prinzipien nicht mit den Wertvorstellungen der Patient*innen übereinstimmen, müssen beide auf den Prüfstand; 5.) kulturelle Zugehörigkeit ist kein Prädiktor für Überzeugungen und Verhalten einer Person; und 6.) im Kontext westlicher Gesundheitssysteme müssen Fachpersonen eine Grenze ziehen, welche Risiken sie nicht mehr verantworten können (Brunger 2016). Professionelle Standards der klinischen Ethik enthalten zudem allgemeine Verpflichtungen, die auch für den Umgang mit kulturell-moralischen Problemen relevant sind, z.B. die Fähigkeit, kulturelle Wertunterschiede zu erkennen und konstruktiv in den klinischen Ethik-Supports einzubringen (American Society for Bioethics and Humanities 2011; Akademie für Ethik in der Medizin 2019). MacDuffie et al. (2022) empfehlen obligatorische Schulungen zur Erkennung von (individueller und struktureller) Diskriminierung, Stigmatisierung und Rassismus für klinische Ethiker*innen. Zudem führen die Autor*innen in ihrem Ethik-Supportdienst Ethikberatungen, die die gesundheitliche Chancengleichheit betreffen, immer zusammen mit einer Person der Abteilung Diversity Management durch, dies vor dem Hintergrund, dass fast alle Personen in ihrem Team nicht-hispanisch und weisser Hautfarbe sind und selbst keine Rassismuserfahrungen gemacht hätten. Madison et al. (2022) fordern konsequenterweise eine Diversifizierung von Ethik-Supportteams in den USA.

Kulturell kompetente klinische Ethik

Es gibt überzeugende Gründe dafür, dass klinische Ethiker*innen sich um einen kulturell kompetenten Umgang mit Patient*innen, Angehörigen und medizinischen Fachpersonen bemühen sollten. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung ist nur auf der Basis einer vertrauensvollen Beziehung möglich, die eine grundlegende Wertschätzung der kulturellen Identität des Gegenübers und eine ausreichende sprachliche und kulturelle Verständigung voraussetzt. Klinische Ethiker*innen sollten sich daher für eine niederschwellige Einbeziehung von professionellen Sprach- oder transkulturellen Dolmetscher*innen einsetzen und durch eine sorgfältige Exploration der Überzeugungen und Werthaltungen aller Beteiligten zu einem gemeinsamen Verständnis beitragen. Die Vermittlung von «Kulturwissen» gehört hingegen nicht zur Aufgabe klinischer Ethiker*innen. Bei kulturell-moralischen Problemen ist ein offener Dialog mit allen Beteiligten über die bestehenden Behandlungsoptionen zu führen, eine gemeinsame ethische Abwägung der Gründe für und wider vorzunehmen und die Möglichkeit eines begründeten Kompromisses auszuloten. Dabei sind die kulturellen Wertvorstellungen der Patient*innen im Rahmen des Patientenwillens und der subjektiven Lebensqualität zu respektieren, aber auch die Grenzen dessen, was medizinische Fachpersonen im Rahmen der medizinischen Indikation und ihrer Gewissensfreiheit verantworten können. Insofern unterscheidet sich das Verfahren der ethischen Güterabwägung bei kulturell-moralischen Konflikten nicht grundsätzlich von anderen moralischen Konflikten.
Die Grundhaltung klinischer Ethiker*innen sollte ein Bewusstsein für die Bedeutung kultureller Überzeugungen und Werte für die Gesundheitsversorgung und für die eigene kulturelle Identität, eine Selbstreflexion der eigenen kulturellen Vorannahmen und Verhaltensweisen, Bescheidenheit hinsichtlich dessen, was man über kulturelle Identitäten zu wissen glaubt, eine Haltung des Respekts und der Wertschätzung anderer kultureller Identitäten und ein Engagement für gesundheitliche Chancengleichheit beinhalten.
Auf der strukturellen Ebene einer Ethikberatungsstelle sollten sich klinische Ethiker*innen für die Etablierung von Netzwerken mit Kooperationspartnern bei kulturell-moralischen Problemen sowie für eine angemessene Aus-, Fort- und Weiterbildung in kulturell kompetenter klinischer Ethikberatung einsetzen.
Für die Umsetzung eines kulturell kompetenten klinischen Ethik-Supports kann eine Liste konkreter Dos und Don’ts hilfreich sein (siehe Tabelle 5).

Fazit

Sprache, kulturelle Identität und Wertvorstellungen von Patient*innen, Angehörigen und medizinischen Fachpersonen beeinflussen massgeblich die Patientenversorgung und können im Einzelfall zu kulturell-moralischen Problemen wie Missverständnissen, Bewertungsdifferenzen, Diskriminierungen oder Wertkonflikten führen. Von der klinischen Ethik ist zu erwarten, dass die Mitarbeitenden sensibel, reflektiert, empathisch, respektvoll und fair – eben kulturell kompetent – mit solchen Problemen umgehen können.

Dr. sc. med. Jan Schürmann

Abteilung Klinische Ethik, Universitätsspital Basel (USB)
Spitalstrasse 22
4031 Basel

jan.schuermann@usb.ch

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Palliative Care im Migrationskontext

Palliative Care im Migrationskontext ist primär eine auf den jeweiligen Menschen zugeschnittene diversitätssensible Behandlung und Betreuung. Menschen mit Migrationshintergrund haben bei schwerer fortgeschrittener Erkrankung grundsätzlich ähnliche Bedürfnisse wie der Rest der Bevölkerung: Sie möchten möglichst frei von Schmerzen und anderen belastenden Symptomen sein und wünschen sich im Sterben Beistand durch ihre Angehörigen sowie Unterstützung durch kompetente Gesundheitsfachpersonen, mit denen sie sich wenn immer möglich in ihrer Muttersprache unterhalten können. Eine transkulturelle Kompetenz und Erfahrung in der Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund erleichtert es, Werte, Wünsche, aber auch Sorgen und Ängste der kranken Menschen aus der Migrationsbevölkerung und ihrer Angehörigen zu verstehen und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. Bestimmend hierfür ist oftmals nicht die Ursprungskultur der Betroffenen, sondern ihre Lebens- und Migrationsgeschichte, ihre Bildung, ihr sozioökonomischer Status und ihre Position und Rolle innerhalb des sozialen Umfeldes. Gespräche über die Natur und Prognose einer ernsten Erkrankung sollen immer primär mit der betroffenen Person geführt werden. Nur falls diese Gespräche und die Entscheidungshoheit an ein Familienmitglied delegiert, kommt eine indirekte Kommunikation in Frage, wobei darauf zu achten ist, dass Entscheidungen im Sinne des erkrankten Menschen und nicht der stellvertretend entscheidenden Person gefällt werden.

Einführung

Palliative Care ist gemäss Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patientinnen und Patienten sowie ihren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen. Dies geschieht durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art [1].
Obwohl in den letzten beiden Jahrzehnten immer wieder nachgewiesen werden konnte, dass der Einsatz von Palliative Care zu einer Verringerung der Symptomlast und zu einer Verbesserung der Lebensqualität führt [2,3,4,5], ist bekannt, dass ein Teil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund die Angebote von Palliative Care deutlich seltener nutzt und auch mit der Betreuung am Lebensende unzufriedener ist als derjenige Bevölkerungsanteil ohne Migrationshintergrund [6,7,8]. Die Gründe für die vergleichsweise seltenere Inanspruchnahme der Angebote sind vielfältig. Bemerkenswert aus Sicht der Leistungserbringenden ist sicher die Tatsache, dass die Angebote noch viel zu wenig auf die Migrationspopulation zugeschnitten sind: Im Rahmen einer vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Auftrag gegebenen Studie zeigte sich, dass bei den zehn grössten Anbietern von Spezialisierter Palliative Care in der Schweiz lediglich Informationsmaterial in den Landessprachen zur Verfügung stand, nicht aber in denjenigen der wichtigsten Migrationspopulationen. Nach eigener Einschätzung war nur bei den wenigsten der untersuchten Institutionen genügend transkulturelle Kompetenz bei den Fachpersonen vorhanden [9].
Wenn in der Schweiz der Begriff der Bevölkerung mit Migrationshintergrund verwendet wird, sind damit alle in der Schweiz lebenden Menschen ohne Schweizer Pass gemeint, aber auch Eingebürgerte und Kinder von Menschen, die nicht als Schweizerinnen oder Schweizer geboren wurden. Insgesamt sind dies in der Schweiz 37,2% der Bevölkerung [10]. In Deutschland lag der Bevölkerungsanteil von Menschen mit Migrationshintergrund im Jahr 2022 bei 28,7% [11], in Österreich bei 26,4% [12].
Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist sehr heterogen, namentlich was die Altersstruktur, die Lebensbedingungen im Herkunftsland, die Kultur, die Aufenthaltsdauer und den aufenthaltsrechtlichen Status, den Bildungsstand, den ausgeübten Beruf sowie das Einkommen betrifft [13]. In der Schweiz lebende Menschen aus Nord- und Westeuropa sind im Gegensatz zu den restlichen ausländischen Staatsangehörigen gebildeter sowie einkommensstärker und haben ausgezeichnete Lebensbedingungen [14]. Der Zugang zu den Angeboten von Palliative Care dürfte für diese Bevölkerungsgruppe vergleichbar sein mit demjenigen der seit Jahren ortsansässigen Schweizer Bevölkerung. Man darf auch davon ausgehen, dass diesen Menschen der uns mittlerweile vertraute Ansatz von Palliative Care bekannt ist. Dieser hat sich in Mittel- und Nordeuropa sowie Nordamerika als ein kulturelles Konzept angelsächsisch und säkular geprägter hochentwickelter Wohlstandsgesellschaften entwickelt, ausgerichtet auf individuelle Autonomie und informierte Entscheidungsfindung durch die kranken Menschen selbst [9]. Dieser Fokus auf Selbstbestimmung und eigenständige Entscheidungen ist Menschen aus Südosteuropa und aus den meisten aussereuropäischen Staaten ausser denjenigen aus Nordamerika und Australien mehrheitlich nicht vertraut. Hinzu kommt, dass diese Population von doch deutlich über einer halben Million Menschen gegenüber der einheimischen Schweizerischen Bevölkerung in vielerlei Hinsicht benachteiligt ist: Typisch ist oftmals ein geringer Bildungsstand, aufgrund mangelnder sozialer Beziehungen eine schlechte Integration, finanzielle Schwierigkeiten und oftmals auch ein unbefriedigender Gesundheitszustand [14].
Es ist davon auszugehen, dass sämtliche Menschen mit Migrationshintergrund am Ende des Lebens grundsätzlich ähnliche basale Bedürfnisse haben wie der Rest der Bevölkerung in der gleichen Situation: Auch sie wünschen sich ein schmerz- und symptomarmes Sterben und möchten Zeit mit ihrer Familie oder ihren Freunden verbringen. Daneben kann es aber zusätzliche spezifische Bedürfnisse geben; zu den wichtigsten gehört wohl der Wunsch, mit Gesundheitsfachpersonen in der eigenen Sprache kommunizieren zu können [13].
Daneben werden in der Literatur zahlreiche weitere Punkte aufgeführt, die vor allem für die Migrationsbevölkerung aus Südosteuropa, teilweise auch für diejenige aus Südeuropa und diejenige aus aussereuropäischen Staaten von Relevanz sind (Tabelle 1) [9,13,15].

Kultur und transkulturelle Kompetenz

Nach Cain CL et al. entspricht Kultur einem dynamischen Konzept, das sich beeinflusst durch historische, politische und soziale Gegebenheiten fortlaufend entwickelt und anpasst. Im Rahmen dieses Konzeptes bilden sich Subgruppen von Menschen, die sich einander zugehörig fühlen. Diese Subgruppen schaffen für sich ein System von Überzeugungen, Werten und Lebensstilen, das ihren Mitgliedern ein Gefühl von Sicherheit, Identität und Lebenssinn vermittelt [16].
Angesichts der sich aus dieser Definition ergebenden Komplexität ist es offensichtlich nicht zielführend, wenn in der Medizin und ganz speziell in der Palliative Care Abklärungs- und Behandlungswege sowie Kommunikationsmuster für Menschen zum Beispiel aus der Türkei, aus Ex-Jugoslawien oder aus Subsahara-Afrika entwickelt und angewandt werden. In einer multikulturellen Gesellschaft ist Diversität kaum noch durch das Herkunftsland als geographische oder politische Struktur bestimmt, sondern vielmehr durch Alter, Geschlecht, Bildung, soziokulturelle Biographie, familiären, ökonomischen und rechtlichen Status, sowie durch physische, psychische Fähigkeiten, sexuelle Orientierung und Religion.
Unbestritten ist allerdings die Tatsache, dass in multikulturellen Gesellschaften die soziökonomische Schichtung für die Gesundheitsversorgung von hoher Relevanz ist. Sozioökonomisch schlechter gestellte Subgruppen sind weltweit bezüglich ihrer Gesundheit gegenüber Mitgliedern der in einer Gesellschaft dominierenden Gruppe benachteiligt. Wenn nun im Bereich der Palliative Care für gewisse Subgruppen deren Werte und deren Umgang mit lebensbedrohlichen Erkrankungen untersucht und berücksichtigt werden sollen, muss dies immer auch im Lichte der sozioökonomischen Benachteiligung dieser Subgruppe gegenüber der in einer Gesellschaft dominierenden Population geschehen [17]. Das Erkennen und Verstehen von Werten, Vorstellungen und Bedürfnissen von gewissen Subgruppen ermöglicht letztlich Vertrauen zu schaffen zwischen ernsthaft erkrankten sowie den ihnen nahestehenden Menschen und den Gesundheitsfachpersonen. Sozioökonomisch benachteiligte Gruppen empfinden oftmals ein Misstrauen gegenüber den etablierten Gesundheitsversorgungsstrukturen. Für eine Verbesserung der Palliativbetreuung dieser Menschen muss dieses Misstrauen daher verstanden und angegangen werden [7].
Auch wenn der Umgang mit dem Konzept der Kultur in der Medizin nach wie vor nicht einfach ist, so steht uns mit dem Begriff der transkulturellen Kompetenz seit einigen Jahren ein Werkzeug zur Verfügung, das hilfreich ist, Werte, Wünsche, Bedürfnisse, aber auch Ängste und Sorgen der von uns betreuten Menschen zu verstehen und in die Behandlung miteinzubeziehen [18].
Im Wesentlichen geht es dabei um Selbstreflexion, Hintergrundwissen und Erfahrung sowie narrative Empathie. Unter narrativer Empathie versteht man eine wertschätzende, respektvolle und interessierte Haltung, die kombiniert mit der Selbstreflexion eine Beziehungsgestaltung sowie den Einbezug individueller Lebenswelten ermöglicht. Die Narration spielt nach Domenig D. eine bedeutende Rolle im Bewältigungsprozess einer Krankheit. Erst die Narration stelle den kranken Menschen in den Mittelpunkt, indem die Krankengeschichte zu einer wirklichen Geschichte ausgeweitet werde.

Behandlungspräferenzen

Die Berücksichtigung der individuellen Behandlungspräferenzen am Lebensende gehört zu den Hauptzielen einer guten palliativmedizinischen Versorgung. Man weiss, dass in den Ländern Mittel-und Nordeuropas, aber auch in den USA Mitglieder von Migrationspopulationen resp. ethnische Minoritäten bei weit fortgeschrittener Erkrankung eher intensivere und auf Kuration ausgerichtete Behandlung wünschen, als dies bei der im entsprechenden Land dominanten Bevölkerungsgruppe der Fall ist. Auf der anderen Seite erstellen Mitglieder dieser Minoritäten im Vergleich zur dominanten Bevölkerungsgruppe viel seltener Patientenverfügungen [19].
Die Gründe hierfür sind vielfältig: Sicher spielt Unkenntnis bei den Betroffenen über die Bedeutung einer Patientenverfügung eine Rolle, sowie auch die Tatsache, dass Menschen mit Migrationshintergrund von Gesundheitsfachpersonen aus verschiedenen Gründen gar nicht auf eine gesundheitliche Vorausplanung angesprochen werden. Man weiss aber auch dass viele Menschen aus einem gewissen Misstrauen gegenüber den etablierten Gesundheitsstrukturen ihre Behandlungspräferenzen lieber in mündlicher Form einem Familienmitglied anvertrauen in der Überzeugung, dass diese Person sich für eine den Bedürfnissen der betroffenen Person gerecht werdende Betreuung am Lebensende einsetzen wird [20]. Auch wenn der Stellenwert der individuellen Autonomie bezogen auf Behandlungsentscheidungen für gewisse Mitglieder der Migrationspopulation nicht derselbe ist wie für die ortsansässige Bevölkerung, sollten Gesundheitsfachpersonen im Idealfall frühzeitig, spätestens aber, wenn sich eine Palliativsituation einstellt, mit den Betroffenen über ihre Behandlungspräferenzen sprechen. Dies vermittelt ihnen einen Einblick in die Vorstellungen des kranken Menschen zum Umgang mit schwerer Krankheit, Sterben und Tod und ermöglicht diesem, ganz bestimmte Wünsche zur Sterbebegleitung und zum Umgang mit dem Leichnam nach dem Tod zu äussern. Das Gespräch an sich hat einen eigenständigen Wert für die Betroffenen, aber auch für die ihnen nahestehenden Menschen und die betreuenden Gesundheitsfachpersonen. Auch wenn die erkrankte Person kein eigentliches Dokument verfassen möchte, wird es mehrheitlich möglich sein, in einer Patientenverfügung resp. einem Vorsorgeauftrag eine für medizinische Entscheidungen zuständige Vertretungsperson zu bezeichnen.

Krankheitsverständnis – Sprechen über Sterben und Tod

Nur informierte kranke Menschen sind in der Lage, ihre Behandlungswünsche zu äussern und Entscheidungen zu treffen. Nicht selten werden Gesundheitsfachpersonen von Angehörigen eines schwer kranken Menschen gebeten, diesem die Ernsthaftigkeit der Erkrankung zu verschweigen und überhaupt nicht mit dem kranken Menschen selbst, sondern mit einer ihn vertretenden Person über Krankheit, Verlauf und Prognose zu sprechen. Gerade in eher sozioorientierten Gesellschaften ist es durchaus üblich, dass ein Familienmitglied in der Regel im stillschweigenden Einverständnis mit dem betroffenen schwer kranken Menschen Entscheidungen für ihn fällt, auch wenn dieser hierfür durchaus noch urteilsfähig wäre. Wird ein solcher Wunsch an eine Gesundheitsfachperson herangetragen, gilt es, dem gegenüber Respekt zu zeigen und nachzufragen, weswegen dem kranken Menschen Diagnose und Prognose nicht mitgeteilt werden sollen. Es ist durchaus richtig und angezeigt, dass die Gesundheitsfachperson dann auch ihre eigenen Werte kommuniziert. In jedem Fall soll der kranke Mensch selbst direkt gefragt werden, ob er mit dieser indirekten Kommunikation über ein Familienmitglied einverstanden ist [21]. Sollte der kranke Mensch mit dieser indirekten Kommunikation einverstanden sein, wird die Vertretungsperson informiert, wobei diese im Gespräch befähigt werden muss, Entscheidungen im Sinne des kranken Menschen zu treffen und nicht gemäss ihren eigenen Wertvorstellungen und Bedürfnissen. In diesem Gespräch mit der betroffenen oder der stellvertretend für sie kommunizierenden und entscheidenden Person soll in Erfahrung gebracht werden, was und wieviel der erkrankte Mensch zu seiner Krankheit weiss – zur Ernsthaftigkeit, zum Verlauf und zur Prognose; aber auch wie er die Krankheit interpretiert, weswegen er denkt, krank geworden zu sein und ob er mit seinen Angehörigen über die Krankheit spricht. Entscheidend ist, welche Verläufe in Betracht gezogen werden; macht sich die kranke Person Gedanken, dass sie an dieser Erkrankung sterben könnte und spricht sie dies aktiv an? Wichtig ist, dass in diesem sensiblen Bereich der kranke Mensch resp. die Vertretungsperson nicht mit Botschaften überhäuft wird, die nicht verarbeitet werden können. Mit vorsichtigem Fragen gelingt es, in Erfahrung zu bringen, was der kranke Mensch weiss, was er wissen möchte, aber auch was er nicht wissen möchte. Nicht selten werden Erkrankte oder ihre Angehörigen zum Ausdruck bringen, dass in ihrem Umfeld die Ansicht vorherrscht, Sprechen über das Lebensende könne den Tod beschleunigt herbeiführen; Gesundheitsfachpersonen werden sogar gelegentlich von Angehörigen gebeten, dem kranken Menschen zu kommunizieren, dass er wieder gesund werde, obwohl medizinisch gesehen eine Heilung nicht mehr möglich ist. In einem derartigen Fall darf einerseits keinesfalls Hoffnung auf vollständige Genesung vermittelt werden; andererseits ist es für gewisse Menschen auch nicht richtig, ihnen klar zu kommunizieren, dass keine Hoffnung auf
Heilung mehr besteht. Diesem Umstand tragen die 2006 publizierten und 2013 dem Erwachsenenschutzrecht angepassten medizin-ethischen Richtlinien der SAMW Palliative Care Rechnung, indem dort festgehalten ist: Manchmal möchte sich ein Patient nicht realistisch mit seiner Krankheit auseinandersetzen. Diese Haltung ist zu respektieren. Sie erlaubt dem Kranken, Hoffnungen zu hegen, die ihm helfen können, eine schwierige Situation besser auszuhalten. Hoffnung hat einen eigenständigen Wert, welcher palliative Wirkung entfalten kann. Drücken Angehörige den Wunsch aus, den Kranken vor schlechten Nachrichten zu schonen, oder umgekehrt die Verleugnung der Krankheit durch den Patienten nicht zu berücksichtigen, müssen die Hintergründe für solche Wünsche thematisiert werden. Das Recht des Patienten auf Aufklärung bzw. Nicht-Wissen steht jedoch über den Wünschen der Angehörigen [22].

Umgang mit belastenden Symptomen

Es empfiehlt sich, im Gespräch mit schwer kranken Menschen in Erfahrung zu bringen, was ihre Krankheit für sie bedeutet, wie sie mit belastenden Symptomen wie Schmerzen und Atemnot umgehen und welche Unterstützung sie sich von den Gesundheitsfachpersonen erhoffen. Das Schmerzerleben ist geprägt durch Erziehung, Sozialisation sowie durch individuelle Erfahrungen, physische und psychische Faktoren. Oftmals beeinflusst auch die Religion die Bewertung von Schmerzen, indem diese in gewissen Fällen als Zeichen einer göttlichen Macht interpretiert und als (Glaubens-)Prüfung für die Betroffenen wahrgenommen werden [23]. De Graaf FM et al. haben Menschen mit türkischem und marokkanischem Migrationshintergrund befragt, was für sie eine gute palliative Pflege bedeute: Die Befragten wiesen neben anderen Aspekten darauf hin, dass es für Angehörige ihrer Gemeinschaft ein zentrales Anliegen sei, mit einem klaren Kopf, das heisst nicht sediert, zu sterben, um bewusst von den Angehörigen Abschied nehmen oder auch um unmittelbar nach dem Tod bei klarem Verstand vor Allah treten zu können [24]. Dies ist für Gesundheitsfachpersonen oftmals nicht einfach zu akzeptieren und kann zu einem moralischen Dilemma führen, da sie einerseits Leiden lindern und zugleich den Wünschen des kranken Menschen gerecht werden möchten.

Bedürfnisgerechte Gestaltung des Lebensendes

Wann immer ein Gespräch über den Umgang mit schwerer Krankheit, Sterben und Tod möglich ist, empfiehlt es sich, mit den Betroffenen resp. deren Vertretungsperson zu besprechen, worauf am Lebensende und auch nach dem Eintreten des Todes zu achten ist. Dabei ist zu klären, wer beim Sterben dabei sein soll, ob eine spirituelle Begleitung und Unterstützung gewünscht ist und worauf von Seiten der Gesundheitsfachpersonen zu achten ist. Wichtig ist es dabei, darauf zu achten, dass es nicht zu Situationen kommt, die vom kranken Menschen oder seinen Angehörigen als beschämend wahrgenommen werden. Dies betrifft insbesondere die Pflege vor dem Tod und auch den Umgang mit dem Leichnam nach dem Tod. Für viele Menschen ist es ein zentrales Anliegen, dass sie oder ihre Angehörigen in diesen sensiblen Momenten sicher von einer Person des gleichen Geschlechts und je nachdem auch von jemandem aus dem eigenen Kulturkreis betreut oder nach dem Tod gewaschen und angekleidet werden. Insbesondere ist auch zeitgerecht zu klären, ob der kranke Mensch in seinem Heimatland versterben möchte. Dann sind frühzeitig die entsprechenden Transporte zu organisieren und Dokumente bereitzustellen.

Konkretes Vorgehen im Rahmen der Behandlung von schwer kranken Menschen am Lebensende

Hilfreich für eine den Bedürfnissen des kranken Menschen und seiner Angehörigen gerecht werdende Betreuung von Menschen in Palliativsituationen sind sicher die im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit erstellten Checklisten für eine migrationssensitive Palliative Care: Fragen an den Patienten, die Patientin / Fragen an die Angehörigen [25]; die Checklisten orientieren sich am SENS-Modell zur Problemstrukturierung in der Palliative Care (S=Symptommanagement, E=Entscheidungsfindung, N=Netzwerk-Organisation, S=Support der Angehörigen) [26]. Die entsprechenden Fragen können nach Bedarf situativ mit dem betroffenen Patienten resp. den Angehörigen durchgegangen werden und sollen dabei helfen, die Bedürfnisse des erkrankten Menschen und seiner Angehörigen besser zu verstehen.
Für eine erste Orientierung eignet sich auch das von Cain CL et al. in Anlehnung an Koenig BA und Gates-Williams J sowie an Kagawa-Singer M und Blackhall LJ entwickelte Assessment mit dem Ziel, die individuelle Haltung der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen sowie deren Überzeugungen und ihren Glauben im entsprechenden Umfeld in Erfahrung zu bringen, wobei es auch darum geht, wie Personen Entscheidungen fällen und über welche Ressourcen sie verfügen (Tabelle 2) [16,27,28].

Schlussfolgerungen

Palliative Care im Migrationskontext ist primär eine diversitätssensible Palliative Care. Diversitätssensibel bedeutet, dass Gesundheitsfachpersonen in der Lage sein sollten, sich einen Einblick in die Lebenswelt jedes einzelnen Menschen und der ihm nahestehenden Personen zu gewinnen. Es geht darum, die Lebensgeschichte und das Krankheitsverständnis eines Menschen zu erfassen und zu erkennen, wo dieser Mensch Prioritäten setzt, sei dies im Bereich der autonomen Entscheidungsfindung oder der Lebensqualität und insbesondere natürlich der Linderung von belastenden Symptomen. Die individuellen multidimensionalen Bedürfnisse müssen verstanden werden und genau gleich wie bei der ansässigen Bevölkerung ist zu klären, was und wieviel der erkrankte Mensch im Voraus planen und entscheiden möchte. Besonders wichtig ist die Rolle der Angehörigen und anderer nahestehender Menschen. Hier gilt es zu klären, wer welche Rolle hat, in welchem Mass Angehörige informiert werden oder gar in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden wollen und sollen und schliesslich welche Unterstützung und Begleitung sie benötigen. Dies alles sind Kernelemente einer guten individuellen palliativmedizinischen Versorgung; ob dies nun Menschen aus einer uns fremden Kultur betrifft oder Menschen aus unserem eigenen Kulturkreis spielt letztlich eine untergeordnete Rolle.
Auf systemischer Ebene sind nach wie erhebliche Anstrengungen zu unternehmen, um Menschen mit Migrationshintergrund den Zugang zu den Angeboten von Palliative Care zu erleichtern. Dies beginnt mit der Bereitstellung von Informationsmaterial in ihrer Muttersprache über die Aus- und Weiterbildung sowie Finanzierung von transkulturell kompetenten Dolmetschenden und Gesundheitsfachpersonen bis hin zur Anpassung der Versorgungsstrukturen an die Bedürfnisse dieses ohnehin schon sehr vulnerablen und oftmals strukturell benachteiligten Kollektivs von kranken Menschen und ihren Angehörigen.

PD em Dr. med. Klaus Bally

Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH
Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel, uniham-bb
Kantonsspital Baselland
Rheinstrasse 26
4410 Liestal

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https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitsstrategien/strategie-palliative-care/sensibilisierung-zu-palliative-care/mitgrationssensitive-palliative-care.html (Letzter Aufruf 19.6.2023)
26. Eychmüller S. SENS-Modell – Problemorientiertes Assessment in der Palliative Care SENS macht Sinn – Der Weg zu einer neuen Assessment-Struktur in der Palliative Care. Therapeutische Umschau, 2012, 69 (2): 87-90.
27. Koenig BA, Gates-Williams J. Understanding cultural difference in caring for dying patients. West J Med. 1995 Sep;163(3):244-9.
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Ethische Orientierung durch interkulturelle Kompetenz in interkulturellen Behandlungssituationen

In vielen europäischen Ländern sind interkulturelle Behandlungssituationen fester Bestandteil des medizinischen Alltags. Dabei entstehen nicht selten unterschiedliche Interesssens- und Entscheidungskonflikte, die auf Kommunikationsbarrieren, Kulturpraxis oder auf moralische Diversität zurückzuführen sind. In diesem Beitrag werden die Charaktereigenschaften der interkulturellen Behandlungssituationen mit ihrer ethischen Relevanz dargestellt. Ebenfalls werden einige Fähigkeiten und Fertigkeiten der interkulturellen Kompetenz beschrieben und deren Funktion anhand eines klinisch-ethischen Falles aufgezeigt. Die Chancen und Grenzen der interkulturellen Kompetenz bei einer ethischen Orientierung sind Gegenstand der Reflektion.

Kulturelle Pluralität ist schon längst konstitutionelle Eigenschaft vieler Länder geworden. Nach aktuellen statistischen Angaben machen Menschen mit Migrationshintergrund in der Schweiz 39,2% (2021) [1], in Deutschland 27,3% (2021) [2] und in Österreich 19% (Anfang 2023) [3], der Bevölkerung aus. Zwar reichen weder diese statistischen Angaben noch die Angaben über Nationalitäten oder religiöse Zugehörigkeiten dieser Menschen aus, um ein klares ‚Kulturbild‘ eines Landes zu machen. Dennoch ist es berechtigt, aufgrund dieser Fakten über Pluralität, Diversität und Heterogenität an kulturellen Wertvorstellungen und Werthaltungen in den jeweiligen Ländern zu sprechen. Diese Wertvorstellungen und -haltungen sind wiederum keine konstanten und abstrakten Einheiten, sondern dienen für die Begründung individueller Entscheidungen und Handlungen. Ebenfalls sind sie Grundlage für die Sinngebung bestimmter Lebensumstände in verschiedenen Lebenswelten, wozu auch Krankheit und Kranksein gehören.

Kranksein als eine menschliche Grenzerfahrung ist eine besondere Daseinsform, in der das kulturell geprägte Wertesystem eines Menschen sich in unterschiedlichen Formen expliziert. Kommen Menschen aus unterschiedlichen Kulturräumen im Rahmen einer Behandlungssituation zusammen, entstehen dadurch nicht selten konfligierende Interessen und Haltungen, welche für die Gesundheitsberufe eine Herausforderung darstellen. Solche Situationen beeinträchtigen wiederum den Zugang und die Inanspruchnahme der Gesundheitsleistungen und führen demzufolge zu einer suboptimalen Gesundheitsversorgung. Somit haben sie gravierende negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden von Patienten sowie auf die professionelle Selbstwahrnehmung von ärztlichem und pflegerischem Personal. In diesem Zusammenhang entstehen in der medizinischen Praxis einer wertpluralen Gesellschaft zahlreiche ethische Fragen mit besonderem Bezug zur Interkulturalität und kulturellen Differenz [4].

In diesem Beitrag werden zunächst die ethisch relevanten Aspekte des interkulturellen Verhältnisses in Behandlungssituationen dargestellt. Danach werden die Entstehungsgründe einiger ethischer Konflikte problematisiert. Im Fokus dieses Beitrags liegen die relevanten Kompetenzen in interkulturellen Behandlungssituationen, die uns bei der Gestaltung einer ethischen Orientierung helfen können. Chancen und Grenzen dieser Kompetenzen sind Gegenstand der ethischen Reflektion.

1. Das Interkulturelle Verhältnis in Behandlungssituationen

Die unterschiedlichen Inhalte der Begriffe ‚der Fremde‘ und ‚der Andere‘ bieten sich für eine Differenzierung zwischen inter- und intrakulturellem Kontext in der Gesundheitsversorgung als ein hilfreicher Ausgangspunkt an. Nach der Differenzierung von Stenger steht hinsichtlich des Anderen ein starker relationaler Aspekt im Vordergrund. Diese starke Relation ergibt sich zwischen dem Eigenen und dem Anderen durch ein gemeinsames Zugehörigkeitsfeld. Die Zuordnung des Anderen lässt sich in einem intrakulturellen Verhältnis durch gemeinsame Felder innerweltlich darstellen [5]. Die geteilte kulturelle und kulturhistorische Zugehörigkeit erstreckt sich „von den alltäglichen Lebens- und Umgangsformen über Sprache und nonverbale Kommunikationsweisen, über Sitten- und Moralvorstellungen bis zu geschichtlichen Herkunftsfragen und andere[m] mehr…“ [5, S. 371]. In einem interkulturellen Verhältnis, in dem es um die Begegnung mit Fremden geht, fehlen dagegen diese Zugehörigkeitsfelder, und es taucht eine fremde Welt auf. Aufgrund des Fehlens der gemeinsamen kulturellen Felder ist auch die Zuordnung des Fremden innerhalb der Innenwelt schwierig. „‚Andersheit‘ konnte sozusagen immer innerhalb der Ordnung Platz nehmen, ‚Fremdheit‘ beansprucht ein ‚Ausserhalb‘. […] Mit dem ‚Fremden‘ wird unweigerlich der Schritt eines Kulturtranszensus getan.“ [5, S. 377]. Die Auffassung des Fremden und die Differenz zwischen ‚Heimwelt‘ und ‚Fremdwelt‘ können immer von der Beobachterperspektive relativ erfahren werden [5]. „Alles Fremde ist dann deshalb fremd, weil es nicht zu diesem Eigenen der Heimwelt gehört.“[5, S. 355]

Ein interkulturelles Verhältnis in Behandlungssituationen entsteht in einem zeitlichen und örtlichen Raum, in dem sich Beteiligte als Angehörige unterschiedlicher Kulturen fühlen und verstehen. Dieses Verhältnis setzt zwar eine Begegnung voraus, in der Arzt oder Pflegekraft und ein von deren Handeln betroffener Patient Angehöriger unterschiedlicher Kulturräume bzw. Heimwelten sind [5]. Dennoch darf die Entstehung des interkulturellen Verhältnisses nicht auf die unterschiedliche Hautfarbe, Nationalität, Religion, Sprache, Tradition oder ethnische Zugehörigkeit reduziert werden. Das heisst, die Interkulturalität darf nicht anhand dieser Eigenschaften von aussen bestimmt oder sogar diktiert werden. Sie muss vielmehr aus dem Wahrnehmen und Verstehen der Beteiligten – also aus dem jeweiligen Kontext – entstehen [6].

Zweifelsohne ist jedes Arzt/Pfleger-Patient-Verhältnis besonders und einmalig. Ob eine Beziehung in der Gesundheitsversorgung intrakulturell oder interkulturell ist, verändert die konstitutionellen Eigenschaften dieses Verhältnisses nicht kategorisch. Dennoch gibt es bestimmte Eigenschaften, die im interkulturellen Verhältnis vorzufinden sind und sich vom intrakulturellen Verhältnis graduell unterscheiden. Beispielsweise kann die fehlende gemeinsame Sprache in der Kommunikation mit ihren verbalen, non-verbalen und paraverbalen Dimensionen die Interaktionen entscheidend prägen. Auch wenn in solchen Situationen das Gesagte übersetzt werden kann, so bleiben immer einige Lücken in der Kommunikation, die vom Wesen her nicht erfüllbar sind. Es bleibt immer eine gewisse ‚Rest-Sprachlosigkeit‘ übrig, die für beide Seiten mit einer Hilflosigkeit verbunden ist.

Kulturell geprägte Sinndeutungen und Sinngebungen zur Entstehung und Heilung von Krankheiten lassen sich nicht immer in die eigene Heimwelt zuordnen. Ebenfalls sind kulturspezifische Wertvorstellungen und Denksysteme und daraus resultierende Werthaltungen für andere schwierig nachvollziehbar. Die Fremdheit der Heimwelten erschwert somit nicht nur die Nachvollziehbarkeit der getroffenen Entscheidungen, sondern auch die rationale Zuordnung der gelieferten Argumente. Diese und andere Diversitäten in interkulturellen Behandlungssituationen führen zu gewissen Herausforderungen, die wir in intrakulturellen Kontexten in derselben Form nicht erleben.

2. Ethische Konfliktfelder in interkulturellen Behandlungssituationen

Die Ursachen für die Entstehung der ethischen Konflikte in interkulturellen Behandlungssituationen sind vielfältig und komplex. Zahlreiche ethische Konflikte lassen sich dabei auf Kommunikationsbarrieren, Kulturpraxis und moralische Diversität zurückführen, die hier grob dargestellt werden. Die Sprache als wichtiges Medium prägt bekanntermassen das Arzt-Patient-Verhältnis vom Erstkontakt bis zum Lebensende. Fehlt dieses Medium oder ist es beeinträchtigt, sind vielfältige Kommunikationslücken in der Beziehung vorprogrammiert [7]. Auch wenn in solchen Situationen durch eine Dolmetschertätigkeit eine notwendige Verständigung geleistet werden kann, so ist sie immer mit einer Beeinträchtigung des authentischen Gesprächs verbunden. Die Verletzung des authentischen Gesprächs sind häufig Hindernisse für eine adäquate Diagnosestellung und somit auch eine bedarfsgerechte Therapie. Denkt man an das psychotherapeutische Gespräch und die ‚sprechende Medizin‘, wo die Sprache nicht nur ein Mittel für die Therapien, sondern die Therapie selbst ist, so fehlt dort das therapeutische Instrument.

Es darf auch nicht übersehen werden, dass die Qualität einer Übersetzungsleistung stets von den Kompetenzen der dolmetschenden Person abhängt. Bekanntermassen ist eine professionelle Dolmetscherleistung mit bürokratischen und finanziellen Hürden verbunden. Umso problematischer ist es dann, wenn die Aussagen des Arztes oder Patienten durch – vor allem – Laien-Dolmetscher absichtlich filtriert, zensiert oder nicht weitergegeben werden [8]. In so einer Situation ist dem Arzt nicht bewusst, dass er seiner ärztlichen Aufklärungspflicht nicht nachgekommen ist. Dieser Zustand ist jedoch nicht nur ethisch problematisch, sondern wirft auch einige juristisch kritische Fragen auf.

Kulturpraxis im weiteren Sinne bleibt für die behandelnden und pflegenden Gesundheitsprofessionen eine Herausforderung, wenn traditionelle und religiöse Praktiken des Patienten für sie nicht in die eigene Heimwelt zuzuordnen sind. Fasten oder religiöse Speisevorschriften sind für manche praktizierende Muslime hin und wieder ein Anlass für die Ablehnung oder Verschiebung bestimmter Therapien. Kulturspezifische Trauerrituale oder hygienische Praktiken überfordern gelegentlich einen getakteten Stationsalltag. Die häufige und mit mehreren Personen durchgeführte Krankenbesuchspraxis führen zur Beeinträchtigung des Wohls anderer Patienten und sind somit ein ‚Störfaktor‘ für den Krankenzimmer-Frieden. Zwar ist nicht jede Kulturpraxis mit der Entstehung eines ethischen Konflikts verbunden. Dennoch sind sie ‚praktische Stolpersteine‘ unterschiedlichen Charakters im klar strukturierten und uniformen Stationsalltag.

Aufgrund der kulturell geprägten Menschenbilder, Wertvorstellungen und -haltungen werden bestimmte medizinische Interventionen als moralisch richtig oder falsch bewertet. Moralische Akzeptanz oder Ablehnung von medizinischen Massnahmen wie Bluttransfusion, postmortale Organspende, Organtransplantation oder Schwangerschaftsabbruch u.a. sind dafür nur einige prominente Beispiele. Moralische Diversität führt nicht nur zur moralisch unterschiedlichen Bewertung bestimmter Massnahmen, sondern ist auch bei der Lösung ethischer Konflikte eine wichtige Herausforderung. Denn auch die Zuschreibung bestimmter Implikationen zu den gültigen ethischen Prinzipien kann kulturbedingt voneinander divergieren [9].

In manchen Kulturräumen ist die Patientenautonomie das wichtigste ethische Prinzip. Sie kann sogar als Totschlagargument dienen, wenn man sie in der Form von ‚Autonomie-Fetischismus‘ vertritt. Die wichtige Rolle und bedeutsame Funktion der Familienmitglieder in diversen Gemeinschaften haben zum Begriff der Familienautonomie in medizinischen Entscheidungsprozessen geführt. Familienautonomie konkretisiert sich wiederum im Umgang mit einer infausten Prognose und bei der Weitergabe einer Krebsdiagnose, wobei die Familienmitglieder dann unmittelbar am Entscheidungsprozess teilnehmen wollen und ggf. teilnehmen. Berücksichtigt man das häufige Befürworten der maximalen Therapie am Lebensende in manchen Kulturräumen, so stellt man fest, dass die die Lebensqualität bestimmenden Kriterien nicht dieselbe Priorität haben [10]. Somit trat das Prinzip ‚in dubio pro vita‘ auch in medizinisch aussichtslosen Situationen in den Vordergrund.

Dass die Hierarchie unter den ethischen Prinzipien auch kulturbedingt voneinander divergieren kann, wird in den medizinethischen Fachdebatten bis jetzt nicht gebührend berücksichtigt. Beispielsweise werden die ethischen Prinzipien im ‚Principlism‘ als prima facie Prinzipien verstanden und ihre normative Bedeutung fallbedingt bestimmt. Dabei geht es darum hypothetisch zu bestimmen, ob in einem ethischen Konflikt zum Beispiel die Patientenautonomie oder die Fürsorge ein höheres Gewicht hat. Es ist jedoch unverkennbar, dass der Patientenautonomie in der westlichen Welt per se eine höhere Bedeutung als die anderen Prinzipien zukommt. Denselben Stellenwert hat die Patientenautonomie nicht unbedingt in jedem Kulturraum. Diese ‚Hierarchie-Diversität‘ unter den ethischen Prinzipien ist m.E. eine der wichtigsten Herausforderungen bei der Lösung interkultureller ethischer Konflikte, die jedoch häufig in der Praxis übersehen werden. Diese Diversität umfasst nicht nur ethische Prinzipien, sondern auch weitere normative Begriffe wie etwa mutmasslicher Patientenwille oder das beste Interesse des Kindes.

FALL-1¹

Das sechs Tage alte Kind türkisch-muslimischer Eltern leidet an einem Oto-palato-digitalen Syndrom (OPD) Typ II und somit an einer sehr seltenen, genetisch bedingten Erkrankung mit schweren Organanomalien. Das Kind ist ohne intensive maschinelle Unterstützung und intensivmedizinische Behandlung nicht lebensfähig. Auch mit intensivmedizinischer Therapie könnte es nur für sehr kurze Zeit (wahrscheinlich für ein paar Tage oder eine Woche) am Leben erhalten werden. Die Eltern sind der deutschen Sprache nicht mächtig. Deswegen findet ein Gespräch mit einer Dolmetscherin statt, die zum Bekanntenkreis der Eltern gehört. Da das Kind keine Überlebenschance und Heilungsoption hat, schlägt das medizinische Team eine Therapiezieländerung vor. Danach sollten kurative Therapien begrenzt werden und ein Übergang zur palliativen Therapie stattfinden. Aufgrund der medizinischen Aussichtslosigkeit sollte der leidvolle Zustand des Kindes nicht unnötig verlängert werden. Die Eltern wünschen sich jedoch eine maximale Therapie und die Fortführung aller lebensverlängernden Massnahmen. Für sie ist es sehr wertvoll, wenn das Kind auch für kurze Zeit am Leben gehalten werden könnte. Sie betonen, dass diese Entscheidung mit ihrem islamischen Glauben zusammenhängt. Eine andere Entscheidung würden sie im Jenseits vor Gott nicht verantworten können. Es stellte sich auch heraus, dass die dolmetschende Person die Eltern in ihrem Entscheidungsprozess beeinflusst hat und bei der Entstehung dieser Entscheidung eine Rolle gespielt hat.

3. Kommunikationsbarrieren und kultursensible Kommunikation

Im obigen Fall sind Kommunikationsbarrieren mit unterschiedlicher Qualität und ethischer Relevanz vorhanden. Hier wird die Verständigung mit Hilfe einer Dolmetscherin aus dem sozialen Kreis der Eltern geleistet. Um diesen Konflikt zu lösen, findet eine Besprechung mit den Eltern statt, in der es um ‚Leben und Tod‘ geht. In so einem entscheidenden Gespräch sind Wortwahl, non-verbale und paraverbale Kommunikationseinheiten von zentraler Bedeutung. Nicht nur wie man das Gesagte übersetzt, sondern wie man es versteht, ist entscheidend. Hier kann im Sinne von des ‚Sender-Empfänger-Modells‘ in den Kommunikationswissenschaften sogar von zwei Sendern gesprochen werden [12].

In diesem Fall formuliert die behandelnde Ärztin den folgenden Satz, um den medizinisch aussichtslosen Zustand des Kindes zum Ausdruck zu bringen: ‚Wenn die Natur so will, dann müssen wir das akzeptieren‘. Hier ist ein medizinisch aussichtsloser Zustand gemeint, in dem wir Menschen medizintechnisch nichts tun können. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Situation zu akzeptieren. Eine wortwörtliche Übersetzung desselben Satzes würde aber in der türkischen Sprache bedeuten: ‚Wenn die Bäume und Steine so wollen, dann sollen wir das akzeptieren‘. Da es sich hier um eine religiöse muslimische Familie handelt, ist es unklar, ob mit diesem Satz die Botschaft der Ärztin verstanden werden kann. Vielmehr ist es hier angebracht einen Satz zu formulieren, der in die Heimwelt der Eltern dieselbe Botschaft bringt. Hier könnte beispielsweise der folgende Satz formuliert werden: ‚Wenn Allah (Gott) so will, dann müssen wir das akzeptieren‘. Nicht die Macht der Natur, also Bäume und Steine bestimmen diese aussichtslose Situation, sondern der Allmächtige und alles schaffende Gott. In so einer schicksalhaften Situation stösst das Behandlungsteam an seine Grenze des Machbaren. Deshalb sollte diese Machtlosigkeit und Hilflosigkeit akzeptiert werden.

Eine weitere Problematik in diesem Fall war die fehlende Neutralität der Dolmetscherin, die erst im Nachhinein festgestellt werden konnte. Sie hat die Eltern in ihrem Entscheidungsprozess eindeutig beeinflusst. Ebenfalls hat sie mit ihrem theologischen Wissen den Eltern die Informationen vermittelt, die in der Begründung benutzt wurden. Abgesehen von dieser Einflussnahme ist es auch wichtig zu wissen, inwiefern ihre fehlende Neutralität als eine wichtige Kompetenz des Dolmetschers die Kommunikation beeinträchtigt hat. Wahrscheinlich spielte sie sogar eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Konflikts.

Eine interkulturelle Kommunikation im Rahmen eines ethisch so komplexen Falls erfordert, wie im obigen Beispiel deutlich geworden ist, eine kultursensible Gestaltung eines Gesprächs. Kultursensible Kommunikation als eine wichtige Fähigkeit der interkulturellen Kompetenz [13] beinhaltet über die sachlich richtige Übersetzung des Gesagten hinaus auch die Überlegung über die möglichen Deutungen der gesprochenen Sätze in der Heimwelt des anderen. Deswegen ist es wichtig, sich in komplexen Fällen auf eine sinngemässe Übersetzung durch den Dolmetscher zu konzentrieren. Diese Fähigkeit erfordert jedoch, dass die Dolmetscher nicht nur bilingual, sondern auch bikulturell sind. [14] Diese Bikulturalität dürfte bei der Übersetzung gewisse Momente schaffen, in denen man über die sinngemässe Vermittlung der Botschaft nachdenken und reflektieren kann.

4. Kulturpraxis und Kulturwissen

Sicherlich ist für den obigen Fall die Frage berechtigt, ob die Entscheidung der Eltern mit kulturell-religiösen Argumenten begründet werden kann. Im Rahmen der klinisch-ethischen Beratung konnte herausgefunden werden, dass ihr Wunsch auf eine Glaubensüberzeugung zurückzuführen ist. Das Jüngste Gericht hat eine zentrale Bedeutung in der islamischen Eschatologie und Moral. Muslime legen Rechenschaft über ihre Handlungen vor Gott ab, welche sowohl Belohnung als auch Strafe als Konsequenz haben kann. Deswegen sind Muslime angehalten im diesseitigen Leben im Umgang mit anderen Menschen moralisch richtig zu handeln. Für die Eltern führt die Akzeptanz einer Therapiereduktion zum früheren Tod ihres Kindes und ist moralisch nicht vertretbar.

Diese spezielle und dem Behandlungsteam fremde religiöse Begründung erfordert Kenntnisse über die andere Religion. Erst durch dieses Kulturwissen können die Behandelnden die Entscheidung der Eltern nachvollziehen. In einer ethischen Konfliktsituation müssen zwar die Konfliktparteien nicht von den jeweils anderen Argumenten überzeugt sein, dennoch müssen die Gründe offengelegt werden. Eine sachliche Klärung der Positionen ist ein unvermeidbarer Schritt für einen eventuellen Konsens.

Eine weitere wichtige Frage in unserem Fall lautet, ob die Forderung der Eltern nach maximaler Therapie in deren Glaubenssystem wirklich eine moralisch falsche Entscheidung ist. Die Beantwortung dieser Frage erfordert zusätzliches religiöses Wissen, welches bei der Ärztin nicht vorausgesetzt werden kann. Hier wären sowohl für die Eltern als auch für das Behandlungsteam weitere Informationen hilfreich. Hier wäre tatsächlich eine kontextspezifische theologische Aufklärung von zentraler Bedeutung, die von einem kundigen muslimischen Theologen geleistet werden könnte. Falls hier aufgrund der möglichen theologischen religiösen Schlussfolgerungen auch eine Therapiezieländerung vertreten werden kann, die nicht moralisch verwerflich ist, so könnte diese Wissensvermittlung eine Schlüsselrolle bei der Lösung des Konflikts erlangen.

Kulturwissen beinhaltet Kenntnisse über Praktiken, moralische Haltungen und Einstellungsformen von Menschen aus anderen Kulturräumen in ihrem Umgang mit Krankheit, Gesundheit und Lebensende [13]. In der obigen Analyse ist Kulturwissen bei der ethischen Konfliktlösung unverzichtbar. Bei der Nutzung solcher Kulturinformationen im Konfliktlösungsprozess ist jedoch Vorsicht geboten. Denn zunächst sollten die Bedeutung und der Stellenwert der Glaubensüberzeugungen kontextbezogen konkretisiert werden. In unserem Fall bedeutet dies, dass überprüft werden muss, ob sich die Eltern diese Glaubensüberzeugungen und daraus ableitbare Haltungen aneignen.

5. Moralische Diversität und Toleranz

In einer grossen Studie wurden Kinderärzte in den Niederlanden nach Konflikten in Entscheidungsprozessen am Lebensende gefragt [15]. Dabei wurden die Eigenschaften und Entstehungsbedingungen der Entscheidungskonflikte innerhalb des Behandlungsteams und zwischen dem Behandlungsteam und den Eltern der schwer kranken Kinder untersucht. Ziel war es u.a., die Rahmenbedingungen für einen Konsens und Ursachen für Meinungsunterschiede herauszufinden. 20% von 116 befragten Ärzten haben berichtet, dass sie einen Interessens- und Entscheidungskonflikt zwischen ihrem Behandlungsteam und den Eltern des kranken Kindes erlebt haben. Fast in allen Fällen (22 von 23 Fällen ) forderten die Eltern eine maximale Therapie bzw. Fortsetzung der aktuellen medizinischen Behandlungen, obwohl diese Behandlungsstrategie vom Behandlungsteam nicht priorisiert wurde. Es wurde festgestellt, dass die muslimischen Eltern signifikant öfter in diesen Konflikten involviert waren (58%) als die nicht muslimischen Eltern (12%) [15]. Leider ist es aus den Studienergebnissen nicht möglich, sachliche und kulturelle Gründe für diesen Unterschied abzuleiten.

Zu den glaubensbedingten Einstellungen und der kulturellen Praxis am Lebensende liefert eine andere Studie mehr Informationen. In Oman wurden 659 Fälle auf der neonatologischen Intensivstation in einem Jahr hinsichtlich der Entscheidungskriterien evaluiert und die Haltung der Eltern im Entscheidungsprozess untersucht [16]. Die Autoren betonen, dass bei der Entscheidungsfindung über Reanimationsmassnahmen die Eltern des schwer kranken Kindes kaum alleine entschieden, sondern in der Regel fast immer durch weitere Verwandte unterstützt wurden. Sie unterstreichen zugleich, dass es sehr oft eine ablehnende Haltung zu einem Therapieabbruch (89%) beispielsweise durch Ausschaltung des Respirators gibt. Diese Einstellung wird mit einer spezifischen Interpretation eines muslimischen Glaubenssatzes in Verbindung gebracht: „(…) no situation is considered hopeless for Muslim believers who believe in the omnipotence of an Almighty God (…) All should therefore be done to support the infant and the rest left to God.‘‘ [16, S. F117]

Die oben beschriebenen Studien belegen auch, dass die in unserem Fall vorhandene Kulturpraxis und moralische Diversität auch in anderen Ländern vorhanden ist. Für die Bestimmung einer ethisch angemessenen Umgangsform mit dem Konflikt stellt sich jedoch im Fall die Frage nach der normativen Bedeutung und dem ethischen Stellenwert der kulturell religiösen Wertvorstellungen und den damit verbundenen Entscheidungen der Eltern in einem interkulturellen Kontext. Wenn die kulturellen Wertvorstellungen der Eltern bei der Behandlung eines Kindes beachtet werden sollen – wie sollen diese berücksichtigt werden, und von wem sollen Implikationen dieser Werthaltungen im Entscheidungsprozess bestimmt werden?

Sowohl eine gelungene Kommunikation als auch das erforderliche Kulturwissen sind für die sachliche Klärung des interkulturellen Konflikts unvermeidbar. Diese sind für eine Konfliktlösung notwendig, aber nicht hinreichend. Es müssen die in der Argumentation liegenden ethischen Güter gegeneinander abgewogen und dadurch eine ethisch legitimierbare Handlungsoption präferiert werden. Die durch den Einsatz einer maximalen Therapie zu erreichende Lebensverlängerung für eine begrenzte Zeit und die durch die Therapiezieländerung bzw. Therapiebegrenzung erzielbare Leidensverkürzung stehen im vorliegenden Fall im Konflikt. Hier stellt sich die Frage, inwiefern dieser Konflikt mit einer ethischen Orientierung auf das beste im Interesse des Kindes gelöst wird?

Es ist offensichtlich, dass die Konfliktparteien den moralischen Begriffen Leidensverkürzung und Lebensverlängerung nicht denselben Stellenwert zugemessen haben. Oben wurden auch die theologischen bzw. kulturellen Gründe für diese unterschiedliche Wertzuschreibung genannt. Hier ist die Frage, ob diese moralische Diversität aufgrund der Toleranz und Anerkennung akzeptiert und die daraus resultierende Handlung durchgeführt werden soll. Ebenfalls kann hier über die fehlende medizinische Indikation und weitere Gerechtigkeitsfragen diskutiert werden. Inwiefern kann der Therapieabbruch mit der Begründung der medizinischen Aussichtslosigkeit und fehlenden medizinischen Indikation als Zeichen der Toleranz verschoben werden? Wo sind die klaren Grenzen? Welche normative Bedeutung hat die kulturell bedingte moralische Diversität bei der Bestimmung dieser Grenzen?

FAZIT

In diesem Beitrag wurden die Charakteristika des interkulturellen Verhältnisses in Behandlungssituationen in Bezug auf die ethische Relevanz beschrieben. Es wurden auch die Bedeutung und Rolle von Kommunikationsbarrieren, Kulturpraxis und moralische Diversität bei der Entstehung von interkulturellen Konflikten aufgezeigt. Kultursensible Kommunikation, Kulturwissen und Toleranz als einige Fähigkeiten innerhalb der interkulturellen Kompetenz bieten sich sowohl für die Prävention als auch für die Lösung solcher Konflikte an. Auch wenn die interkulturelle Kompetenz nicht einen ethischen Ansatz ersetzen kann, so ist sie für eine ethische Orientierung und für die kulturelle Öffnung des Gesundheitssystems in wertpluralen Gesellschaften unvermeidbar. Deshalb sollte ihre Vermittlung in wertpluralen Gesellschaften ein fester Bestandteil der Aus-, Weiter- und Fortbildung in den Gesundheitsberufen sein.

Prof. Dr. (TR) Dr. phil. et med habil. Ilhan Ilkilic M.A.

Department of History of Medicine and Ethics
Istanbul University – Faculty of Medicine
English Program Campus
34093 Istanbul Fatih Capa, Turkey

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Interkulturelle Kompetenz: Eine Einführung

Moderne Gesellschaften sind multikulturell und in mannigfaltiger Weise divers. Neben zahlreichen anderen Facetten zeichnen sie sich durch eine sprachliche und kulturelle Vielfalt aus. In der Gesundheitsversorgung gehören Begegnungen, Austausch und Verständigung zwischen Menschen unterschiedlichen kulturellen Hintergrunds zum Alltag und erfordern interkulturelle Kompetenz. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, diese Fähigkeit sowie wichtige Begrifflichkeiten rund um die Interkulturalität genauer auszuleuchten.

Einleitung

Personen, die in der Gesundheitsversorgung tätig sind, sollten gegenüber der ethnischen Herkunft, Nationalität, Weltanschauung, dem sozialen und ökonomischen Status oder der kulturellen Prägung von Patientinnen und Patienten respektvoll sein. Das ist unbestritten und ist in vielen (ethischen) Richtlinien – wie z. B. dem ICN-Ethikkodex für Pflegefachpersonen oder dem ärztlichen Gelöbnis des Weltärztebunds in der Deklaration von Genf – festgehalten [1, 2]. Dass es für eine respektvolle Begegnung mit der einzelnen Patientin, dem einzelnen Patienten entsprechende Fähigkeiten und Wissen, d. h. Kompetenzen braucht, steht ebenfalls nicht in Frage.

Diese sogenannten «kulturellen Kompetenzen» zählen seit geraumer Zeit zum notwendigen Repertoire von Fachpersonen, die in der Gesundheitsversorgung tätig sind. Was aber ist genau darunter zu verstehen? Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die Begriffe «Kultur», «interkulturell», «multikulturell», «transkulturell», «kulturelle und interkulturelle Kompetenz» sowie «Diversität» und skizziert einige Problemfelder bei der Interpretation und Verwendung des Kulturbegriffs in Medizin und Pflege.

Kultur – ein komplexer Begriff

In ihrem Positionspapier Interkulturalität in der medizinischen Praxis problematisiert die Deutsche Akademie für Ethik in der Medizin e.V. (AEM), dass die Begriffe «Kultur» und «Interkulturalität» «keineswegs selbsterklärend, sondern mit vielfältigen Vorannahmen und oft nicht reflektierten Werturteilen verbunden [seien]. Ein unbedarfter Gebrauch – insbesondere des Begriffs Kultur – fördert Missverständnisse und Stereotypisierungen» [3 S. 66], denn Kultur ist ein Begriff, der in der Gesellschaft, im alltäglichen Sprachgebrauch ganz unterschiedlich verwendet wird. Auch verschiedene geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen (wie z. B. die Anthropologie, Soziologie oder die Religions- und Erziehungswissenschaften) verwenden keinen einheitlichen Kulturbegriff. Unter Bezugnahme auf den Psychologen Alexander Thomas, beschreiben Handschuck und Schröer Kultur als «ein System von Konzepten, Überzeugungen, Einstellungen und Werteorientierungen, mit dem gesellschaftliche Gruppen auf strukturell bedingte Anforderungen reagieren. Dieses gemeinsame Repertoire an Symbolbedeutungen, Kommunikations- und Repräsentationsmitteln ist dynamisch in seiner Anpassung an gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Es ist damit ein dem Wandel unterliegendes Orientierungssystem, das die Wahrnehmung, die Werte, das Denken und Handeln von Menschen in sozialen, politischen und ökonomischen Kontexten definiert. […] Kulturelle Identitäten, sowohl personale wie kollektive, haben einen relativ stabilen Kern, variieren aber in Abhängigkeit von Kontexten. Was für übereinstimmend gehalten wird, muss in den Kontexten erst ausgehandelt werden» [4 S. 173].

Bildhaft kann Kultur auch als Zwiebel [5] oder als Eisberg [6] dargestellt werden. Beide Bilder zeigen, dass Kultur aus sichtbaren Aspekten (z. B. Sprache, Kleidung, Bräuche und Rituale, Gesten, Essgewohnheiten, Kunst, gesellschaftliche Verhaltensvorbilder u.v.m.), derer wir uns bewusst sind, sowie aus nicht-sichtbaren Aspekten (z. B. Weltanschauung, Überzeugungen, Vorstellungen von Respekt und Gerechtigkeit oder anderen Werten etc.) besteht, derer wir uns nicht (oder nicht immer) bewusst sind. Sowohl die Metapher der Zwiebel als auch die des Eisbergs sollen verdeutlichen, dass der Teil der Kultur, der sichtbar ist, oftmals wesentlich kleiner ist als der unsichtbare Teil. Selbstredend sind für ein vertieftes Verständnis einer Kultur neben den sichtbaren auch die nicht-sichtbaren Aspekte von Kultur unabdingbar.

Wenn man von Kultur spricht, ist es wichtig, einen essentialistischen von einem konstruktivistischen Kulturbegriff zu unterscheiden. Ein essentialistisches Verständnis von Kultur ist vergleichsweise verbreitet und begreift Kultur als «objektiv bestimmbare Gesamtheit von Denk- und Verhaltensmustern, Wertepräferenzen, moralischen Orientierungen und sozialen Normen, die einen Menschen als Mitglied einer kulturellen Gruppe dauerhaft ‘prägen’. Identität, geographischer Raum, Kultur und Sprache werden aus dieser Sichtweise heraus als weitgehend deckungsgleiche Variablen verstanden» [3 S. 67]. Es ist offensichtlich, dass ein solches Verständnis unterschiedliche Kulturen als voneinander abgrenzbar, als spezifisch und unverwechselbar versteht. Peters et al. zufolge wird Kultur «dabei als statische, unveränderliche Grösse missverstanden, der – unabhängig von z. B. sozialen oder biographischen Differenzierungen – das Denken, Handeln und Fühlen der Mitglieder einer ethnischen Gruppe kausal zugeordnet werden könne. Kulturelle Grenzen und ethnische Identität werden als stabile und vom historischen sowie sozialen Kontext unabhängig gegebene Grössen angenommen» [3 S. 67]. Dass ein solches Verständnis von Kultur in vielerlei Hinsicht problematisch sein kann, indem es Stereotypsierungen und Vorurteile gegenüber Mitgliedern bestimmter sozialer Gruppen begünstigt und verfestigt, versteht sich von selbst. Darüber hinaus ist es, besonders in Einwanderungsgesellschaften wie der Schweiz oder Deutschland, wo «transnationale Lebenswelten und Patchwork-Identitäten mit multiplen kulturellen Orientierungen […] zum Alltag gehören», wenig brauchbar [3 S. 67].

Ein konstruktivistisches Verständnis sieht Kultur hingegen nicht als etwas Festes, Statisches oder Abgeschlossenes, sondern als ein Konstrukt, das immer neu gebildet wird und einem ständigen Veränderungsprozess unterliegt. In einer solchen dynamischen Konzeption von Kultur handeln die Mitglieder einer Gesellschaft (oder einer Gruppe) ihre gesellschaftliche Wirklichkeit miteinander aus, anerkennen individuelle Lebenswelten und Differenzen, bestätigen Gemeinsames und sind offen für Veränderungen. Im Gegensatz zum essentialistischen Verständnis erreicht dieser Ansatz, «den Blick stärker auf das Verbindende statt auf das Fremde und Trennende zu legen und berücksichtigt darüber hinaus Phänomene wie die Heterogenität kulturell definierter Gruppen und erlaubt [beispielsweise im Kontext Gesundheitsversorgung] einen weniger voreingenommenen Zugang zum Patienten, der nicht als ‘typischer Vertreter’ einer Kultur wahrgenommen wird, sondern als Individuum mit eigenen Wertvorstellungen und einer differenzierten (Migrations-)Biographie» [3 S. 68].

Weder Kulturen noch die Wahrnehmung kultureller Identität sind somit statisch oder homogen, sondern heterogen und im Verlauf der Geschichte sowie der eigenen Lebensbiografie veränderbar. Kultur ist – auch wenn diese Vereinfachung naheliegen mag – nicht gleichzusetzen mit der Zugehörigkeit zu einer Nation oder einer bestimmten Ethnie. Individuen können sich mehreren Kulturen oder sogenannten Subkulturen (wie z. B. sozioökonomischer Status oder soziale Schicht, Geschlecht, Jugendkultur u.v.m.) zugehörig fühlen, sodass weder eine Kultur die Identität einer Person dominiert noch eine kulturelle Zugehörigkeit überhaupt eindeutig bestimmbar ist. In modernen Gesellschaften, die sich durch Individualisierung, Pluralisierung und einer Vielfalt von Lebensformen auszeichnen, hat sich der Umgang mit kultureller Vielfalt deshalb zu einer wichtigen Kompetenz entwickelt. Sie ist für jedes einzelne Mitglied einer Gesellschaft aber auch für Angehörige verschiedener Berufsgruppen von Bedeutung. Bevor auf die Konzepte der kulturellen und interkulturellen Kompetenz genauer eingegangen wird, sollen die Begriffe interkulturell, multikulturell, transkulturell und divers beleuchtet werden.

Begriffsbestimmung – interkulturell, multikulturell, transkulturell und divers

Rund um die Auseinandersetzung mit dem Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt wurden neben dem Begriff der interkulturellen Kompetenz alternative Zugänge wie Multikulturalität, Transkulturalität oder Diversität formuliert. Im Folgenden werden die Unterschiede zwischen diesen Begriffen skizziert. Anschliessend wird vertiefter auf die interkulturelle Kompetenz eingegangen, weil sich der Begriff «interkulturell» in zahlreichen Handlungsfeldern durchgesetzt hat.

Der Begriff «interkulturell» (lat. inter = zwischen) beinhaltet die Vorstellung von Begegnung, Austausch und Verständigung zwischen Personen und Gruppen unterschiedlicher Kulturen. Gemäss den beiden Sozialarbeitswissenschaftlern Thomas Kunz und Ria Puhl hebt interkulturell «Interdependenz und Interaktion sowie Veränderungsprozesse hervor und bezeichnet insoweit die in interkulturellen Prozessen enthaltene Dynamik. […] Das Attribut multikulturell hat weniger eine analytische Funktion, sondern vorwiegend eine deskriptive Bedeutung» und beschreibt den «Zustand eines vielkulturellen Zusammenlebens unterschiedlicher Individuen, Gruppen [und] Lebensweisen» [7 S. 46/47].

Der Begriff «transkulturell» (lat. trans = über, durch, jenseits) grenzt sich insofern von den Begriffen «interkulturell» und «multikulturell» ab, als dass er beiden «ein statisches Kulturverständnis unterstellt, das von unveränderbaren, klar unterschiedenen, in sich homogenen Kulturen ausgehe». «Transkulturell» bedeutet aber, dass jegliche Form von Grenzziehung aufgehoben werden soll und etwas Neues «jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur» entsteht [7 S. 48].

«Diversität» ist ein soziologisches Konstrukt, das individuelle, soziale und strukturell bedingte Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Menschen ins Zentrum stellt [8]. Es handelt sich dabei um Eigenschaften wie Geschlecht, Alter, Hautfarbe, ethnische Herkunft, Weltanschauung, sexuelle Orientierung, Behinderung u.v.m. Mit der Anerkennung von Diversität sollen Unterschiede zwischen Individuen oder Gruppen ohne Wertung und in einer Gesellschaft als selbstverständlich anerkannt werden.

Kulturelle und interkulturelle Kompetenz

Sowohl für die kulturelle als auch die interkulturelle Kompetenz findet man zahlreiche Definitionen und Interpretationen. Während kulturelle Kompetenz sich auf das Verhalten innerhalb einer Kultur bezieht, entfaltet sich interkulturelle Kompetenz beim Aufeinandertreffen von zwei oder mehreren Kulturen. Zentrale Eigenschaften kultureller Kompetenz sind in der Definition von Sabine Handschuck und Hubertus Schröer vom Institut für Interkulturelle Qualitätsentwicklung in München enthalten. Diesen Autoren zufolge bedeutet kulturelle Kompetenz, Kenntnis zu haben über ein «gemeinsamen System von Symbolen, Bedeutungen, Normen und Regeln, die das Verhalten bestimmen». Dabei muss dieses Wissen «nicht reflektiert vorhanden sein, sondern gibt sich durch Verhalten und Interpretation zu erkennen. Man weiss sozusagen, wie man sich in verschiedenen Situationen ‘angemessen’ verhält und bewertet grösstenteils unbewusst auch das Verhalten von anderen. Kulturelle Kompetenz ist nicht ein für allemal gegeben, sondern sie ist ein bewegliches System» [4 S. 173].

Wie die kulturelle ist interkulturelle Kompetenz ebenfalls kein einheitlich verwendeter Begriff. Für die Erziehungswissenschaftlerin und renommierte Expertin für interkulturelle Kompetenz Darla Deardorff geht es bei der interkulturellen Kompetenz um Kommunikation und Verhaltensweisen, die in interkulturellen Interaktionen wirksam und angemessen sind [9]. Angewendet werden interkulturelle Kompetenzen mit der Absicht, zwischenmenschliche Interaktionen über Unterschiede hinweg, sei es innerhalb einer Gesellschaft (z. B. Unterschiede aufgrund von Alter, Geschlecht, Religion, sozio-ökonomischem Status, politischer Zugehörigkeit, ethnischer Herkunft usw.) oder über Grenzen hinweg zu verbessern [10].

Die UNESCO-Veröffentlichung Intercultural Competencies: Conceptual and Operational Framework untersuchte die Themen, die in der Literatur zu interkulturellen Kompetenzen aus verschiedenen Regionen der Welt deutlich wurden. Auf dieser Grundlage entstand ein weit gefasstes Verständnis interkultureller Kompetenzen. Es vermittelt relevantes Wissen über bestimmte Kulturen sowie ein allgemeines Wissen über spezifische Arten von Problemen, die entstehen, wenn Angehörige verschiedener Kulturen miteinander interagieren [11]. Darüber hinaus umfasst interkulturelle Kompetenz eine aufgeschlossene Haltung, die die Aufnahme und Aufrechterhaltung von Kontakten mit unterschiedlichen Personen fördert. Schliesslich bedeutet interkulturelle Kompetenz, Fähigkeiten zu besitzen, die erforderlich sind, um sowohl das Wissen als auch die eigene Einstellung in der Interaktion mit Menschen aus anderen Kulturen zu nutzen.

Wesentliche Merkmale interkultureller Kompetenz finden sich in der Definition des Sozialpsychologen Alexander Thomas, für den sich interkulturelle Kompetenz in der Fähigkeit zeigt, «kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten und einer Entwicklung hin zu synergieträchtigen Formen der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens und handlungswirksamer Orientierungsmuster in Bezug auf Weltinterpretation und Weltgestaltung» [12 S. 163].
Auf die Alltagspraxis bezogen bedeutet interkulturelle Kompetenz für Handschuck und Schöer «als Erstes die Fähigkeit, das eigene personale wie kollektive Orientierungssystem zu reflektieren und das eigene Regelsystem als eine Möglichkeit unter anderen wahrzunehmen. Dies ist nur auf der Basis von Anerkennung unterschiedlicher Regelsysteme möglich. […] Die Reflexion der eigenen kulturellen Identität festigt die Eigenidentität. Interkulturelle Kompetenz beinhaltet die Fähigkeit ohne ‘Ich-Verlustängste’ Unterschiede wahrzunehmen, auszuhalten, zu benennen und zu respektieren» [13 S. 93].

Was lässt sich aus diesen Begriffsbestimmungen nun für Gesundheitsfachpersonen ableiten? Welche konkreten Kom­pe­tenzen sind in der Gesundheitsversorgung gefragt?

Interkulturelle Kompetenz in der Gesundheitsversorgung

In der Gesundheitsversorgung tätige Fachpersonen treffen im klinischen Alltag nicht nur auf Patientinnen und Patienten, sondern arbeiten auch mit Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher kultureller Identitäten zusammen. Interkulturelle Behandlungssituationen und ethische Konfliktmomente sind hier an der Tagesordnung. Nicht selten kommt es dabei zu gruppenbezogenen, stereotypen Zuschreibungen, indem man beispielsweise vom ‘muslimischen Patienten’, der ‘indischen Patientin’, dem ‘deutschen Arzt’ oder der ‘albanischen Krankenschwester’ spricht und mit diesen Zuschreibungen bestimmte Gruppeneigenschaften und Wertvorstellungen verknüpft. Diese müssen zwar nicht notwendigerweise problematisch sein, aber sie bedürfen unbedingt der kritischen Reflexion. Denn möglichweise erlaubt ein – mit einem essentialistischen Kulturbegriff korrespondierendes – sogenanntes Kulturwissen (d. h. «Kenntnisse über Praktiken, Haltungen und Einstellungsformen von Menschen aus anderen Kulturkreisen in ihrem Umgang mit Krankheit, Gesundheit und Lebensende» [14 S. 73]) zwar eine erste Orientierung im Umgang mit einer Patientin oder einem Kollegen, der als einer bestimmten Kultur zugehörig gelesen wird. Dennoch ist dem Arzt und Medizinethiker Ilhan Ilkilic zufolge aufgrund der Heterogenität «kultureller Praxis und Wertvorstellungen innerhalb von Kulturkreisen» bei der Anwendung dieses Wissens Vorsicht geboten, weil «typische Verhaltensweisen oder Glaubensüberzeugungen voneinander divergieren» können. «Die Verkennung dieser Realität kann im medizinischen Alltag Pauschalisierungen und somit auch eine ungerechtfertigte Routinebehandlung von Menschen eines Kulturkreises veranlassen [14 S. 74].

Interkulturelle Kompetenz ist eine vielschichtige Kompetenz. Neben der Vermeidung von Stereotypisierung sind von verschiedenen Autorinnen und Autoren zahlreiche Elemente interkultureller Kompetenz formuliert worden. So sieht beispielsweise Ilkilic interkulturelle Kommunikation (verbal, nonverbal und paraverbal), Kulturwissen und die kritische Toleranz als elementare Fähigkeiten und Fertigkeiten interkultureller Kompetenz [14]. Für andere, wie z. B. Heike Pfitzner, ist ein zentraler Teil kultureller Kompetenz die «Fähigkeit, die Differenzen zwischen Eigenem, Vorhersagbarem und Verständlichem auf der einen Seite und dem Fremden, Unverständlichem andererseits stets aufs Neue auszuloten und dabei gleichzeitig zu wissen, dass Kommunikation zwischen zwei Menschen, gleich welcher kultureller oder anderer Herkunft, wohl nie zu 100 % übereinstimmen kann» [15 S. 142].

Auch wenn in der politischen Auseinandersetzung und über verschiedene Handlungsfelder (z. B. Gesundheitswesen, Pädagogik oder Soziale Arbeit) hinweg die Notwendigkeit kultureller Kompetenzen weitgehend anerkannt ist, bleibt die Frage offen, «ob interkulturelle Kompetenz überhaupt als eigenständiger Kompetenzbereich gesehen werden kann oder besser als ein Set sozialer und berufsspezifischer Kompetenzen, das in der interkulturellen Situation realisiert werden muss» [16 S. 8]. Für die Gesundheitsversorgung hiesse dies, dass kulturelle Kompetenz einfach als selbstverständlicher Bestandteil patientenorientierter und bedürfniszentrierter Versorgung anzusehen wäre. Unabhängig von der genauen Beantwortung dieser Frage sind ein konstruktivistisch verstandenes Kulturwissen, die Sensibilität gegenüber Stereotypisierung, Toleranz und Reflexionsfähigkeit bzgl. Eigenwahrnehmung und Fremdzuschreibungen sowie kommunikative Fähigkeiten zentrale Elemente einer patientenorientierten Versorgung und wichtig für den Umgang mit ethischen Konfliktsituationen. Diese Fähigkeiten können nicht einfach vor-ausgesetzt werden, und müssen geschult und entsprechend fester Bestandteil von Curricula für Angehörige von Gesundheitsberufen sein.

Dr. sc. med., M.A. Tatjana Weidmann-Hügle

Klinische Ethik
Kantonsspital Baselland
Mühlemattstrasse 26
4410 Liestal

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